Zur Lage der Nation

         Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

                                           zu den Medien in Deutschland

                                     Herausgegeben von Helmut Arntzen

                                                                       

                                      Nummer 14 (September/Oktober 2006)

           

      

      

INHALT: VOM MENSCHLICHEN UMGANG: Acht Tage nach dem 11.September 2001 .   Der Universalismus von Schmeichelei und Heuchelei oder Political Correctness und ihr Ende   –   Lamentoso.  VON DER SPRACHE: Zum Verhältnis von Tatsache und Sprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. VON DER DEUTSCHEN GEGENWART: Aus der deutschen Service-Wüste   Fahren mit Herrn Mehdorns Bahn   Kleiner Stadtbummel  – Von den Deutschen. VON DER DEUTSCHEN VERGANGENHEIT: Zerstörung und Wiederaufbau deutscher Städte. VON DEN MEDIEN: Deutschland und die Welt in der FAZ  –  Dr.h.c. Enderlein und sein Kontrollanhängsel. VON DER HOCHSCHULE: Schwindel als Basis. 
VOM SPORT: Die Welt als Fußball. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1955.

   

   

   

VOM MENSCHLICHEN UMGANG

   

   

Acht Tage nach dem 11.September 2001 [aus einem Brief, mit leichten Änderungen]

Da ich glaube, daß Ereignisse wie die von New York nur noch auf mehreren Ebenen zu bedenken sind, versuche ich das einmal, und zwar abwärtssteigend von der ‚höchsten‘ bis zur alltäglichsten Ebene, im Augenblick sind das fünf.

   

1. Ebene (sub specie saeculorum). An diesem Ereignis wird wieder drastisch manifest, was spätestens seit 1914 deutlich wurde, vielleicht aber schon seit Kain und Abel, daß ‚wir‘, also die Menschheit mit unserer Lage schlechthin nicht oder nicht mehr fertig werden. 

Das hat seinen Grund darin, daß wir unsere einzige Chance, nämlich die sprachliche spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr wahrgenommen haben, d.h. den Auseinanderfall in sprachliche Wirklichkeit und Sprache als Apparat der Tatsacheninformation ständig gefördert haben, so daß die Gewaltpotentiale als Ausdruck von Sprachlosigkeit ins Ungeheure gestiegen sind.

Anwendung: Daraus kann man nur die Konsequenz ziehen oder „dennoch die Schwerter halten vor die Stunde der Welt“(Benn).

  

2. Ebene(Kulturen). Die Differenz zwischen westlicher Zivilisation und islamischer Religion erscheint gegenwärtig und vielleicht grundsätzlich unüberbrückbar. 

Wir pochen auf unseren aufklärerischen Fortschritt, wenden aber keine nennenswerte Mühe daran, unsere metaphysische Leere zu bedenken;  

sie pochen auf die Wahrheit von Allahs Wort, wenden aber keine nennenswerte Mühe daran, zu bedenken, daß für sie die einzige wirkungsmächtige Form der Durchsetzung des wahren Wortes die Gewalt ist.

Wir haben Zeitungen und Fernsehen, sie haben den Koran.

Anwendung: Wegen der qualitativen Differenz sehe ich so gut wie keine Möglichkeit, bei der gegenwärtigen Lage zwischen den Kulturen zu vermitteln. 

  

3. Ebene (Terrorismus). Der Terrorismus als Durchsetzungsmodus der Wahrheit ist absurd. Wer ihn – östlich oder westlich – für verständlich hält, hat sich schon verabschiedet und müßte seinen Hals dem Messer bieten. Der Terrorismus kann auch nicht die Voraussetzung von irgendwelchen positiven Beziehungen sein, da er ja nur Unterwerfung oder Vernichtung kennen kann.

Anwendung: Man kann, wo sich Terrorismus zeigt, nur aktiv oder passiv widerstehen. Diskussionen über die Gründe des Terrorismus sind, wenn sie nicht eine intellektuelle Nebensache sind, Selbstaufgabe.

   

4. Ebene (Amerika). Die Defekte, Fehler, Verwirrungen Amerikas sind evident: es gibt keine wahre Vermittlung zwischen den Grundwerten einer aufgekärten Gesellschaft und einem zentral gestellten Kapitalismus. Aber der terroristische Angriff auf Amerika kann nicht mit dem Zustand Amerikas begründet werden, er ist ein ‚absoluter Angriff‘ und kann aus jeder Sicht, die nicht von vornherein völlig irrational ist, nicht hingenommen werden. Es kann auch nicht der ‚beste‘ Weg zur Bekämpfung ermittelt werden, da man unter dem Druck des Terrorismus steht. Es kann nur die jeweils plausibelste Abwehr gewählt werden.

Anwendung: es ist völlig gleichgültig, ob man Amerika mit Sympathie oder Skepsis gegenübersteht, der Terrorismus als extremer Ausdruck der Fremdheit kann nicht verstanden, er muß abgewehrt werden.

  

5. Ebene: (Deutschland). Wir sind mit darin, nicht so sehr, weil wir in Amerikas Schleppseil hängen, sondern weil wir wie Amerika als Ziel des Terrorismus zu gelten haben.

Wir sind nicht von ferne in der Lage, eine Art dritter Position zu beziehen, die als der Versuch der Vermittlung gelten könnte. Wir repräsentieren an uns selbst und gegenüber dem Islam nur einen Abklatsch des Amerikanismus, der nicht einmal auf Formen des Patriotismus sich beziehen kann.

Anwendung: Wenn wir nicht mit Glühwein und weißer Fahne unsere ausgeprägte Feigheit demonstrieren wollen, müssen wir in der Tat mitmachen, nicht weil uns das unsere Errettung eintragen kann, sondern weil es die einzige Chance ist, jeweils noch einmal davonzukommen. 

   

   (nach oben)

   

Der  Universalismus von Schmeichelei und Heuchelei

oder Political Correctness und ihr Ende

   

Die Anweisungen für den „Umgang mit Menschen“ finden ihren bisher höchsten Ausdruck im jesuanischen Gebot der bedingungslosen Liebe des Nächsten als des konkreten, nämlich sicht- und hörbaren anderen.

Abgesehen davon, daß es außer dem Verkünder niemandem bisher gelungen scheint, dieses Gebot zu praktizieren, ist es auf mindestens doppelte Weise alltäglich gefährdet. 

Es kann völlig phraseologisch und damit leer werden, und zwar so, daß selbst ein Staats-und Massenverbrecher  wie Mielke öffentlich deklamieren konnte:“Ich liebe doch. Ich liebe doch alle Menschen“.

Es kann sich aber auch verkehren in das Gebot der Schmeichelei, eines Begriffs,  der uns sehr fremd geworden ist, obwohl er ein Verhalten inszenierter und kalkulierter Nächstenliebe benennt, das heute besonders grassiert, aber so subtil sich darstellen kann, daß ihr Inszeniertes und Kalkuliertes, die nie den „Nächsten“, sondern immer nur den Egoismus fördern, kaum auszumachen ist. 

Schmeichelei galt im 17. und 18. Jahrhundert der Gunst der Großen, wurde im 19. und 20. dann zur „guten Beziehung“ der Gleichgestellten und seitdem in Politik, Wirtschaft und Kultur zur vom Telefon geförderten Klüngelei, die den anderen nach Maßgabe und Dauer seiner Nützlichkeit anerkennt und ihn gleichzeitig durch Bestechung, die von der freundschaftlichen Rezension bis zur Geldüberweisung gehen kann, korrumpiert, d.h. ihm die eben gewährte Anerkennung wieder „abkauft“, indem sie ihn durch Bestechung der Bestechlichkeit überführt.

Auf die Weise, wie er sich selbst „liebt“, nämlich als Egomane, liebt der Schmeichler den anderen, dem er von vornherein den eigenen Impetus unterstellt, so daß er 

noch  die schäbigsten Auswüchse der Egomanie des anderen billigt, jede Sachbezogenheit aber als so unmöglich wie ihm selbst schädlich verwirft.

Dem Inszenierten und Kalkulierten der Schmeichelei  könnte die Offenheit gegenübergestellt werden, die den anderen respektiert, ihm hilft, mit ihm argumentiert, ihn aber auch kritisiert, ja provoziert, welch letztere aber dieses Verhalten alsbald unwirksam machen. Wird einerseits die Respektierung als selbstverständlich verbucht, obwohl sie in den Verhältnissen  der Schmeichelei gar nicht vorkommt, und die Hilfe  als peinliche Aufdeckung der eigenen Schwäche im günstigsten Fall vergessen, im schlechtesten aber bestraft, so gilt schon die Argumentation als Beginn der Kritik, die immer als „verletzende“ verworfen, ja bei nächstbester Gelegenheit verfolgt wird. 

Die sogenannte Kommunikation reduziert sich daher auf den unmittelbaren Nutzen, etwa im Verkaufsgespräch, oder auf den mittelbaren, der z.B. durch inhaltlich nahezu sinnlose Telefonate so lange erhalten wird, bis er in unmittelbaren Nutzen umschlägt. Oder aber dessen Möglichkeit erscheint wegen des Machtverlustes des Gesprächspartners als nicht mehr gegeben, weshalb die Verbindung eingestellt wird. 

Wenn die Privatgeschichte der Schmeichelei durch unveränderliche Strukturen bei Wandelbarkeit ihres Ausdrucks gekennzeichnet ist, so zeigt sich deren Veränderung in der öffentlichen Geschichte vor allem als Steigerung  des Prinzips vom Speziellen zum Allgemeinen. Im 17.,18. und z.T. im 19. Jahrhundert finden wir noch den Hof als Ort der Schmeichelei, also die Stätte der monarchischen Macht, vor der, wenn man nicht gezwungen ist , an ihr zu verweilen, einzig rasche und weite Flucht z.B. ins Ländliche schützen kann. Seitdem verliert sich die ‚Ortsgebundenheit’ und damit das Spezielle der Schmeichelei immer mehr, so daß sie gewissermaßen an jeder Straßenecke erforderlich wird, also potentiell in jedem öffentlichen Kontext, in den der einzelne eintritt. Orientierung bietet in diesem sich ständig ändernden Kontext  allein die Beachtung von Normen, die nicht mehr von der deutlichen Machtkonzentration etwa eines Hofes ausgehen,  sondern z.B. aus der sogenannten political correctness herstammen, die als eine metaphorische Anzugsordnung, also Angepaßtheit, ähnlich der realen älterer Epochen, zu gelten hat. Deren Inhalte können sich relativ rasch ändern, gelten aber für den jeweiligen Augenblick als unverbrüchlich. Der political correctness ist v.a. redensartlich zu schmeicheln, d.h.es muß über ein Corpus sprachlicher Wendungen verfügt werden können, das die eigene Stellung festigt, die des anderen dagegen gefährdet. Vergleichsweise lange hält sich in dem unsicheren öffentlichen Diskurs Deutschlands z.B.die political correctness des Antifaschismus, die nichts mit einer reflektierten Ablehnung totalitaristischer Tendenzen zu tun hat, sondern aus der Verwerfung dessen besteht, was als ‚faschistisch’ gesetzt wird. So kann  der Antiamerikanismus sich diesem Ausdruck von political correctness integrieren, indem man auch damit dem ‚Faschismus’ entgegenzutreten behauptet. Umgekehrt kann die schlimmste Barbarei kommunistischer Herkunft durch die Prägung „Antifaschismus“ gerechtferigt werden, wobei es sich lediglich um  eine Umschmeichelung mittels eines Ausdrucks von political correctness handelt.

Der Antiamerikanismus bezieht seine Wirkung übrigens daraus, daß nicht nur kritische Fälle (mit Recht) genannt, sondern diese durch Aussparung von allem anderen als bestimmend behauptet werden, und daß dabei vor allem die kritischen Fälle offensichtlicher (vor allem linker)  Diktaturen entweder klein gemacht oder ganz verschwiegen werden. Die Ausrottung des eigenen Volkes durch Pol Pot, den die UNO als rechtmäßigen Regierungschef noch nach seinem Sturz anerkannte,  und die Roten Khmer etwa wird angesichts der Gefangenenbehandlung in Guantanamo als nicht nennenswerte Abweichung behandelt.

Da aber die Schmeichelei, wie sie in dem Verhalten der political correctness zum Ausdruck kommt, längst nicht mehr Personen oder Institutionen gilt, sondern Tendenzen, deren Autorität durch jede anerkennende Äußerung steigt, wird sie als  Schmeichelei immer unsichtbarer, aber auch immer wirksamer, und gilt als kompetente Meinung. Wer die politisch korrekten Sätze spricht, deren fixe Phraseologie sie schon immer als Lüge ausweist, empfiehlt sich der Macht, wie sie eben nicht mehr in Personen und Gruppen v.a. sich repräsentiert, sondern in einem anonymen „man sagt so“, dem man durch medienwirksame Meinung beitritt, wodurch man  wiederum dem eigenen Fortkommen aufhilft. Dagegen ist schon der Nichtgebrauch der politisch korrekten Sätze ein Vergehen, das durch Totschweigen davon abweichender Sätze bestraft wird.

So ist die Anerkennung des Joseph Fischer Schmeichelei in Gestalt der herrschenden Tendenzen wie auch als Selbstschmeichelei.Die herrschenden Tendenzen bestehen in diesem Fall darin, den Hang zum Totalitären als Antifaschismus zu dekorieren, also den Prügler  und den Unverschämten nicht in die Nähe des SA-Manns zu rücken, sondern in ihm den Kämpfer  gegen den Faschismus zu feiern, der dem Machiavellisten F. in Wahrheit natürlich höchst gleichgültig war. Die Selbstschmeichelei aber begegnet darin, daß F. der Repräsentant eines Geschlechts war, das schon vor über dreißig Jahren die Synthese von Macht und Bequemlichkeit  anstrebte und die Legitimation der planen Faulheit (der innerlichen wie der äußerlichen) im Erfolg sah, damit dem heutigen Manager naherückte, dessen hechelnder Betriebsamkeit es sich  allerdings überlegen sah.

