Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 13 (Mai/Juni 2006)

           

  

  

INHALT: VON DER DEUTSCHEN KULTUR: Die Epoche, die Nowendigkeit der Satire und deren Vergeblichkeit (von Karl Kraus) – Hölderlin - Nach Leipzig: Matthäus-Passion und Parsifal. VOM JOURNALISMUS: Der Journalist – Ein journalistisches Leben. VON DER RHETORIK: Ein Festredner. Joschka Fischer zu Marcel Reich-Ranicki. VOM TÄGLICHEN LEBEN: Alles wie immer ? VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1954.

  

  

  

VON DER DEUTSCHEN KULTUR

  

Die Epoche, die Notwendigkeit der Satire und deren Vergeblichkeit 

  

„[Nestroy] hat die Hinfälligkeit der Menschennatur so sicher vorgemerkt, daß sich auch die Nachwelt von ihm beobachtet fühlen könnte, wenn ihr nicht eine dicke Haut nachgewachsen wäre. Keine Weisheit dringt bei ihr ein, aber mit der Aufklärung läßt sie sich tätowieren. So hält sie sich für schöner als den Vormärz. Da aber die Aufklärung mit der Seife heruntergeht, so muß die Lüge helfen. Diese Gegenwart geht nie ohne eine Schutztruppe von Historikern aus, die ihr die Erinnerung niederknüppeln. Sie hätte es am liebsten, wenn man ihr sagte, der Vormärz verhalte sich zu ihr wie ein Kerzelweib zu einer Elektrizitätsgesellschaft. Der wissenschaft- lichen Wahrheit würde es aber besser anstehen, wenn man ihr sagte, der Vormärz sei das Licht und sie sei die Aufklärung.

Ein Jahrzehnt phraseologischer Knechtung hat der Volksphantasie mehr Kulissenmist zugeführt als ein Jahrhundert absolutistischer Herrschaft, und mit dem wichtigen Unterschied, daß die geistige Produktivkraft durch Verbote ebenso gefördert wurde,wie sie durch Leitartikel gelähmt wird.

[Nestroy] tritt … seine satirische Erbschaft an. Auf seinen liebenswürdigen Schauplätzen beginnt es da und dort zu tagen, und er wittert die Morgenluft der Verwesung. Er sieht alles das heraufkommen, was nicht heraufkommen wird, um da zu sein, sondern was da sein wird, um heraufzukommen. Mit welcher Inbrunst wäre er sie[seine Zeitgenossen] angesprungen, wenn er sie nach fünfzig Jahren vorgefunden hätte! Wie hätte er die Gemütlichkeit, die solchen Zuwachs duldet, solchen Fremdenverkehr einbürgert, an solcher Mischung erst ihren betrügerischen Inhalt offenbart, wie hätte er die die wehrlose Tücke dieses unschuldigen Schielgesichts zu Fratzen geformt! Die Posse, wie sich die falsche Echtheit dem großen Zug  bequemt, nicht anpaßt, ist ihm nachgespielt; der Problemdunst allerorten, den die Zeit sich vormacht, um sich die Ewigkeit zu vertreiben, raucht über seinem Grab. Er hat seine Menschheit aus dem Paradeisgartel vertrieben, aber er weiß noch nicht, wie sie sich draußen benehmen wird.

Er ahnt noch nicht, daß eine Zeit kommen wird…, [w]o das Talent dem Charakter Schmutzkonkurrenz macht und die Bildung die gute Erziehung vergißt. Wo überall das allgemeine Niveau gehoben wird und niemand draufsteht. Wo alle Individualität haben, und alle dieselbe, und die Hysterie der Klebstoff ist, der die Gesellschafts- ordnung zusammenhält. Aber vor allen ihm nachgebornen Fragen  - die der Menschheit unentbehrlich sind, seitdem sie die Sagen verlor – hat er doch die Politik erleben können. Er war dabei, als so laut gelärmt wurde, daß die Geister erwachten, was immer die Ablösung für den Geist bedeutet, sich schlafen zu legen. Das gibt dann eine Nachwelt, die auch in fünfzig Jahren nicht zu bereisen ist. Der Satiriker könnte die große Gelegenheit erfassen, aber sie erfaßt ihn nicht mehr. Was fortlebt, ist das Mißverständnis.…Die Satire lebt zwischen den Irrtümern, zwischen einem, der ihr zu nahe, und einem, dem sie zu fern steht. Kunst ist, was den Stoff überdauert. Aber die Probe der Kunst wird auch zur Probe der Zeit, und wenn es immer den nachrückenden Zeiten geglückt war, in der Entfernung vom Stoff die Kunst zu ergreifen, diese hier erlebt die Entfernung von der Kunst und behält den Stoff in der Hand. Ihr ist alles vergangen, was nicht telegraphiert wird. Die ihr Bericht erstatten, ersetzen ihr die Phantasie. Denn eine Zeit, die die Sprache nicht hört, kann nur den Wert der Information beurteilen. Sie kann noch über Witze lachen, wenn sie selbst dem Anlaß beigewohnt hat. Wie sollte sie, deren Gedächtnis nicht weiter reicht als ihre Verdauung, in irgendetwas hinüberlangen können, was nicht unmittelbar aufgeschlossen vor ihr liegt? Vergeistigung dessen, woran man sich nicht mehr erinnert, stört ihre Verdauung. Sie begreift nur mit den Händen. Und Maschinen ersparen auch Hände. Die Organe dieser Zeit widersetzen sich der Bestimmung aller Kunst, in das Verständnis der Nachlebenden einzugehen. Es gibt keine Nachlebenden mehr, es gibt nur noch Lebende, die eine große Genugtuung darüber äußern, daß es sie gibt, daß es eine Gegenwart gibt, die sich ihre Neuigkeiten selbst besorgt und keine Geheimnisse vor der Zukunft hat. Morgenblattfroh krähen sie auf dem zivilisierten Misthaufen, den zur Welt zu formen nicht mehr Sache der Kunst ist. Talent haben sie selbst. Wer ein Lump ist, braucht keine Ehre, wer ein Feigling ist, braucht sich nicht zu fürchten, und wer Geld hat, braucht keine Ehrfurcht zu haben. Nichts darf überleben, Unsterblichkeit ist, was sich überlebt hat. Was liegt, das pickt. Mißgeburten korrigieren das Glück, weil sie behaupten können, daß Heroen Zwitter waren. Herr Bernhard Shaw garantiert für die Überflüssigkeit alles dessen, was sich zwischen Wachen und Schlafen als notwendig herausstellen könnte. Seiner und aller Seichten Ironie ist keine Tiefe unergründlich, seiner und aller Flachen Hochmut keine Höhe unerreichbar. Überall läßt sichs irdisch lachen. Solchem Gelächter aber antwortet die Satire. Denn sie ist die Kunst, die vor allen anderen Künsten sich überlebt, aber auch die tote Zeit. Je härter der Stoff, desto größer  der Angriff. Je verzweifelter der Kampf, desto stärker die Kunst. Der satirische Künstler steht am Ende einer Entwicklung, die sich der Kunst versagt. Er ist ihr Produkt und ihr hoffnungsloses Gegenteil. Er organisiert die Flucht des Geistes vor der Menschheit, er ist die Rückwärtskonzentrierung. Nach ihm die Sintflut.“

  

  

(Karl Kraus, Nestroy und die Nachwelt [Auszüge]. In: Die Fackel  349/350. 13.Mai 1912. S. 18 – 23.)

  

  

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Hölderlin

  

Im Radio hört man: „im Winde/ klirren die Fahnen.“

In das nichtendende Mediengeplapper dringt für eine Sekunde aus anderen Äonen Sinn.

  

  

Nach Leipzig: Matthäus-Passion und Parsifal

  

  

I

Wie fängt es an? Indem man sich auf eines der zahlreichen Spezial-Reisebüros einläßt, die „Kultur“ anbieten. Da gibt es natürlich die Angebote schieren Genießens: Festspiele an allen Ecken und Enden. Aber auch die sind schon etwas, das in Zeitläuften sich spreizenden Analphabetismus’ und triumphierender Ignoranz noch an einer Überlieferung  strickt, die nicht einfach mit dem Verdikt „bürgerlich“ zu erledigen ist, sondern, wenn auch ganz am Rande, mithilft, dafür zu sorgen, daß außer dem organisierten Irrsinn, den die Medien feiern, noch etwas sich erhält, das an unsere Herkunft erinnert und für eine Zukunft eintritt, die nicht einzig vom Gelall bestimmt wird. 

Sicher, auf dieser Ebene ist der kessen Ministerpräsidenten-Kandidatin, der bei der 9. Symphonie nicht Beethoven einfällt  und die selbst bei dem Hinweis auf das Lied an die Freude sagt, das gehöre nicht zu ihrem Fachgebiet (sie hat Jura studiert), oft nur eine Vielzahl von älteren Damen entgegenzustellen, die sich mal was Schönes gönnen wollen. Aber so kurios sie wirkten, als man selbst 30 war, so entschieden haben sie jetzt die Funktion zu erfüllen, bis zur (unwahrscheinlichen) Bildung eines neuen Publikums den völligen Untergang des alten Europa zwar nicht zu verhindern, aber hintanzuhalten. Natürlich ist zu fragen, ob es darum nach Auschwitz noch gehen könne, aber wer solche Frage negativ beantwortet, muß sich klar darüber sein, daß er für dauerhafte Barbarei eintritt. Natürlich ist auch zu sagen, daß die kulinarische Rezeption das Barbarische nicht aufhält  (denn es ist eben längst eingebrochen, wie selbst Hinz und Kunz wissen), aber sie ist immerhin eine, wenn auch sehr dünne Folie für eine Renaissance dessen, wovon  wir einzig leben können.

Und das selbst, wenn man sieht, daß Redensartlichkeit und nicht das musikalische Programm Busfahrt und Frühstücksgemeinsamkeit bestimmen. Und auch, wenn nach den Konzerten und Aufführungen die Frage entscheidend ist, wie man gesessen, wie man gesehen habe, und sich die Zustimmung oder Kritik auf ein „interessant“ reduziert.

In diesen Mittelständlern, denen vieles vorzuwerfen war und ist, erhält sich auch das Erhaltenswerte, von dem die aufgeregten Banausien der Kulturrepräsentanten  und ihrer Mitläufer keine Ahnung mehr haben. Die sind bei Interviews zu treffen, in denen sie sich darüber äußern, ob im „Parsifal“ genügend Eschenbach verarbeitet sei, denn sie wissen gar nichts, also auch nicht, daß es um den Epiker Wolfram geht, der sich aus Eschenbach herschreibt, nicht um einen Herrn von Eschenbach. Doch machen sie diese Ignoranz zur Grundlage ihrer Perorationen, unter denen die älteren Damen, die jenes noch im Seminar gelernt haben, zu leiden haben. 

Kurz, die Alternative ist: auf die arrogante Blödheit derer zu setzen, deren Kreativität in der Vernichtung aller Überlieferung besteht, oder sich, zumindest auf Zeit, mit einem Mittelmaß zu begnügen, das noch eine Ahnung von der Viersätzigkeit  einer klassischen Symphonie hat und darum deren Gesamtheit abwartet, ehe es, als lebe es nur als Zuhörer in Talkrunden, Beifall spendet. 

Doch ist dies natürlich nicht das Ganze. Die europäische Kultur ist eine Inselangelegenheit geworden, die von außen durch Mordbrenner , die sich auf Allah berufen,  von innen durch jene Geschäftemacher bedroht wird, die den dicken Verdienst als Globalisierung feiern und in diesem Felde bis unendlich, sonst aber nicht bis drei zu zählen vermögen. Dagegen hilft, wir wissen es, weder Mozart noch Goethe noch Michelangelo, wohl aber wird es ohne diese, die für viele andere stehen,  zu keiner Welt mehr kommen, die bewohnt zu werden verdient.

  

  

II

Also Leipzig. Das wurde 1961 anläßlich der Messe zum ersten Mal besucht. Damals  von West-Berlin aus. In Erinnerung ist nur noch das Graue der Stadt, die bürokratischen Verrenkungen, eine Mietwohnung, in der man wegen des Mangels an Hotels untergebracht wurde. Es gab noch die Paulinerkirche, einen  nahezu ganz erhaltenen spätgotischen Bau, den Ulbricht dann in die Luft  zu jagen befahl, ein Barbar, den westdeutsche Linksintellektuelle zum Staatsmann avancieren ließen. 

Die neue Oper war gerade fertig geworden. Sie wurde auch vor sieben Jahren besucht, ist durchaus passabel in der schönen Holzverkleidung der Foyers und des Zuschaueraums, auch großzügig proportioniert. Elend dagegen der Kiosk des Neuen Gewandhauses auf der anderen Seite des Platzes. 

Vor sieben Jahren kamen wir über die Innenstadt kaum hinaus. Die machte einen ziemlich geschlossenenen Eindruck, hatte schon die Einkaufsstadt des Hauptbahnhofs, ein neues und gut geführtes Hotel und war – im Januar! – so angenehm still, wie es eine Großstadt natürlich nie ist und wie es den Geschäftsleuten nicht gefallen konnte.

Das war nun anders. Man fuhr mit dem Bus durch ziemlich traurige Vorstädte, in denen ganze Straßenzüge noch immer auf den Abriß warteten. Das Hotel, zu jenem Konzern gehörig, der uns vor sieben Jahren schon beherbergt hatte, und als komfortabelstes der Stadt geltend, erfreute nur zum Teil. Das Frühstück war vielfältig, wurde aber im zu kleinen Restaurant serviert, zusätzlich in einem der zahlreichen Tagungsräume. So viele davon den Organisatoren angeboten werden, so sehr schmilzt der Bewegungs- und Rastraum für den Privatgast zusammen. In das Hotelfoyer ragte der für das Frühstück und als Restaurant dienende nicht sehr große Raum hinein, neben dem es nur noch eine ebenfalls zum Foyer hin offene Bar gab. Alles war rasch überfüllt und erinnerte an Kafkas Hotel Occidental im Amerika-Roman. Das eher kleine Zimmer fiel lediglich dadurch auf, daß gleich nach dem Eintritt vor dem Gast ein großer gelber Fleck in den Teppichboden eingebrannt und  ein penetranter Sickergrubengeruch im Bad nicht zu beseitigen war. Das Haus zeigte sich als ein Beispiel dafür, wie auch im sogenannten oberen Bereich  Komfort und Intimität in der deutschen Hotellerie fast verschwunden sind, was den Blick auf scharf kalkulierende Konzernvorstände freigibt. Die Preise deuten natürlich nach oben. 

