Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 25 (Juni 2010)

 

INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert: Klassik 1.Teil – Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten, Teil IV. VON DER GEGENWART: Notizen – Journalismus – Aus dem Abgrund. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1983 und 1984.

 

 

VON DER LITERATUR

 

Deutsche Lyrik, kommentiert: Klassik 1.Teil

Goethe und Ansätze - daraus bestehe unsere Literatur, behauptete Hofmannsthal einmal und war damit natürlich ungerecht. Aber fragt man nach der Klassik, die doch als ein so selbstverständlicher Begriff galt, fragt man gar nach deren Lyrik, so ist Hofmannsthals Wort schon sehr viel akzeptabler. Es bleibt ein unglücklicher Begriff, der ja einerseits eine bestimmte Aussage sein soll: die Epoche der Beziehung der deutschen Literatur und der Musik zur griechischen Klassik (wobei die Beziehung der Musik natürlich von vornherein nur in einem sehr metaphorischen Sinn „Klassik" genannt werden kann). Aber Klassik sollte ja zugleich bedeuten: Höhepunkt unserer neuzeitlichen Literatur. Und so wird dieser Begriff landläufig verstanden. Wenn wir aber nach dem Inhalt des so verstandenen Begriffs hinsichtlich der Lyrik fragen, dann gilt allerdings: Er ist fast identisch mit Goethes Lyrik. Es sei denn, wir akzeptieren, daß die Lyrik Hölderlins auch durch diesen Begriff bezeichnet wird. Wir gehen davon aus. Aber schon den Lyriker Schiller dazu zu zählen macht Schwierigkeiten. Sicher, da ist thematisch, auch metrisch eine Beziehung zur griechischen Antike, besser zum Verständnis der Antike im späten 18. Jahrhundert, aber auf den höchsten Punkt lyrischen Sprechens in Deutschland gehört das meiste von Schillers Versen nicht. Schiller hat, sehr viel mehr als Goethe, die Deutschen gelehrt, was Kunst als ästhetisches Phänomen, was Dichtung als Kunst sein kann, aber er ist in sehr vielem seiner Lyrik rhetorischen Traditionen verpflichtet, die sie von einem sprachästhetisch verstandenen, von einem sinnlich-sinnhaften Vers trennen. Daß der Balladendichter, daß der Gedankenlyriker Schiller im Publikum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ungleich beliebter war als der Lyriker Goethe, zeigt an, daß auch die literarische Rezeption dieser Zeitläufte nicht sehr sicher war. Immerhin: wir könnten wohl ein halbes Dutzend Gedichte auswählen, die Schillers Rang als Lyriker ausweisen. Aber ganz streng genommen, bleiben dann doch nur Goethe und Hölderlin. Damit bestätigt sich die sehr alte Erkenntnis, daß Höhepunkte nicht Plattformen sind. Und daß auf letzteren, wie einen schon der Name lehren könnte, trotz aller Behauptungen, jeder könne schreiben und erst, wenn dies geschehe, habe die Literatur ihre wahre Gestalt, daß also auf Plattformen sich sehr Erhebliches nicht ereignet. So bleibt die uns als der Mehrzahl angemessene Weise des Umgangs mit der Literatur, mit der Lyrik: zu lesen, vorzulesen, zu hören.

Was Goethes und Hölderlins Lyrik angeht, so haben wir darin etwas, was uns auf geradezu überwältigende und gleichzeitig erquickende Weise erfahren lassen kann, was Sprache vermag. Auch das Barock, auch andere Gedichte aus dem späteren 18. Jahrhundert, auch die Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts haben davon eine Ahnung gegeben oder werden es tun. Aber ganz zu sich selbst ist die Sprache doch in dem v.a. gekommen, was mit jenen beiden Namen benannt wird. Wahrscheinlich können überhaupt erst Menschen einer Zeit, in der die Sprache zu 99% zu Information und Kommunikation instrumentalisiert ist, wahrscheinlich können erst wir wirklich ermessen, was die großen Gedichte Goethes und Hölderlins sind. Wie erst der, der mit verschmutzter Luft und vergiftetem Wasser leben muß, ganz weiß, was reine Luft und klares Wasser sind.

Wir werden dieses Kapitel anders strukturieren als die anderen: drei Gruppen mit Goethe-Gedichten fügen wir eine Sequenz mit Gedichten Schillers, eine mit der Lyrik Hölderlins ein. So kann gleichzeitig eine Andeutung der Geschichte des lyrischen Sprechens Goethes gegeben werden, und so können die beiden anderen Dichter dem Ende bzw. dem Anfang einer Periode von Goethescher Lyrik zugeordnet werden. In der Tat sind ja die Perioden Goethescher Lyrik auch verstanden worden als die Schaffenszeit eines je anderen Dichters: der Goethe des „Sturm und Drang" unterscheide sich ganz vom Goethe der sogenannten Weimarer Klassik und des West-östlichen Divans.Und der wieder sei zu unterscheiden von dem Goethe der Alterslyrik. Wir haben in der Tat kein anderes lyrisches Werk mit so großer Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit. Aber dennoch ist hier ein Ganzes, ist hier ein Klang und ein Sinn, der durch die fast 65 Jahre lyrischer Produktion hindurchgeht. -

Wir haben einige Gedichte des frühesten, gerade 20-jährigen Goethe, eines Dichters der Empfindsamkeit, schon zitiert. Wir fangen nun mit dem Dichter des „Sturm und Drang" an.

Goethe kommt im April 1770 nach Straßburg, um die Rechte zu studieren; im Oktober lernt er in Sesenheim die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen. Es ist ein übliches Verfahren, die Gedichte, die er ihr geschrieben und gewidmet hat, für das Biographische zu nutzen. Aber wie sekundär ist das, wenn man den Jubel, die Ängstigung und den Schmerz in „Willkommen und Abschied" (1771 entstanden) hört und erfährt, wie sie sprachlicher Ausdruck werden. Der 21-jährige erobert sich völlig neue Sprachmöglichkeiten, wenn er z.B. schreibt:

 

„Wo Finsternis aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah."

 

Dergleichen hatte es trotz Klopstock in deutscher Sprache noch nie gegeben.

 

 

WILLKOMMEN UND ABSCHIED

 

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!

Es war getan fast eh gedacht.

Der Abend wiegte schon die Erde,

Und an den Bergen hing die Nacht:

Schon stand im Nebelkleid die Eiche,

Ein aufgetürmter Riese, da,

Wo Finsternis aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah.

 

Der Mond von einem Wolkenhügel

Sah kläglich aus dem Duft hervor,

Die Winde schwangen leise Flügel,

Umsausten schauerlich mein Ohr;

Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,

Doch frisch und fröhlich war mein Mut:

In meinen Adern welches Feuer!