Die  Sprach- und Denkbegabten, sofern es sie überhaupt noch gibt, setzen sich hinsichtlich der öffentlichen Dinge weder auseinander noch  verständigen sie sich,  sondern suchen allein  die Durchsetzung politischer Korrektheit zum Wohle der Sprecher. So gibt es z.B. keine fundamentale Medienkritik in Deutschland, da es politisch korrekt ist, die Macht der Medien als für die Entwicklung unserer Gesellschaft förderliche zu akzeptieren, was einerseits die Festigkeit des Systems fördert, andererseits den ‚Schmeichelnden’ sowohl  die Möglichkeit der öffentlichen Äußerung  als damit die Aussicht sowohl auf ‚Ruhm’ als  auf Karriere erhält. 

So bildet sich aufgrund von Schmeichelei eine universelle Heuchelei aus, die das gesamte öffentliche Wesen vergiftet, gerade indem sie behauptet, den großen Konsens der Vernünftigen herzustellen. Alle öffentliche  Äußerung wird attitudenhaft, weil sie von vornherein rhetorisch und damit fremdbestimmt ist.

Sie ist in Deutschland durch die Achtundsechziger zur Vollendung gebracht worden, und zwar dadurch, daß sie als existentielle Verlogenheit verinnerlicht wurde. Zu dieser universellen Heuchelei gehört das Erstaunen über die Eruptionen des Rechtsradikalismus, das mit der Verdrängung  aller Erscheinungen des Linksradikalismus einhergeht, so daß sich dessen alte institutionelle Formen in Gestalt von PDS oder Stasi-Hilfsorganisationen, die an entsprechende Waffen-SS-Hilfsvereine erinnern, ebenso unbehindert zeigen können wie anarchische Gruppierungen, die etwa in Berlin-Kreuzberg längst als Folklore eingeordnet werden. Jene Rechtsradikalen aber repräsentieren nichts anderes als die andere Seite der political correctness, insofern sich in deren ‚Keller’ die unstilisierte Gewalt Bahn bricht als die einzige Weise, wie noch gegen die universelle Heuchelei Widerstand zu leisten ist. Die schlimmen Übergriffe auf einzelne Migranten oder kleine Kollektive von ihnen können z.B. in Ostdeutschland nicht als gewalthafte Ablehnung von ‚Ausländern’ allein gesehen werden, von denen es ja auch dort nur eine ganz geringe Zahl gibt,  sondern als unartikulierter Protest gegen die Sprachregelungen, denen reflexionslose Jugendliche ausgesetzt sind, die sie aber selbst  nicht ‚beherrschen’. 

Wie alle öffentlichen Probleme ist auch dieses zunächst und zutiefst ein Sprachproblem. Während sich die große Mehrzahl der Bevölkerung bemüht, den phraseologisch gewordenen und darum heuchlerischen öffentlichen Diskurs zumindest imitativ mitzuvollziehen, rumort es zunehmend auf der Ebene der nahezu Artikulationslosen, denn Gewalt ist immer ein Zeichen von Sprachlosigkeit, selbst als Unfähigkeit zur Phrase.

Es ist das fragwürdige Verdienst der öffentlichen Medien, die phraseologische  Art von öffentlichem Diskurs zum einzigen gemacht zu haben, der zugelassen ist. Die oft hilflose Gestelztheit und die Phraseologie von Politikern und anderen öffentlichen Funktionären in jeder Diskurssituation, also im Parlament, in Reden, in Interviews, in Talkrunden usw., zeigt den Grad der Sprachzerstörung an, der durch die Medien täglich geleistet wird. 

Er dringt natürlich längst auch in die privaten Bereiche ein, wo sich von der sprachlosen Dumpfheit Jugendlicher, die sich oft nur noch in Interjektionen äußert, bis zu einer den Medien abgenommenen Suada der Väter und Mütter das Absterben der Fähigkeit zeigt, ein Gespräch zu führen und darin Vertrauen und reflektierte Kritik aufzubauen.  

Die drastische Zunahme der Gewalt in der öffentlichen wie in der privaten Auseinandersetzung ist das universelle Signal dafür, daß die erzwungenen Modi von totaler und darum totalitaristischer Schmeichelei und Heuchelei  weniger und weniger funktionieren und political correctness immer stärker und immer rascher umschlägt in die Anarchie des Kampfes aller gegen alle, wobei der Untergang sich unter den beschwörenden Rufen nach Demokratie und Toleranz vollziehen wird.     

     

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Lamentoso

   

Es hätte anders werden können.

Sagen wir z.B. Andalusien:

Sevilla, 

die Kathedrale,

der Alcazar, der Saal der Botschafter, 

die Gärten mit den Springbrunnen,

den Hecken, den Rosen.

Oder Granada:

der Myrtenhof,

der Patio de los Leones, 

die Jardines,

der Generalife.

Oder Cordobas dämmernder Säulenwald.

   

   

Es hätte anders werden können.

Aber die Menschheit –

viele Mörder, viele Verbrecher,

sehr viele Trottel –

hat anders entschieden.

Sie war für Stalin,

für Hitler, 

sie war für terreur,

für roten und weißen Terror,

war für Pol Pot,

für den Terror der RAF,

für Arafat,

für den Terrorismus,

für Selbstmordterroristen,

für den Terror im Namen Allahs; 

ist auch dagegen,

ist darum für Bush,

für Berlusconi,

für Putin,

für die Hampelmänner und –frauen jeder show,

für den Konsumterror, 

war für Schröder

oder Fischer,

ist für Hinz und für Kunz.

   

   

Aber ist nicht für Andalusien.

Oder nur für Marbella.

Ist nicht für Sevilla und Granada.

Oder nur für die Operngala

oder die coole Party auf der Plaza nueva.

Nicht für die Säle und Gärten der Alhambra.

Oder nur für den Snack in der Cafeteria.

   

   

Es hätte anders werden können.

Es konnte nicht anders werden.

Es hat nicht sollen sein.

   

   

   

   

   

VON DER SPRACHE

   

   

Zum Verhältnis von Tatsache und Sprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts

(vorgetragen in der 86. Sitzung der Freitagsgesellschaft an der Universität Münster 

am 20.Jan. 2006) 

   

Das Wörtlein Tatsache

In der Lachmann-Muncker – Ausgabe von Lessings Schriften gibt es  unter den „Vorarbeiten für ein deutsches Wörterbuch“ ein kleines Fragment „Ueber das Wörtlein Thatsache“, das das Grimmsche Wörterbuch im Band 11 (T – Treftig) von 1935 einleitend in dem Artikel „Thatsache“ verzeichnet. Das Fragment stammt, wie die Lessing-Herausgeber schreiben, „wohl aus dem Jahre 1778“ und lautet:

„Mit Recht sage ich: W ö r t l e i n; denn es ist noch so jung. Ich weiß mich der Zeit ganz wohl zu erinnern, da es noch in Niemands Munde war. Aber aus wessen Munde oder Feder es zuerst gekommen, das weiß ich nicht. Noch weniger weiß ich, wie es gekommen seyn mag, daß dieses neue Wörtlein ganz wider das gewöhnliche Schicksal neuer Wörter in kurzer Zeit ein so gewaltiges Glück gemacht hat; noch, wodurch es eine so allgemeine Aufnahme verdient hat, daß man in gewissen Schriften kein Blatt umschlagen kann, ohne auf eine Thatsache zu stoßen.

Man fand in Lateinischen und Französischen Büchern bey wackern Männern, die an der Grundfeste des Christenthums flicken, daß es ganz unwandelbar gegründet sey, weil es auf Facta, sur des Faits, beruhe, die kein Mensch in Zweifel ziehen könne. 

Nun heißen Facta und des Faits weiter nichts, als geschehene Dinge, Begebenheiten, Thaten, Ereignisse, Vorfälle, deren historische Gewißheit so groß ist, als historische Gewißheit nur seyn kann.“(Gotthold Ephraim Lessings sämtl. Schriften.Ed. K.Lachmann/F.Muncker. Leipzig 1902. Bd 16. S.77.) 

Es folgen dann noch zwei Zeilen über den Gebrauch dieser „deutschen Ausdrücke“. 

Das Grimmsche Wörterbuch fügt  in dieses Zitat ein, daß nach Johann Friedrich Heynatz’ Synonymen-Wörterbuch von 1795 und 1798 J.J.Spalding in einer Übersetzung eines Werkes von Buttler von 1756 „zuerst“ das Wort Tatsache für res facti, nicht  „gerade für factum gebraucht“ habe. Da aber in dem einschlägigen Artikel „Thatsache“ sowohl als „res facti“ wie als „factum“ übersetzt wird, ist diese Bemerkung wohl nicht sehr differenzierend.

Nach einem Beleg für Tatsache als „sache der that“ finden sich  neun Belege für die Bedeutung „eine vorgefallene, wirklich geschehene sache, etwas feststehendes, das nicht bezweifelt werden kann“. Die Belege stammen von Sturz(1768), Goethe, Wieland, Immermann, Kant, Fichte, Schiller, Savigny und Dahlmann( S.322).

Lessings Bemerkung, die allerdings schon Zweifel an einer eindeutigen Semantik  des „Wörtleins“ anmeldet, wie die angeführten Belege lassen es als wahrscheinlich gelten, daß „Tatsache“ ein Wort ist, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Übersetzung von „factum“ und „res facti“ aufgekommen ist .Lessing hebt die Neuheit des Wortes, seine rasche Verbreitung hervor und  daß es sich auf historische Vorgänge, ja auf das Christentum als historischen Vorgang beziehe.

Unter den Wörterbuchbelegen ist eigentlich nur der von Kant einer, der das Wort eindeutig dem Bereich der Naturwissenschaften und der Mathematik zuschlägt, während Fichte noch von der „thatsache des bewusztseins“(S.322) spricht.

Wir können also die Geburt eines Begriffs erst zu einer Zeit konstatieren, da die Vorstellungen „Materialismus“, „Empirismus“u.ä., die ihn notwendig zu machen scheinen, sich längst etabliert haben.

So sehr wir aber bspw. in dem  v.a. als materialistisch verstandenen, aus dem Begriff der res hervorgehenden Dingbegriff soetwas wie einen Vorläufer von Faktum oder Tatsache zu haben scheinen, so sehr ist ein solcher Begriff eingebunden in ein Weltverständnis, das aus den verschiedensten Formen von Metaphysik bestehen und etwa durch das Nach-, aber auch Nebeneinander von Systemtypen wie Mythos, Religion, Vernunft geprägt sein kann. D.h. „Ding, res“ u.ä., ist bis ins 18. Jahrhundert ebenso ein Moment  ‚vorhandener’ Realität wie des jeweils davon Gedachten oder Gesagten.

Dagegen setzt sich mit dem Tatsachenbegriff die Annahme eines isolierten Da durch, das jenseits allen Verstehens und Begreifens existiert, und zwar als ihnen Vorgängiges. Damit wird der Subjekt-, Objektdualismus komplett. Die Sprache, die bisher für die jeweiligen Systemtypen eine konstitutive, allerdings auch immer wieder kritisch bedachte Funktion hatte,  erhält nun  die gewissermaßen untergeordnete Funktion,  das Vorhandene lediglich zu bezeichnen und mitzuteilen. Dieses Vorhandene sei  durch Messen und Wägen zu repräsentieren. Beides geschehe transsprachlich durch mathematisch-physikalische Verfahren. Die Sicherheit einer solchen messenden Trennung des Vorhandenen von der Sprache irritiert freilich schon einen Denker wie Lichtenberg, der  in seinen physikalisch-mathematischen Schriften sagt: „Alle mathematischen Gesetze, die wir in der Natur finden, sind mir trotz ihrer Schönheit immer verdächtig. Sie freuen mich nicht. Sie sind bloß Hülfsmittel. In der Nähe ist Alles nicht wahr.“( G.C.Lichtenberg, Vermischte Schriften.Ed. L.Ch.Lichtenberg u.F.Kries. Bd 9. Göttingen 1806.S. 145 f.)

   

Der Positivismus

Der Positivimus, wie er sich schon im Empirismus Humes  oder im Materialismus d’Alemberts vorbildet und bei Comte ausformuliert, sieht hingegen „Alles“ nur als Gegebenes, als Datum  an, was sich gerade und täglich „in der Nähe“ darstellt und nicht mehr  darauf zu prüfen ist, ob es „wahr“ sei. So ist das „Wesen“ einer Tatsache oder auch deren „Ursache“ nach Comte nicht erfragbar, vielmehr ist von ihr fraglos auszugehen und  nur nach der Aufeinanderfolge und Ähnlichkeit  als Beziehung zu anderen Tatsachen zu fragen. In seiner Dreistadienlehre macht Comte die Tatsache zur Grundlage des wissenschaftlichen als des endgültigen Stadiums, das dem theologischen und dem metaphysischen folge. Comte schaltet die Frage nach Wahrnehmung und Erfahrung aus, die erst durch die Engländer John Stuart Mill und Herbert Spencer wieder eingeführt wird. So kann sich im 19. Jahrhundert eine Vorstellung von der Tatsache etablieren, die im alltäglichen Verständnis eines bewußtseinsunabhängigen und immer schon Vorgegebenen  sich breit und beherrschend entfaltet.

Die ‚Erfindung’ der Fotografie ist dafür ein wichtiger Beleg, ja mehr als das: Fotografie bedarf der Voraussetzung einer Reduktion von (dinglicher)Wirklichkeit auf Tatsächliches, um ‚erfunden’  werden zu können. Nach ‚malerischen’ Anfängen in Gestalt der Daguerreotypie prägt sich in der Fotografie immer nachdrücklicher  die dokumentaristische Funktion aus, die das Tatsächliche zu fixieren sucht. In Siegfried Kracauers „Theorie des Films“ heißt es: „Im Frankreich des 19. Jahrhunderts fiel der Aufstieg der Fotografie zeitlich mit der Ausbreitung des Positivismus zusammen.“(In: S.K., Schriften.Hrsg.v. K.Witte.Bd 3. Frankfurt/M. 1973.S. 27 f.) Der Film ist als eine weitere Stufe dieser dokumentaristischen Tendenz zu verstehen. Und der Tonfilm(auch als Fernsehfilm und -spiel) bringt diese Tendenz zu einem vorläufigen Höhepunkt und Abschluß.