Hochinteressant war in unserem Stadtbereich die Architektur des Grassi-Museums, die Ende der zwanziger Jahre aus rotem Sandstein erbaut wurde, und zwar auf Teilen des alten Johanniskirchhofs, der heute noch das Grab Gellerts, aber auch jeweils  kumuliert die Grabstellen der Leipziger Buchhändler- und Verlegerfamilien Brockhaus, Reclam und Teubner enthält. Das Gegenbild ist jene „runde Ecke“, der Sitz der Leipziger Stasi, an der im November 1989 die Demonstrationen vorbeizogen. Ein Leipziger Bürgerkomitee hat darin eine Ausstellung aufgebaut, die in trostlosen Bürokratenkammern diese deutsche Melange aus Barbarei, Pedanterie und Kleingärtnertum präsentiert . Die grüßt hier z.B. mit einem Ensemble aus Weckgläsern, in denen statt des Apfelmus gelbe Tücher mit dem Geruch eines Verdächtigen konserviert wurden. Gleich daneben dürfen wir die noch aus dem Preußentum übernommenen Epauletten von Generalmajoren und Generalobersten bewundern, die von einem Mörder namens Mielke befehligt wurden, der sein Proletentum in der Armeegeneralsuniform gipfeln sah. Er sorgte u.a. dafür, daß 300000 Personen allein im Bezirk Leipzig in einem „Trog“ – so hieß das offiziell – ‚erfaßt’ wurden, liebte er doch, nach eigenem Bekenntnis, alle Menschen.

Jeden Tag wurden 1500 bis 2000 Briefschaften im Leipziger Postamt aussortiert, geöffnet und.wieder zugeklebt, denn man stand über dem Postgeheimnis und wollte doch gleichzeitig den Anschein erwecken, es zu wahren. Und so weiter, und so weiter. Die wenigen Besucher waren durchweg junge Leute. Repräsentant der älteren Generation ist wohl mehr ein Oberst Pfütze, der gerade sein Buch über die strikte Beachtung von Recht und Gesetz  in Mielkes Machtbereich vorgestellt hatte. Nicht weit von der „runden Ecke“ sieht man die Kuppel des alten Reichsgerichts, in dem 1933 der Reichstagsbrandprozeß stattgefunden hatte und das heute seine neue Aufgabe als Bundesverwaltungsgericht erfüllt. 

So ist das in Deutschland. Da war 1945 ein Leipzig, das so ausgebrannt war wie viele andere Städte. So sorgte man eben in diesen deutschen Landesteilen für die Erhaltung der Traditionen Preußens, wie man sie verstand, und der Gestapo, in den westlichen dagegen für das Wirtschaftswunder und dafür, daß es den Achtundsechzigern gelang, der restaurierten Kultur den Garaus zu machen, den Ulbricht  durch Sprengung noch vorhandener großer Architektur in Berlin, Potsdam, Leipzig und anderwärts bereits geleistet hatte.

  

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III

Und nun die Karwoche mit Thomaskirche und Opernhaus. Denn dies war das Erstaunlichste und dem Reisebüro zu Verdankende, daß an zwei aufeinanderfolgenden Abenden  dort Bachs Matthäuspassion mit den Thomanern und hier des Leipzigers Wagner „Parsifal“ mit dem Gewandhausorchester (wie auch bei jener) zu hören und zu sehen war.

Damit beginnt es schon. Die frühe Fassung der Matthäuspassion von 1727 hört man nur,unter der und abgewandt von der Orgelempore. Den „Parsifal“ aber, das Bühnenweihfestspiel von 1882, sieht man nicht nur, weil man in der Oper sitzt, sondern weil ein Bühnenausstatter, ein Schweizer, auch die Regie führt  und dabei glücklicherweise von den meisten Mätzchen des deutschen Regietheaters Abstand nimmt.

Innerhalb von 155 Jahren  gab es diese ‚Wandlung’ des christlichen Urgeschehens als Musikgeschehen. Dabei ist die Passion Bachs selbst schon der Endpunkt einer Entwicklung, die über fast 1500 Jahre vom Frühchristentum zu den Ausformungen der Gregorianik führt und über 200 Jahre vom Lutherschen zum Paul-Gerhardtschen Choral.

Das Faszinierende von Bachs Passion ist nun, wie ganz verschiedene Stränge von Überlieferung und Bach-Gegenwart  in dieser Musik zusammengebunden und als eine sowohl ästhetische wie theologische ‚Komposition’ vorgestellt werden. Da ist der biblische Matthäustext der Kapitel 26 und 27, der einsetzt nach den apokalyptischen Reden und einigen Gleichnisreden mit der rückblickenden Formulierung: „Da Jesus diese Rede vollendet hatte“.

Der Singular, in späteren Drucken ‚sinngemäß’ in einen Plural verwandelt, besteht nicht nur auf dem Zusammenhang dessen, was Jesus bis dahin verkündigt hatte, sondern weist auch auf den Wechsel hin, der von ihm deutlich angekündigt wird: den Wechsel von der Lehre zu Passion. Dieser Wechsel ist das Beherrschende der Evangelisten-Rezitative. Was Jesus nun spricht und was im musikalischen Leuchten der Vertonung hervorgehoben wird, ist nicht mehr Predigt und Exegese, sondern der Teil der Passion, der sich in prophetischen, klagenden und zürnenden Worten vollzieht. Ostern wird als Kreuzigung ausgelegt, die Jünger werden   getadelt, der Verrat wird angekündigt , das Erinnerungsmahl wird eingesetzt, es wird prophezeit, daß sich die Jünger an ihm „ärgern“ werden, daß ihn Petrus, der erste der Jünger, verleugnen werde,  es wird drastisch gesagt, daß Jesus verzweifelt sei, daß er bitte, ihm möge die Tötung erspart bleiben, daß er  sich aber in den Willen Gottes ergebe, zweimal heißt es, daß er die Jünger wegen ihrer Schwäche schilt, hingegen,daß er  Judas freundlich begrüßt, Gewaltanwendung zu seinen Gunsten ablehnt, daß die Schrift erfüllt wird, daß Jesus im Verhör des Kaiphas zunächst schweigt, dann aber bestätigt, daß er der „Sohn Gottes“, und Pilatus gegenüber, daß er „der Juden König“ ist. Dann werden von dem am Kreuz sterbenden Jesus nur noch die Schreie des Leidenden berichtet und das ‚letzte’ Wort: „Mein Gott, mein Gott warum hast Du mich verlassen“.

Mehr und mehr geht das Reden über auf die anderen. Der Hohepriester zeiht Jesus der Gotteslästerung. Die von ihm Befragten urteilen, daß Jesus des Todes schuldig sei. Man verhöhnt ihn. Petrus verleugnet ihn dreimal wie prophezeit und erkennt weinend seine Verleugnung. Judas erkennt seinen Verrat und erhängt sich. Das Volk schreit, daß Pilatus ihm Barrabas freigeben solle, einen „sonderlichen vor andern“, Jesus aber kreuzige. Pilatus wäscht seine Hände „vor dem Volk“ und spricht, er sei unschuldig „an dem Tod dieses Gerechten“. Das Volk will, daß Jesu Blut „über uns und unsere Kinder“ komme. Man verspottet Jesus abermals, kreuzigt ihn. Man ‚lästert’ ihn, konstatiert, daß er sich selbst nicht helfen könne, daß ihm Gott nicht helfe, höhnt, daß man sehen wolle, ob Elias, den er scheinbar gerufen habe, ihm helfe. Jesus stirbt. Er wird von Joseph von Arimathia in ein eigenes Grab gelegt.

Die Natur zeigt sich  als entfesselte, „Heilige“ kommen aus den Gräbern, der römische Hauptmann und die Seinigen sagen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“. Die Hohenpriester und die Pharisäer intervenieren bei Pilatus wegen der Versiegelung des Grabes, weil sie ‚weiteren’ Betrug verhindern wollen.

Nach den Gleichnis- und Predigtreden also das Reden als Redehandlung, die Jesus schließlich durch Schweigen, Schmerzensschreie und Verlassenheitsformel abschließt. Die Redehandlung Jesu geht jeweils über  in die individuelle Reflexion von Petrus, Judas, Pilatus und in das ‚Geschrei’ und den Hohn des Volkes. 

Bach läßt all dieses als Musik erscheinen. Vom Leuchten der Jesusworte war die Rede, aber es muß zugleich vom Schrei die Rede sein, vor allem aber davon, daß die Erzählung immer wieder unterbrochen wird  von dem Sprechen einzelner wie von dem eines Kollektivs. Man begreift erst hier, und zwar bis zum chorischen „Barrabam“ und „Laß ihn kreuzigen!“, daß  nicht eine traurige Geschichte vorgetragen wird, sondern die entsetzlich zerissene eines Mannes , der ganz der Erfüllung der Schrift folgen will, obwohl die den Schrei nicht auslöscht, sondern ihn noch verstärkt, wenn durch Psalm 22,2 zwar in den letzten Worten Jesu die Schrift repräsentiert wird,  aber der Psalm Davids sich fortsetzt als : „Ich heule; aber meine Hilfe ist ferne.“ Es ist eine Geschichte des Entsetzens im kollektiven Versagen, dem  der Jünger, des ersten und des letzten zumal,  vor allem aber in dem der Dirigenten des Volkes und des Volkes selbst, die lieber für die Vernichtung jeder Sinnmöglichkeit plädieren („vielleicht ist es wahr“,sagt dagegen der chassidische Rabbi zum Skeptiker) als von Gewalt absehen wollen. Es ist als solche ebenso eine einzigartige wie eine Modell-Geschichte.

Bach spart auf dieser Ebene semantisch nichts aus, auf der Ebene des Textes, der für den Hörer von 1727 nichts Neues war, den er aber so noch nie gehört hatte.

Die andere ist die Ebene des Gemeinde-Chorals, die bis heute den Hörer, zumal den, der das protestantische Ritual  verinnerlichte, als eine seltsame Sicherheit umfängt. Bach verwendet in dieser frühen Fassung z.B. drei Strophen aus Paul Gerhardts  „O Haupt voll Blut und Wunden“(wahrscheinlich von 1665). Doch fügt er sie nicht in der Reihenfolge des Gesangbuches ein, sondern beginnt mit der 5.Strophe(„Erkenne mich, mein Hüter“), die er zwischen die Ölbergszene mit der Prophetie Jesu, daß sich alle Jünger an ihm „ärgern“ werden und daß ihn Petrus dreimal verleugnen werde, schiebt. Die Choralstrophe  kehrt die prophezeite Verleugnung um: das „Ich“ erbittet vom „Hüter“, erkannt zu werden als einen der Gemeinde, dem jener bereits „viel Gut’s“ getan hat durch materiale, durch geistliche Hilfe. Die Gemeinde ist also über die Situation des Versagens, wie sie für die Jünger charakteristisch war, hinaus. Hilfe wird auch in der Strophe „Wenn ich einmal soll scheiden“ erwartet. Auch hat sie die Schrecken der Passion und des Todes Jesu hinter sich , insofern sie, anders als der leidende Jesus, nicht verlassen ist, sondern  dessen Beistands gewiß . Dies geschieht alles in der Bindung an die Zeilen der ersten Strophe – „O Haupt voll Blut und Wunden“ - , die als letzte dieses Chorals in die Kreuzigungsszene eingefügt ist. Die Sicherheit dieser Gemeindetheologie, wie sie aus den Strophen 5 und 9 hervorgeht, ist fundiert in einem Paradox, nämlich in dem des Hauptes, das seine Würde, seine Hoheit völlig verloren hat, das „hoch schimpfieret“ ist, aber gerade darin als das Haupt erkannt wird, das als das des Erlösers und des Weltherrschers mir „gegrüßet“ ist. Der vom Entsetzen geprägte Text der Leidensgeschichte verändert sich zum gemeinsamen Gesang  von der neuen Bedeutung des Schreckens als Wohltat, Hilfe, Sieg.

Aber immer ist das noch nicht das Ganze. Denn die stärkste musikalische Eigenleistung scheint in den Rezitativen, Arien und natürlich in Eingangs- und Schlußchor zu liegen, die nicht als Bibeltexte und Choräle vorlagen, sondern  von dem zeitgenössischen Autor, der sich Picander nannte und in Leipzig lebte, beigetragen wurden.Er war ein bescheidener  Schreiber, der Possen produzierte wie den „Akademischen Schlendrian“ in Leipzig, das noch kein Klein-Paris war. Bach ließ sich von ihm für seine Passion Arientexte schreiben, die dem Gefühl der Zeit entsprachen. Was machten Leipziger Bürgerinnen mit  der Passionsgeschichte, was mit den Gewißheitschorälen des Paul Gerhardt? Picander dichtete für sie“Drum muß uns sein verdienstlich Leiden/Recht bitter und doch süße sein“ oder „Denn sein Mund/, Der mit Milch und Honig fließet,/Hat den Grund /Und des Leidens herbe Schmach/Durch den ersten Trunk versüßet“. Das Schreckliche ist auch das Süße. Bachs ungemeines Verdienst ist es, das, was als diese Verse  bloße Behauptung wäre, musikalisch plausibel zu machen, indem er das Unentschiedene und Mittelmäßige des zeitgenössischen Gefühls auf die Höhe seiner Passionsmusik hebt. Und was konventionelle Apokalyptik bliebe: „Sind Blitze, sind Donner in Wolken entschwunden“, wird in Bachs Musik  zu einer kosmischen Katastrophe, die zugleich Teil der irdischen Passion bleibt. 

Aber am erstaunlichsten sind der Eingangs- und der Schlußchor. Jener als Exegese der Klage, die das Subjekt anstimmt und die ein Choral aus der Frühzeit der Reformation in die Topik der Passion überführt: ein unbegrenzbares Hin und Her zwischen der klagenden Subjektivität und der fast statuarischen Gemeindesicherheit, vermittelt in der Vorstellung des Lamms als Lämmlein und Siegerlamm. Und schließlich die Selbstaufforderung der Klagenden:  zur Ruhe, „Ruhekissen“, „Ruhstatt“, „Ruhe sanfte, sanfte ruh“.Nichts ist nun wichtiger als die Verwandlung des Schreckens und der Glaubenssicherheit in die Quietas. Bach bietet in ständigem Wechsel dies: Schrecken, Glauben, Ruhe als Summe der Passion, als theologische und ästhetische Summe zugleich. Es ist eine gewagte Synthese, aber eine, die den (in sich schrecklichen, keineswegs ‚sicheren’) Bibeltext, die Sicherheit früheren Gemeindeglaubens und die bachgegenwärtige Empfindung zu verbinden sucht, wobei „Barrabam“, „O Haupt voll Blut und Wunden“ und „Ruhe sanfte, sanfte ruh“ einerseits ganz disparat bleiben, andererseits in das Ganze der Bachschen Musik überführt werden. Das sucht über jenen Status hinauszugelangen, der „das Verwunderlichste an der Geschichte der christlichen Theologie ist“: „ihr[en] sprachliche[n] Kleinmut, das Leiden an der Spracharmut“(Hans Blumenberg, Matthäuspassion. Frankfurt/M. 1988.S.18). Bachs Musik ist die Sprache, die die Theologen nicht finden, zumal sie sich heute längst für den sozial abgestützten pursuit of happiness entschieden haben, also zur Erlösung vom Elend, von dem Bachs Musik spricht, eh nichts mehr zu sagen haben.