In meinem Herzen welche Glut!

 

Dich sah ich, und die milde Freude

Floß von dem süßen Blick auf mich;

Ganz war mein Herz an deiner Seite

Und jeder Atemzug für dich.

Ein rosenfarbnes Frühlingswetter

Umgab das liebliche Gesicht,

Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter!

Ich hofft es, ich verdient es nicht!

 

Doch ach, schon mit der Morgensonne

Verengt der Abschied mir das Herz:

In deinen Küssen welche Wonne!

In deinem Auge welcher Schmerz!

Ich ging, du standst und sahst zur Erden,

Und sahst mir nach mit nassem Blick:

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!

Und lieben, Götter, welch ein Glück!

 

Lyrischer Jubel ohne jede Trübung bestimmt die kurzen, ganz evokativen Verse des „Mailieds“, das zunächst „Maifeier“ hieß, aus der gleichen Zeit, in denen Natur und Liebe völlig verschwistert werden.

 

 

MAILIED

 

Wie herrlich leuchtet

Mir die Natur!

Wie glänzt die Sonne!

Wie lacht die Flur!

 

Es dringen Blüten

Aus jedem Zweig

Und tausend Stimmen

Aus dem Gesträuch,

 

Und Freud und Wonne

Aus jeder Brust.

O Erd, o Sonne!

O Glück, o Lust!

 

O Lieb, o Liebe!

So golden schön,

Wie Morgenwolken

Auf jenen Höhn!

 

Du segnest herrlich

Das frische Feld,

Im Blütendampfe

Die volle Welt.

 

O Mädchen, Mädchen,

Wie lieb ich dich!

Wie blickt dein Auge!

Wie liebst du mich!

 

So liebt die Lerche

Gesang und Luft,

Und Morgenblumen

Den Himmelsduft,

 

Wie ich dich liebe

Mit warmem Blut,

Die du mir Jugend

Und Freud und Mut

 

Zu neuen Liedern

Und Tänzen gibst.

Sei ewig glücklich,

Wie du mich liebst!

 

Schon im August 1771, promoviert zum Lizentiaten der Rechte, verläßt Goethe Straßburg wieder; er ist zu Hause in Frankfurt, er ist dann in Wetzlar am Reichskammergericht und lernt Charlotte Buff kennen, das Vorbild der Lotte im „Werther". Gegen Ende 1772 und 1773 ist er wieder in Frankfurt. In dieser Zeit plant Goethe eine Tragödie „Mahomet", in der er einen „vorzüglichen Menschen", eben den Propheten darstellen wollte, der „das Göttliche, was in ihm ist, auch außer sich verbreiten möchte". Vollendet ist davon einzig „Mahomets Gesang" (1773), der die Gestalt des Propheten in einem Wechselgesang im Bilde des Quells faßt. Wie schon in „Wanderers Sturmlied" und anderen hymnischen Gedichten wagt Goethe nun den freien Vers zu gebrauchen. Was v.a. im 20. Jahrhundert zum gängigsten Mittel lyrischen Sprechens werden sollte und sich mehr und mehr der Prosa nähert, ist hier etwas unerhört Frisches und Neues. Das Fließen und Strömen des Rhythmus und die Differenzierung der Wort- und Satzsemantik von Quelle, Bach, Fluß, Ozean begegnen und durchdringen einander.

 

 

MAHOMETS GESANG

 

Seht den Felsenquell,

Freudehell,

Wie ein Sternenblick!

Über Wolken

Nährten seine Jugend

Gute Geister

Zwischen Klippen im Gebüsch.

 

Jünglingfrisch

Tanzt er aus der Wolke

Auf die Marmorfelsen nieder,

Jauchzet  wieder

Nach dem Himmel.

 

Durch die Gipfelgänge

Jagt er bunten Kieseln nach,

Und mit frühem Führertritt

Reißt er seine Bruderquellen

Mit sich fort.

 

Drunten werden in dem Tal

Unter seinem Fußtritt Blumen,

Und die Wiese

Lebt von seinem Hauch.

 

Doch ihn hält kein Schattental,

Keine Blumen,

Die ihm seine Knie umschlingen,

Ihm mit Liebes-Augen schmeicheln:

Nach der Ebne dringt sein Lauf

Schlangenwandelnd.

 

Bäche schmiegen

Sich gesellig an. Nun tritt er

In die Ebne silberprangend,

Und die Ebne prangt mit ihm,

Und die Flüsse von der Ebne

Und die Bäche von den Bergen

Jauchzen ihm und rufen: Bruder!

Bruder, nimm die Brüder mit,

Mit zu deinem alten Vater,

Zu dem ewgen Ozean,

Der mit ausgespannten Armen

Unser wartet,

Die sich, ach! vergebens öffnen,

Seine Sehnenden zu fassen;

Denn uns frißt in öder Wüste

Gierger Sand; die Sonne droben

Saugt an unserm Blut; ein Hügel

Hemmet uns zum Teiche! Bruder,

Nimm die Brüder von der Ebne,

Nimm die Brüder von den Bergen

Mit, zu deinem Vater mit!

 

Kommt ihr alle! –

Und nun schwillt er

Herrlicher; ein ganz Geschlechte

Trägt den Fürsten hoch empor!

Und im rollenden Triumphe

Gibt er Ländern Namen, Städte

Werden unter seinem Fuß.

 

Unaufhaltsam rauscht er weiter,

Läßt der Türme Flammengipfel,

Marmorhäuser, eine Schöpfung

Seiner Fülle, hinter sich.

 

Zedernhäuser trägt der Atlas

Auf den Riesenschultern; sausend

Wehen über seinem Haupte

Tausend Flaggen durch die Lüfte,

Zeugen seiner Herrlichkeit.

 

Und so trägt er seine Brüder,

Seine Schätze, seine Kinder

Dem erwartenden Erzeuger

Freudebrausend an das Herz!

 

Wird in diesem weiten Hymnus auch das Aufgehen des Subjekts in einem Ganzen hörbar, so in den beiden „Nachtliedern des Wanderers" der Rückzug des Subjekts auf einen Zustand vor aller Bewegung, der hier „Friede" und „Ruh" heißt. Der Wanderer ist bei Goethe die Figur der Bewegung bis zum Spätwerk der „Wanderjahre". Von 1776 datiert das erste der beiden kurzen Lieder. Es ist Klage und Bitte in einem. Das zweite, sicher eines unserer größten Gedichte, 1780 auf die Wand der Jagdhütte des Kickelhahn-Gipfels bei Ilmenau geschrieben, geht von dem aus, was im ersten erbeten wird. Aber es ist nicht der Zustand des lyrischen Ich, sondern der Zustand der Natur. Die Verheißung, mit diesem Zustand identisch zu werden, ist erst die Einlösung der Bitte um den süßen Frieden in der eigenen Brust.