Fotografie wird seit dem 19. Jahrhundert, Tonfilm und Fernsehen werden seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts  als tatsachendokumentierende Medien akzeptiert. Aber gleichzeitig zeigt sich in diesen Medien, und zwar gerade in Filmen, die als Dokumentarfilme in besonderer Weise den Anspruch vermitteln, Tatsachen zu fixieren, das Arrangement der Wirklichkeit für das Medium  und das Arrangement der Wirklichkeit durch das Medium, wie es in der Artefizialität der Riefenstahlschen Dokumentarfilme vielleicht am drastischsten erscheint (s.H.A., Ursprung der Gegenwart. Weinheim 1995.S.33 – 48).

  

Presse und Sprachkritik

Parallel zu Fotografie und Film breitet sich das Medium der Zeitung als  Tageszeitung, Wochenzeitung, als populäre Zeitschrift und später als Illustriertes Blatt aus. Für alle diese Medien hat die Nachricht als  Information über tatsächliche Ereignisse eine zentrale Qualität. Sie soll diese Ereignisse so richtig und genau als möglich mitteilen, was voraussetzt, daß Tatsache und sprachliche Information in ein eindeutiges Verhältnis zueinander gebracht werden können, das der Informant, also der Journalist herzustellen habe. Doch steht dem bereits im Wege, daß das Ereignis in Kontexten steht, die den Warencharakter der Zeitung, ihren Umfang, ihre Periodizität, das Interesse des Publikums, die Subjektivität des Journalisten u.a. betreffen. Vor allem aber ist zu bedenken, in welcher Beziehung die Vorstellung vom tatsächlichen Ereignis zur Sprache überhaupt und zu dem Sprechen des jeweiligen Journalisten steht( s.H.A., Medienkritik und sprachkritische Ethik. Ein Prolegomenon.In: U.Breuer,J.Korhonen[Hrsg],Mediensprache – Medienkritik. Frankfurt/M.2001. S.276 – 278). Genau dies aber ist innerhalb des Journalismus niemals geschehen. Allenfalls befaßt der sich mit der Frage des Stils, also der Rhetorik. 

Die Frage nach dem Sprachgebrauch der Presse stellt nach Vorfragen bei Ferdinand Kürnberger, Ludwig Speidel und Daniel Spitzer Karl Kraus, der zu Anfang des Ersten Weltkriegs u.a. diese Sätze schrieb: „Was ist [die Presse]? Ein Bote nur? [Einer, der] uns mit der Tatsache gleich die Vorstellung mitbringt ?[....]Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden[…]Sie ist kein Dienstmann – wie könnte ein Dienstmann auch so viel verlangen und bekommen -, sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle  im Staat spielen müßte, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache und über unsere Phantasie.“ (In dieser großen Zeit.In.K.K.,Weltgericht. Bd 1.Leipzig 1919.S.14.) 

Hier wird eine Umkehrung des Verstehens angezeigt, wie es im 19. Jahrhundert gegolten hatte. Diese setzt sich im heutigen Medienverständnis  erst ganz durch. Sie besteht darin, daß das Verhältnis von Sprache und Tatsache oder Ereignis nicht mehr im ‚Dienst’ der Sprache beim Transport der Tatsache gesehen wird,  sondern als ‚Herrschaft’ über die Tatsache, die in der Nachricht  erst entsteht.

Diese sprachkritische These von  Kraus geht freilich nicht davon aus, daß es eine sprachtranszendente Tatsache gebe, sondern daß Sprache vielmehr immer die einzige Weise der Vermittlung  von Sache, von Wirklichkeit  für das menschliche Bewußtsein sei. In der Presse aber werde einerseits am Tatsachenbegriff in seiner positivistischen Bedeutung festgehalten, doch andererseits das angeblich Tatsächliche ganz im journalistischen Sprachgebrauch aufgehoben.  Kraus weist durch diese Perspektive darauf hin, daß jeder Sprachgebrauch, zumal aber einer, der vorgibt, auf direkte Weise Wirklichkeit als tatsächliche erscheinen zu lassen, größte sprachliche Verantwortung, Sprachethik voraussetze, wenn er denn irgendeinen Bestand haben solle. 

  

Das deutsche Sprachdenken

Er steht damit in der Tradition sowohl des deutschen Sprachdenkens, wie es sich  seit Hamann und Herder herausgebildet hat, als auch der Literatur , wie sie für Kraus vor und nach Realismus und Naturalismus u.a. in den Arbeiten Shakespeares, Goethes, Lichtenbergs, Claudius’, der Romantiker, Nestroys und dann wieder der Expressionisten, etwa Trakls, der Lasker Schüler u.a., repräsentativ erscheint. Diese Autoren sind für ihn darum sprachbewußte, weil sie ihren poetischen Kosmos nicht mit Hilfe der Sprache, sondern zum wesentlichen Teil oder ganz aus  der Sprache aufbauen.

Dieses Denken hat zum französischen Symbolismus etwa Baudelaires, Mallarmés, Verlaines  und zu deren deutschen Nachfolgern, insbesondere zu George und Hofmannsthal,  durchaus Beziehungen,  doch geht es über deren ästhetische Vorstellung von der Sprache darin hinaus, daß Kraus den Sprachgebrauch immer als menschliche Wirklichkeitskonstitution begreift, die allerdings  jederzeit in Destruktion umschlagen könne, wenn Sprache  nicht als ethische Größe, sondern lediglich als Transportmittel oder als Effekt- oder Ornamentmedium betrachtet werde.

Als solche gesehen stellt sich bei den Reflektierteren Sprachskepsis ein, wie sie schon bei Nietzsche, später bei Fritz Mauthner und Hofmannsthal  zu finden ist. Doch ist z.B. Hofmannsthals immer wieder zitierte Sprachskepsis im Chandos-Brief  bei näherer Betrachtung nicht, wie es scheint, genereller Art, sondern sie bezieht sich  (vielleicht für den Autor unbewußt) auf die politische, also die öffentliche Rede, deren beherrschende Form immer mehr die Rede der Medien wird (s. H.A.,Der Literaturbegriff. Münster 1984.S.126 – 128).

Im Gegensatz dazu ist für Hamann schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts „Poesie“ „die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“(Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce.Hrsg.v.S.Jörgensen.Stuttgart 1974. S.81). Sie ist Kreativität in Sprache und damit für ihn der „Schöpfung“ verwandt, „die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist“(S.87). Herder verdeutlicht das, wenn er schreibt, „die Sprache“ sei „mehr als Werkzeug: sie ist gleichsam Behältnis und Inhalt der Literatur“ (Sprachphilosophische Schriften. Hrsg.v. E.Heintel. Hamburg 1964. S.94). Für Hamann, Herder und später Humboldt hat die Literatur in bezug auf die Sprache eine hervorgehobene und zentrale Position, die sie auch nach den grundsätzlichen Erwägungen Herders über „den Ursprung der Sprache“ behält. In ihnen weist er u.a. ab, daß der Mensch  Sprache durch Nachahmung von Tierlauten gewonnen habe. Vielmehr gilt für ihn: „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“(S.3). D.h. auch im Bereich der Sinne und des Instinkts  ist der Mensch sprachlich angelegt. Aber gleichzeitig gilt: Erst „der Mensch in den Zustand von Besonnenheit [also Reflexion] gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend,  hat Sprache erfunden“(S.23). Also: der Mensch als Tier hat schon Sprache, weil er schon Besonnenheit hat, will sagen: er tritt zwar nicht aus dem Kreis des Animalischen schlechthin heraus, er ist  aber innerhalb derer durch Reflexion sprachfähig. Er mag  bestimmten Spezies der Affen gleichen, aber „als ob je ein Orang-Utan mit eben den Werkzeugen eine Sprache erfunden hätte?“(S.26)  Damit ist auch das Konstitutive der Sprache für den Menschen gedacht. Die Welt ist für den Menschen prinzipiell sprachlich verfaßt.

Für Humboldt ist alles Sprechen, in dem Sprache ja erst erscheint, „Tätigkeit (Energeia)“, nicht „Werk(Ergon)“(Schriften zur Sprache. Hrsg. v. M. Böhler.Stuttgart 1973. S. 36).Damit wird der Gegensatz zwischen „Wort“ und „Tat“, an dem noch Goethes „Faust“ laborierte, aufgehoben. Das Sprechen als Tätigkeit, als Produzieren ergänzt sich im Verstehen, von dem es heißt,  daß „die Menschen[ …]einander nicht dadurch [verstehen], daß sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, daß sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, daß sie gegenseitig ineinander  dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen  berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen“(S.138 f) . Dies zusammen – sprachliches Produzieren und sprachliches Verstehen – bedeutet für Humboldt: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handlen von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Akt, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein[…]“(S. 53). Und  weiter: „[...]die Sprache [ist] nicht bloß ein Austauschungsmittel zu gegenseitigem Verständnis, sondern eine wahre Welt[...], welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muß[...]“ (S.146). Die Sprache wird statt als  kommunikatives Medium als  „wahre Welt“ begriffen, in der die Gegenstände sich überhaupt erst aufbauen und gleichzeitig immer intensiver begriffen werden können.

  

Der Journalist und die Sprachlichkeit

Der Journalist aber erfaßt nicht, daß er dem Prinzip der Sprachlichkeit der Welt nicht ausweichen kann, sondern sich ihm stellen muß. Ist er als Nachrichtenjournalist auf der Seite des ‚objektiven Ereignisses’, der Tatsache, so vergißt er, daß er dies als Sprechender ist, was er glaubt durch feste ‚Tatsachenformeln’, die sich aber stets als Phrasen herausstellen, vergessen machen zu können. Glaubt er hingegen  als Meinungsjournalist seine Subjektivität ungehemmt betätigen zu können, vergißt er sich als Sprechender abermals, nur von der anderen Seite. Er sieht nicht, daß seine Subjektivität allzu leicht wiederum festen Vorgaben des Sprachgebrauchs folgt, die oft nur eine Sammlung von kommunen Sprachpetrefakten sind. Beide verfügen über Sprache und werden gleichzeitig von dieser gelenkt, aber sie denken  nicht in ihr.

Die ständige Phraseologie des Journalismus hat sich längst auch auf die Alltagssprache, die Sprache des „Volkes“ ausgewirkt, die ein Gekauder aus unverstandenen Brocken der Mediensprache und reduzierten, zu Formeln erstarrten Resten der eigenen Alltagssprache geworden  ist. Humboldt forderte noch: „[...]immer aber muß, wenn die Sprache zugleich volkstümlich und gebildet bleiben soll, die Regelmäßigkeit ihrer Strömung von dem Volke zu den Schriftstellern und Grammatikern und von diesen zurück zu dem Volke ununterbrochen fortrollen.“ (S.136) Die Schriftsteller sind jedoch oft nichts anderes mehr als Journalisten ‚mit besserer Schreibe’, die „Grammatiker“, lies Linguisten, registrieren nur: „ununterbrochen“ ‚rollt’ nun die „Strömung“ der Sprache zwischen den Medien und deren Rezipienten als Geschwätz ‚fort’. 

   

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Tatsache als Reduktion

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts baut sich „das Wörtlein Thatsache“ als dominanter Begriff auf. So wird  das Historische  nun auf die Kategorie des bedeutungslos Tatsächlichen zurückgenommen. Vom Brand eines Wohnhauses bis zum Kriegsbrand hat alles nur die Qualität des Tatsächlichen, die  durch einen Geldwert  bezeichnet wird. Die ganz ungeheure Zerstörung deutscher Städte z.B.wird nur noch durch einen Geldwert repräsentiert , der ein einheitliches Zerstörungsfaktum schafft, aber natürlich nichts über die unterschiedliche Bedeutung der Architektur aussagt. Es ist nun geradezu ein absurder Trost, daß die Vernichtung eines erheblichen Teils unserer Geschichte nur erträglich wurde durch deren Reduzierung aufs Tatsächliche, die die Unfähigkeit zu trauern erst möglich machte. Man vergleiche damit, daß die Judenheit noch heute den Verlust des Jerusalemischen Tempels beklagt, während der Verlust der Dome und Kirchen in Deutschland den Deutschen sich bloß in der Tatsachenregistrierung  mitteilt. Erst der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden  hat zumindest für einige tausend Menschen eine Ahnung von der Bedeutung eines Bauwerks ausgelöst. 

Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt also die Bedeutung des Bauwerks immer mehr hinter seiner Funktion als einer Ausstrahlung des Tatsächlichen zurück. Das gilt insbesondere für die unzähligen Industriebauten der Zeit, die freilich noch über ein halbes Jahrhundert sich durch ornamentale Fassaden zu cachieren suchen. Dieser  sog.Historismus bezieht sich auf  Früheres nicht einfach als auf  Heimeligeres, Romantisches, sondern als auf das, was das schier Tatsächliche auf ein Bedeutendes, Aussagekräftiges hin transzendieren soll. Erst mit dem Neoklassizismus und den Frühformen der Neuen Sachlichkeit stellt sich das Tatsächliche als das Nichtornamentale, Wahrere aus, wahrer, insofern es sich ganz zu seiner Funktionalität bekennt. Doch endet dessen Überzeugungsfähigkeit endgültig in den sozialen Wohn- und den Plattenbauten der Nachkriegszeit, in denen sich das funktionalistisch Tatsächliche als die Reproduktion des Immergleichen zeigt und als solches zumindest unerträglich langweilt.