  

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IV

Mit der Wiederaufführung der Matthäuspassion von 1829, die nach eigenem Zeugnis ein „Komödiant“ (Devrient) und ein zwanzigjähriger „Judenjunge“ (Mendelssohn) mit schließlicher Zustimmung des alten Zelter unternehmen, beginnt eine Rezeptionsgeschichte, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg besonders dominant wird. Die Karwoche, die man in die Woche erinnerter Luftkriegsschrecken und gegenwärtiger Hungerzeit transponierte, wird durch Aufführungen in großen und kleinen Städten und in Sendungen der öffentlich-rechtlichen Anstalten, die die Erfüllung ihrer Aufgaben noch nicht vor allem  in der Ausstrahlung von Fußballspielen sahen, gekennzeichnet. Es ist nun interessant, wie sich gerade in unseren Jahren eine deutliche Verlagerung von den Aufführungen der Matthäuspassion zu denen des „Parsifal“ vollzieht, so daß das Nacheinander beider am Gründonnerstag und Karfreitag in Leipzig eine eigentümliche Bedeutung erhält. Ist die Matthäuspassion seit 1829 keineswegs mehr allein, oft nicht einmal primär eine gottesdienstliche Angelegenheit, sondern ein Konzert, so setzt die deutschlandweite Aufführung des „Parsifal“ die ständige Mißachtung des Wagnerschen Gebots vom „Bühnenweih- festspiel“, das nur in Bayreuth aufzuführen und zu sehen sei, voraus oder aber die Ausweitung der „Bühnenweihe“ über ganz Deutschland und darüber hinaus. Daß der Name „Bühneweihfestspiel“ längst vor der Zeit schon den Festspieläon einleitet, in dem sich Ästhetik und Kommerz  treffen, als wären sie für einander gemacht, ist eine besondere Nuance der Rezeptionsgeschichte des Wagnerschen Ausnahmestücks. Denn es soll ja, nach dem Willen des ‚Meisters’, Opernaufführung etwa im Sinne der Erfüllung der „Großen Oper“ und musikalisches Ritual zugleich sein. 

Während Bach die unterschiedlichen Ebenen von Verkündigung und Frömmigkeit musikalisch zu verbinden sucht,  liefert Wagner selbst den Text wie die Musik(wie stets), aber auch die Bühnenbilder mit den bis 1933 gebrauchten Wandel- dekorationen und die maßgebende Regie für das„Gesamtkunstwerk“ und das neue Ritual gleichzeitig und „wie aus einem Guß“. Das ist darum bemerkenswert, weil „Parsifal“eine von Wagner erfundene  Passionsgeschichte ist, die aber keineswegs die überlieferte  Passion hinter sich läßt, sondern sich vielmehr ständig auf sie bezieht. Das hat natürlich zunächst mit den Gewährsdichtern Wagners zu tun: Chrétien de Troyes, Wolfram von Eschenbach und Robert de Boron. Auch diese erinnern das Karfreitagsgeschehen , doch bleibt es als Heilzentrum von den epischen Elementen untangiert. So ist die zentrale Stelle bei Wolfram, nämlich die Mitleidsfrage des Parzival an Anfortas: „Oeheim, waz wirret dir?“, als Aufhebung sündiger Ignoranz Teil einer individuellen Glaubensgeschichte, die sehr wohl der Passions- als Erlösungsgeschichte sich einfügen läßt. Bei Wagner geht es aber nicht um die mitleidvolle Frage, sondern um Erlösung, aber nicht durch die einmalige Passion. Parsifal erlöst am Karfreitag neuerdings den wunden Amfortas durch Berührung mit dem Speer von Golgatha, den er vom Zauberer Klingsor zurückgewonnen hat. Trotz der Beziehung auf den Karfreitag, der freilich im musikalischen „Karfreitagszauber“ sich erfüllt, trotz der Beziehung auf  Speer, Gral(die zur Heilsapparatur werden) und Taufe findet eine Übersteigung statt,die als ‚neue Erlösung’ die christliche zu einer  bloßen Erinnerungsgröße macht. Diese Übersteigung wird in dem Schlußvers ausformuliert: „Erlösung dem Erlöser.“ Man weiß nicht und soll nicht wissen, auf wen sich das bezieht: auf Jesus selbst, auf Amfortas, auf Parsifal. Wichtiger ist, daß damit die sich ständig wiederholende Erlösung als ewige Wiederkehr des Gleichen, wie sie Freundfeind Nietzsche sah, apostrophiert wird, die die einmalige Passion des Gottmenschen auflöst und ablöst. In der ‚Erlösung des Erlösers’ mengen sich eklektizistisch alle möglichen Heilsformulierungen und –ansprüche. Sie entdecken sich in dem, was ein populäres „Opernbuch“ (Otto Schumann, 1948, S. 280) als „Worte und Verse“ „von unübertroffener dichterischer Kraft“ benennt, in Wahrheit als Melange aus manchmal undurchdringlichem Geraune und dem Dilettantischen benachbarte poetische ‚Höchstleistung’. Dem wiederum entspricht eine Musik, die sich von den Differenziertheiten von „Tristan und Isolde“zugunsten der Klangteppiche jener Hollywood-Filme abwendet, die als  eben diese auf ihrer Größe bestehen. Das ist die Art des Religiösen, die nun den Erdkreis überziehen und das Barbarische erträglich machen soll: zwischen Historienfilm und Science Fiction, mit joint und Gelall.

  

V

In den Pausen gab es Sekt und Sandwiches. Nach fünf Stunden war man froh, vom Bus ins Hotel gebracht zu werden. Am Tag darauf wurde die Rückfahrt angetreten.Es war Ostern, das jüngere Menschen, wie man hört, für den Geburtstag Jesu halten.

  

  

VOM JOURNALISMUS

  

Der Journalist

a) Der journalistische Typus 

  

In Kaspar Stielers Kompendium „Zeitungs Lust und Nutz“ von 1695 wird von den „Zeitungsverfassern“ gefordert, sie sollten „allesamt kluge Leute seyn/die das Wichtige und Weitaussehende von Lappalien zu unterscheiden wüsten“ und die „examinieren und prüfen...die bey ihnen einlaufende Zettel, wo sie herkommen und ob ihnen auch zu trauen sey“. Aber es fänden „sich ofters Spötter, /Gernwisser/ Fabelhansen und Wurmschneider/die/ aus lauter Leichtsinnigkeit/zuweilen auch aus gewissem vorteiligem Absehen/eine geflissene Lügen in die Welt streuen/und hernach darüber lachen“(31).Es gibt also, und zwar grundsätzlich, unter den Journalisten, wie Stieler sie damals nach ca 80 Jahren moderner Zeitungsgeschichte kannte, diejenigen, die als „kluge Leute“ „das Wichtige“ vom Unwichtigen trennen können und die einlaufenden Nachrichten daraufhin prüfen, ob ihnen „... zu trauen sey“, als auch „Fabelhansen“, die um des persönlichen Vorteils willen „eine geflissene Lügen in die Welt streuen“(31).Stieler arbeitet  nicht mit gleitenden Unterschieden, die in einer Skala vom kompetenten zum inkompetenten Journalisten führen, sondern er sieht schon in der frühen Periode des neuzeitlichen Journalismus eine grundsätzliche Differenz zwischen denen, die auf der Basis der Richtigkeit von Nachrichten das Wichtige mitteilen, und jenen, bei denen es weder um das Richtige noch das Wichtige geht, sondern um „Lügen“, deren Verbreitung dem Verbreiter Vorteile bringt.

Das ist hinsichtlich eines Berufes eine erstaunliche Differenzierung, die damit zu tun hat, daß schon in den journalistischen Anfängen sowohl die Notwendigkeit bestand, aus dem (Nachrichten-)Material, dem man sich gegenübersah, eine vernunft- und wahrheitsorientierte  Auswahl zu treffen, und gleichzeitig die Möglichkeit, ohne jede Rücksicht auf  das Richtige und Wichtige  lügenhafte, also Realität nur vorspiegelnde Texte zu verfassen um des eigenen Vorteils willen.

Es ist bemerkenswert, daß schon so früh auf die Aufgaben und die Probleme des Journalisten abgehoben wird. Denn gehen wir 300 Jahre weiter und damit in unsere Gegenwart, so gilt immer noch, daß es eine Hauptforderung an den Journalisten ist, und zwar im engeren Sinn des Redakteurs,  das Richtige von Nachrichten zu erkennen und dann das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen.

Wir kommen damit sofort zu der Frage, wie denn das zu geschehen habe, und sehen uns damit der weiteren Frage gegenüber, wie durch den beruflichen Werdegang für beides zu sorgen sei. Das außerordentlich Seltsame ist nun, daß es bis heute keinerlei einheitliche, ja daß es überhaupt keine verbindliche Journalistenausbildung gibt. Es ist vielerlei möglich: der Besuch einer Journalistenschule, ein Studium einer Geisteswissenschaft oder der Publizistik, das aber natürlich gar nichts mit journalistischer Ausbildung zu tun hat, aber auch der sogenannte Seiteneinstieg. Die hochgerühmte Gräfin Dönhoff, Chefredakteurin  und später Herausgeberin der „Zeit“, kam als flüchtige Landadlige nach Hamburg und begann Journalistin zu sein. Gewiß wird ihr jemand die Technica des Gewerbes gezeigt haben, aber dann schrieb sie Texte, die sie aus dem eigenen Fundus hervorbrachte. Nicht anders der gleichermaßen gerühmte „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein, der als Leutnant aus dem Krieg zurückkehrte und von den Engländern eine Lizenz bekam. Der Einwand wird natürlich lauten, hier handle es sich um Ausnahmen, die mit der Zeit und den Personen  zusammenhingen. In Wahrheit ist es aber strukturell das mehr oder minder Gängige. Ein Jurist, der eine Zeitlang als Staatsawalt tätig war, wird leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Er hat also zunächst einen Ausbildungsberuf absolviert und ist dann Journalist geworden. Ob er ein kluger Mann ist und das Richtige vom Unrichtigen, das Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden weiß, ist eine ganz persönliche, ja gewissermaßen private Frage. Darin ist er dem Politiker verwandt, aber auch dem Wissenschaftler. Doch ist jener dem Wahlkörper verantwortlich, durch den er zu seiner Stellung als Abgeordneter oder Minister gekommen ist. Dieser ist der Kontrolle seiner Kollegen unterworfen, und zwar sowohl seiner zeitgenössischen wie der historischen Kollegen, durch die das, was er schreibt,  auf seine Richtigkeit und Wichtigkeit überprüft werden kann. Wie aber steht es mit den journalistischen Nachrichten? Hier greift eine Kontrolle der Öffentlichkeit, die an die Stelle von Wahkörper und Kollegen treten könnte, nur, wenn es sich um so massive Nachrichten handelt wie die vom Ausbruch eines Krieges oder einer Naturkatastrophe. Aber alles, was an Details  einer solchen Nachricht  berichtet wird, kann sich morgen schon als unrichtig erweisen, und was eben noch als wichtig hervorgehoben wurde, kann gleich danach schon als unwichtig gelten. Das hängt zum einen damit zusammen, daß der Journalist angewiesen ist auf eine Kette von Zuträgern(was auch indirekt für die Übernahme von Agenturmeldungen gilt), die natürlich ganz unterschiedlich glaubwürdig sind. Aber der eigentliche Grund für die Mängel im Detail, das ja nach dem Selbstverständnis des Journalismus das Wahrheitselement des Ganzen der Nachricht ist,  ist in den Kenntnissen des einzelnen Journalisten selbst zu finden, die so zufällig sind, wie es sein Ausbildungsgang ist. Schon so einfache Kenntnisse wie z.B. die von  Adelsrängen, wie sie  in den täglichen politischen und gesellschaftlichen Abläufen begegnen, sind weithin nicht vorhanden. Der ‚normale’ Journalist wird das Prädikat „Königliche Hoheit“ mit einem König in Verbindung bringen, er wird das englische „Prince“ immer mit Prinz übersetzen, obwohl der Prince of Wales deutsch als Fürst von Wales zu erscheinen hätte. Ihm unterläuft es auch immer wieder, daß er zwischen einem republikanischen Staatsoberhaupt (im allgemeinen „Präsident“)und dem Regierungschef (im allgemeinen „Ministerpräsident“) nicht zu unterscheiden weiß.Diese Unkenntnis zeigt sich täglich, sie wird aber nie korrigiert. Die Redaktionen wissen, daß es zu erheblichen  und umfangreichen Korrekturen käme, die natürlich die Kenntnis ihrer Journalisten in kein günstiges Licht stellen würde. So kommt es im Journalismus nicht nur zu solchen Falschmeldungen, die wegen offensichtlicher Unrichtigkeit schnell emendiert werden, wenn es sich nämlich um Wichtiges handelt, sondern in großem Maße zu solchen aus Unkenntnis im Detail, die nie revidiert, sondern in einer Art Absprache vor dem Publikum verborgen werden.

Diese Unkenntnis soll  weitgehend durch  Formulierungsfähigkeit kompensiert werden, die heute durchweg und jargonhaft als „gute Schreibe“behauptet wird.Was so von den Schreibenden benannt wird, kann nur die Flottheit, Glattheit und mehr oder minder große rhetorische Brillanz journalistischer Texte meinen, während auch hier, also im Felde der primären Voraussetzung des Berufes, nämlich der Kenntnis von Wortbildung, Grammatik und  Syntax der deutschen Sprache sich durchweg Mängel zeigen, die fast immer als Folge von Unkenntnis zu sehen sind  Zu den  gängigen Fehlern gehören z.B. der zweimalige Superlativ bei zusammengesetzten Adjektiven (z.B.„höchstgelegenste“), die ständigen Fehler in der Rektion von Präpositionen(z.B.„dank des“), falsche Konjugation (z.B. „solange die Urteile nicht gefallen sind“), das Verfehlen der Kongruenz der Casus zwischen Subjekt und Apposition(meist erscheint die Apposition, abweichend vom Bezugswort, im Genitiv oder Dativ).