 

 

WANDRERS NACHTLIED

 

Der du von dem Himmel bist,

Alles Leid und Schmerzen stillest,

Den, der doppelt elend ist,

Doppelt mit Erquickung füllest,

Ach, ich bin des Treibens müde!

Was soll all der Schmerz und Lust?

Süßer Friede,

Komm, ach komm in meine Brust!

 

 

WANDRERS NACHTLIED*

 

Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

 

(*Von Goethe unter dem Titel „Ein gleiches" abgedruckt, was natürlich zunächst nur 'ein weiteres Nachtlied' meint, aber auch in Beziehung zum Gedichttext gelesen werden kann.)

 

Schon aus den achtziger Jahren, aus der ersten Fassung des „Wilhelm Meister" stammt eines der Lieder des Harfenspielers, das nun folgen wird. Goethe ist seit 1775 in Weimar, er lernt Charlotte von Stein kennen, er tritt in den Weimarer Staatsdienst ein, er reist viel, er flieht gewissermaßen im Herbst 1786 nach Italien.

Auch das Lied des Harfenspielers, schon in „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung", die zwischen 1777 und 1785 entstanden ist, ließe sich wieder leicht auf Goethe selbst beziehen. Aber wichtiger ist, wie in der lyrischen Reflexion „einsam, Einsamer, Einsamkeit" eine Extremsituation des Subjekts als sehr Verschiedenes dargestellt und schließlich aufgehoben wird.

 

 

HARFENSPIELER

 

Wer sich der Einsamkeit ergibt,

Ach! der ist bald allein;

Ein jeder lebt, ein jeder liebt,

Und läßt ihn seiner Pein.

 

Ja! laßt mich meiner Qual!

Und kann ich nur einmal

Recht einsam sein,

Dann bin ich nicht allein.

 

Es schleicht ein Liebender lauschend sacht,

Ob seine Freundin allein?

So überschleicht bei Tag und Nacht

Mich Einsamen die Pein,

Mich Einsamen die Qual.

Ach, werd ich erst einmal

Einsam im Grabe sein,

Da läßt sie mich allein!

 

Das folgende Mond-Gedicht, dessen erste Fassung wahrscheinlich 1776, dessen endgültige Fassung zwischen 1784 und 86, also vor der Italienischen Reise entstand, verbindet Motive aus „Mahomets Gesang", aus den Nachtliedern, aus dem Lied des Harfenspielers. Das Gedicht lehrt, was geschieht, wenn Sprache ernst genommen wird, also nicht mehr als beliebig und austauschbar gilt wie bei privater und öffentlicher Meinung; aber auch, was geschieht, wenn Sprache die Linearität von Aussagen gängiger Lyrik aufgibt und damit erst eigentlich zu sich selbst kommt.

 

 

AN DEN MOND

[Letzte Fassung]

 

Füllest wieder Busch und Tal

Still mit Nebelglanz,

Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz,

 

Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick,

Wie des Freundes Auge mild

Über mein Geschick.

 

Jeden Nachklang fühlt mein Herz

Froh- und trüber Zeit,

Wandle zwischen Freud und Schmerz

In der Einsamkeit.

 

Fließe, fließe, lieber Fluß!

Nimmer werd ich froh,

So verrauschte Scherz und Kuß,

Und die Treue so.

 

Ich besaß es doch einmal,

Was so köstlich ist!

Daß man doch zu seiner Qual

Nimmer es vergißt!

 

Rausche, Fluß, das Tal entlang,

Ohne Rast und Ruh,

Rausche, flüstre meinem Sang

Melodien zu,

 

Wenn du in der Winternacht

Wütend überschwillst,

Oder um die Frühlingspracht

Junger Knospen quillst.

 

Selig, wer sich vor der Welt

Ohne Haß verschließt,

Einen Freund am Busen hält

Und mit dem genießt,

 

Was, von Menschen nicht gewußt

Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust

Wandelt in der Nacht.

 

 

Aus dem  Phrasenlande

Schöne Geschichten. Teil IV

 

Fritz F. sah am frühen Morgen aus dem Fenster. An seinem Gartenzaun huschten tausende von Tausenmarkscheinen vorbei, Richtung Westen.

„Kapitalflucht“, erkannte Fritz F. sofort, lief zum Telefon und benachrichtigte die Polizei.

„Retten Sie, was zu retten ist“, sagte der Polizist am Telefon, „wir kommen sofort“.

Fritz F., obwohl nur nachlässig bekleidet, rannte vor das Haus und griff so viele Tausendmarkscheine, als er fassen konnte.

Schon war die Polizei zur Stelle.

„Es ist schlimm“, sagte der Einsatzleiter, „gerade  kommen wir von  einer Zimmerflucht. Und nun das. Was konnten Sie ausrichten ?“

Fritz F. überreichte ein dickes Bündel von Tausendmarkscheinen.

„Sehr schön“, sagte der Einsatzleiter, „ein Stück Kapitalflucht verhindert. Bravo“. Und er steckte das Bündel in seine Hosentasche.

 

Hermann H.  klingelte.

Die Tür wurde geöffnet.

„Stehe ich vor dem Kadi ?“ fragte Hermann H.

„Ja“, sagte der Kadi.

„Und nun?“ fragte Hermann H.

„Nun ?“ fragte der Kadi zurück.

„Was mache ich ?“ fragte Hermann H.

„Machen“, sagte der Kadi. „Wer vor dem Kadi steht, lesen Sie es bitte in jeder Zeitung nach, steht vor dem Kadi. Sonst nichts.“

Hermann H. erschrak.

 

„Ihr Sweatshirt ist nicht aktuell.“

„Mein Sweatshirt ist hochaktuell.“

„Es ist doch nicht einmal mit zeitgemäßer Stickerei veredelt.“

„Aber es ist fein gerippt und in angesagter Form !“

„Ist es kuschelig, hat es einen Nicki-Einsatz, gehört es zur New-Generation ?“

„Auf jeden Fall ist es topmodisch.“

„Aber es ist nicht topaktuell.“

„Lächerlich: Es hat Velvet-Optik und ist leicht angerauht.“

„Da kann ich nur schelmisch fragen: Und wo ist die kultige Vorderfront?“

„Wie reden Sie eigentlich ?“

„Wie mir der Schnabel gewachsen ist, Sie Aschloch.“

 

„Ladenschlußzeiten“, sagte der soignierte Politiker  zu der  Schönen ihm gegenüber.

„Oh“, hauchte die, „Schlußzeiten ?“

„Zeitenschluß“, gab er streng und fest  zurück.

„Laden Zeiten....?“ fragte sie.

„Ein. Nein“, erklärte er bestimmt.