   

Realismus in der Literatur

Die Literaturwissenschaft rechnet die erzählerischen Texte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Realismus  zu, dem sie aber gern das Attribut des „poetischen“ verleiht, was bei näherer Betrachtung nicht sehr viel mehr ist,  als es die Ornamentierung der Architektur war. Im „Poetischen“ soll die Darstellung des Tatsächlichen der Realität doch noch, wie es gern hieß, „überhöht“, ihm also Bedeutung im Sinne der Klassik  verliehen werden. Natürlich geht dieses Tatsächliche  aus einer weitgehend schematischen Reflexion hervor, die schon an einem bescheideneren Beispiel wie dem von Raabes „Chronik der Sperlingsgasse“(1857) scheitern kann. Von der heißt es ziemlich zu Anfang des Romans: „Die Sperlingsgasse ist ein kurzer, enger Durchgang, welcher die Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, der in vielen Armen und Kanälen die große Stadt durchwindet“ (Werke in zwei Bänden.1.Bd. München,Zürich 1961.S.11). Das könnte zunächst als eine Tatsachenbeschreibung gelesen werden, wie sie auch der Prosa eines Baedekers jener Zeit angehört. Die tatsächliche Lage der Gasse wird ausgemacht. Wir finden gleich zwei empirische Straßennamen des alten Berlin. Diese Straßen werden entsprechend ihrer geographischen Lage aufeinander bezogen. Aber schon die Namen, zentrale sprachliche Vorstellungen also, ziehen das „Tatsächliche“ bereits in eine bestimmte Perspektive. So geht es mit Attributen wie ‚kurz’ und ‚eng’, mit Prädikaten wie ‚verknüpft’ und ‚durchwindet’. So geht es schließlich mit der Konstruktion des ganzen Satzes, der in seinem zweiten Relativsatz einen Zusammenhang herstellt zwischen ‚engem Durchgang’ und ‚großer Stadt’ und gleichzeitig soetwas wie eine syntaktische Mimesis des Ganzen mit Gassen, Straßen und Fluß ist.

Fast vierzig Jahre später, 1896, heißt es ziemlich zu Anfang von Fontanes Spätwerk „Die Poggenpuhls“: „Diese Großgörschenstraßen-Wohnung war seitens der Poggenpuhlschen Familie nicht zum wenigsten  um des kriegsgeschichtlichen  Namens der Straße, zugleich aber auch um der sogenannten ‚wundervollen Aussicht’ willen gewählt worden, die von den Vorderfenstern aus auf die Grabdenkmäler und Erbbegräbnisse des Matthäikirchhofs, von den Hinterfenstern aus auf einige zur Kulmstraße  gehörige Rückfronten ging, an deren einer man, in abwechselnd roten und blauen Riesenbuchstaben, die Worte ‚Schulzes Bonbonfabrik’ lesen konnte.“(Werke in drei Bänden.Hrsg.v. K.Schreinert.2.Bd. München 1968.S.305.) Wieder haben wir die Darstellung einer Straße und ihrer Umgebung, wieder nur einen Satz. Aber er ist deutlich länger als der aus Raabes Text. Das liegt offenbar daran, daß hier die Perspektive entschieden durch den Titel-Namen des ganzen Romans subjektiviert wird. Diese Subjektivierung vollzieht sich zwischen ‚kriegsgeschichtlichem Namen der Straße’ und ‚sogenannter’ „ ‚wundervoller Aussicht’“. Der Straßenname erscheint nun nicht bloß, sondern wird in der Reflexion der Poggenpuhls einmal auf seine historische Bedeutung festgelegt. Doch zugleich geht es um den Eindruck, den die Poggenpuhls oder vielleicht nur einer von ihnen, etwa die Majorin, von der Aussicht aus der „Großgörschenstraßen-Wohnung“ haben und der ebenfalls festgelegt wird, allerdings nicht historisch, sondern impressionistisch. Diese Festlegung wird aber in zweiter Instanz von dem Erzähler wieder in einen ironischen Zweifel gezogen, wenn die Vorderaussicht auf „Grabdenkmäler und Erbbegräbnisse“ geht und man hinten die „roten und blauen Riesenbuchstaben“ der „Worte“  „‚Schulzes Bonbonfabrik’“ liest. Das Tatsächliche zerfällt in die Mikroideologien der Poggenpuhls  aus ‚Kriegsgeschichte’ und ‚wundervoller Aussicht’und wird in der Perspektive des Erzählers gar ironisiert. 

In einem späten Roman von  Martin Kessel „Lydia Faude“, der durch die sog. Neue Sachlichkeit gegangen ist und 1965, also fast 70 Jahre nach Fontanes Buch, erschien, heißt es zu Anfang: „Lydia Faude wohnte zur Zeit, als die Ereignisse spruchreif wurden, in der Künstlerkolonie Wilmersdorf[…]Sie bewohnte daselbst, gemeinsam mit ihrer Schwester, einer Schneiderin und Modistin, auf die auch der Mietkontrakt lief, eine im Erdgeschoß gelegene Dreizimmerwohnung, mit wundervollem Ausblick auf einen gleichfalls von Wohnblocks umstellten Park.“(Neuwied,Berlin 1965.S.9.) Das ist strukturell gar nicht  so weit von Fontane, ja selbst von Raabe entfernt: nämlich auf den ersten Blick tatsachenorientiert, dann aber perspektiviert durch den  Namen „Wilmersdorf“, der mit „Künstlerkolonie“ verbunden ist, vor allem aber durch die Mitteilungen über den Beruf der Schwester, über das Mietverhältnis und über Lage und Größe der Wohnung und durch die an Fontane erinnernde Bemerkung: „mit wundervollem Ausblick“, die zwar nicht ausdrücklich der Romanheldin Lydia Faude, einer Schauspielerin, zugeschrieben wird, aber jedenfalls desavouiert wird, weil der ‚wundervolle Ausblick’ auf einen Park geht, „der in Wirklichkeit nur ein Platz war“, was wiederum eine Feststellung des  Erzählers ist.

Wir haben also in „poetischem“ Realismus, in Naturalismus, später in Neuer Sachlichkeit eine theoretische Tendenz, die Dinge so darzustellen, wie sie ‚wirklich’, wie sie tatsächlich sind. Doch  sehen wir schon an drei kleinen Beispielen, daß wir hier, einfach insofern Sprache als Literatur am Werk ist, einen oft nur in kleinen Akzenten vermittelten Sprachgebrauch des jeweiligen Erzählers, eine Perspektivierung der Tatsachen erkennen, die uns deutlich machen, daß die Sprachlichkeit selbst einfachster Sachverhalte offenbar deren schiere Tatsächlichkeit transzendiert.

   

Rhetorisierte Tatsache in der Presse

Es wurde schon davon gesprochen, wie der behauptete Positivismus der Tatsachen zur Grundlage zumindest des Nachrichtenteils der modernen Tages- und Wochenzeitung wurde. Hier scheint syntaktisch der Protokollsatz zur Verfügung zu stehen, in dem sich der Journalismus in den frühen Tagesblättern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch mehr oder minder erfolgreich versucht. Doch ist auch dabei zu bedenken, daß die Sprachlichkeit auch der Protokollsätze keinen Positivismus im strikten Sinne zuläßt, sich in jenen vielmehr Akzentuierungen, Färbungen, ja sogar Intentionen vermitteln, die zwar von Fall zu Fall reduziert , aber nicht verschwinden gemacht werden können. Doch kommt es schon  im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenkundig immer stärker zu Nachrichtensätzen, die im Sinne von Karl Kraus’ Bemerkungen am Anfang des ersten Weltkriegs an die Stelle des Ereignisses treten bzw. es erst erzeugen. Daß die Tatsachen selbst sprechen ist evident nicht möglich, daß der Sprachgebrauch die Fakten nur präsentieren könne und solle, ist eine Fundamentalbehauptung der Presse, ja aller Nachrichtenmedien, wobei heute das angeblich objektivierende fotografische Bild zur Hilfe genommen wird, obwohl dessen Manipulierbarkeit  alltäglich greifbar ist und es v.a. von Anfang an nicht Tatsachen repräsentieren kann, wie es die frühe Theorie von Fotografie und Film behauptete, sondern natürlich ein Sprechmodus mit allen Implikationen ist, die das bedeutet. 

Es ist nun faszinierend zu sehen, wie schon im späteren 19. Jahrhundert eine Literarisierung des Journalismus stattfindet, die sich v.a. im Gebrauch der attributiven Adjektive und des Metaphorischen im weitesten Sinne bemerkbar macht. In der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ aus dem Jahr 1888 wird auf folgende Weise Nachricht von den Sterbestunden Wilhelms I. gegeben: „Eine schwere, aufregungsvolle Nacht hatte Berlin hinter sich, als die ersten Lichtstrahlen im Osten den Anbruch des neuen Tages verkündeten und trübe, wie der 8. März geschieden, brach der folgende Morgen an. Und mit der Millionenstadt erwachte die alle Herzen bewegende Frage: ‚Wie geht es dem Kaiser ?’ Jedes Ohr lauschte mit Bangen, ob nicht  Extrablätter verkünden  würden, wie er die Nacht zugebracht und ob er den Tag noch erlebt habe. Und horch, nun schallt es durch die von regem Leben erfüllten Straßen:  ‚Neuestes!’ ‚Neueste Nachrichten vom Befinden des Kaisers!’“(Die Gartenlaube 11/1888.S. 174.) „Die Gartenlaube“ ist zu dieser Zeit ein hochangesehenes national-liberales Wochenblatt. Sie scheint nur eine Tatsachen-Trivialität mitzuteilen: der Morgen des 9. März 1888 ist trüb; Kaiser Wilhelm I. liegt im Sterben; es gibt Extrablätter. Aber diese Tatsachenmitteilung verschwindet fast unter einem rhetorischen Ornatus, der vor allem Stimmung erzeugt. Gleichzeitig soll aber auch der Eindruck erhalten bleiben, es werde von Tatsächlichem berichtet. Doch wirken die Attribute der „Nacht“ ebenso wie das Reden davon darauf ein, so daß es an diesem Tag nicht einfach hell wird, sondern daß der Tag gewissermaßen literarisch begonnen  hat und schließlich eine Korrespondenz zwischen den Gefühlen der Berliner in der Nacht und dem Wetter des folgenden Tages hergestellt wird. Auch das Erscheinen von Zeitungen und Extrablättern wird zu einem poetischen Vorgang, auf den der Abschnitt als Antwort auf die „alle Herzen bewegende Frage“ zuläuft. Mehr noch: erst die „Extrablätter“ und „Neuesten Nachrichten“, die einzig die Tatsachen verbürgen, antworten auf „die alle Herzen bewegende Frage“ und sind der ‚Schall’, der das ‚rege Leben’ organisiert. So weisen der rhetorische Ornat und die tendenzielle Literarizität legitimierend auf die Blätter hin, die nicht so sehr die Welt bedeuten, denn sie als Faktum zu transportieren behaupten. 

Bis hin zur dokumentarischen, tatsachenrecherchierten Literatur, die heute als Literatur durch den Journalismus beglaubigt, als Journalismus durch die  Literatur bedeutend gemacht wird, hilft man sich seitdem sozusagen wechselseitig, ohne sich darüber Rechenschaft zu legen, daß die Sprache sowohl Tatsächlichkeit als Bedeutung erschafft.

   

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Wittgenstein: Tatsache und Sprache

Wenn Comte in seinem Drei-Stadien-Gesetz zunächst die Theologie durch die Metaphysik und diese durch den Positivismus abgelöst sehen will, macht er sich nicht klar, daß die Gemeinsamkeit dieser Stadien als Sprache erscheint. So formuliert er: Die Logik  „anerkennt von nun an als Grundregel, daß keine Behauptung, die nicht genau auf die einfache Aussage einer besonderen oder allgemeinen Tatsache zurückführbar ist, einen wirklichen  und verständlichen Sinn enthalten kann“(Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung.19. Jahrhundert.Hrsg. v. M.Riedel. Stuttgart 2004. S. 281).  Eben dieser Sinn ist aber immer ein sprachlicher, also kein bloß sprachlich transportierter, sondern ein an sich selbst sprachlicher, wie es natürlich auch die von Comte so benannte „besondere oder allgemeine Tatsache“ ist.