Dies können natürlich nur ganz wenige Beispiele einer sich übrigens ständig vergrößernden Unsicherheit sein, sich in der Muttersprache zu bewegen und reflektierend zu schreiben.

Doch beginnt hier erst das sprachliche Problem. Zu dem gehört u.a. der Metapherngebrauch wie die redensartliche Formulierung, deren heutige Formen dominante Erscheinungen des Journalismus sind. In ihnen vor allem zeigt sich ein Verhältnis zur Sprache, für das deren eigenes Denken, wie es sich im Sprachgebrauch der Jahrhunderte äußert, eine dem Journalisten nahezu unbekannte Kategorie ist. Er operiert mit ihnen wie mit einem Apparat, der aus Fertigteilen besteht, die unmetaphorisch verstanden nicht funktionieren würden, es natürlich sprachlich auch nicht tun, aber ihren Aberwitz durch die nächste Ausgabe des Blattes zum Verschwinden zu bringen scheinen. Dabei ist der Schaden für das Bewußtsein der Leser irreparabel, da die journalistischen Texte ja eine Vorgabe dafür sind, wie jeweils heute mit der Sprache umgegangen werden kann, ja soll.

Damit nähern wir uns dem zweiten Gesichtspunkt Stielers, nämlich der Möglichkeit des Journalisten, Texte nur um des eigenen Vorteils willen zu produzieren und um „Lügen zu streuen“.Diese Gefahr ist nicht als vereinzelte und bedauernswerte Aberration vom Wege des „guten Journalisten“ zu sehen, sondern als eine ständige und umfassende. Der Journalist, dem nur die Aufgabe zukommt, das Richtige und das Wichtige zu vermitteln, was, wie wir sahen, aber außerordentliche Kenntnisse und  eine spezifische Unterscheidungsfähigkeit erfordert, setzt gemeinhein seine Energie nicht zum Erwerb beider ein, ja er mogelt sich vielmehr mit einem mehr oder minder bescheidenen Kenntnisstand in Sache und Sprache durch seine Vermittlungsaufgabe. Doch ist ihm dank seiner „Sprachbeherrschung“ daran gelegen, seine gewissermaßen brachliegende Subjektivität zur Geltung zu bringen. Hier kann er nun durch die von Meinung durchzogenen Nachrichten, durch Leitartikel, Kommentar, Glosse aus dem Handgelenk(„aus lauter Leichtsinnigkeit“) und „aus gewissem vorteiligem Absehen“sich einen Namen machen, der ganz an die „gute Schreibe“ gebunden ist, was durchweg nichts anderes meint  als eine ironische Suada (“es finden sich ofters Spötter“). Ironie ist aber gar keine Stilkategorie des Journalismus, sie gehört zur Literatur und wird journalistisch nur für die eigenen Interessen genutzt, wobei die Verbindung von (Nachrichten-) Richtigkeit und Ironie nicht Kritik produziert, sondern Zynismus.

Die Selbsteinschätzung des Journalisten schwankt zwischen Omnipotenzphantasien und äußerster Empfindlichkeit gegenüber jeder Kritik. Jene nähren Politiker, Wirtschaftler, aber auch Wissenschaftler und Theologen, da der Glaube daran, daß nur die journalistische Kommunikation ihnen das Überleben sichert, gängig geworden ist. Diese hat etwas mit dem Wissen der Journalisten zu tun, daß ihre gesellschaftliche Geltung sehr gering ist. Die wiederum spiegelt die Werdegänge von Journalisten  als die von Dilettanten. Sie können außerordentlich anregend sein, aber sie können auch, da es ihnen an einer ernsthaften Berufsbildung fehlt, in die Nähe von bloßen  Spielern rücken. Gleichzeitig ist der Journalist aber dank der kommunikationstheoretischen Glaubenssätze jemand, der mit über die Arcana der Macht verfügt. Darum kann jeder Anfänger sich als Angehöriger der vierten Gewalt fühlen, zu der ihn niemand berufen hat als ein Verleger oder Chefredakteur, vor deren Unverantwortlichkeit er sich einzig zu verantworten hat.

Um diese Macht auszuüben ist der Journalist in der ständigen Versuchung, „Lügen zu streuen“, was natürlich nicht allein  in der Form direkter und massiver Unwahrheit geschehen kann, sondern auch durch vermutende und insinuierende Sätze, hinter denen nicht mehr zu stehen braucht als z.B. sensationierende Absichten.

Jedenfalls gilt, daß nicht einmal beim Politiker Berufspostulate und empirisches Verhalten so stark auseinanderklaffen wie bei den Frauen und Männern, die das Recht der Pressefreiheit  auch dann beanspruchen, wenn  sie es zur ungerechtfertigten Schädigung von einzelnen oder Gruppen mißbrauchen.

   

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b) Spezifica des journalistischen Typus

  

Gemeint soll hier  nicht sein, welche Funktionen der einzelne Journalist ausübt; ob er mehr als Nachrichten- oder als Meinungsjournalist tätig ist, ob er als Rechercheur , als Kommentator,  als Redakteur etc eingestellt wurde.

All das sind eher äußerliche Spezifica, die anders als in anderen Berufen bei der Suche nach und der Einstellung von Journalisten keine sehr große Rolle spielen.

Es  gehört ja zur Eigentümlichkeit dieses Berufes, daß weder von der Ausbildung noch von der Ausübung der journalistischen Tätigkeit her die Eindeutigkeit gegeben ist, die  wir bei den ‚klassischen’ akademischen Berufen: beim Arzt, beim Richter, beim Pfarrer z.B. oder bei einem Handwerker, einem Sachbearbeiter, einem Polizisten im allgemeinen finden. So scheint ein geisteswissenschaftliches Studium diese Voraussetzungen noch am besten zu gewährleisten, aber die Spezialisierung des Studiums steht dem Generalistischen des journalistischen Berufs entgegen. Das macht sich oft schon während des Studiums selbst bemerkbar. Die journalistische Unruhe treibt den künftig in den  Medien Tätigen einerseits schon zur freien Mitarbeit, zum anderen von der wissenschaftlichen Arbeit weg, insofern sie Askese, Genauigkeit, Detailinteresse verlangt. Wahrscheinlich kennt kein anderer Beruf so viele Studienabbrecher.

  

Versucht man Spezifica des Journalisten zu bestimmen, die sich an der Bewußtseinstendenz des einzelnen orientieren, so kann man zunächst einen Typus erkennen, der von der Vielfalt der Gegenstände  affiziert ist. Während sich der Wissenschaftler mehr oder minder stets  an einem einzelnen Thema, dem später ein anderes folgen kann, orientiert, rechnet man beim Journalisten mit einer bis zur Universalität gehenden Interessenvielfalt, die sich aus pragmatischen Gründen z.B. in Innen- und Außenpolitik auseinanderlegen mag, aber auch dann noch das Nebeneinander von vielen, ja sehr vielen Themen  aufgreift. Dieser Typus ist das Gegenteil des Fachmanns, doch bezahlt er die Vermeidung von dessen Enge mit  der unkontrollierbaren Weite des Interesses an potentiell allem. Eine solche Vielfalt stellt  sich im Bewußtsein des einzelnen aber eben nicht  durch die der Geographie, Geschichte, Tradition geschuldete  Differenziertheit der verschiedenen Themen dar, sondern als Pseudoeinheit des Politischen, Ökonomischen, Kulturellen etc. 

  

Verwandt damit ist der Journalist, der von der Besessenheit durch den Tag  bestimmt wird. Der Tag stellt für ihn ein Totum dar, das sich morgen  erneut herstellt. Das repräsentiert vielleicht besonders deutlich  die Einstellung der journalistischen Medien zur Wirklichkeit, die hier immer aufs neue konstruiert und wieder destruiert wird. Daß nichts so alt sei wie die Zeitung von gestern, gilt diesem journalistischen Bewußtsein nicht als Scherz, sondern als vollkommener Ernst, dem er dient. Das Universum hat für ihn 24 Stunden, nach denen ein neues auftaucht, das er mit seinen Texten schafft.

  

Dieses Schaffen des Tages durch Texte ist ganz von seinem Sprachgebrauch abhängig, in dem sich das journalistische Sprachverständnis zeigt, von dem schon die Rede war. Dieses Sprachverständnis kennt Sprache grundsätzlich nur als Apparat, der in den Stand setzt, wirkungsvoll zu schreiben bzw. zu sprechen. Die Frage, ob die Sprache durch den gegenwärtigen Gebrauch wie durch ihre Geschichte, vor allem aber  durch ihr ‚Bestehen’  eine Qualität besitzt, die man sich, wie es beim Schriftsteller und Philosophen der Fall ist, bewußt machen muß, stellt sich gerade dem Journalisten, der auf Wirkung bedacht ist, gar nicht. Er scheint sich ähnlich wie der Wissenschaftler zu verhalten, der aber nicht auf Wirkung, sondern auf Sachgerechtheit aus ist. 

Damit  begreift er sich als jemanden , der über die Sprache verfügt. Diese Instrumentalisierung ist nicht nur an der Rezipientenwirkung orientiert, sondern daran, sich selbst als jemanden zu sehen, der zwar nicht im Handeln politische, wirtschaftliche, kulturelle Macht ausübt, wohl aber durch Schreiben bzw Sprechen.  Im Gegensatz zu den Handlungsmächtigen agiert er aus dem Hintergrund, wodurch ihm alle Verantwortlichkeit erspart bleibt.

  

Diese Verantwortungslosigkeit  zeigt sich häufig in der Raschheit und Direktheit des Urteils Journalistische Sätze sind oftmals so, daß sie die konventionellen Umgangsformen zwischen erwachsenen Menschen außer acht lassen und nicht nur im Kommentar, sondern auch im Interview einzelne Personen so entschieden kritisieren, wie es im täglichen Leben Ausnahme ist. 

  

Diese Raschheit und Direktheit der eigenen Rede trifft sich häufig mit Problemblindheit, die man gerade in diesem Zusammenhang nicht erwarten würde. Begegnet sie beispielsweise bei einem Richter, wäre dies ein Zeichen für dessen Versagen. Hier hingegen ist sie darum gängig, weil das rasche Urteil das Zögern der Reflexion nicht kennt, sondern auf  Pointierung zustrebt.

  

Cachiert werden verschiedene journalistische Spezifica durch  die schon angesprochenen Formen der Ironie, die von der Literatur übernommen wurden und seit vielen Jahren endemisch geworden sind. Sie tauchten zuerst im „Spiegel“ auf und schoben Gegenstand wie Urteil in eine Sphäre der Unverbindlichkeit ab. Dadurch entstand eine Phraseologie, die thematisch oft gar nichts mehr bedeutet, wohl aber als stilistische und damit journalistische Leistung des Schreibers oder Sprechers gelten soll.

  

Universell wie die Ironie ist die Kritizität des Journalismus, die sich auf alles und jeden beziehen kann. Daraus speist sich das Gefühl einer kritischen Allpotenz, die aber, da sie bloß rhetorisch ist, von dem Gefühl begleitet wird,die jeweilige Aufgabe nie zu bewältigen, ja vor ihr zu versagen, was zu einer ständigen Empfindlichkeit führt, wenn auch nur die Vermutung eines Widerspruchs gegeben ist, den die öffentlich Handelnden allerdings gemeinhein gar nicht wagen.                                                                                                      

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Ein journalistisches Leben

Heike B. Görtemaker, Ein deutsches Leben. Die Geschichte der Margret Boveri 1900 – 1975. München: C.H. Beck 2005

  

Die Biographin, Historikerin, bemüht sich um eine so ruhige wie nüchterne Darstellung, auf die wir uns im folgenden stützen, da wir kaum etwas von Margret Boveri kennen. So ist mir eine übliche quellenorientierte Rezension, die in der Lage wäre, den Kenntnisstand der Verfasserin zu prüfen, nicht möglich.  Doch müssen wir uns oft genug als schlichte Leser darauf verlassen, daß die Darstellung einer Biographie jedenfalls so viel Zuverlässigkeit hat, als es braucht, um eine plausible Vorstellung von einem Leben zu liefern.Der sich so entfaltenden Vorstellung versuchen wir nachzugehen.

Je pronocierter ein Leben  war, d.h. je mehr es in historischen Zusammenhängen erscheint, ja mehr: sie prägte, um so kritischer muß man allerdings einer solchen Biographie gegenüber sein, um so mehr Lücken wird sie auch aufweisen. Die große Zahl von Teil- und Gesamtbiographien Hitlers hat es bis heute nicht vermocht, zumindest bestimmte Phasen dieses Lebens so deutlich aufzuhellen, daß man das Vorhergehende und das Folgende damit verbinden könnte. Am deutlichsten gilt das wohl für die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Wir kennen einigermaßen den Bohème-Hitler der Wiener Zeit, auch die Jahre des Soldaten, aber was er von Ende 1918 bis Anfang 1920  wirklich dachte, ist bis heute nicht genügend geklärt, obwohl man es brauchte, um die Zeit bis zum Putsch 1923 und auch die weiteren zwanziger Jahre genauer beurteilen zu können.

Das Leben der Journalistin Margret Boveri ist mit diesem Leben nur darin verbunden, daß sie eine der ‚öffentlichen’ Personen war, deren Lebensweg durch Hitler und den Nazismus stark bestimmt wurde. Doch wie? Wir kennen Emigrantenbiographien, Biographien von Politikern oder Literaten, die im Lande blieben, auch Biographien von Personen, die mitmachten und von denen die Speers vielleicht die am meisten faszinierende ist. Aber über die als bedeutende Journalistin der fünfziger und sechziger Jahre Eingeschätzte wußten wir bisher wenig. 

Als junger Mann kannte man Margret Boveri als Verfasserin von „Der Verrat im 20. Jahrhundert“ und von „Wir lügen alle“, diesem provozierenden Titel, der sowohl als Eingeständnis wie als Zitierung einer Behauptung gelesen werden konnte, sich jedenfalls auf die Journalistik des Berliner Tageblatts in der Nazizeit bezog. 

Der erste Teil des Buches von Frau Görtemaker, „Ein selbstbestimmtes Leben“ überschrieben und von der Biographie Boveris bis 1933 handelnd, bestätigt diesen Titel ganz und gar nicht. Ein junges Mädchen aus einer Würzburger Professorenfamilie hängt am  frühverstorbenen Vater,  lebt oft im Streit mit der amerikanischen Mutter, schließt sich nach dem Krieg einem nationalen Jugendbund an, studiert dann in Würzburg mit dem Ziel, Lehrerin zu werden, geht nach dem Examen und dem Referendariat 1925 nach München. Über diese Zeit sagt sie später: „absolute Ziellosigkeit“.  Sie studiert ein bißchen Geschichte bei Oncken, ist dann in der Zoologischen Station in Neapel bei der Familie Reinhard Dohrns,bekennt der Mutter „keinen besonders  großen wissenschaftlichen Trieb“(38) zu haben, ist seit 1929 wieder in Deutschland, nämlich in Berlin, wo sie von Oncken ein Dissertationsthema bekommt. 1932 promoviert sie mit bescheidenem Erfolg.  Ende 1928 hatte sie in der Frankfurter Zeitung zum ersten Mal einen Artikel veröffentlicht.  Kurzzeitig waren die Beziehungen zu zwei Männern,  von denen der eine ein farbiger amerikanischer Zoologieprofessor war.