„Zeiten, Zeiten“, seufzte sie.

„Laden !“ entschied er.

„Schluß“, unterstrich sie.

Man hörte einen leichten Knall. Er sank zusammen und hauchte zum letzten Mal:

„Ladenschlußzeiten“.  

 

Schaun wir doch mal.

Aber wir müssen es hinterfragen.

Wir schaun halt mal.

Und hinterfragen es.

Mal schaun.

Hinterfragen.

Mal fragen.

Schau mal.

Frag mal.

Die Schau hinterfrag mal.

 

„Isch saach för dem: Sach mal. - Sät dä: Wat de nich saachst. - Isch saach: Dat kannste nisch saaren. - Woröm nisch, sät dä, isch saach dir ens jet. - Wat willste damit saaren, saach isch. - Och, isch saach janix. - Isch för dem: Dat saachse äver jot. - Sät dä: Dann is ja alles jesaat. - Sozusaaren, saach isch.“

 

 

VON DER GEGENWART

 

Notizen

 

Damit habe man nicht gerechnet, heißt die gängige Suada in Bezug auf den Vulkanausbruch auf Island. Genau das ist es. Während man jeden Quatsch, wenn er denn mit Gewinn zu tun hat, berechnet, hat man mit dem, was jeden Tag passieren kann, nicht gerechnet. Natürlich hätte man Notfallpläne entwickeln können, die sich an dem orientieren, was geschehen ist oder leicht geschehen könnte. Aber alle Wuselei – und was anderes findet denn statt? – richtet sich auf größere Gewinne bei größeren Ersparnissen. So bricht denn von heute auf nachmittags dieses ganze wunderbare Verkehrssystem zusammen.

Hübsch ist auch hier, daß wir nichts von den möglichen Gefahren, die uns drohen, erfuhren, obwohl doch das riesige Netzwerk der Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten für unsere ständige Information sorgen soll. Aber vielleicht sollten wir gar nicht informiert werden. Vielleicht sind wir auch so strukturiert, daß wir gar nicht über das informiert werden wollen, was für uns wirklich wichtig ist.

 

Goldman-Sachs wird des Betrugs bezichtigt, ist deswegen entrüstet. Statt froh zu sein, daß nicht zumindest die Hauptschwindler am nächsten Laternenpfahl aufgehängt werden. Obwohl wir in einer Situation sind, wo wir weder auf die staatlichen noch gar auf die journalistischen Institutionen hoffen können, die angeblich alles im Griff haben, werden die Schwindler, denen wir die Lage zu verdanken haben, frech. Denn sie wissen, daß wir nicht in einem revolutionären Stadium leben, sondern in einem evolutionären, in dem alles, was an Unsäglichem geschieht, seinen Platz hat, vor allen Dingen auch unser Schlaf.

 

Vor Jahren wurde der ZDF-Theaterkanal gegründet, der dem Zwanzigstel der Zuschauerschaft, das überhaupt an derlei Dingen interessiert ist, die Archive des zweiten Deutschen Fernsehens erschließen sollte und dies auch am Anfang mit Fleiß tat. Inzwischen ist irgendein wenig erfolgreicher Mitarbeiter mit dem Geschäft betraut worden, den Kanal zu dirigieren. Das hat zur Folge, daß wir Zwanzigstel uns auch im Theaterkanal nicht wenigstens dann und wann einmal an Sinnvollem erquicken dürfen, sondern daß uns ständig die Läppischkeiten eines Kulturkanals, der früher in den Hauptsender integriert war, dargeboten werden. Denn die einzige Aufgabe des Hauptsenders ist es nun ja, die Verblödung soweit auszubreiten, daß sie der Analphabetisierung des Lebens nicht mehr im Wege steht. So erhalten wir z.B. im Monat Mai 2010 „Siegfried reloaded“, „Dialoge 09 – Neues Museum“ als Choreographien, „popülar“, eine Popkultur-Reportage und „Die Theatermacher“, welche Sendung im Untertitel (denn der ZDF-Beauftragte kann selbstverständlich kein Deutsch) „Vom Praktikant zum Intendant“ heißt. In der abendlichen Sendezeit aber gibt es an Theatralischem nur noch den „Siegfried“ von Wagner. Denn der Theaterkanal des ZDF ist natürlich dazu da, uns zu zeigen, daß es kein Theater mehr gibt.

 

NRW-Wahl im Fernsehen. – Es ist wie immer bei Wahlsendungen, d.h. es ist jedes Mal noch ein bißchen schlimmer, als es vorher war.

Die Moderatorin grinst, Herr Laschet, bisheriger Minister, grinst, der Wahlverlierer Rüttgers drückt sich, ein Moderator liest ein Ergebnis falsch ab, kann aber selbstverständlich auch damit operieren, kein Reporter kann sich konzentrieren, alle Moderatoren und Reporter reden durchweg dummes Zeug. Damit füllen sie Stunde um Stunde. Und wenn man sie nicht abschaltet, reden sie noch bis zu diesem Augenblick dummes Zeug.

 

Ein deutscher Gelehrter spricht.- „Ganz unrecht haben jene Kritiker Merkels nicht, die eine stärkere Empathie für die Traditionalität und d e n Ethos einer großen Partei anmahnen [...] Als Regierungspartei, die d e n Rausch der Machtversprechen erlag...“(Prof.Dr. Franz Walter am 10.5.10 in „Spiegel online“)

 

Journalismus

 

„...mag der private Ausdruck im deutschen Sprachbereich den Tiefstand der Verkommenheit erreicht haben, er stellt neben der publizistischen Möglichkeit noch immer eine rhetorische Kunstleistung dar. Was öffentlich gesagt wird, ist nur mehr gelallt, gekotzt, ausgeworfen aus Mäulern, die rätselhafter Weise die Bestimmung haben, täglich zum Volke zu reden. Der mündliche Sprachgebrauch hat den Vorsprung erst wettzumachen, und da steht freilich zu befürchten, daß die Juden im Kaffeehaus mit der Zeit so sprechen werden, wie die in der Zeitung schreiben. Die Christen in den Ämtern nicht anders, nur noch verschärft durch die Angewöhnung dessen, was sie in der Reichspost und in der ‘Dötz’ lesen. An eine Heimwehr für sprachliche Belange haben die Troglodyten bisher noch nicht gedacht. Schlechthin unvorstellbar, wie in der Gleichzeitigkeit des technischen Fortlaufs nach fünfzig Jahren die deutsche Rede (inklusive der jüdischen) beschaffen sein wird. Wenn nicht eine Diktatur - anderer Art, als sie sich der Herr von der Alpinen Montangesellschaft denken mag, der in jenem Fall die babylonische Verwirrung der einen Sprache heraufbeschworen hat -, wenn sie nicht mit dem Schwindel der Preßfreiheit tabula rasa macht und das Handwerk unter die Drohung der Prügelstrafe stellt, dann wächst eine Zeit von Analphabeten heran, die nicht mehr imstande sein werden, die Zeitung zu lesen, sondern nur noch, für sie zu schreiben.“

 

                                                Karl Kraus, Schöne Aussichten.