Mehr als neunzig Jahre nach dem Beginn des „Cours de Philosophie postive“ (1830) macht sich Ludwig Wittgenstein noch einmal im „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) an die Bestimmung der Tatsache, diesmal aber, indem er ständig (offen und versteckt) im Zusammenhang mit Tatsache  Sprache bedenkt. Die ersten Haupt -Sätze des Tractatus lauten: „Die Welt ist alles, was der Fall  ist“(Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Hrsg.v.A.Kenny.Stuttgart 2000. S.9); „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten“(S.9). Dazwischen steht: „Die Welt zerfällt in Tatsachen“ (S.9). „Was der Fall ist“, „Tatsache“, „Sachverhalt“ stehen in einem engen Verhältnis zueinander: „Was der Fall ist“,  erscheint als anderer Name von „Tatsache“, „das Bestehen von Sachverhalten“ behauptet die Wirklichkeit von „Tatsachen“. Die Synthese, daß  die Welt alles ist, „was der Fall ist“, wird alsbald in Frage gestellt durch den Satz, daß die Welt nicht alles als Tatsache „ist“, sondern daß jene vielmehr in „Tatsachen“ „zerfällt“. Zwischen den Haupt-Sätzen 1 und 2 vollzieht sich sowohl der Aufbau der Welt aus „Tatsachen“ und deren Zerfall in diese. Nach einer ganzen Reihe von Sätzen kommen wir zum 3. Haupt-Satz und damit zur Sprache, die als „Gedanke“ eingeführt wird: „Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke“. Dementsprechend heißt es in 3.1: „Im Satz  drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus“(S.14). Wir sind also bereits hier an ganz anderer Stelle als bei Comte. Denn die „Tatsache“ bedarf offenbar des „logischen Bildes“ und dieses ist der „Gedanke“ und dieser erscheint als „Satz“. So heißt es im Haupt-Satz 4: „Der Gedanke ist der sinnvolle Satz“(S.19). Die Dezimalsätze nach 4 und 5 beschäftigen sich mit Sätzen unter dem Gesichtspunkt, daß „der Satz“ „die Beschreibung eines Sachverhalts“, also einer Tatsache ist(S.20). Doch nach 6 beginnen die Sätze, die über die Beschreibung einer Tatsache hinausgehen. „Alle Sätze sind gleichwertig“(S.42), also die Sätze als Beschreibung einer Tatsache und die Sätze, die nicht Beschreibung einer Tatsache sind. Allerdings soll auch gelten: „Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen“(S.42). Was außerhalb allen Geschehens liegt, ist u.a. „das Mystische“. Für das Mystische soll nach 6.522 gelten, daß es sich ‚zeige’, denn es gebe es, aber als „Unaussprechliches“(S.44). Doch diese Differenz zwischen der Gegebenheit der Tatsachen und der ‚Unaussprechlichkeit’ des Mystischen  wird in einem Satz gesagt. Sätze, die ja gleichwertig sein sollen, erscheinen am Ende des Traktats als „meine Sätze“. „Meine Sätze“ aber müssen nach 6.54 überwunden werden, „dann sieht er“ [d.i. der, welcher den Sprecher des Traktats versteht] „die Welt richtig“(S.45). Das ‚sich zeigen’ und das ‚richtig sehen’ soll sich außerhalb der Sprache/von Sätzen abspielen, die nur „Tatsachen“ beschreiben. Das sei jenes ‚Mystische’, von dem nach dem berühmten und abschließenden Haupt-Satz 7 gelten soll: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“. Aber hier könnte  eine neue Reihe von Sätzen beginnen, die diejenige Sprache, die freilich schon zur Beschreibung von Tatsachen  erforderlich ist, hinter sich lassen und  eine andere Sprache eröffnen, so daß der Haupt-Satz 7 auch lauten könnte: Wovon man noch nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. 

Ein Kommentar zur Sprache als Tatsachenbeschreibung und ‚unaussprechlicher’ Sprache  findet sich in den „Philosophischen Untersuchungen“ vom Ende der vierziger Jahre: „Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle und kennst dich nicht mehr aus“(S. 122). Zunächst: es geht hier um eine Sprache, aber von einer Seite kommend, kenne man sich  in ihr (als „Beschreibung von Tatsachen“) aus,von einer anderen Seite kommend (vielleicht von der des„Unaussprechlichen“her), kenne man sich an derselben Stelle in ihr „nicht mehr aus“. Hier kommt also im ‚Auskennen’ wieder der ‚subjektive Faktor’ ins Spiel, während die Sprache an sich selbst gleich bleibt als „ein Labyrinth von Wegen“.

In seinem „Vortrag über Ethik“ von 1929 kam Wittgenstein, ohne es vielleicht zu wissen, auf Schellings (später von Heidegger aufgenommenes) Grundstaunnen darüber zurück, daß überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts, was die Gegensatzposition zu Comtes Tatsachenlehre darstellt, insofern nicht über ein Faktisches sprachtranszendent verfügt werden soll, sondern das Existierende als das nichthinterfragbare Ursprüngliche erscheint. Wittgenstein sagt in diesem Zusammenhang: „Und nun möchte ich das Erlebnis des Staunens über die Existenz der Welt mit den Worten beschreiben: Es ist das Erlebnis, bei dem man die Welt als Wunder sieht“(S. 360). Die „Welt als Wunder“ wird als „Erlebnis“ „mit den Worten“, die folgen, beschrieben. Wittgenstein fährt fort: „Nun bin ich versucht zu sagen, der richtige sprachliche Ausdruck für das Wunder der Existenz der Welt sei kein in der Sprache  geäußerter Satz, sondern der richtige Ausdruck sei die Existenz der Sprache selbst“(S. 360). Also: Existenz der Welt  und Existenz der Sprache werden in ein direktes Verhältnis gesetzt.Wittgenstein läßt aber nun nicht zu, daß dieses „Erlebnis“  als eines mit „absolutem Wert“ unter das Rubrum gestellt werde, man meine damit „bloß eine Tatsache  wie andere Tatsachen“(S. 361). Denn er sieht „deutlich“ – „es geht mir sozusagen blitzartig ein Licht auf darüber“(S. 361) -, „daß nicht nur keine erdenkliche Beschreibung imstande wäre zu schildern, was ich unter absolutem Wert verstehe, sondern daß ich jede sinnvolle Beschreibung, die überhaupt jemand möglicherweise vorschlagen könnte, von vornherein und eben aufgrund ihrer Sinnhaftigkeit ablehnen würde“(S. 361). ‚Sinnhaft’ ist aber Sprache so oder so. Doch Wittgenstein schreibt: „Denn ich wollte sie [jene ethischen und religiösen Audrücke]ja gerade dazu verwenden, über die Welt – und das heißt über die sinnvolle Sprache – hinauszugelangen.“(S. 361) Wie denn: zu akzeptierende „sinnvolle Sprache“ – abzulehnende „sinnvolle Beschreibung“? „Sinnvolle Sprache“ sei die der „Welt“, sei die Sprache der „Tatsachen“, welche „Sprache“ nicht etwa nur zum Transport, sondern zur Existenz  brauche, und zwar Alltagssprache, natürliche, nicht künstliche Sprache, wie Wittgenstein immer wieder betont. „Sinnvolle Beschreibung“ von „absolutem Wert“ sei hingegen abzulehnen, insofern sie, weil Sprache, „Sinnhaftigkeit“ postuliere.Doch ist nicht zu verkennen, daß „Welt als Wunder“ und „absoluter Wert“in einer (sprachlichen)Beziehung zueinander stehen. Hier verfängt sich Wittgenstein in fundamentalen Widersprüchen, die er zu überwinden trachtet und die er gleichzeitig als unüberwindbar ansieht: „Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb aller Menschen, die je versucht haben, über Ethik oder Religion zu schreiben oder zu reden. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut  aussichtslos.“(S. 361) Was hier auf so resignative, ja desperate Weise sich artikuliert, kann auch heißen: Wir können uns weder hinsichtlich von Tatsachen noch hinsichtlich von Werten nichtsprachlich verhalten. Und das Sprechen von Tatsachen wie von Werten unterscheidet sich prinzipiell, insofern es Sprechen ist, nicht voneinander. 

Das Letztzitierte nimmt übrigens auf zwei Aphorismen von Karl Kraus aus „Nachts“      (1918) Bezug: „Oft bin ich nah der Sprachwand und empfange nur noch ihr Echo. Oft stoße ich mit dem Kopf an die Sprachwand.“ (Beim Wort genommen. München 1965.S. 433) Und: „Wenn ich nicht weiter komme, bin ich an die Sprachwand gestoßen. Dann ziehe ich mich mit blutigem Kopf zurück. Und möchte weiter.“ (S. 326)

Das Stoßen an die „Sprachwand“, das den „blutigen Kopf“ zur Folge hat, ist fern allem Tatsächlichen und doch sehr eindringlich. Wie sehr, hat der Sprachgebrauch in der Nazizeit drastisch gezeigt, von dessen Wirkung Victor Klemperer in seinem Buch „LTI“[Lingua tertii imperii] schon 1947 sagte: „Aber die Sprache des Dritten Reichs scheint in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache  zu werden scheinen.“(Frankfurt/M. 1975.S.23.) Der emphatische Gebrauch des „Wörtleins Tatsache“ gehört dazu, und zwar sowohl in wissenschaftlichen wie in journalistischen Zusammenhängen. Der Herausgeber eines sogenannten Nachrichtenmagazins stellt die Intention seines Blattes (auch für Werbezwecke) unter die Wiederholung: „Facts, facts, facts“ (denn du mußt es dreimal sagen). So ist es besonders eindrücklich, journalistische Texte mit aller Sprachgewalt von der Tatsache reden zu hören, in deren Dienst  die Sprache gleichzeitig stehen soll. 

   

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Die „nackten Tatsachen“

Am 29.6.1941, also kurz nach dem Ausbruch des Rußlandkrieges, schrieb die Frankfurter Zeitung in einem Leitartikel „Europa in Schicksalgemeinschaft“, dessen Titel  man auch heute finden könnte, unter anderem: „In den Tagen solcher Entscheidungen verblassen alle Worte, die den elementaren geschichtlichen Vorgang verhüllen wollen. Um so klarer tritt der zwingende Zusammenhang der nackten Tatsachen hervor. Der Krieg ist keine sentimentale Sache. Er legt politisches Urgestein bloß. Er macht den eigentlichen Kern des Machtkampfes sichtbar. Er läßt die scharfe und eisklare Luft, die entfesselte und wieder gebändigte Dämonie, die produktive Gewalt der historischen Wetterstürze spüren. Er entlarvt die Kümmerlichkeit der Phrase.“(Nr. 326/27,29.6.1941.Reichsausgabe. S.1.)

Die Apologie der „nackten Tatsachen“  verbindet sich mit dem Verdikt des ‚verhüllenden Wortes’, das wiederum das eigene des Verfassers ist. Enthüllt als „nackte Tatsachen“, ist es als diese Rede doch gleichzeitig deren Verhüllung, insofern „nackte Tasachen“ eben eine rhetorische Phrase ist. Und nicht  „der zwingende Zusammenhang der nackten Tatsachen“ tritt ja hervor, sondern die rhetorischen Anaphern in Bezug auf den Krieg: „Er legt…Er macht…Er läßt…Er entlarvt“. Und mit dem Satz:: „Er entlarvt die Kümmerlichkeit der Phrase“ schreibt der Text sich selbst das Urteil. Es sind fast Freudsche „Leistungen“, die hier zutage treten. Sie gehen aus dem bloßen Hantieren mit der Sprache hervor, in dem sich verundeutlichend alles mit allem mischen kann: „nackte Tatsachen“ z.B., „Urgestein“, „scharfe…Luft“, „Dämonie“ und „Wetterstürze“. Und die Beziehung  zwischen „Tatsachen“ und „Dämonie“ ist - gegen die Absicht des Verfassers – die Wahrheit über die „nackten“ als sprachlose „Tatsachen“, insofern sie eben darum als ‚dämonische’ hervortreten können.

Wir können sagen, daß in jenen dreißiger Jahren, aus deren Nachphase der zitierte Text stammt, endgültig von den früheren Jahrhunderten Abschied genommen wird.

Nun beginnt die Epoche, in der die Homogenisierung von Tatsache und Sprache neuerdings versucht wird. Unablässig heißt es nun, daß nur die Tatsachen Gültigkeit beanspruchen können. Aber die Tatsachen sind der Gegenstand unablässiger  Rede: in Politik, Wirtschaft, Kultur, Philosophie, Sport, in der Literatur und natürlich im Journalismus, der keinen anderen Gegenstand als Tatsachen zu haben vorgibt, aber aus dem „Wörtlein Tatsache“ ganze Satz- und Textketten zaubert, die das Faktische zu öffentlicher Meinung transformieren und aus dieser wiederum Tatsachen hervorgehen lassen. 

Man muß sich klarmachen, daß wir  in der abendländischen Geschichte eine solche Klitterung nie hatten, ja daß erst das „Wörtlein Tatsache“ zu ihr geführt hat, indem seine Genese als „Wörtlein“ vergessen gemacht werden sollte. In Theologie, Philosophie, Jus, Kunst, Literatur, aber auch in den sogenannten Naturwissen- schaften von den sehr alten der Medizin und der Mathematik bis zu den neuen  nichteuklidischer Mathematik, Physik, Astronomie war die Frage nach der Bedeutung  der jeweiligen Sache, also nach  ihrer Sprachlichkeit,  ganz im Zentrum des Interesses.

   

   

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Die Lukanische Geburtsgeschichte

Wir wissen, daß Genesis I wie der Eingang des Johannes-Evangeliums die schöpferische Energeia des göttlichen Wortes aussagen. Nicht so bekannt ist, daß die Lukanische Geburtsgeschichte in einer bemerkenswerten Vielfalt von der menschlich-göttlichen Sprachlichkeit handelt. Am Anfang haben wir Sprache noch  in erheblich reduzierter Form als Befehl(lutherisch: „Gebot“) und Zählung(lutherisch: „Schätzung“). Dann wird von der Wanderung Mariens und Josefs, von der Geburt Jesu, vom Hüten der Herden durch die Hirten  gehandelt. Aber danach geht alles über in Varianten wirkenden Sprechens: Der Engel spricht, und er spricht, indem er verkündigt; er spricht zu den Hirten vom „Zeichen“; die himmlischen Heerscharen loben und sprechen das „Ehre sei Gott“; die Hirten sprechen untereinander, sie sprechen von der Geschichte, die der Herr kundgetan hat, sie breiten danach das Wort vom Kinde  aus; die es hören, wundern sich der Rede der Hirten;Maria behält alle „diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“; die Hirten kehren um und preisen und loben Gott wegen dessen, was sie gehört und gesehen hatten, „wie denn zu ihnen gesagt war“ ( Die Bibel…nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1964. Das Neue Testament. S.70 f.)). 

Fast durchweg rekurriert der Text auf Verben des Sagens, redet also explizit von sprachlichen Vorgängen und wenn vom Sehen die Rede ist, wird sofort nachgeschoben, daß die gesehene Geschichte vom Herrn kundgetan wurde, daß sie [die Hirten] das Wort ausbreiten, das ihnen von dem Kinde gesagt war. Die ganze Geschichte des Lukanischen Textes besteht außer der Mitteilung über Wanderung, Geburt und Hüten der Herde daraus, daß gesprochen wird. Selbst dort, wo gesehen wird, bedarf es der Worte, um aus dem Gesehenen Geschichte zu machen. Es gibt wenige zentrale Erzähltexte, die so dringlich darauf abheben, daß das, was geschieht, ein ersprochenes ist.