Von dieser Beziehung abgesehen  könnte man sich kaum  ein junges Leben nichtssagender vorstellen, zumal offenbar weder Lektüre noch Theater noch auch Musik, obwohl sie ein Instrument  spielte,  noch gar eigene Schreibversuche sie stärker beschäftigten. Sie lebt ein einigermaßen komfortables Leben, wohl aus dem Erbe ihres Vaters, kann sich ein kleines Auto leisten  und bricht im März 1933, als sei in Deutschland überhaupt nichts geschehen, mit Freunden zu einer Autoreise nach Marokko, Algerien und Tunesien auf.

Erst im Herbst  1933 ist sie wieder in Deutschland und versucht, bei der Frankfurter Zeitung unterzukommen, was, auch nach ihrer Ansicht,  wegen der Entlassung jüdischer Redakteure Aussicht auf Erfolg hat, aber dennoch nicht gelingt. Seit 1934 ist sie dann beim Berliner Tageblatt unter Paul Scheffer tätig, geht 1936 für kurze Zeit als Auslandskorrespondentin nach Ägypten und läßt im selben Jahr ihr erstes Buch „Das Weltgeschehen am Mittelmeer“ erscheinen.

Erstaunlich ist sowohl, daß sie  kaum durch die politischen Realitäten affiziert zu sein scheint, wie auch ihr Auftreten  als kenntnisreiche „Außenpolitikerin“, obwohl sie doch außer ihrem Geschichtsstudium und einer größeren Reise nichts an Fundamentalem aufzuweisen hatte. Eine Journalistin zeigt sich, und zwar als Opportunistin wie als wenig Informierte, die aber sofort große Ansprüche hat. Die sucht sie durch die Lektüre von Zeitungen zu begründen, die sie in einem privaten Archiv sedimentiert Erstaunlich ist auch , wie wenig genügt, um bei starkem Selbstbewußtsein im journalistischen Felde aufzutreten, wobei sie allerdings als Frau durchaus Schwierigkeiten hat, die einer strikt antifeministischen Einstellung der Redaktionen zu verdanken sind, obwohl doch die Presse sich immer als Spitze des Fortschritts empfindet. 

Nach Paul Scheffers Rücktritt als Chefredakteur kündigt sie Anfang 1937 beim Berliner Tageblatt. Sie versucht es wieder bei der Frankfurter Zeitung, macht  „als Nachweis ihrer Qualifikation“(97) eine Reise durch den Nahen Osten bis nach Persien. In diesem Zusammenhang schreibt  Frau Görtemaker: „Größere Sorgen bereiteten  ihr allerdings die archäologischen  Aufsätze, die sie dem Atlantis-Verlag  versprochen hatte, da Archäologie sie nicht im mindesten interessierte:“(106) Gibt es einen anderen Beruf, der zur Voraussetzung einer erwünschten Tätigkeit Ignoranz, ja Desinteresse an der Tätigkeit hat?

Nach ihrer Rückkehr von der Reise Mitte 1938 setzt sie weiter auf eine Beschäftigung bei der Frankfurter Zeitung. Sie wird schließlich im Mai 1939 Korrespondentin in Stockholm. Über „schöne große Politik“(121)will sie berichten und bewundert als deren Beispiel Hitlers Außenpolitik. Mitte 1940 erhält sie eine Korrespondentenstelle in New York, wohin sie über Moskau und Tokio reist. Sie schreibt Kritisches über Amerika und findet New York so wenig erträglich wie vorher Stockholm, und auch später gefallen ihr weder Lissabon noch Madrid. 

Auch dies ist seltsam genug für jemanden, der nach draußen will  und sich als außenpolitisch versiert glaubt. Im Mai 1942  kehrt sie mit einem gehörigen Antiamerikanismus nach Europa zurück , ist dann in Lissabon, richtet sich nach Schließung der Frankfurter Zeitung  im November 1943 in Berlin ein und ist im Februar und März 1944 in Madrid, um in der deutschen Botschaft über eine Beschäftigung zu verhandeln. Plötzlich aber hat sie  das Gefühl, als Deutsche in Berlin sein zu müssen, verbringt dort das letzte Kriegsjahr und kümmert sich  z.B. um ein neues Reisebuch „Im Krieg um die Welt“. Nach einem Luftangriff im Februar 1945 geht es ihr darum, zum  Ullsteinhaus nach Tempelhof zu fahren, damit die nächste Nummer vom „Reich“, an dem sie seit geraumer Zeit mitarbeitet , „termingemäß und fehlerlos“(209) herauskommen kann . Iimmer stärker hat man das Gefühl, sie lebe für und in Zeitungen.Und daneben:Die Bombennächte in Berlin habe sie „genossen“ (210), schreibt sie, als seien sie der private Modus des Sensationellen. Beides gehört in die Sphäre der Journalistin. 

Nun hatte sie zwölf Jahre studiert, wenn man diese Zeit ein Studium nennen kann, dann war sie elf  Jahre Journalistin gewesen, was, folgen wir jedenfalls Frau Görtemaker, bedeutete, daß sie bis hin zur getreulichen Ausführung Goebbels’scher Anweisungen sozusagen ihre Pflicht erfüllt hat, indem sie Korrespondentenberichte verfaßte, Reiseberichte, Nachrichtenüberblicke, auch über Dinge schrieb, von denen sie gar nichts verstand, daß sie sich ins Ausland schicken ließ, obwohl sie keinen der Orte, in die sie kam, schätzte. Was tat sie, was bewegte sie? Man liest mehrfach, daß sie besonders daran interessiert war, sich gedruckt zu sehen, und sich besonders ärgerte, wenn das nicht geschah.

Jetzt, 1945, beginnt sie neu. Sie schreibt als erstes eine „Amerikafibel“, in der sie ihre Aversion gegen die Amerikaner formuliert. Das ist nicht mehr opportunistisch, denn alle ihre früheren Journalistenbekannten, die Welter  und Stark und Korn e tutti quanti werden  nun zu loyalen Repräsentanten des Westens und kritisieren ihren Antiamerikanismus. Sie setzt sich für eine gesamtdeutsche Lösung ein und ist gegen die Westbindung der sich konstituierenden Bundesrepublik. Auch das ist nicht opportunistisch, denn davon wollte damals niemand etwas hören. Was sie dazu schreibt, scheint zwar nicht sehr prägnant gewesen zu sein, aber doch erkennbar anders als die Perorationen der gewendeten Nazis und Halbnazis, die nun wieder eine freie Presse aufbauen, obwohl sie eigentlich immer nur geschwindelt haben, nicht so sehr in einzelnem, sondern als existentielle Schwindler. Sie macht da nicht mit, aber sie hat auch keine bessere Lösung, sondern sie versucht im „Verrat im 20. Jahrhundert“ und in „Wir lügen alle“, das sich ganz mit dem Journalismus eines Blattes beschäftigt, die Dinge der Nazizeit als plausible Dinge, ja als zum Teil wenigstens gute Dinge anzubieten, was ihr wiederum die Zustimmung derer einträgt, die diese Sicht begrüßen und die gleichzeitig, wie etwa Welter von der neuen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dafür sorgen, daß nichts von den Abläufen in der alten Frankfurter Zeitung nach außen dringt. Denn die Presse ist dafür da, über alles aufzuklären außer über sich selbst.

Im Dezember 1968 kommt sie zum ersten Mal mit Uwe Johnson zusammen, der sie alsbald  nachdrücklich auszufragen beginnt, im Laufe der Zeit aber merkt, daß er sich  durch eine „schulmeisterliche Rolle“(308) falsch verhalten habe. Sie akzeptiert aber seine Fragen, nimmt selbst hin, daß sie sich von ihm als „Nazideutsche“ (307) betrachtet sieht. Aber dies ist  das eigentliche Problem nicht. Sie ist weit davon entfernt, eine „Nazideutsche“ in dem Sinn gewesen zu sein, den etwa die Alliierten oder Emigranten dieser Vorstellung gaben. 

Sie ist eine höhere Tochter, der  es zunächst einfach darum ging, sich von anderen zu unterscheiden, die glaubte, daß ihr das am besten gelinge, wenn sie als Journalistin ‚eigene’Texte verfasse, die dann glaubte, das auch in der Nazizeit  so tun zu können, wie sie es sich ausgedacht hatte und die diesen Glauben nach dem Krieg aufrecht erhalten wollte. Sie irrte sich immer, weil sie nie eine Vorstellung davon entwickelte, was sie schreiben wollte, sondern immer nur  die Vorstellung , daß sie schreiben wollte. Sie  hat sich ihr Leben lang in Zeitungspapier verpuppt, weil sie annahm, dies sei das Material ihrer Freiheit, obwohl es doch immer – in und nach der Nazizeit – das Material ihrer Unfreiheit war. In ihren beiden nennenswerten Büchern suchte sie diese Annahme als Prinzip der Lebensermöglichung auszugeben. Aber sie sprach von ihrem Scheitern. „Wir lügen alle“  - das war achselzuckende Rechtfertigung, aber natürlich auch (achselzuckender ?) Selbstvorwurf.

   

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VON DER RHETORIK

   

Ein Festredner

Joschka Fischer zu Marcel Reich-Ranicki

   

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.Februar 2006 ist ein Dokument abgedruckt: die Laudatio von Joschka Fischer bei Gelegenheit der Ehrenpromotion von Marcel Reich-Ranicki durch die Universität Tel Aviv. 

Reich-Ranicki ist spätestens  seit seiner Autobiographie in den Stand der Unangreifbarkeit eingetreten. Was ihn früher, wie das hieß, „umstritten“ machte: seine Londoner Tätigkeit als Botschaftsattaché,   seine Urteile über Autoren wie Grass und Martin Walser oder auch Canetti,  seine donnernde Argumentlosigkeit, sein Literaturverständnis bzw. –unverständnis etc werden heute nicht mehr, wie das hieß, „differenziert“ kritisch betrachtet, sondern sind allseits akzeptiert oder werden gar verteidigt, wobei mehr noch als die Autobiographie der Erfolg beim Publikum seiner Fernsehsendung den Ausschlag gegeben hat. 

Diesen Unangreifbaren feiert Joschka Fischer. Er geht vom „ehrwürdigen Saal der Stadt Frankfurt“ aus, in dem man sich versammelt habe, als sei es die Aula eines deutschen Gymnasiums um 1960, wo der Herr Direktor sich zu räuspern begonnen hat.. „Ehrwürdig“ wurde später unter Fortschrittlern und Achtundsechzigern niemals gesagt, ja auch heute wird man dieses Wort wahrscheinlich nur in der süddeutschen Provinz hören. Aber einer seiner wüstesten Bestreiter hat es für sich entdeckt, nein, für seine Zwecke als Festredner. In der „Ehrwürdigkeit“ des Saales hebt er den Gefeierten, hebt er die Mitfeiernden, hebt er sich selbst als Bundesaußenminister a.D. hervor und macht sich zugleich wie die Situation zu einem Petrefakt.

Kein Wunder, daß er angesichts eines Mannes, der ein verfolgter Jude u n d ein ganz problematischer Literaturkritiker ist, angesichts eines Publikums, in dem die Achtundsechziger in gelockert feierlicher Haltung  als Schriftsteller,Verleger, Ministeriale, Vorstandsmitglieder, Redakteure ihren Beifall abliefern werden, sich selbst zuhörend als ein Mann, der in der Soigniertheit des Bundesministers des Äußern a.D.  die Steinwürfe und die Rüpeleien und das Politgequatsche und die Berufsausbildung als Taxifahrer begraben hat - kein Wunder, daß er nun Zuflucht zu den Redensarten nimmt, die in älteren Anweisungen für Festredner stehen und daß er dabei manchmal auch ausrutscht. „Die offenen Wunden dieser Epoche“ - jedes Wort ist eine Phrase – „ sind noch keineswegs verheilt“. Die Phrase mißlingt, denn das haben „offene Wunden“ so an sich, daß sie „keineswegs verheilt“ sind.

„Blick in die moralischen Abgründe unserer Geschichte“, zwischentitelt nun die FAZ, die sich damit auch stilistisch dem Festgerede aufschließt. ‚Jetzt, meine Damen und Herren’, könnte der Redner sagen, ‚wollen wir einmal in die moralischen Abgründe unserer Geschichte blicken’. Und nun kommen all die politisch korrekten Selbstverständlichkeiten, die jeder der Zuhörer natürlich, würde er sagen, ‚unterschreiben könnte’. Das zwanzigste Jahrhundert sei eine furchtbare Zeit gewesen. Sie „gebar“ nicht Antisemitismus und Totalitarismus, sondern „einen antisemitischen und totalitären Albtraum“, denn in eine dunkle Festrede gehört dunkle Poesie. „Das politisch-ideologische Programm Hitlers  strebte nichts Geringeres an als die Weltherrschaft Deutschlands“, was zeigt, daß das den Festredner, der der Sprache immer auch aufsitzt, ein bißchen stolz macht: „nichts Geringeres“.

Denn ein Festredner bedenkt nicht Widersprüche, sondern redet über sie hinweg. Die Lehrerin Fräulein Laura habe den jungen Marcel „in das Land der Kultur“ verabschiedet, was ein „historisch zu nennender Irrtum“ gewesen sei. Aber, hatte der Festredner kurz vorher gesagt, dieses irrtümlich als „Land der Kultur“ apostrophierte Deutschland  habe gerade „die unvergeßliche Blütezeit des deutschen Theaters im Berlin der Weimarer Republik“ erlebt, „der Literatur, der Kritik, der Musik, aber auch anderer[?] Wissenschaften“. Über diesen Widerspruch müßte er etwas sagen, wenn er es könnte.

Reich-Ranicki sei ein „großer  Verehrer“ Heinrich Heines, Fischer teilt diese Verehrung wie alle Zuhörer. Das ist eine weitere Selbstverständlichkeit  wie die Verehrung für Thomas Mann.