                                                Die Fackel 811-819 (Anfang August 1929).S. 111.

 

„Unser öffentliches Leben glich in den vergangenen zwei Wochen einem Irrenhaus - nur daß es kaum noch möglich schien, zwischen den Patienten und den selbsternannten Hütern der geistigen Gesundheit Amerikas, den Journalisten, zu unterscheiden. Sie haben sich zu einem Lynchmob zusammengetan. Ihre Scheinheiligkeit ist schamlos....

Amerikas Journalisten sind in Wahrheit aufgeblasene Nullen - unbelastet von viel Wissen über unsere nationale Geschichte, verwirrt durch die Komplexität von Wirtschaft und Gesellschaft und unterschwellig voller Ahnung, wie hohl ihre Klischees sind....“

 

                                    Norman Birnbaum(amerikanischer

                                    Soziologe), Wahnsinn mit

                                    Methode: Der Spiegel  6/1998 . S.134 - 135

 

Aus dem Abgrund

 

Es ist ganz unmöglich, auch nur einigermaßen den Überblick zu behalten. Man weiß lediglich, wenn alles einigermaßen wahr ist, was wir täglich hören, sehen und lesen, wir müßten schreiend aus den Häusern laufen. Aber nur einer in Holland hat während einer öffentlichen Schweigeminute geschrien, ein Kranker natürlich. Immerhin löste er eine Panik aus, und die Königin mußte vorübergehend in eine Nebenstraße geführt werden. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie es im vorigen Jahr beim Königinnen-Tag zuging in diesem friedlichen und disziplinierten Land.

Wie immer, Erdbeben allüberall: in Indonesien, in Haiti, in Chile, dann ein Vulkanausbruch, der die gesamte Fliegerei in Europa stillegt. Dann als menschlicher Bohrungserfolg eine Ölpest von noch nie dagewesenem Ausmaß vor der Südküste der USA, nicht von der Natur, sondern von British Petrol beschert. Aus China erreichen uns derweil Bilder, die uns zeigen, wie man eine Riesenstaumauer baut und dadurch den Jangtse zur Kloake macht.

In Bangladesh sehen wir junge Mädchen arbeiten, die dafür im Monat 13 € bekommen.Sie leben dort mit 1074 anderen auf einem Quadratkilometer und in den Ballungsgebieten mit 7000 anderen.

Ist das z.B. der Erfolg, über den der Historiker Winkler in einem dicken Buch „Geschichte des Westens“ berichtet? Die hat schon im achtzehnten Jahrhundert in England als „eine Zeit des Massenelends und der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft“ begonnen. Aber, schreibt Winkler weiter, „das Elend wäre ungleich größer gewesen, hätte es die Möglichkeit industrieller Arbeit nicht gegeben“(258). So dürfen sich die Ausgebeuteten im Westen noch in ihren Gräbern freuen, und die Mädchen in Bangladesh dürfen es auch. Denn alles führte nicht zur „fortschreitenden Verelendung, sondern zum sozialen Aufstieg des Proletariats“.

Unser Proletariat ist aufgestiegen und wir Intellektuellen mit ihm, und wir dürfen uns vom Fernsehen und von den Blättern zeigen und sagen lassen, wie es aussieht in der Welt und bei uns.

Bei uns übte man z.B. auf dem Dorf fleißig, damit es am 1. Mai auch so werde wie in Berlin oder in Hamburg: jetzt ging es noch um zerbrochene Schaufensterscheiben und zerstörte Verkehrsschilder, aber man wird weiter kommen und Autos anzünden, von denen dann die Sender und die Blätter berichten werden. Vor den Wahlen im Lande berichteten sie davon, wie uns die CDU betrüge, oder sie verschwiegen es. Oder sie berichteten es von der SPD oder von der FDP oder von den Grünen. Nur die Linken waren als Nachfolger der SED sauber und wurden schon darum gewählt.

 

Sorgenvoll oder auch heiter berichteten Sender und Blätter davon, wie es in Berlin zugeht bei der Bundeskanzlerin, die sich nicht entscheidet oder die falsch entscheidet. Sie berichten auch, daß die Minister Idioten sind oder kluge Kerle und daß die Opposition am Boden liegt oder sagt, wie es gehen müßte.

Gerade haben wir eine große Wirtschafts- und Finanzkrise überwunden, da gilt: die „gute Laune kehrt zurück“, wenn auch das „Grollen noch da ist“. „Für die Banker ist die Krise schon Geschichte“, wenngleich „die Krise nicht vorbei ist“(FAZ).  Aber ob nun ja oder nein, wir haben schon eine neue Krise: die in Griechenland, dem wir helfen müssen, weil es gar keine Alternative gibt. Wir müssen dafür in Europa 110 Milliarden bereitstellen, aber es werden vielleicht noch viel mehr werden, denn Portugal, Spanien, Italien, Irland können mit so geringen Zinsen, wie sie das Hilfspaket vorsieht, nicht auskommen und sind überdies auch in prekärer Lage. Dann muß Deutschland als größtes Euro-Land deren Part übernehmen. Doch auch in Deutschland gehen die Steuereinnahmen zurück: die Straßen werden immer schlechter, für die Schulen und Hochschulen wird zu wenig getan, viele können von dem, was sie verdienen, nicht leben. Also muß mehr Hartz IV gezahlt werden, sagt die SPD, die doch unter der Stabführung des Bürovorstehers Steinmeier die Hartz-Regelungen eingeführt hat. Die heißen übrigens so nach dem Erfinder, der wegen „Untreue“ verurteilt worden ist.

Obwohl wir inzwischen die größte denkbare Krise haben, nämlich die von Hedgefonds herbeigeführte Währungskrise, können die Banken und ihre Geschäfte nicht reguliert werden, obwohl das sehr dringend wäre, schreiben die Blätter, die manchmal auch gar nichts darüber schreiben. Aber Herr Ackermann verspricht, die Banken würden sich an dem Hilfspaket für Griechenland beteiligen, wenn er auch nicht sagt, in welcher Höhe. Doch der Finanzminister, der eben noch mit den Banken Tacheles geredet hat, spricht mit Herrn Ackermann nun wieder Schmonzes, er dankt nämlich für dessen Bereitschaft.