Das findet heute kaum irgendeine Aufmerksamkeit, obwohl es doch zeigt, wie sehr frühere Geschlechter Ereignisse niemals als Facta, sondern immer als (sprachliche) Bedeutungen erfuhren und begriffen. 

    

    

    

Evolutionsbiologie und Sprache

Vielmehr scheint nun das Tatsächliche wie einst das Moralische sich von selbst zu verstehen. So jedenfalls wissenschaftliche Überlegungen, sobald sie popularisiert werden. Und für keine Disziplin gilt das wohl im Augenblick so sehr wie für die Evolutionsbiologie, über die im Heft 52/2005 des „Spiegel“eine von drei Verfassern verantwortete sogenannte Titelgeschichte erschien. Die Selbstverständlichkeit des Tatsächlichen, in diesem Fall der Darwinschen Gesetze, tritt hier so auf, daß Zweifel, also Falsifikation, ernsthaft nicht mehr zugelassen, sondern als Kuriosität ganz kreationistischen Fundamentalisten der südlichen Vereinigten Staaten zugeschoben wird, mit denen man argumentativ natürlich ein sehr leichtes Spiel hat. Dem einzigen evolutionskritisch argumentierenden Wissenschaftler, dem Lehrstuhlinhaber für Mikrobielle Ökologie an der Technischen Universität München, Siegfried Scherer,  werden ‚bizarre Behauptungen’ zugeschrieben, und  er wird in die Nähe eines „Machwerks“ und von „Frömmlern“ (S.144) gewiesen. Hier geht es mir aber vor allem um die Argumentationsstruktur, die sehr deutlich dogmatischen Verfahren kirchlich gebundener Epochen entspricht. 

Viel wichtiger scheint mir noch zu sein, daß in dem relativ langen Artikel nicht ein einziges Mal von der Funktion der Sprache im Evolutionsprozeß und für die Evolutionslehre gehandelt wird. Annähernd geschieht das nur im Zitat des amerikanischen Forschers Theodosius Dobzhansky: „Nichts in der Biologie ergibt Sinn, außer im Lichte der Evolution“(S.138). Zwar ist die Aussage des Zitats selbst höchst dogmatisch, doch allein das Reden von „Sinn“ weist auf die notwendige Sprachlichkeit der innerwissenschaftlichen Diskussion hin, die von den Spiegel-Autoren wieder rasch vergessen wird, wenn  ohne jede Relativierung vom „Gedanke[n]“ gesprochen wird, „daß alle Komplexität auf Erden, selbst die menschliche Intelligenz und das Faszinosum des Bewußtseins durch einen ziellosen Prozess entstanden sein sollen“(S.138), obwohl das ja nur bedeuten kann, daß jenem als (sprachlichem) „Gedanken“ Zweifel und Irrtumsmöglichkeit immanent sind und daß die Ziellosigkeit des Prozesses eine zielgerichtete Aussage von der Ziellosigkeit voraussetzt. Diese Art von Popularisierung kann offensichtlich nicht als erkentnisvermittelnd angesehen werden, zumal sie, ich wiederhole mich, weder vom Ursprung der Sprache innerhalb des Evolutionsgeschehens noch von deren Wirkung auf es selbst  und auf sein Verstehen ein Wort verlauten läßt. 

Das geschieht immerhin in einem nachfolgenden Interview mit dem amerikanischen Philosophen Daniel Dennett, der als „einer der extremsten Anhänger der Evolutionslehre“(S.148) eingeführt wird. Auf die Bemerkung der Interviewer: „Aber irgendetwas Ungewöhnliches scheint doch geschehen zu sein, als der Mensch die Bühne betrat“, sagt Dennett: „Ja, er hat die Sprache entdeckt. Das führte zu einer explosiven Steigerung der Geisteskraft. Denn jetzt lernen Sie nicht mehr nur aus Ihrer eigenen Erfahrung, sondern Sie können von Menschen lernen, die Sie nie getroffen haben und die schon lange tot sind. Die menschliche Kultur wurde dank des Sprachvermögens selbst  zu einer tiefgründigen Kraft der Evolution. Nur deshalb übersteigt unser Erkenntnishorizont bei weitem denjenigen jeder anderen biologischen Art. Wir sind die einzige Spezies, die weiß, wer sie ist und wie sie entstanden ist.“(S.148 f.) Interessant ist zunächst, daß diese Argumentation in dem Interview plötzlich auftaucht und ebenso plötzlich wieder verschwindet bzw. sozusagen randhaft wird. So wird auf die Frage, wie man seriöse Forschung von Vulgärwissenschaft unterscheide, geantwortet: „Indem Sie penibel die Fakten sammeln und Ihre Hypothese dann streng überprüfen“(S.149). Das penible Faktensammeln wie die strenge Überprüfung einer Hypothese sind natürlich sprachliche Vorgänge, aber das Faktensammeln erscheint gleichzeitig als ein Modus von sprachtranszendenter Tatsächlichkeit. Das wird dann betont, wenn Dennett Religionen als „außergewöhnlich gut angepaßte Kulturphänomene“ definiert, die „auf  die gleiche seelenlose Weise wie das Design von Pflanzen und Tieren“ entstanden seien.

Doch stehen in dem einräumenden Zitat aus dem Interview selbst zahlreiche Formulierungen, die zu Fragen führen. Was heißt, der Mensch habe die Sprache „entdeckt“? Wird auf ein vorhandenes Phänomen abgezielt, das der Mensch wie einen Archipel „entdeckt“. Oder was soll mit einem solchen Verb gesagt werden? Was heißt „explosive Steigerung der Geisteskraft“? Ist der Mensch ohne Sprache, den Dennett ja annimmt, prinzipiell der gleiche wie mit der Sprache, so daß es nur um „Steigerung“ geht? Ist man sprachlos, wenn man aus eigener Erfahrung lernt ? Usw., usw. Der Philosoph spricht, aber er weiß es oftmals nicht. 

Wir sind mit der Lehre von der Evolution, die eine unbezweifelbare Tatsache zu implizieren behauptet, nämlich die Darwin’sche Auffassung von derArtenentstehung, und damit andererseits , daß jene wie alles im menschlichen Zusammenhang ein Sprachprodukt, ein Gedanke ist, dessen Resultate nicht verifizierbar, sondern einzig falsifizierbar sind, an einen Punkt in der Geschichte der Wissenschaft, des Denkens nicht nur, sondern der menschlichen Geschichte schlechthin gelangt, der Zufall und Sinn zu einem Kontext fügt, der dessen Widersprüche entweder aufhebt oder seine Teile zu Tendenzen macht, die in völlig verschiedene Richtungen gehen: nämlich  in eine, die bewußt und konsequent sich an der Sprache orientiert oder in eine, in der die Zufälligkeit der Tatsachen geschichtsbestimmend wäre. Freilich wäre auch sie eine sprachliche Tendenz, nämlich eine, die ihre Sprachlichkeit leugnet. Sie liefe auf die Affirmation eines Diktums im Buche Kohelet zu, im Buche des Predigers, wie Luther sagt: „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger“. Wir können auch übersetzen: ganz sinnlos. Oder mit der Einheitsübersetzung: „Windhauch, Windhauch“. Wer, ob Philosophie, Wissenschaft, Medien, glaubt,  sich einzig mit Tatsachen zu beschäftigen, beschäftigt sich mit gar nichts. Und er ist dabei, das Seiende, das für uns immer ein sprachlich Seiendes ist, zu zerstören, und zwar mehr als durch alle Massenvernichtungsmittel, die ja aus dem „Wörtlein Thatsache“ und seinen hermeneutischen Konsequenzen hervorgegangen sind.

   

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VON DER DEUTSCHEN GEGENWART

    

Aus der deutschen Service-Wüste

   

I

Die Postbank, deren Kunde wir seit mindestens 50 Jahren sind, läßt uns mit Formularbestellungen mehr als drei Wochen warten.

Als man ihr das sagen will, ist sie per Telefon nicht zu erreichen.

Als man per e-mail anfragt, wird man mit den üblichen Vagheiten beschieden.

Die zusätzliche Frage, ob man statt der teuren Überweisungsumschläge, die man jahrzehntelang kostenlos bekam,  einfache weiße Umschläge benutzen kann, wird mehrmals  nicht richtig beantwortet.

   

   

II

Bei der Post, von der der Vorstand Dr. Zumwinkel sagt, sie kämpfe um jeden Brief, kann man sich in Abständen beschweren, weil Sendungen gar nicht ankommen oder zurückgehen, da man die Hausnummer um wenige Zahlen verfehlt hat (die alte Behördenpost konnte solche „Fehler“ des Postkunden ausgleichen).

Man bekommt dann Begründungen, warum das so war oder gar sein muß. Es ist ausweichendes Geschwätz.

Man schreibt  bei dieser Gelegenheit, daß man hier statt eines Postamtes seit geraumer Zeit mit einer Art Kinderpost, die in einem Laden untergebracht sei,  vorlieb nehmen müsse.

Auch habe man festgestellt, daß man übers Wochenende  keine Briefmarken mehr aus dem Automaten beziehen könne. Der sei nämlich abmontiert worden.

Zunächst erhält man darauf gar keine Antwort. Auf Anmahnung kommt die Auskunft: doch. Gleich am Ausgang der Postfiliale sei der Automat aufgehängt. Es stellt sich heraus, daß der „Kundenservice Konzernleitung“ unseren Ort mit einem gleichnamigen in Süddeutschland verwechselt hat.

   

III

Die Bundestagsverwaltung macht im Internet darauf aufmerksam, daß man bei ihr kostenlos (also steuerfinanziert) das „Volkshandbuch Bundestag“ bekommen könne. Nach der Bestellung kommt über Wochen gar nichts. Erst nach Anmahnung bei dem Direktor des Bundestags erhält man ohne jede Erklärung ein Päckchen.

  

IV

Man ist ermattet und wünscht für eine Woche ins Sonnige zu reisen, sagen wir auf die Insel La Palma. Das ist ein Klacks für ein so großes Unternehmen wie die TUI, von der man später liest, sie „bewege“ 17 Millionen Menschen im Jahr. 

Man bucht und sitzt in der Falle. Die üblichen Schwierigkeiten darf man erst gar nicht nennen: also in aller Frühe zum Flugplatz, größte Enge im Flugzeug, Unterbrechung des Fluges in Stuttgart, weil dort die Umverteilung der ‚Bewegten’ aus Kostengründen stattfindet, Wartezeiten.

Man erlebt dann noch während des Fluges, wie eine alte Dame, die einen Schwächeanfall erleidet, auf dem nackten und schmutzigen Flugzeugboden per Spritze versorgt wird. 

Kurz vor dem Ziel hört man vom Kapitän die Nachricht; auf La Palma könne wegen der Wetterverhältnisse nicht gelandet werden, Teneriffa sei nun das Ziel. Schönen Urlaub auch!

Am Gepäckband in Teneriffa versammeln sich hunderte von Menschen aus etlichen Flugzeugen, die eineinhalb Stunden auf ihr Gepäck warten müssen. Es gibt drei Leute von TUI, die aber nichts wissen, Gutscheine ausgeben und auf Anweisungen aus Hannover warten. Nur weil wir uns selbständig machen und auf eine bereitwillige Dame am TUI-Schalter treffen, die uns in Sta Cruz de Tenerife unterbringt (Glück), retten wir das Ziel, uns für eine Woche ausruhen zu können. 

Im Lauf der Woche  erscheint eine junge Dame als Reiseleiterin, die uns in die Hand verspricht, wir würden natürlich nach einer Woche von einem Bus abgeholt und wieder zu dem über 100 Kilometer entfernten Flughafen transportiert werden. Sie händigt uns einen Zettel aus, auf dem diese Angaben bestätigt werden. 

Am Tage der Abreise kommt selbst über eine halbe Stunde nach dem Termin kein Bus. 

Das Büro von TUI ist unbesetzt, auch die Hotline, die nach Angaben im Teneriffa-Büchlein 24 Stunden in Betrieb sein soll,  ist tot. Immerhin macht der Rezeptionist des Hotels eine Nummer aus, die besetzt ist. Uns wird nun mitgeteilt, wir könnten ein Taxi nehmen.

Nach der Rückkehr  antwortet der angeschriebene Vorstandsvorsitzende Dr. Frenzel  nach Anmahnung einleitend mit den markanten Worten: „Ihren Brief habe ich gelesen, und Sie erhalten eine Antwort:“

Das könnte von Napoleon stammen. Er benutzt dann im weiteren wiederholt für Reisen das Wort „Produkte“.  Die eigentliche Antwort kommt aber gar nicht  von ihm, sondern von der Stufe unter ihm, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung von TUI Deutschland, und besteht substantiell aus der mehrmaligen Bitte um Entschuldigung. Das ist aus einem großen Haus wohl etwas Besonderes und soll den Empfänger mit Dankbarkeit erfüllen.

   

V

Kurz: für große Unternehmen in Deutschland schickt es sich einfach, daß die Dinge so laufen, wie sie laufen: nämlich nicht.

Erst beschwerende Briefe setzen einen Apparat in Gang, der immer das gleiche, nämlich Nichtssagendes absondert.

Im übrigen weiß man nichts, kämpft aber z.B. um jeden Brief: man ist Recke, nicht Dienstleister.

Man ändert nichts, aber entschuldigt sich im äußersten Notfall. D.h. man läßt  entschuldigen: durchs Personal. Man selbst ist auf Reisen, um Verträge abzuschließen (wie aus der Zeitung verlautet). Dabei fühlt man sich durch Interventionen sog. Privatkunden doch einigermaßen gestört. Man läßt darum, deutlich indigniert, verlauten, daß man gelesen habe und daß einem Antwort erteilt werde.