Aber die  Selbstverständlichkeit ist das Problem. Mit Karl Kraus wäre über „Heine und die Folgen“ zu sprechen. Das ist Fischer mit Recht zu schwierig. So macht er es sich mit den Festredensarten leicht.  Von der „Sprache der Mörder“ redet er, die verständlicherweise  Überlebende des Judenmords  und deren Nachkommen nicht mehr hören wollten. Aber er lobt Reich-Ranicki dafür, daß er „den Mördern die Sprache Lessings, Goethes, Heines, Thomas Manns, Bertolt Brechts und all der vielen  anderen“ nicht überlassen wollte. Das steht nebeneinander, als ergänze es sich aufs trefflichste. Doch  ist es ein schlechthinniger Widerspruch, den man aufzuzeigen und zu bedenken hätte.

Der Festredner ist natürlich kritisch, ja schäbig denen gegenüber, die auf Dauer oder im Augenblick die Machtlosen sind. Martin Walser habe einen „unsägliche(n) Angriff  auf Sie mittels eines als Roman getarnten üblen Pamphlets“ unternommen. Das ist eine platte Unwahrheit. Aber sie paßt zu der Schmeichelei, daß Kritik „nicht schmeicheln  und nicht zurücksetzen“ dürfe, sondern „unbestechlich und wohlbegründet sein“ müsse, was die Reich-Ranickis natürlich tue.

Doch zu viele Ausfälle und zu viele Schmeicheleien stören in einer Festrede. Und da der Redner ein Außenpolitiker ist,  kommt er zu schönen Sätze wie dem: „Unsere Beziehungen in Kultur und Wissenschaft [mit Israel] müssen wir weiter ausbauen.“ Und vertiefen, wie die Phrase bei Kraus richtig heißt.

Denn so ein Mann, der es vom Hallodri zum Oberstudienrat, nein, noch weiter gebracht hat, ist für den „verehrten Marcel Reich-Ranicki“, wie es sich gehört, und für Frau Merkel, Israel, Heine, die Literaturkritik, die Weimarer Republik. Und er ist gegen die Nazis, das Warschauer Ghetto, den Antisemitismus, üble Pamphlete und offene Wunden, die noch nicht verheilt sind. Er hat ein Leben darauf verwendet zu lernen, wie man alles richtig macht, auch das Falsche. Diese Rede ist dafür ein Dokument.

   

   

VOM TÄGLICHEN LEBEN

   

Alles wie immer?

  

Die Westfälischen Nachrichten vom 29.4.2006 berichten u.a. darüber,  daß im Lippischen eine Frau ihren Mann  „mit einem Fleischklopfer“ zunächst erschlagen und  dann „im Badezimmer zerteilt“ habe; daß ein evangelischer Pfarrer aus dem Dienst entlassen worden sei, da er seine Tochter vergewaltigt habe und dafür zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden sei,. er dürfe nun die Amtsbezeichnung „Pfarrer“ nicht mehr führen „oder das[!] Talar“ tragen;  daß der Terror im Münsterland  „Urlaubspläne kaum“ beeinflußt habe, vor allem nicht in Münster, wo nur 9,1 % an eine Terrorgefahr glaubten, obwohl  22,7 % schon einmal „Einschränkungen wegen verschärfter Sicherheitsbestimmungen“ hätten hinnehmen  müssen; daß die Sprecherin am Koniginnedag in Münster nicht nur eine grüne Brille trug, sondern auch von der „moralischen Wirkung“ des Königshauses geprochen habe.

Das ist zwar alles wie immer, aber man weiß nicht genau.

Am Tag vorher hatten die Medien(nicht die Westfälischen Nachrichten!) gemeldet, daß der Prodi-Kandidat für das Amt des italienischen Senatspräsidenten im ersten Wahlgang zwar nicht, wohl aber im zweiten gewählt worden sei, was Prodi erfreut habe. Einen Tag später hieß es, der Prodi-Kandidat sei auch im dritten Wahlgang nicht gewählt worden, was Prodi nicht erfreut habe.

Die Nachrichtenlage ist mithin so: Es ist etwas geschehen, aber man weiß nicht was. 

Im Fernsehen konnte man einen Film über eine Reisegruppe betrachten, die durch die libysche Wüste fuhr, um eine totale Sonnenfinsternis zu sehen, die es, so hieß es, vor kurzem gegeben habe.

Zwar weiß man auch hier nicht genau, aber man sah eine Dame aus dem Schwäbischen, die, was immer geschah, ein glückliches Gesicht machte und erzählte, man habe ein Ereignis mit den wiederholten Worten begleitet: „Wahnsinn“. Und sie kommentierte die eigene Erzählung so: „Wahnsinn“. Da weiß man doch genauer.

  

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

  

1954

  

Im Musil das Kapitel über Genie und  Liebe. Ulrichs Gefühlspsychologie. Das Fragmentarische, Offene, Experimentelle  bei Ulrich und Agathe. Der Höhepunkt und die Katastrophe der Ulrich-Agathe-Begegnung. „Keine ‚Ausrichtung auf’ mehr, alleiniges Interesse am Weg, an den Möglichkeiten.“ Das Gefühl müsse dem Gedanken an Klarheit gleichkommen. Dann erst sei Ekstase möglich. Parallelen gebe es natürlich in der gesamten wichtigen Gegenwartsliteratur seit Nietzsche. Neben Kafka und Benn sei M. die  dritte weitreichende Gestalt der Zeit. Ende Januar sei ich mit Musil zu Ende gekommen. In einer Literaturgeschichte hätte ich gelesen, der Roman sei sehr geistvoll, aber leider sehr handlungsarm.

Von Cocteau „Kinder der  Nacht“ begonnen. Parallelen zu der Geschwisterliebe Ulrich-Agathe. C. mache es nichts aus, „auch Unsinnigkeiten mit leichter Gebärde hinzustreuen“.

  

„Judith“ von Hebbel sei Kasperletheater. Ein Hebräer spreche von „Victualien“. So sei das ganze Stück. Manchmal aber ein richtiger Satz und ein schweres Wort. In seinem Aufsatz über den dramatischen Stil durchaus Gegenwärtiges. Im Hebbel-Seminar sei man noch nicht über Freytag hinausgekommen.Dort ein gespreiztes Referat über Rhodope, das fehlende Demut tadelte. Mein Einwand, Demut sei eine spezifisch christliche Eigenschaft, von der Nietzsche allerhand wisse, führte zu Entrüstung bei Prof. Langen: mit N. dürfe man nichts beweisen wollen, in dessen Werken sei nichts ganz wahr.

  

Ein Konzert in Köln unter Günter Wand, einem dünnen Mann, mit Mozart und Brahms’ zweiter Symphonie.

In der Beharrlichkeit des Klatschens zeige sich sehr primitiver Trotz, der Versuch, Zwang auszuüben sei stärker als Emphase oder Dank. Als Wand nicht mehr erscheine, klatsche man, um ein letztes Erscheinen zu erzwingen.

E. Erdmann habe in K. das letzte Beethovenkonzert gespielt, ein beeindruckender koboldhafter Mann, etwas gedunsen, nervös, aber viel mehr als eine Kuriosität. Dazu ein Bartók und die 5. Symphonie von Dvořák.

   

Zwischen Papieren eine Nummer von „Zwischen den Kriegen“. Warum aus einer Haltung gleich wieder einen Verein machen? Ein Brief an den Herausgeber[Werner Riegel].

Emrich sei mit Thomas Mann in der Vorlesung kritisch umgegangen: „Die durchsichtige Welt Thomas Manns, eine Welt ohne Geheimnisse und Rätsel“. Er habe über den Faustus-Roman mit Adornos Theorie vom Ende der Kunst gesprochen. E. habe auf Kafka hingewiesen.

Auch habe er sich gründlich und skeptisch mit George beschäftigt. Den „Algabal“ sehe er als Spiegelung der Massenbarbarei. Das Dichterische werde mit der Zunahme des Prophetischen schwächer.

Ich gehe die frühen George-Bände durch. Vieles sei nur mit großer Geste vorgetragen. Aber die Wiederentdeckung, Neuentdeckung des Ästhetischen als des einzig bestimmenden Prinzips der Dichtung sei ein besonderer Wert. Die Kreis-Esoterik habe dagegen etwas Krauses. Auch ein gewisses Unvermögen falle auf. Aber was bleibe, wenn das Aufgetakelte dahin sei, gehöre zum Wichtigsten, was die erste Jahrhunderthälfte hervorgebracht habe. „Das Jahr der Seele“ und die „Traurigen Tänze“ seien das „Gelungenste und Bezwingendste Georges“.

In der „Neuen Zeitung“  eine Polemik von Hellmuth de Haas , die ein Muster prätentiösen Gefasels sei: „gemahlener Gips mit einem Gran Schießpulver“.

In der Kritikübung Rezensionen zu Becketts „Godot“: die eigene Generation scheine nicht ohne Gespür für das zu sein, was in ihrer Zeit geschieht. „Es“ vollziehe sich in der Sprache, nicht durch sie. Man müsse heute stets in Anführungszeichen sprechen und schreiben.

  

Wiesengrund-Adornos Versuch über Wagner begonnen. Ausgezeichnete Details, aber im Laufe der Lektüre gefalle es mir immer weniger. Statt der Konzentration auf Aphoristisches  werde nun alles „sehr gespreizt, besserwisserisch und schlampig vorgetragen“.

Ein Aufsatz von ihm zu Kafka habe mit einleuchtenden Wendungen begonnen, dann wirke er immer aufgetragener, schließlich ziemlich unverständlich, cachierend, so daß er in der Interpretation gegen seine Absicht psychologisch und existentialistisch verfahre. In den letzten Kapiteln aber wieder „Deutliches und Interessantes“.Kafka gehe es darum, die anonyme und mythische Macht durch übertriebene Demut zu überlisten. Leider nicht der Ansatz zu einer „dichterischen“ Interpretation.

  

Gedanke, sich an W.H. wegen der KWV zu wenden: neben Spiel solle die intellektuelle Konzentration gesetzt werden, Manifestation des Paradox, Versuch, das Zwecklose wichtig sein zu lassen. 

  

Aufführung von Georg Kaisers „Kolportage“in K., in der die Gestalten der Adelswelt darum gut gewesen seien, weil die Schauspieler sie nicht soziologisch vermittelten.

„Wendekreis des Krebses“ von Henry Miller: große Assoziation neben mancher Banalität. Der Anteil des Obszönen sei nicht neu, „wohl aber dessen Absolut- setzung“. Man könne es aber nicht damit abwerten, daß man sage, es sei eine Geschmacksfrage, dies zu lesen oder zu übergehen. Das Amerikanische darin falle auf als das Unbewältigte, Grobe, Rohstoffhafte. 

  

Ende Januar/Anfang Februar sei es sehr kalt, der Sturm reiße einem die Ohren ab. Man sitze hinter dem Ofen.

  

Frau M., die erste Bibliothekarin der Stadtbücherei in D., helfe wieder einmal sehr. Wir hätten über den gebrochenen Durchschnitt gesprochen, dessen „größter“ Vertreter vielleicht Thomas Mann sei. Die heutige Literaturkritik  sei nicht auf der Höhe ihres Gegenstandes: Plattheiten über Kafka, Psychologisches zu Musil, Hilfloses zu Benn.

  

Emrich habe einen Vortrag über Faust II gehalten, vornehmlich eine Interpretation der ersten drei Akte. Sehr klares Konzept: Aufzeigung der Urphänomene, Geburt der Kunst, Kunst als Möglichkeit im Dasein.

  

Chaplins „The Kid“: verleihe der Sphäre des Kintopps, zu dem er gehöre, einen Glanz, „als habe auch sie etwas Vollendetes, als sei gerade ihre faustdicke Albernheit vollendet“. Darstellung der Hilflosigkeit und der Überlistung der Macht. Die sei nicht von Dauer, nur immer eine Verschnaufpause. An jeder Straßenecke stehe wieder ein Polizist und noch im Himmelstraum gehe der Kampf mit dem starken Mann weiter.

  

Arno Schmidts „Umsiedler“ mit „trefflichen Zügen, manchmal allerdings banal“. „Alexander“ „mit großem Interesse begonnen, bald aber enttäuscht von der ziemlich aufgetragenen Parallele: Alexanderzüge - Nazikriege“. „Brands Haide“ bleibe bisher das Beste.

Später: „Aus dem Leben eines Fauns“. Es sei soetwas wie die Geschichte eines wachen Durchschnittlers. Die Cachierung des Geistes, das Mimikry des Erkennenden werde als Gestaltungsmittel in das Buch hineingenommen. Wichtig sei die häufige Apostrophierung des Mondes als ausgebrannte, leere, tote Nachwelt.

  

Gespräch mit L. über Kirche und Christentum. Sein Zerfall sei das deutlichste Symptom der Gesamtsituation. Über die Feigheit der Theologie. Diesen Leuten gehe es nur darum, „hübsche Lehrstühle und barocke Kanzeln zu bekommen und in ein woltemperiertes Paradies einzugehen“.

  

Anmerkungen für eine Inszenierung von „Leonce und Lena“. Der Vorschlag, das Stück in der KWV zu probieren, überzeuge mich selbst nicht sehr. „Lenz“ gelesen. Wie der äußerst konzentrierte Bericht zu der Maßlosigkeit des Geschehens kontrastiere. Die Rapidität des Verfalls. Man müsse Büchner als eine der ganz großen Gestalten unserer Literatur erkennen. Wir sollten heute nicht vom „unvollendeten Genie faseln .

  

Abhandlung über das Komische von F.G.Jünger. Einfälle dazu: im Gegensatz zum Tragischen bleibe das Komische „an den Aspekt des Betrachters gebunden“, es sei darum nicht unmöglich, daß einem alles komisch erscheine. Das Tragische sei tragisch, das Komische erscheine komisch.

  

Eine Besprechung des jungen Hofmannsthal über die Tagebücher Amiels. In dieser Prosa sei „das Erstaunliche früher Vollendung und sprachlicher Sicherheit“ noch stärker erlebbar als in der Lyrik.

Emrich habe eine „bewegende, aufrichtige Interpretation des ‚Turm’ gegeben, vornehmlich der Bühnenfassung, der er uneingeschränkt den Vorzug vor der Buchfassung“ eingeräumt habe, „deren Lösung ein Zurückschrecken vor der Konsequenz“ sei. 