Doch obwohl wir die Sender und die Blätter haben, bleibt alles sehr undurchsichtig. Auch in den Talkrunden sind bei sechs Teilnehmern etwa sieben bis neun verschiedene Meinungen zu hören, und nur ein blasser Mann von der Bild-Zeitung weiß es genau und redet dem Volk, dem er aufs Maul geschaut hat, nach dem Munde, damit die Auflage sich weiter erhöht. Und das Volk sagt, es stehe doch alles klar in der Bild-Zeitung.

 

Da steht wie auch anderwärts, daß die Griechen einen Aufstand machen, bei dem drei Menschen ersticken. Oder auch, daß die Fischer am Golf von Mexiko das Ende ihrer Tätigkeit vor Augen haben, weil British Petrol alle Bestimmungen umgangen und nicht genug Vorsorge getroffen hat und auch nicht genügend überprüft worden ist und im übrigen der Versuch, die Ölpest einzudämmen, gescheitert ist.

Da die Regierungen nicht alles selbst tun können, muß aus all dem geschlossen werden, daß deren Bevollmächtigte entweder schlafen oder aber den Weisungen der Regierungen kaum folgen oder sich gar mit den Schädigern verabreden und von denen geschmiert werden.

Wie das geht, wissen wir aus manchen Berichten über bedeutende deutsche Firmen, die uns lange Zeit als Inbegriffe der Solidität galten, aber nun als Repräsentanten der Korruption dastehen. Sie sagen natürlich, sie müßten so handeln, denn so machten es alle. Dabei ist klar, daß dieses Handeln allein daran orientiert ist, daß man „dick vadienen“ will. Darüber sagen die Wirtschaftsethiker, die wir auch seit Jahrzehnten haben, sehr Verschiedenes.

 

Wir jedenfalls wissen so viel, daß die Banken und die großen Unternehmen, die doch einmal als vorbildlich galten, sich nun den Geschäftspraktiken der Mafia nähern, von der wir die russische als die rücksichtsloseste längst im Lande haben - statt den Staat dabei zu unterstützen, diese zu bekämpfen.

Aber konnte es anders sein? Als wir aus der braunen Zerstörungsflut auftauchten, ging es nahezu allen ja um zweierlei: nämlich erstens so schnell als möglich zu vergessen, wie es zwischen 1933 und 1945 aussah, also auch die Korruption, und zweitens alles das an Technik zu mobilisieren, was wir gelernt hatten, und allein auf deren Erfolg zu setzen, um so dick als möglich zu vadienen. In Konkurrenz mit dem Kommunismus, der nur Korruption kannte, aber keine Technik, gelang das auch ganz prächtig. Seit dessen Untergang fehlt uns die Konkurrenz der Systeme. Und seit auch China sich unserem (Wirtschafts-)System angeschlossen hat, zeigt sich, daß es dank der Kombination von Terror und Technik besser funktioniert als bei uns.

Darum müssen wir nun überlegen, wie wir uns China nähern, ohne uns ihm zu nähern.Sollen wir freundlich sein oder nicht so freundlich? Das Volk ist für Entschiedenheit, und es hat natürlich so recht, wenn auch nicht ganz. Aber die Regierungen sagen, Entschiedenheit sei nicht der richtige Weg, man müsse verhandeln. Sie haben natürlich so recht, wenn auch nicht ganz. Schließlich werden die Ackermänner, deren Tugenden aus der Schweiz stammen und die mitverantwortlich sind für das, was geschah und geschieht, den Weg zeigen, und der Finanzminister wird ihnen danken. Aber auch die Bild-Zeitung und ihre Verwandten werden ihre Stimme erheben, und es wird die des Volkes sein, wie die des Volkes die Stimme der Bild-Zeitung sein wird – und sie werden sagen, die Chinesen wüßten zu arbeiten, aber die Griechen nicht. Im übrigen müßten sie (das Volk) deutlich mehr Hartz IV bekommen, sonst machten sie Terror. Dann werden sie sich auf ihre Knatterbüchsen setzen und losdüsen, wie es z.B. die Herren von den Motorrad-Gangs machen. Denn wir vom Volk haben einerseits Angst vor einer neuen Inflation, wollen andererseits aber vor allem happy sein und fun haben, denn dafür leben wir.

 

Inzwischen hat sich allerdings etwas Unangenehmes gezeigt, das die Ausbreitung von happiness und fun leider stört und schon darum nicht allzu energisch angegangen wird. Energisch kann man damit nur gegen die Katholische Kirche vorgehen, die längst schon darum eine problematische Erscheinung ist, weil sie sehr alte Auffassungen vertritt, aber inzwischen gezeigt hat, daß diese alten Auffassungen mit Päderastie einhergehen, was beweist, wohin alte Auffassungen führen.

Nun hat die Traumatisierung von Kindern durch sexuelle Akte bis zur Vergewaltigung nichts zu tun mit dem Prügeln von Kindern, wie es bis weit über das Ende des Krieges üblich war. Davon erzählt bspw. der frühere Chefvolkswirt der Deutschen Bank Norbert Walther, der u.a. sagt, seine Mutter habe ihn geprügelt, und er liebe seine Mutter. Natürlich ist auch das Prügeln von Kindern eine Fragwürdigkeit, die von der Zustimmung des Hebräerbriefes („Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“) bis zu grundsätzlichen Verwerfungen von Psychoanalytikern geht. Es ist heute so sehr verboten, wie es bis in die sechziger Jahre geboten schien. Wer immer aber hier mitreden will, der muß davon ausgehen, daß Prügeln und Vergewaltigen, ja auch nur der Übergriff durch irgendwelche sexuelle Handlungen an einem kleinen oder jungen Menschen einen erheblichen Unterschied impliziert. 

Inzwischen rücken die scheußlichen Beispiele von sexuellem Zwang, wie sie aus der Katholischen Kirche, aus reformpädagogischen Instituten, aus Sportvereinen, ja aus den Familien des deutschen Volkes berichtet werden, eher in den Hintergrund. Dies aber wäre als Fundament freier Wirtschaft, freier Märkte, freier Presse und zahlloser weiterer Freiheiten die eigentliche Scheußlichkeit, daß nämlich in diesem Volk längst wie die unverfolgbare Kinderpornographie des Internet die unverfolgten und darum gängigen sexuellen Übergriffe von Großvätern, Onkeln, Vätern, Brüdern, denen es um happiness und fun geht, sich ausgebreitet hätten. Davon wird dann und wann, aber eher selten etwas berichtet. Wir haben freilich  ein Zeugnis für gängige Tendenzen dieser Art in Gestalt der Berichte aus der reformpädagogischen Odenwaldschule. Diese Berichte sind gar nicht neu, doch wurden sie, obwohl seit 1999 bekannt, unter den Teppich gekehrt, und noch bis vor kurzem mit ‚Argumenten’ widerlegt, die die Scheußlichkeiten als Teil der Nähe-Pädagogik von Reformern ausgaben und natürlich durch die Achtundsechziger so richtig in Schwung kamen. Denn  der gravierende Unterschied zwischen den Scheußlichkeiten in der Kirche und den Scheußlichkeiten der Reformpädagogik ist der, daß jene all das nicht billigte, sondern es ‚nur’ verschleierte, und offenbar meinte, einzig durch Verschweigen sich der Priester erwehren zu können, die mit ihrer Wahl des ‚heiligen Amtes’ nichts anderes im Sinn hatten, als sich auf bequeme Art der Barbarei ihrer Triebe hinzugeben,  - diese aber bis in die Erzwingung sexueller Kontakte hinein die gesamte Scheußlichkeit als Teil ihrer Ideologie ausstellte, so daß ein Geschädigter wie Tilman Jens noch heute die Übergriffe zwar verurteilt, aber weiterhin angezogen ist von dem Geschwätz, das ihm dort eröffnet wurde.