Daß wir „Privatkunden“ diesen ganzen Troß von Wichtigtuerei, aber Unfähigkeit mit unseren Zahlungen, die ständig ins Unverschämtere getrieben werden, unterhalten, ist die Selbstverständlichkeit, die keinerlei Ansprüche hervorrufen darf. Kunden? Service? Wir sind längst Angestellte dieses Betriebs, die allerdings unbezahlt bleiben, ja dafür in jeder Hinsicht zu zahlen haben.

   

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Fahren mit Herrn Mehdorns Bahn

   

Herr Mehdorn, erster Vorstand der Deutschen Bahn, ist in der Stadt. Nicht mit der Bahn, mit dem Flugzeug ist er gekommen, wird er wieder abreisen.

Ich will, nach längerer Pause, mit seiner Bahn fahren. Nur bis Bad Honnef und zurück. Die Kosten sind nennenswert. Ich könnte dafür mit einem Billigflieger nach Mallorca oder Mailand reisen. 

Der Intercity nach Köln kommt im Gegensatz zu dem Zug vor ihm pünktlich. Er ist gut gefüllt, aber ich habe einen reservierten Platz, auf den mich eine sehr höfliche junge Dame gern läßt.

In Köln soll ich eine Regionalbahn benutzen, die nach Koblenz fährt. Angezeigt wird aber ein Zug, der nur bis Rhöndorf fahren soll. Die Auskunft auf dem Zielanzeiger ist  offenbar unvollständig. Denn „Rhöndorf“ bedeutet nur, daß ich dort aussteigen muß, um mich einem sogenannten Schienenersatzverkehr anzuvertrauen, deutlich gesprochen: einem schmuddeligen Bus, der mich nach Bad Honnef, die anderen  Reisenden längstens nach Linz bringt, wo sie wieder in einen Zug, der nach Koblenz geht, einsteigen dürfen. Gleisarbeiten.

Ich treffe mich mit einem alten Freunde. Als wir am nächsten Tag wieder zurückmüssen, können  wir beide auf meine Kenntnis aus der Internet-Fahrplanauskunft zurückgreifen, die detaillierte Auskunft gegeben hatte, allerdings nicht  darüber, daß zwischen Rhöndorf  und Linz „Schienenersatzverkehr“ stattfindet.

Wir entschließen uns, gemeinsam von Rhöndorf aus aufzubrechen. Er muß nach Landau in der Pfalz. Das geht so, daß er zunächst einmal von Rhöndorf mit der Straßenbahn eine Stunde lang fahren muß, um Siegburg (nordöstlich von Rhöndorf) zu erreichen. Die Strecke führt über alle innerstädtischen Haltestellen von Bonn (später höre ich von ihm, daß er in Bonn aussteigen mußte, weil es Demontrationen gab),  ist aber nach der offiziellen Auskunft die einzige Verbindung, um  in Siegburg den Intercity nach Karlsruhe zu erreichen und dort in einen Zug nach Landau einzusteigen, und im ganzen die rascheste Verbindung. Allerdings muß er vom Bahnhof Siegburg, wo die Straßenbahn ihr Ziel hat,  sieben Minuten zu Fuß zur Intercitystation Siegburg-Bonn wandern, worauf der Fahrplan hinweist, als sei er auch für Spaziergänge zuständig.

Ob  Herr Mehdorn sich das so in seinen  kühneren Träumen ausgedacht hat? Natürlich nicht. Denn er hat ja zu tun mit seinem Börsengang und darum seine findigsten Fahrplangestalter zu diesem wunderbaren Fahrplan-Vorschlag animiert.

Ich selbst warte in einem kargen Verschlag, der das Bahnhofsgebäude von Rhöndorf vorstellt, auf den Regionalzug nach Köln Hbf. Der Wagen, in den ich einsteige, ist  außen schmutzig, innen aber neu ‚bestuhlt’. Allerdings sind die Fenster zerkratzt, worüber sich Herr Mehdorn sicher ärgern würde, gegen das er aber offenbar nichts tun kann. Das am schnellsten errreichbare  WC ist eines für Behinderte, hat einen automatischen Türverschluß und ist innen einerseits geräumig, andererseits verschmutzt.

Die Strecke nach Köln führt zunächst am Rhein entlang, geht dann ein bißchen nach Nordosten und wieder zum Rhein zurück. Sie führt also zum größeren Teil durch ein Gebiet deutscher Hochkultur,  schließlich in die Kölner Umgebung und nach Köln selbst. Sie wirkt hier und in den anderen Räumen völlig einheitlich. Man sieht nur zersiedelte Landschaft, langweilige und provisorisch wirkende Bauten und vor allem, wohin das Auge auch blickt, Verschmiertes. Es ist fast erquickend, wenn man in den Tunnel des Flughafens Köln-Wahn einfährt und gar nichts mehr sehen kann.

In Köln steigt man auf einem Bahnsteig aus, der, wie alle anderen auch, sehr schmal und von vielen Reisenden  bestellt ist, so daß man nur schlecht oder unter Gefahren auf ihm vorankommt. Auf dem Zielanzeiger liest man, daß der Eurocity, den man nach M. benutzen muß, zwar wahrscheinlich kommen wird, nämlich aus Chur, aber mit 20 Minuten Verspätung. Hier ist man also wieder ganz nah an Mehdorns Errungenschaft, nämlich seine Züge, ob groß oder klein, möglichst nicht  pünktlich fahren zu lassen. Er konnte und wollte das schon vor Jahren nicht, er kann und will es auch heute nicht. Aber das muß Mehdorn  auch gar nicht kümmern,  auf dem Hauptbahnhof in Köln  herrscht  nämlich ein Gewimmel, als sei eine Fahrt mit Mehdorns Bahn allem anderen in der Welt vorzuziehen.

Ich muß nun mindestens eine knappe Stunde warten. Wo tut man das? Auf dem Vorplatz ist eine große Fläche, sonst gar nichts, außerdem ist es, obwohl Ende Mai, kühl und windig. Im Bahnhof wimmelt alles durcheinander, es gibt Bahnhofspubs, die man aber lieber meidet, von den Angeboten, die die Bahnhofsläden offerieren, braucht man gerade mal eine Zeitung. So bleibt nicht viel mehr übrig, als sich auf  einen der Drahtsessel auf dem Bahnsteig zu setzen, wo es, wie schon etwa im Jahre 1914, sehr windet. Aber man kann den ein- und ausfahrenden Zügen zusehen, unter denen viele schnittige ICE-Züge sind, die alle und alle auf die abscheulichste Art  heulen und quietschen, wenn sie langsam ein- oder ausfahren. Man weiß, daß Herr Mehdorn auf seine Kunden nicht gut zu sprechen ist, vielleicht will er ihnen auf diese Art zeigen,  was er von ihnen hält und wie froh er wäre, wenn statt dieser Unzahl von Mitfahrern die Züge und die Bahnhöfe endlich leer wären und er mit all dem nach eigenem Gusto spielen könnte.

Dazwischen gibt es Ansagen, die man schon vor 50 Jahren akustisch nicht verstand, heute aber immer noch nicht verstehen kann. Aber der Anzeiger gibt auf einem Laufband bekannt, der Zug werde wegen „Personen im Gleis“ 25 Minuten später als vorgesehen kommen. Was mag das bedeuten: Selbstmörder, die im Gleis gefangen sind?

Irgendwann kommt der Zug. Er wirkt nicht wie das, was man einen EC nennen würde, sondern wie ein Rumpelzug nach Pusemuckel. Alle Wagen sind schmutzig. Herr Mehdorn läßt sie offenbar nur noch selten reinigen. Bei einer älteren Dame, die nach Essen will, kann  man Platz nehmen. Sie ist in Basel eingestiegen und hat von „Personen im Gleis“ nichts gesehen, weiß aber  zu berichten, daß auf der ganzen bsherigen Fahrt nur ein einziges Mal ein junger Mann mit Kaffee vorbeigekommen sei. Sie rühmt die sauberen und pünktlichen Züge in der Schweiz.

Die Strecke von Köln bis Dortmund ist sehr einheitlich: zersiedelte Landschaften  mit langweiligen und provisorisch wirkenden Bauten und, wohin das Auge auch blickt, Verschmiertes. Das ändert sich erst nach Dortmund. Dafür haben wir dort schon vierzig Minuten Verspätung. Es riecht  im Waggon nach  verbrannten elektrischen Geräten. Das, was wir früher einmal den Schaffner nannten, kommt nicht, aber teilt uns ständig etwas durch den Lautsprecher mit: nämlich daß wir uns nun bspw. Essen näherten, Essen hieße der nächste „Halt“, gleich seien wir in Essen. Er entschuldigt sich für die Verspätungen wegen der „Personen im Gleis“ und weiß nach Dortmund über eine neue Schwierigkeit zu berichten, nämlich über die Eingleisigkeit der Strecke, die anscheinend gerade erst entdeckt worden ist. So kommt man mit einer Verspätung von über vierzig Minuten in Münster an. Herr Mehdorn ist inzwischen wohl wieder mit dem Flugzeug abgereist. Vielleicht sollte er für alle seine Stationen einen Fahrplan aushängen lassen, der den einer alten Lokalbahn, etwa aus den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, wieder aufnimmt: „Der Zug kommt gern nachmittags.“ 

In  vollem Ernst: Kann jemand so unfähig sein, daß er eine Einrichtung, die es seit 170 Jahren gibt, ein Unternehmen, das über Jahrzehnte als besonders pünktlich, sauber und zuverlässig galt, in neuerlichen Jahrzehnten nicht  wieder dahin bringt, sondern sich vor allem damit beschäftigt, wie er es an die Börse bringen kann ?

   

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Kleiner Stadtbummel

   

Wie herrlich leuchtet uns die Natur im wunderschönen Monat Mai ! Da will man die Stadt, um die uns alle beneiden, wieder betrachten, und natürlich auch dies und das an Geschäften erledigen. Also Aufbruch um die Mittagsstunde.

Man nimmt nicht die Autobahn, sondern lenkt  über die Felder, die immer wieder rapsgelb grüßen. Manche Straßen sind so, wie sie  wegen der Armut in Nordrhein-Westfalen sind. Aber da wollen wir nicht kleinlich sein, wenn der weiße Flieder blüht und die Kastanien sich strecken. So kommen wir durch den Hintereingang in die Stadt und sind an deren Grenze bald auf dem Hof der großen Farbenfabrik, die sich inzwischen allerdings wieder etwas verändert hat. Die Dame am Empfang, die sich freut, Auskunft geben zu können, sagt meiner Frau und mir: Bitte, wieder vom Platz herunter, dann rechts  auf die Hauptstraße und dann nach der Tankstelle wieder rechts. Da ist ein Kundenparkplatz und der Eingang zu einem großen Laden für Farben und Pinsel und all die sonstigen einschlägigen Sachen. Ein junger Mann holt uns alsbald ein Eimerchen Farbe. Nun müssen wir nur noch bezahlen. Aber das geht leider nicht, denn der Computer funktioniert nicht. Erst heißt es, wir möchten kurz warten, aber dann sieht man, daß es lang werden wird, und wir ziehen ohne Farbe wieder aus der großen modernen Verkaufshalle der großen Farbenfirma ab.  

  

NB. Es ist das Übliche. Computer sind dazu da, daß sie nicht klappen. Aber alle sind fasziniert von ihnen, verhalten sich schweigend und als gehe es um einen nahverwandten Kranken, dem man baldige Besserung wünscht, den man aber niemals zu stören wagen würde, z.B. indem man die neuen Geräte und diese ganze moderne Unfähigkeitshalle umwürfe und mit schweren Flüchen belegte. Man schleicht sich vielmehr davon.

  

Wir fahren nun in die Innenstadt, in der man allerwärts von Baukränen aufgehalten wird, die dafür sorgen, daß alles größer und noch schöner wird. Mitten in der Stadt ist einer der Zentralbauten der Universität, der zur Zeit von ca fünf Millionen jungen, arbeitsamen Studenten und – innen besucht wird, die alle mit zwei Fahrrädern gekommen sind und dafür sorgen, daß sie überfahren werden und gleichzeitig und im Fallen den Lack des sie überfahrenden Autos ganz und gar zerkratzen. 

Auf dem Domplatz wird gepfiffen.Man  sieht viele Weißbekittelte, hört jemand „Meine Damen und Herren“ sagen und denen, die es längst wissen, erklären, warum man streiken müsse. Währenddessen haben sich sehr viele Weißbekittelte, die z.B. aus Göttingen kommen und erfahren, wann ihr Bus sie zurückbringen wird, auf den Stühlen der Marktcafés niedergelassen, derweil sie in Göttingen von Kranken benötigt werden, die aber gleichzeitig volles Verständnis dafür haben, daß die jungen Ärzte auf den Stühlen der Cafés für ihre gerechte Sache demonstrieren.

An der Post werfen wir einige Briefe ein, gehen dann durch einen sehr schmalen Weg rechts ab, denn  die Bezirksregierung wird mit großem Aufwand erneuert, obwohl sie noch gar nicht alt ist, dafür aber sehr häßlich wie fast alles, was sich die heutige Architektur so ausdenkt, wenn man das „ausdenken“ nennen darf. Heute morgen meldete allerdings die Zeitung, der Bezirksregierung würden so ungefähr alle nennenswerten Kompetenzen genommen, denn die Landesregierung habe sich  eine Regionalverwaltung ausgedacht (soweit man das „ausdenken“ nennen darf), die alle die Kompetenzen erhalten solle, die man der Bezirksregierung nehme.

Wir schleichen an beschmierten Wänden vorbei, haben einen ersten Eindruck davon, wie beschmiert auch diese wunderschöne Stadt ist, was aber niemanden stört, denn es handelt sich dabei um eine Naturerscheinung. Auch die Geschäftsfassaden sind nun mehr und mehr beschmiert, selbst Banken, die bisher als sakrosankt galten. Man kommt aus vor dem Lokal des ganz großen Augenoptikers, der sich wie alle Optiker darum so nennt, damit man ihn nicht mit Fuß- oder Rückenoptikern verwechselt. Dort hofft meine Frau auf ein neues Brillengestell und zwei Gläser, aber man kann nur eben das Ladenlokal betreten und dann erfahren, daß es etwa eine Stunde dauern wird, bis man mit einer der charmanten Verkäuferinnen verhandeln kann, die alle Fachverkäuferinnen sind und einen beraten wollen.