Seine Einführungsvorlesung über Kafkas archimedischen Punkt lasse ernsthaft überlegen, ob man nicht in Köln bleiben oder dorthin wieder zurückkehren solle. Nach dieser Stunde Verwirrung, Abgespanntheit, Beglückung. Dabei falle alles „persönliche“ Erleben bei einem Mann weg, „der ein grobes Gesicht, einen etwas stupiden Blick“ habe und „durch einen Klumpfuß in seiner Erscheinung beeinträchtigt“  sei. Auch könne von „gepflegter Rhetorik“ nicht die Rede sein. Aber das Gesagte sei „so gründlich, bestimmt und eindringlich“ gewesen, daß die Faszination noch anhalte. Dennoch müsse man manches Für und Wider prüfen, die reine Begeisterung könne nicht alles andere beiseite drängen.Doch mache das Gefühl, hier einen Mentor zu finden, der Genauigkeit und Wissen habe, „etwas nervös“. 

  

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Für die KWV sei eine Kulturhymne geschrieben worden, die G.L. zur Vertonung geschickt  werden solle.

  

Beim Durchblättern älterer Tagebuchnotizen, mit 16, 17, 18 Jahren geschrieben, falle „papierene Geschwätzigkeit des allermeisten“ auf. „Und welch eine Extrovertiertheit“. „Aber vielleicht war es eine Methode, das Pubertätsgeschwanke nicht allein bestimmen zu lassen.“

  

In der „ostzonalen Literaturzeitschrift ‚Sinn und Form’“ Bemerkungen J.R.Bechers mit der Überschrift „Poetische Konfession“: „merkwürdig unbedarftes Allerwelts- geplauder, kompilatorisch und eklektisch“, dankbar allerdings sei ich für das Wort Mallarmés, Gedichte mache man nicht mit Gefühlen, sondern mit Worten.

  

Kafkas Tagebücher. Alles möchte man nachschreiben, weil es so sehr stimme, wie man es selbst gar nicht erfahre. Die permanente Verzweiflung. Seine Unsicherheit in allen Tagesangelegenheiten. Das Unglück der Verlobung. Die ungeheure Beobachtungsfähigkeit und die schreibende Überschau des Unglücks. Letzte Möglichkeit: den eigenen Tod bis zum Schnittpunkt des Daseins darzustellen. Es sei ein Unsinn zu behaupten, Tagebücher dürften nicht mit dem Blick auf den Leser geschrieben werden. Als ob nicht jede Zeile, die man schreibe, „ein dauerndes Starren auf den Leser“ sei.

  

Mit Frau M. über Berufsmöglichkeiten. Keine Durchsetzung möglich in der Publizistik. Der Bibliothekarberuf entspräche viel mehr. Sie redete sehr zu.

  

Filmmontage: „Berlin – Symphonie einer Großstadt“ aus den zwanziger Jahren. Die völlige Stille irritiere. Könne allein aus „bewegten Bildern“ „ein Geschlossenes geformt werden?“

  

Lange-Eichbaum: Die Bemerkungen zur Talentfrage seien nicht überzeugend. Aber ausgzeichnetes Kapitel über den Ruhm. Die naive Einstellung, das Gute setze sich auf die Dauer durch. Der soziologische Teil sei ungleich besser als der psychologische. 

  

Die Schwierigkeit des Briefeschreibens. Die Sätze müßten „erpreßt“ werden. „Die Kühle und Unverbindlichkeit des Briefs“.

A.N. sagt, er möchte nicht, daß ich annehme, er identifiziere sich allemal mit dem, was er vortrage.

Mit W.H. über KWV-Fragen: ähnliche Haltung. Wir wollten die Dinge ein wenig in die Hand nehmen. Das Gesicht des nächsten Festes. 

Einigung über „Leonce und Lena“, das bei Henner H. auf Tonband genommen werde. Mein Referat zum Thema hätte ich schnell und einigermaßen unbeteiligt heruntergelesen.

  

Vor einem Schaufenster in der Stadt werde ich von dem früheren Lehrer Dr.D. angesprochen, der mir aus einem mir nicht deutlichen Grund Interesse entgegenbringe, obwohl er Naturwissenschaftler und die erste Begegnung mit ihm in der Schule hart gewesen sei. Die entzündeten , fast brauenlosen Augen. Das verkrampfte Lächeln. Fast ein Schrumpfkopf. Er rede eifernd, aber ohne Attitude. „Eindruck des sehr Verfolgten, vielleicht Zerstörten.“

  

Eine Anthologie, deren Gedichte  von mehr oder minder bedeutenden Zeitgenossen ausgewählt und interpretiert  würden, darunter Benn.

  

Der dritte Band von Schnabels Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Stellung Hegels in der Einleitung: der deduktive Philosoph habe der induktiven Wissenschaft den Weg gebahnt, auch dem Existentialismus Kierkegaards.

  

Das Denken der Familie beschäftigt sich schon unablässig mit der Einrichtung des neuen Hauses, von dem aber noch kein Stein vermauert sei.

G.V. habe ihr Abitur hinter sich und freue sich auf die Welt. Der Unsinn des Examens.Bei der Abschiedsfeier sei alles so gut gemeint gewesen und sei darum so gräßlich daneben gegangen. Aber es sei töricht, noch etwas dagegen sagen zu wollen, zu ändern seien sie nie.

  

Aufführung von Kaisers „Kolportage“ mit dem Bochumer Ensemble im ganzen enttäuschend. Die Remscheider Inszenierung habe trotz aller Mängel  besseren Eindruck hinterlassen.

  

Teile aus „Moses und Aron“. „Wird Musik nicht überfordert?“ Diese müsse nicht nur gehört, sondern auch gedacht werden. Vielleicht sei von größerer Befriedigung, die Partitur zu lesen als die Realisierung zu hören. Am nächsten Morgen Lektüre eines Briefes von Schönberg, der manches derartige bestätigte. Der Erfolg von „Moses und Aron“ habe an der Masse der Mittel gelegen und an der „Größe des Stoffs“. Das Publikum wolle gekitzelt oder geschlagen werden, dann juble es.

  

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Bei Onkel W., dem Paten.Nicht eigentlich niedergeschlagen, sondern mißmutig. Er habe vor dem Tode kein bißchen Angst, aber vor der Amputation eines Beins. Wie das Naheliegende immer als das Bedrängendste gesehen werde und der Tod nie zum Naheliegenden gehöre. Die meisten Selbstmörder rechneten mit dem Mißerfolg ihres Versuchs, der oft nur eine äußerste Anstrengung darstelle, die Isolierung zu durchbrechen. Man betrachte die Welt schon vom Krankenbett, mit dem man rechne.

Gespräch mit dem Buchhändler S., er erzähle von Rehberg, den er ebenso lächerlich und eklig finde wie ich: „Ich  bin der Dramatiker R.“ 

  

Die Zeitung habe ausführlicher von dem Wasserstoffbombenexperiment im Pazifik berichtet. Eisenhower gebe zu, daß die Wissenschaftler die Kontrolle über den Versuch verloren hätten. 

Henner H., Physiker, frage ich nach seiner Ansicht über diese Versuche: mit dem Unsinn müsse aufgehört werden. Er spreche über den Sicht-Verlust der Wissenschaftler.

  

Brochs Versucher-Roman mit Musil zusammen zu nennen, sei nicht gerechtfertigt. Es sei ein intellektueller Bauernroman, bei dem die Interpetationen gleich mitgeliefert würden. 

  

Im Nachtprogramm werde über das Jenseitsbewußtsein des heutigen Menschen gesprochen. Unter den sieben Beteiligten hätte nur der Pfarrer und eine Spiritistin Vorstellungen vom Jenseits. Arzt, Staatsanwalt, Verleger und Dichter seien an der Frage uninteressiert.

  

Zu Dr.W. in die Schule, die mir gänzlich fremd sei. Ein paar Worte mit Dr. H., alt und trostlos komisch. Dr. W. aufgeschlossen, warm, interessiert, habe mehrmals seine Freude darüber ausgedrückt, daß ich Journalismus als Berufsziel aufgegeben habe. „Dabei geht man vor die Hunde.“

  

Paul Fechter habe einen Vortrag über Publikum und Dichter gehalten. Gefährliche biedermännische Nonchalance. Ein Hans Dampf in allen Gassen, der sich aber mittelrechts am Stammtisch doch am wohlsten fühle. Bei ihm hätten immer beide recht: die Produzenten, die sich entziehen, und die Konsumenten, die deswegen böse seien.

  

Marcel Marceau: Die Einfachheit sei das Ende, nicht der Beginn des Weges. In den Bip-Szenen „David und Goliath“, „Bip und der Schmetterling“ seien alle Zugaben verschwunden.

  

Fest der KWV:  Festessen bei Kerzenschimmer, dem der feierliche Einzug und das Ballonierungszeremoniell vorausgehe. Zwei Mozartouverturen und eine Wielandstelle als Nachtisch. Darauf die Session, die von Mal zu Mal zelebraler werde und wirke. Dann die Oper, die viel Vergnügen bereitet habe. Ein niedlicher Ball, unterbrochen von allerlei literarischem Kabarett. „Es war Spiel und manches glänzte“. M.W. sei gekommen. Am Sonntagmorgen mit ihm an der Ruhr entlang und durch den Wald: Theologengespräche, die keinem Theologen Freude gemacht hätten. 

A.N.bei mir, der gar nicht gern etwas über die KWV höre und immer schnell dieses Thema verlassen wolle. 

  

Friedo Lampes „Ratten und Schwäne“ mit L.gelesen, ein einfaches, aber nicht ein bißchen simples Buch.

  

Nun, Ende April,  auf Zimmersuche in Freiburg, die wichtiger erscheine als Genf und Herr Tschuenlai, den man gerade als neuen Star entdeckt habe. Das Zimmer finde sich nach einigen Tagen in Zähringen, schön gelegen, groß, mit Balkon. 

W.H. sei gekommen, ich hätte seine Bekannten A. und B. kennengelernt. Abends hätten wir im Theaterrestaurant gesessen, ich sei mählich in die Umgebung eingeführt worden.

Von den wenigen Volesungen, die ich bisher gehört hätte, habe Rehm am stärksten gewirkt.

Sprecherziehung: sehr komisch. Der Dozierende gehöre zu den bis ins Letzte von ihrer Aufgabe Durchdrungenen. Die charmanteste Vorlesung sei die Sozialphilosophie von Erik Wolf.

Mittags esse man mit den Genossen und sitze nachher mit ihnen auf der Bank; die Kleinigkeiten würden ausgetauscht und breit besprochen.

  

„Die Weltbühne“ des Jahrgangs 1928. Tucholsky in einem Aufsatz über Bert Brecht: er und Benn seien wohl heute die größten lyrischen Begabungen in Deutschland.

So eine Zeitschrift könne nicht nachgemacht werden. Bei aller Linkstendenz undogmatisch. An den kleinen Einschiebseln könne man erkennen, was eine Zeitschrift sei.

Eine Anthologie neuerer deutscher Gedichte, die bei Hofmannsthal einsetze. Merkwürdige Gewichtsverteilung: Konrad Weiß, Däubler, viel Mombert. Aber alle großen Gedichte schwängen in Melancholie, Trauer, Vergänglichkeit.

Klingers „Sturm und Drang“sei eine ziemlich gezwungene Kraftmeierei. Das Beste seien die ironischen Teile der Nebenhandlungen. 

Bei J.T. hätten wir gemeinsam eine Diskussionssendung zum Studententag gehört, in der er und A. mitgesprochen hätten.

Beim Kaffee heftiges Gespräch über moralisches Verhalten. A. und W.H. als „Objektivisten“, wie A. das ausdrückte, fertigten mich als Utopisten und Formalisten ab. Als ich Musil gebracht hätte, sei das als Überschätzung der Literatur bezeichnet worden. Aber die Atmosphäre habe sich rasch wieder abgekühlt. A. habe die erfreuliche Begabung, Härte nicht mit „persönlichen Verwundungen“ zu verwechseln.

Nach einem Konzert mit Beethoven und Brahms sei das Gespräch über Brahms rasch zu Bruckner gekommen, den W.H. und B. heftig verteidigt hätten, während A. und ich uns in der Ablehnung Bruckners einig gewesen seien.

Herrenpartie zum Kaiserstuhl und nach Breisach. Abends ein Telegramm, das W.H.und mir Ankunft von L.und G.V. für den späten Abend ankündigt. Sie kämen mit einem Motorrad und seien 550 km an einem Tag gefahren. W.H. habe sich nur schwer fassen können,  ich sei mehr wegen der Schwierigkeit des Unternehmens nervös gewesen. Beide Damen seien ein wenig unglücklich über den Empfang gewesen. Am nächsten Tag der Versuch, sie billig unterzubringen. Herr B. habe sein Zimmer zur Verfügung gestellt. Dann 2  ½ vollgepackte Tage. Morgens um ½  8 bei trockenem Himmel wieder Abfahrt.

Nach den „Extravaganzen“ meinte W.H. beim Essen, das „Dämonische“ des Besuchs sei schnell versunken. So „überdimensionieren“ könne ich nicht, nun sei der Tag aber wieder hübsch planiert, mit dem Milchgespräch um ½ 4.

Die Runde werde erfreut mit einem Bande des Hofhandbuchs des Fürstentums Reuß jüngere Linie. Als der Vorsitzende des Staatsministeriums werde des Staatsministers von Hinüber, Exzellenz, angegeben, als sei es ein Buch von Thomas Mann.

Der Film „Die letzte Brücke“. Der Kriegsirrsinn in Einzelheiten. Der Mensch sei abgeschafft, er habe nur noch ziemlich geringen Materialwert. Die Schell habe ihre Sache besser gemacht als je.

  

Eine schwerfällige und langweilige Komödie von Christian Weise. Mit der Sprache könne noch nichts Rechtes angefangen werden.

Im Mittelalterseminar schulische Kleinlichkeiten, an denen man Gefallen bekomme, weil die Randnotizen den Reiz des Übersehbaren bekämen. 

  

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Beginn der Pfingstferien. Die Absicht, nach Heidelberg zu fahren, wenn es nicht regne.

Fahrtbeginn per Moped um 11 Uhr mit gemischten Gefühlen. Zwar regnete es nicht, aber es habe 1 ½ Tage lang gegossen. 15 km hinter Freiburg habe es wieder angefangen und dann und wann für eine halbe Stunde aufgehört. Um 6 Uhr sei ich erschöpft in H. gewesen. Freude mit den Kindern. Die Schwester mache sich viel Arbeit. Bei der Rückfahrt vor Karlsruhe ein riesiger Lastwagen im Graben.

  

Bei B. Likörrunde mit politischem Gespräch. A. ganz nüchtern mit klaren und genauen Einsichten.

Ausgezeichnete Wolf-Vorlesung: die Gefährlichkeit Kants, seine rein formale Pflichtauffassung.

Die Fronleichnamsprozession habe mehr Komisches als Überzeugendes gehabt. Die Feuerwehrkapelle habe Märsche geschmettert, „andächtige Herzen“ hätten „Lobe den Herren“ gesungen.