 

Wir wissen nicht mehr, wo uns der Kopf steht, aber das Geschwätz der Journale schafft uns den Eindruck, wir wüßten es doch. Jeder bildet sich auf Grund des Geschwätzes eine Meinung, obwohl dieses Geschwätz von Leuten kommt, die nur in Hast leben und schreiben können, die natürlich ständig Rücksicht nehmen müssen auf ihre Geldgeber, aber gleichzeitig die „vierte Gewalt“ sind, vor der die drei anderen Gewalten und jegliche sonstige Gewalt außer der brachialen zittern.

Wir wissen nicht, ob das richtig ist, was die Geschwätzigen schreiben, wir wissen nicht, ob es nötig ist. Wir wissen aber alles von allen, außer von denen, die das Wissen dirigieren und präparieren. Von denen wissen wir nicht einmal, ob sie z.B. versoffen oder ob sie faul sind oder begierig, investigativ zu sein. Denn darüber schweigen die, die es wissen, so daß der Eindruck entsteht, sie gehörten der einzigen sozialen Gruppe an, in der es solche Scheußlichkeiten, aber auch Korruption und Schwindel nicht gibt. Wir erleben sie nur, wenn sie vor Mikrofonen herumstottern und in den Blättern statt Informationen Impressionen geben. Und wir wissen, daß sie für die Pressefreiheit sind, also sich so inszenieren, daß wir glauben, sie täten etwas für unsere Information.

Obwohl wir sie beruflich an das Ende der entsprechenden Skala stellen, denken und reden wir so, wie sie es uns vordenken und vorreden, denn wir haben ja nur sie und ihr Geschwätz. Es ist die Aufklärung in der Situation des Untergangs, an der wir auch schwätzend teilnehmen möchten. Doch wir wissen natürlich, daß wir selbst nur um den Preis schwätzen dürfen, über alles das zu schweigen, was  an die Spitze des Redens von Politik, Wirtschaft, Finanzen und des Volkes selbst gestellt werden müßte. Es vielmehr totzuschweigen.

 

 

Vom (einstigen) Leben: 1983 - 1984

 

1983. Mit knapper Mehrheit, allerdings bei einem Dreiviertelquorum, wird die Habil.-Schrift von W.N. akzeptiert. Ich selbst hatte  Schwierigkeiten mit ihr, gab  auf den Rat  eines ehemaligen Rektors dem Kollegen Sch. einen Teil der Hölderlin-Interpretationen. Der sagte: sehr kompliziert, aber interessant. Ich bin zunächst beruhigt, gebe N. die Arbeit aber mit der Bitte zurück, sie durchsichtiger zu machen. Mehrere Hiobsposten kommen aus Düsseldorf. Herr L., als Gutachter gebeten, antwortet gar nicht, Herr P. dagegen akzeptiert an seiner Stelle. Am 10. Januar liegen alle Gutachten vor, alle sind positiv, auch das kritischste akzeptiert die Arbeit uneingeschränkt.

Ich verlese ein  nüchternes Gesamtgutachten zu der Arbeit von N. Dann die Abstimmung. Ich bin ziemlich geschlagen. Ein Kollege meint auf Befragen, hier seien vielleicht alte Rechnungen beglichen worden.

Zu Beginn der Sitzung mahnten zwei Kollegen eine verantwortbare Abstimmung an, einer wies auf einen ähnlichen Fall in der alten Fakultät hin und auf das zornige Votum des Phlosophen R.: so etwas sei eines akademischen Gremiums unwürdig.

Das Colloquium nach einer Woche läuft im ganzen richtig, einstimmige Annahme in der Abstimmung. Dann folgt noch eine inszenierte Affäre, die sich auf den Vortrag N’s bezieht, von dem amtierenden Dekan aber sehr deutlich abgewiesen wird.

 

Erschöpft  fahren wir in M.W’s Häuschen am Chiemsee und erfreuen uns an Prien, Herrenchiemsee, Frauenchiemsee, München und anderem.

Zu Hause ein Vortrag beim Lyrikertreffen  und die üblichen Interventionen wegen bestimmter Ankündigungen von Proseminaren bei wissenchaftlichen Mitarbeitern. Über die Leitung des Ferienkurses wird verhandelt.

In S. steht nach einem sintflutartigen Regen der Keller unter Wasser.

Im Sommer gibt es von Regensburg aus eine schöne Fahrt  durch den Norden von Nieder-und Oberösterreich, besonders hübsch Grein an der Donau, dann die Villa Wolfstein, Krems, Stift Göttweig , durchs Burgenland mit kurzem Aufenthalt in Eisenstadt, wo Alois Schmidt in der Schloßtaverne  nach dem Rezept der Großmutter Bohnen-Birnen-Strudel serviert. Anschließend nach Wien  und in die Umgebung mit Besuchen.

 

Im Oktober stirbt meine Mutter nach einem Herzinfarkt. Ich gehe mit R. zur Leichenhalle, sie hat einen Kampf zu Ende gekämpft, das Leben war als solches schwer für sie.

W.E. ruft an und dankt für meinen Brief  zu seinem Paul-Gerhardt-Aufsatz, vor vier Jahren sei seine Frau gestorben..

W.N. hält seine Antrittsvorlesung. Kurz vor Weihnachten erscheint der zweite Aufsatzband.

 

1984. In London findet ein Karl-Kraus-Symposion  am Institute of Germanic Studies der Universität London statt. J.P. Stern organisiert das Ganze mit Hilfe von Edward Timms. In dem von Scheichl und Timms herausgegebenen Tagungsband heißt es im Vorwort: „In dem großen und interessierten Publikum befanden sich nicht wenige, die vor ihrer Vertreibung aus Wien noch selbst Kraus’ Vorlesungen gehört hatten.“ Ich spreche über „die Funktion der Polemik bei Karl Kraus“, ein Thema, das für Kraus natürlich zentral ist, aber wenig behandelt wird. Insbesondere gehe ich auf die Polemiken zu Bahr, Harden, Siegmund Münz, Stefan Großmann, dem Chefredakteur der Neuen Freien Presse Moriz Benedikt, zu Alfred Kerr und Imre Békessy ein, von denen nur ein kleiner Teil noch im heutigen öffentlichen Bewußtsein ist, die aber zu ihrer Zeit als hervorrragende Persönlichkeiten galten und von Kraus als Typen der öffentlichen Verantwortungslosigkeit vorgestellt wurden, die als solche schlimme Vor-Bilder des Künftigen waren.

 

Anschließend fahre ich nach Bayrischzell und wohne in einem Kurhaus, dessen Leitung und Prinzipien ich  Erhebliches verdanke. Am Eßtisch finde ich angenehme  Conpatienten, insbesondere Frau N., eine kluge Dame, mit der ich über die Kabbala, insbesondere über das Buch Sohar sprechen kann. Am Nebentisch findet sich  Herr R. von Weizsäcker ein, der künftige Bundespräsident, dem ich u.a. in der Sauna wiederbegegne, wo er sich den albernen und respektlosen Fragen eines Stadtdirektors ausgesetzt sieht. Eine Fahrt nach München, die ich unternehme, um mit meinem alten Kollegen R. zu sprechen, führt mich auch in die Beckmann-Retrospektive, in der dieser mir als der deutsche satirische Maler des 20. Jahrhunderts vor Dix und Grosz sichtbar wird. R. besucht mich für eine Woche. Ich schreibe an der Satire-Vorlesung.

 

Bei  einem Colloquium in Wien über die Stadt und deren Literatur wiederhole ich den Vortrag über Kraus. Anschließend  geht es um den Umbruch des kleinen Buchs  zum Literaturbegriff. In Saarbrücken gibt es ein Musil-Colloquium.

 

Im Sommer fahren wir über die Schweiz und Norditalien nach Ancona und von dort mit einer griechischen Fähre nach Kreta. Es ist arg heiß, und wir baden darum in Mineralwasser. Unterwegs sehen wir Olympia mit den beiden großen Tempeln, im Museum unter vielem anderen den Hermes des Praxiteles. In Chania auf Kreta gute Unterbringung. In der Nachbarschaft kleine Klöster, der Abt in einem von ihnen regiert vier Mönche.Wir fahren natürlich nach Knossos und sind irritiert durch das Nebeneinander echter Grabungsfunde und der farbigen Rekonstruktionen aus Zement. Aber man gewahrt etwas  vom Labyrinthischen der Anlage, sehr alt erscheinen die eingemeißelten Doppeläxte. Besonders beeindruckend auch das Treppenhaus in der königlichen Wohnung und die Schautreppen. Dennoch hat das Ganze etwas von Disneyland. Stärker wirken die Funde im Museum von Heraklion. Die Rückfahrt geht über Santorin, Rhodos, das wir nach 19 Jahren wiedersehen, Bodrum, Piräus und Athen wieder nach Ancona. Wir fahren die Küste entlang nordwärts bis Rimini und dann nach San Marino hinauf, in ein winziges idyllisches und kultiviertes Land, auf dem Mini-Zentralplatz die nicht sehr bedeutende, aber sowohl rührende wie ‚echte’ Freiheitsstatue, die den Anspruch San Marinos gut ausdrückt: im Kleinen doch etwas ganz Eigenes und Selbstbewußtes zu sein. Das bescheinigte ja auch Lincoln den Sanmarinesen, die nach einer von Rimini gestifteten Tafel im letzten Krieg 100.000 Flüchtlingen Schutz geboten haben. Anschließend nach Ravenna mit S. Francesco, dem Grabmal Dantes, dem Konvent mit dem Kreuzgang, vor allem S. Vitale, einem funktionierenden Bauwerk aus dem 6. Jahrhundert mit den Mosaiken der Apsis, dann das Mausoleum der Galla Placidia, die beiden Baptisterien und S. Apollinare nuovo, das Grabmal des Theoderich, S. Apollinare in Classe, schließlich noch nach Ferrara, wo das erschreckend beherrschende Este-Kastell steht. Weiterfahrt Richtung Chioggia, entzückend und wie Venedig von Kanälen durchzogen, intim und ländlich, der Hafenplatz ist eine Bühne, auf der es abends Vorstellungen gibt.Von da aus nach Venedig, das, als wir ankommen, noch nicht touristenvoll ist, u.a. im Saal des Großen Rats, übergangslos hinter den Staatsräumen die Gefängnisse. Die Rückfahrt ist ein bißchen beschwerlich. Am nächsten Tag über Padua, Verona, Trient, Bozen Richtung Reschenpaß,am Abend erst in Füssen .

 

In M. alsbald  den Vortrag im Ferienkurs. Am 18. September tötet sich  Winfried N., 37 Jahre alt. Er war am Abend noch beim Tennis gewesen, hatte mit Bekannten zusammengesessen, nach der Heimkehr sich die Fotos der letzten Ferienreise angeguckt,  dann sein Rad genommen, Camping-Utensilien aufgepackt und sich irgendwann in der Nacht auf die Bahngeleise gelegt. Kein sichtbares Motiv, seine berufliche Tätigkeit war zunächst gesichert. Am 12. haben wir zusammen gegessen, es war harmonisch und heiter wie immer. Dann erfahre ich etliches in Gesprächen der nächsten Tage. Die Bild-Zeitung macht aus seinem Tod eine Schlagzeile. Er wird in N. begraben, irgendwann habe er gewünscht, daß ich spreche. So halte ich ihm eine kleine Totenrede. Einen Tag darauf der Versuch mit den Hilfskräften, die sehr verstört sind, zu sprechen. Ich stehe zwischen dem Gefühl, den Erben verloren zu haben, und dem, ein Erschöpfter sei gestorben. Ich trage Verse von Neidhard von Reuenthal ein: „Nû wil ich den oeden gouchen urloup geben,/ daz si in ir niuwen troyen sprenzen alsô vert,/ unde enwil niht mêre singen von ir gogelheit./jâ wil ich mich rihten in ein ander leben;...“

 

 

Nummer 24(März 2004) s. Archiv

INHALT: VON DER GEGENWART: „Schief ist alles“ (Shakespeare, Timon von Athen IV,3) – Matussek, „Der Spiegel“ und Karl Kraus. VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert: 18. Jahrhundert (1720 – 1790), 2. Teil – Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten, Teil III. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1982 (Ägypten und anderes).

 

 Die Nummern 1 – 24 s. Archiv

 

s. Register der Nummern 1- 25 „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen

 

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