W.H. finde sich wieder ein. Gott- und -die-Welt-Gespräche. Mit ihm abends auf meinem Balkon: Moral und Christentum.

Bei einem Stadtbummel etwas erhitztes Gespräch mit A. über Benn. Ihm sei unverständlich, daß ich das meiste von ihm so hoch einschätze.

Gemeinsam Hofmannsthals „Schwierigen“ gelesen, „eine graziöse Feinheit“. Auch als Drama wirksam. Es sei mit Interesse und großer Aufmerksamkeit gelesen worden. Hinterher habe es eine heftige Aussprache im Anschluß an einige Stellen aus Benns neuem Vortrag gegeben. 

Ein Schwarzwaldausflug, u.a. durchs Höllental: unmöglich, dessen Härte völlig zu reglementieren. Beim Titisee sei hingegen alles Kurverwaltung.

Totale Sonnenfinsternis, Blick auf den ungestirnten Himmel, der sonst nur bei Ausflügen interessiere, im allgemeinen hielten wir Innenschau.

  

Friedells z.T. schöne Einleitung zum ersten Band der Kulturgeschichte sei mit Genuß gelesen worden. 

Der neue Ophülsfilm [„Madame de“] „Glanz und Traum des ganz Unwirklichen“.Für A. sei es „enervierend, dégoutant, haut goût“ gewesen.

Die Weltmeisterschaft sei im Genossenschaftsempfang gehört worden. Nachdem alle sich „wundgeschrieen“ hätten, sei „die erste Strophe des Deutschlandliedes“ gesungen worden: von den Metzgermeistern und Nationalhelden.

Erste Abschiedstöne. A. wolle in dieser Woche abreisen. Die Streitgespräche hätten abgeklärtere Formen. Abendgespräch mit W.H. bei mir. Er will Zuschauer bleiben.

Große Szene, als ich kündige. Bisher habe man die Mieter verpflichtet, mindestens zwei Semester zu wohnen und in den Ferien die volle Miete zu zahlen. 

Mit W.H. im Freiburger Museum: ein spätromanischer Christus habe zum Stärksten gehört.

Nach Basel. Die erste Stadt in einem anderen Land. So sauber, wie man sich die ganze Schweiz vorstelle. Menschen, die sich „nur und immer ‚zu ergehen’“ schienen, „die alte Gewichtigkeit von Türmen, Toren, Kirchen und Höfen“. Bei allem Glück fühle man sich „für Augenblicke fremd“. Wir hätten das Münster und im Kusntmuseum „zu viel, zu viel“ gesehen.

Nun wollten B. und W.H. fahren, ich möchte noch einige Tage bleiben. Ich hätte mich hier durch die Merkwürdigkeiten der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert getastet: Weise, Wolff, Gottsched, Brockes.

  

„Madame Bovary“ angefangen. Die Beschreibung einer Mütze. Abfahrt am 31. Juli. 

In D. Tätigkeit in der Kupferhütte, aber nicht in der Bücherei. Die Sturheit der Schreibereien habe das Angenehme, nicht zu sehr zu strapazieren. So könne man z.B. die „Minima Moralia“ von Adorno lesen, die ein „höllisches“ Vergnügen machten. „Madame Bovary“ beendet: keine leere Stelle, das Poyphone.

Nietzsche, Morgenröte. Scheinbar ganz unmethodisch werde der moralische Nonsens unserer Gesellschaft decouvriert.

  

Die Leute im Büro seien passabel, aber plötzlich erfahre man von einer Bespitzelung, von Mißtrauen, der Krampf des Geredes werde ein scheußlicher Druck. Gegenüber den Fachwissenschaften sei man noch tolerant, aber in der Philosophie könne man alles erzählen, und alles sei graue Theorie. Es komme aber allein auf Praxis an.

Jedes Gespräch werde zu einem ständigen Mißverständnis. Vorläufiges Resultat: Alles Ausgesagte sei Gerede, wo der Geschwätzcharakter unverhohlen hervortrete, sei noch die größte Redlichkeit. Schweigen sei „die einzige tiefe Möglichkeit“. Kunst sei nicht sublimiertes Gerede, sondern dessen Bannung, insofern auf Aussage verzichtet und allein auf Formulierung gezielt werde.

Im Büro werde von der Todesstrafe gesprochen. Einhellige Forderung, sie  müsse wieder eingeführt werden. Rübe runter. „Wir sollen die auch noch bezahlen.“

  

G.V. verabschiede sich. Sie werde sich für ein Jahr auf eine andere Welt einstellen.

Onkel W. sei Anfang September gestorben. Man sei der letzte Sproß der Familie. Große Beteiligung bei der Beerdigung. Hinterher fröhlicher Leichenschmaus.

  

Brief an das „Sonntagsblatt“ nach einer „geschaftelhuberschen Protesterklärung Bischof Meisers zu der Weihe des deutschen Volkes an das unbefleckte Herz Mariä“. 

Bultmann und die Frage der Entmythologisierung. Die Fragestellungen seien wertvoll, die Lösungen vielfach nebelhaft.

   

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Jeden Tag ein paar Seiten aus Becketts „Molloy“. Einen endgültigeren Abgesang an die Liebe als der Bericht über die Begegnung mit der Alten könne es nicht geben.

   

In Frechen bei Köln werde ein freundliches Zimmer gefunden.

Außenpolitische Debatte über die Londoner Akte. Die SPD unklar wie immer.

Nach Wuppertal zu M.W. Das gute, weite Haus. Der Vater schmal, etwas müde, die Mutter freundlich, Zuhörerin, eine sechzehnjährige Schwester, ein Bruder, der Primaner sei. Die Stadt sei verwirrend und durcheinander. M. wohne in Sonnborn, bergisch, mit Fachwerkhäusern. Unsere Gespräche: Bultmann und die Theologie, die Literatur, die Kunst überhaupt, Musil, Benn, aber auch die schönen Nichtigkeiten: adlige Tanten, groteske Schlösser, Freude beim Betrachten der Bilder in einem älteren Gedenkopus für Wilhelm II. Der Imperator als Friedrich der Große mit Puderperücke und Zwirbelbart. M. gehe nach Bonn. 

   

„Doktor Faustus“ begonnen. Bis jetzt viel prätentiöse Breite.  Nach Musil und Kafka das Überholte stärker spürbar. Der letzte Roman im Sinne klassischer Form, aber auch Kompendium der Ansichten und Betrachtungen gegenwärtiger Situation. Unheilvoller Zwitter: nicht Kunstwerk, nicht philosophischer Essay.

   

L. habe die C-Prüfung bestanden. Für mich beginne in ein paar Tagen „der Anfang vom Ende“. 

Becketts „Molloy“: Was hier geschehe, entspreche dem Kratzen, der Bewegung eines Käfers in der Wüste. Die Reduzierung auf das nackte So-Sein sei notwendig als Ende, als Basis.

Zum „Doktor Faustus“ den Roman seiner Entstehung, der so gut wie gar nichts bedeute.

Fahrt nach Köln. Hochamt im Kölner Dom. Das Kardinalsrot sei wieder beeindruckend gewesen. Das Frechener Zimmer angenehm.

   

Trauerfeier für Hermann Ehlers, den Bundestagspräsidenten: die markige Kameradschaftlichkeit der Bischofspredigt, das floskelhafte Gerede Adenauers, der feuilletonistische Beitrag von Heuß, Carlo Schmid als römischer Senator.

   

Im Seminar Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Eine Fülle erstaunlicher Gedanken wie der über das Spiel. Der Brief 22 mit den Bemerkungen über die Form des Kunstwerks.

Volkmann-Schlucks Vorlesung über Kunst und Erkenntnis könnte besonders wichtig werden. 

   

Begegnung mit einer jungen Buchhändlerin in Frechen. Sie habe Proust, Musil und manches andere, das fragen ließe, wie sie das hier verkaufen wolle. 

Kierkegaards „Philosophische Brocken“ angefangen. Exakter logischer Traktat. Die entscheidende Stelle von der unglücklichen Liebe, die es darum sei, weil die Liebenden einander nicht verstehen.

Beginn von Emrichs Vorlesung über den Roman des 20. Jahrhunderts. Abermals werden präzis Kategorien herausgearbeitet. Am Nachmittag erste Sitzung des Oberseminars. Er sei nüchtern, ohne langweilig zu sein, entgegenkommend, ohne die Distanz aufzuheben. Über Kants Ästhetik und seine Einwirkung auf Schiller.

  

Befriedigt , mit Herrn O., der mir von Heidelberg her flüchtig bekannt sei, einige Worte sprechen zu können.

In D. den fast beendigten Hausbau besichtigt.

  

Emrich über Schicksal und Freiheit in der modernen Dichtung. Hinweis auf die Affinität der utopischen und der weltabgewandten Romane im Verhältnis zur Industriegesellschaft.

Mit Kant herumgeschlagen, der mit der Zeit begreifbarer werde. Erstaunt über seine Thesen zur reinen Form, die so modern klängen. Das heute so manches als ungeheuer neu verkauft werde, liege ohne Zweifel an der einfachen Unkenntnis der älteren Texte.

  

„Die Fackel“ von Kraus. Dem Urteil, in diesen Blättern begegne der größte deutsche Satiriker, könne ich bis jetzt nicht zustimmen. Eine Nummer (hier aus 1932) mache oft den Eindruck privater Ergüsse. Und die Sucht, akkurat zu sein, müsse preziös wirken. Aber: zu vorläufiges Urteil, als daß es ernsthaft zu sein beanspruchen könne.

   

Verdienstvolle Sendung über die Juden, das Verhältnis der Deutschen zu ihnen. Im  Grunde das Verhältnis der Masse zu den Intellektuellen.

Skrupel werde nur und allein die Denker plagen. Ihre Ambition, die Menschheit vor dem Untergang zu retten, werde diese mit der Forderung nach einem verbesserten Fenrsehempfänger beantworten. 

Das Entscheidende sei: Rette deine Seele, nicht: Sieh zu, daß du den anderen warme Füße machst.

Mit Herrn O. über eine Schiller-Stelle debattiert. Fortführung des Gesprächs mit der jungen Buchhändlerin.

Hofmannsthal-Gedenkfeier. Heuß als Festredner für den erkrankten R.A.Schröder. Der Präsident komme, Aufstehen, Begrüßung, Kratzfuß. Dann solle er das Podium betreten Der Protokollchef eile voran. 

Hinterher die „Ariadne“. Wirklich eine Oper, der Eindruck vor 1 ½ Jahren werde bestätigt.

   

Das grenzenlos törichte Propagandieren des [östlichen] Deutschlandsenders in einer Sendung für den Westen. Es sollte eine Unterhaltungssendung sein, aber in jede Ansage sei irgendeine politisch-polemische Platitude eingeflochten worden.Von keiner der beiden Seiten sei auch nur das Geringste zu hoffen. 

M.W. besuche mich. Über die Frage, was die westliche Indutriegesellschaft von der östlichen unterscheide. Für M. sei es der Glaube an eine, wenn auch entstellte Rechtsnorm.

   

Emrich zur Stellung des Künstlers in der modernen Gesellschaft und zum Verhältnis des Kunstwerks zu ihr.

Im Seminar werde ich aufgefordert, meinen Interpretationsversuch zur Gestalt als These zu fassen.

   

Das berührende Erlebnis einer Monteverdi-Oper. Kants Wort wird erahnbar: interesseloses Wohlgefallen. Lange nicht habe mich ein Theaterabend so „in Ruhe gelassen“, „in die Ruhe gegeben“. Weit gespannte melodische Bögen.

   

Der Philosoph Volkmann -Schluck mache sich in breiter Behaglichkeit über den Aristoteles her. Überhaupt sei die Freudigkeit der heutigen Philosophenelite in Deutschland, die Anfänge des abendländischen Denkens um und um zu kehren, ziemlich verdächtig. Heute These zu Schillers Gestaltbegriff im Gedicht „Das Ideal und das Leben“: nicht sehr befriedigend. 

Lebhafte Diskussion im Seminar über Schillers Gestaltbegriff.

Ein zukünftiges Pfäfflein in der Kierkegaard-Übung: K. habe eine falsche Theorie von der Erlösung gehabt.

   

Gespräch mit dem Bibliotheksdirektor Dr. J., der auch dem Bibliothekar-Lehrinstitut vorstehe. Die Aussicht für leitende Volksbibliothekare sei günstig, er riet mir, vor dem Besuch der Schule zu promovieren.

   

Mit meinem Antipoden  aus dem Seminar zusammengestoßen. Ein schleichender Eiferer, der in der Sitzung einwarf, nachdem ich ein Schiller-Zitat vorgelesen hatte, das widerlege mich gerade.

   

„Mozartsche Beruhigung“. Peinlich sei die 6. Symphonie von Tschaikowskij erschienen.

Manns „Zauberberg“. Hier schon Ankündigung dessen, was den Faustus so unangenehm mache: die Allegorik, die sich als weit „Besseres“ ausgebe. Da seien gleich Satan und Christus im Sanatorium beisammen.

Habe Sorge, mit dem Stoff zum Referat nicht gründlich zu Ende zu kommen

  

Drei kurze Filmstreifen Karl Valentins. Wie das völlig Hilflose sich Macht verschaffe. Der Komiker Valentin mache uns  verzweifelt glücklich.

  

Bei M.W.in Bonn. Wichtig sei auch das Bestimmende der Wiederaufrüstungsfrage gewesen. Bei Prof. Emrich vergewissert, wie mein Referat anzulegen sei.

Gestern Unerfeulichkeiten im Oberseminar: persönliche Anpöbeleien zweier Seminarmitglieder. E’s Hilf- und Fassungslosigkeit.

  

Der Caligari-Film, der höchst Lächerliches neben ganz einmaligen Bildern habe. 

De Sicas „Wunder von Mailand“, das überaus lustig und sehr filmisch gewesen sei.

   

   

Nummer 12(Febr./März 2006) s.Archiv

   

INHALT: VON DER SPRACHE:Das Ende  deutscher Sprache und die Genese  deutscher Rede (ein Fragment) . VON DER POLITIK: Hampelmänner, Hampelfrauen – Parteitag . VON DER BILDUNG: PISA-Studien  -- Über die Rechtschreibreform, ihren Gewinn, die dummen Kerle und die Ewigkeit. VON DER LITERATUR: Shakespeare Sonett XVIII (übers. v. H.A.) – Vollmanns Romane. VOM FILM: The Jazzsinger – Geschichte als Film. VOM JOURNALISMUS: Phänomenologie des Journalismus II. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1953.

   

Die Nummern 1 – 12 s. Archiv

   

s. Register der Nummern 1 – 10 von „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen.

   

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