Wenn man so lange nicht warten  kann oder will, muß man wieder gehen. Man hat den Eindruck, bisher sei einem von den kleinen Besorgungen noch nichts gelungen, aber überall ist heute Leben in der Stadt, und man kann in ihr nach Herzenslust bummeln. 

Es ist wunderbar zu leben, und unter den Arkaden der wunderschönen alten Stadt gehen die Leute, die das auch meinen, auf und ab. Die Geschäfte werden entweder gerade geräumt, oder es werden gerade neue eröffnet. Sie zeigen sich dann in Glanz und Gloria, und am meisten tut das ein Geschäft, das für Wohnkultur zuständig ist und in dem man alles kaufen kann, was man nicht braucht, aber zu hohen Preisen: Porzellan und Silber und schöne Glaswaren und kleine, sehr feine Möbel. Man findet etwas, es kostet das Doppelte dessen, was man sich vorgestellt hatte. Man sagt, man käme bald zurück, einstweilen sollten sie alles hübsch einpacken, was, hört man, noch einmal einen Verpackungsbeitrag  fordern läßt. 

Nun gehen wir, inzwischen ist sie uns eingefallen, in eine abgelegene Filiale des großen Augenoptikers, in der auch wirklich wenig Kundenauftrieb ist. Da es um neue Gläser geht, wird empfohlen, eine Glasversicherung abzuschließen, die das Ganze dann auch noch viel billiger macht, als schlösse man die Versicherung nicht ab. 

Dann kehren wir in die wunderschöne alte Stadt zurück, in der überall Leben und Treiben herrscht. Die Doktoren aus Göttingen kommen uns entgegen. Alle haben weiße Kittel an, einige tragen Transparente mit sich. Wieder gehen wir in in das Geschäft, das für Wohnkultur zuständig ist. Aber sie haben noch nichts eingepackt, denn, sagt die Dame an der Packstelle, man habe ja nichts zu diesem Thema gesagt. Freilich ist es die Dame, der wir aufgetragen hatten, uns das Gekaufte hübsch zu verpacken. Nun geht es erst los damit, und wir müssen warten. An der Wand lesen wir ein Diplom, das dem Haus besondere Kundenfreundlichkeit  attestiert. Wer wäre auch willlens, sie zu bestreiten. Und was, täte man es, würde dadurch gebessert?

Nun sind wir müde und betreten darum den langen Schlauch eines alten Cafés an einer der Hauptstraßen. Dort treffen wir alsbald auf das wahrscheinlich von dem Unternehmen  eingestellte schreiende Baby, das die Geduld der Gäste steigern soll. Als es abgefahren wird, beginnt hinter der Theke eine sehr laute Aufräumaktion, bei der v.a. Porzellane getürmt werden. Cafés sind nicht mehr dazu da, sich auszuruhen, sondern sollen uns über die Schwierigkeit des Lebens belehren, was dieses auf prägendste Weise tut.

Fröhlich fahren wir in unser Dorf zurück.  

   

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Von den Deutschen

   

Nun sägen die Deutschen den Ast ab, auf dem sie ihre Ledergarnitur und den Großbildschirm aufgebaut haben.

   

Die größte Chance, die deutsche Architekten je hatten, wurde nach dem Krieg durch die tausendfache Wiederholung von einfallsloser Scheußlichkeit vertan. Warum? Hitler hatte längst die Antwort darauf gegeben: „Die Besten sind gefallen.“ Er hatte dafür gesorgt.

    

Wenn der Satz, daß nach dem Schlimmen das Schlimmere komme, je gegolten hat, dann für die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Zuerst kam das Trauerspiel der selbstzufriedenen Wiederaufbauer. Nach ’68 folgte die Farce der selbstzufriedenen Antiautoritären, die sich später „Grüne“nannten und in einem grünen Jungen, der sich als dicker Weddinger Budiker  mit Weste verkleidete, ihren „Gottvater“ erkannten.

   

Winifred Wagner in der Dokumentation von Syberberg. Daß sie zwischen Hitler als Mensch, den sie einzig gekannt haben will, und als Politiker trennen will, ist nicht erträglich.

Daß sie Klaus Mann zitieren kann, der in „Stars and Stripes“ ’45 schrieb, er habe in Deutschland keinen Nazi kennengelernt außer einer Frau in Bayreuth, die Engländerin war, ist bemerkenswert.

Wenn sie von der Hilfe für von den Nazis Verfolgte erzählt, die durch viele Aussagen von ehemaligen Verfolgten vor der Spruchkammer bestätigt wird, und wenn sie das ohne Attitude tut, wünschte man nicht nur, daß es mehr Nazis von ihrer Sorte, sondern auch mehr helfende Nichtnazis gegeben hätte. 

Aber es gab eben zumeist Leute vom Schlage ihres Sohnes Wieland Wagner. Und die waren immer erfolgreich.

  

Die Deutschen sind immer positiv; sie spenden für jeden guten Zweck und applaudieren jedem Dummkopf.

  

Ein Scharlatan war über Jahre hin der beliebteste Politiker der Deutschen. Und angesichts einer solchen Neigung, sich betrügen zu lassen, sollte man diesem Volk politisch  trauen?

  

Die Hohen Schulen in Deutschland sind längst die heruntergekommenen. Sie waren und bleiben verschmiert, schmnuddelig und elend, wie sie seit den Achtundsechzigern zugerichtet wurden. An einem eben renovierten Gebäude in M., dem zentralen der Geisteswissenschaften, kleben an einer Seite schon wieder zahllose Plakate, die durchweg zu Parties einladen. Denn dies deutet auf das, was, auch nach Mitteilung in den Medien, die Deutschen können: Feste feiern. Einzig dies  lernen sie noch auf der Akademie. Abends zeigen  sie es uns im Sommerfest der Universität. Es ist musikalisch so laut, daß jedes Wort, selbst wenn es unmittelbar vom Mund zum Ohr gehen soll, unmöglich ist. Warum soll auch jemand irgendetwas verstehen, wenn es doch darum geht, ihn akustisch platt zu machen? 

  

  

VON DER DEUTSCHEN VERGANGENHEIT

   

Zerstörung und Wiederaufbau deutscher Städte

   

Das sogenannte „moral bombing“, das Friedrich in seinem Buch über den Bombenkrieg („Der Brand“) als die zentrale strategische Idee der Engländer und Amerikaner ausgemacht hat, war eine strategische Absurdidät, insofern sie nichts anderes bedeutete als die Zerstörung  eines Großteils europäischer Architektur- und Stadtgeschichte und die Nachahmung der Hitlerschen  Bombenverbrechen.

Aber das ist nur eine Seite der ganzen Trostlosigkeit. Die andere gehört der Nachkriegszeit an. Sie besteht in dem grenzenlosen  Dilettantismus des allergrößten  Teils der deutschen Architekten mit dem Cachierungsversuch, das eigene Unvermögen als die Ehrlichkeit des einfachen und schlichten Gestaltens zu behaupten. So beginnt schon in der ersten Nachkriegszeit, was heute für alle Felder  des öffentlichen Lebens gilt: Sie konnten es nicht. Besonders blamabel auch, daß man nie vorher, sagen wir nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach etlichen lokalen Kriegen des  18. Jahrhunderts, nach den Napoleonischen Kriegen, aber auch nach den zahlreichen Stadtbränden früherer Zeiten, einen vergleichbaren Dilettantismus erlebt hat,und das, obwohl es auch noch nie einen vergleichbaren Aufwand an sogenannter Stadtplanung gab. Die  freilich bewirkte wenig mehr  als die Automagistralen, die die Städte nicht strukturierten, sondern zerschnitten  und noch einmal zerstört haben. Wolf Jobst Siedler hatte mit seinem Dictum von der „gemordeten Stadt“, für die er vor allem die Stadtbauräte verantwortlich gemacht hat, vollkommen recht.

Unvergessen soll auch sein, was die deutschen Sozialisten im Osten für die weitere Zerstörung Deutschlands geleistet haben.  Sie beherrschten ja immerhin den Teil Deutschlands, der noch einigermaßen  von Bomben bewahrt  blieb. Aber 40 Jahren genügten ihnen, um dafür zu sorgen, daß selbst  über den Krieg gekommene Städte, sagen wir z.B. Halle, sich der Ruinosität der kriegszerstörten anschließen konnten. Kirchen und Schlösser, soweit sie nicht nutzbar gemacht wurden, sprengte man v.a. auf Befehl  des großen  Staatsmanns Ulbricht oder trug sie ab. Gegen dieses Verfahren bei der gotischen Universitätskirche in Leipzig wehrte sich ein einziger. Und der war nicht aus Leipzig. Soweit ich weiß, gab es diese Zerstörung  nirgendwo sonst im kommunistischen Osteuropa. Die deutschen Kommunisten erbrachten noch einen Mehrwert  an bösartiger Dummheit.

Aber schließlich ist auch noch der fast völligen Indolenz  der westdeutschen Bevölkerung zu gedenken, die den wirtschaftlichen Aufbau von dem architektonischen und damit von der eigenen Kulturgeschichte völlig trennte und  sich mit einer Art von Behausungen begnügte, die ihr Pendant im späteren Plattenbau der DDR hatten. Und statt irgendeinen Gedanken an die verbrannten oder beschädigten Dome, Kirchen, Schlösser, Theater, ja selbst an den Wohnungsbau  zu wenden, bezogen sie sich ganz auf die mobilen Häuschen des Volkswagens und verwandter Marken, die, als wären sie Nachfolger von Haus und Wohnung der Vorkriegszeit, mit aller Insistenz wöchentlich gesäubert und poliert wurden. So traten an die Stelle deutscher Städte doch des Führers Autobahnen, auf denen des Führers KdF-Wagen rollten, die den Seßhaften wieder zum Nomaden machten. 

    

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VON DEN MEDIEN

    

Deutschland und die Welt in der FAZ

   

Es gibt eine Rubrik in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die so heißt, und in der das wirklich Wichtige erzählt wird.

Am 19. Juni 2006 war z.B. wirklich wichtig, was den Lesern der des Schreibens Kundige Michael Gräter erzählt, nämlich dies, daß der Sultan von Brunei, also der Sultan Hassanal, „beim Bankett des thailändischen Königs Bhumibol Adulyadej anläßlich des 60. Jahrestages von dessen Thronbesteigung im Marmorpalast in Bangkok“, bei dem „übrigens“ 25 „Königshäuser“, darunter der Großherzog von Luxemburg, der freilich keinem Königshaus vorsteht , anwesend waren, wobei die Herren, falls „sie nicht Frack trugen, mit Gala-Uniformen und Lametta-Arsenal versehen“ waren, was allein  zur Steuerung der Wahrheit  schon wichtig ist zu erzählen, da sich sonst leicht das Gerücht einschleichen könnte, die Fracklosen seien in Jeans erschienen – kurz, daß Hassanal von Brunei einen „eigenen“ Brillenträger beschäftigt. Man war erstaunt, man ist erstaunt, man wird erstaunt sein.  „Königin Sirikit von Thailand lächelte milde.“

Abgesehen davon war weiter wichtig, daß Pete Doherty von der Bühne fiel und daß Jennifer Aniston Männer gut findet.

In Deutschland waren aber natürlich Tiergeschichten wichtig. So floh (man kann sagen: aus gutem Grund) eine Rinderherde „im nordrhein-westfälischen Eilendorf…aus ihrer Weide“ vor einer Schützenkapelle, die „genau in Höhe der Wiese zu spielen begann“. Es sei nicht bekannt, fügt der unbekannte Erzähler scherzhaft hinzu, „wie die Musiker den Protest der Rinder gegen ihre Spielweise [nicht etwa gegen ihr bloßes Spiel!] verkrafteten“.

Aber noch wichtiger ist die Erzählung vom Bären, der „Bruno“ genannt wird oder mit dem „offiziellen Namen JJ1“. Der streift zur Zeit der Erzählung durch Südtirol, Österreich und Bayern, und zwar derart, daß zum besseren Verständnis seines Streifens die FAZ eine Karte hat herstellen lassen, die sie in der Ausgabe vom 19.Juni 2006 abdruckt und aus der man die Route des Bären ersehen kann, die am 4. Mai plötzlich in Reschen beginnt und vorläufig am 17. Juni in Kochel Station hat. Auf dieser Route dringt der Bär in Hühnerställe ein, reißt Schafe und  - Gipfel! – „spaziert mitten durch den oberbayerischen Ferienort Kochel am See“, was die FAZ gleich zweimal erzählt. Was dort u.a. geschah, können wir den Äußerungen eines Gerhard Müller entnehmen, der aus der Bodensee-Region stammt und „mit Familie und Kollegen Urlaub in Oberbayern macht“. Der tritt nämlich nach Mitternacht (man wüßte gern die genaue Uhrzeit) „auf seinen Balkon im zentral gelegenen Gasthof ’Zum  Giggerer’“ und erblickt den Bären „auf der Straße“. Und zwar wo? „Direkt vor der Polizeistation“. Nun ereignet sich dieses, der Atem stockt: „’Er hat mich angeschaut, ich hab’ ihn angeschaut’, schilderte Müller“.

Die wirkliche Wichtigkeit. Geil und cool wie in der Bild-Zeitung.

   

   

Dr. h.c. Enderlein und sein Kontrollanhängsel. Ein Nachtrag (s.ZLdN Nummer 10)

   

Damit die Ignoranz, der wir unsere Informationen zu verdanken haben, nicht in Vergessenheit gerät -,

damit die Mischung aus Chuzpe und Dummheit, mit der derjenige überschüttet wird, der Herrn Enderlein auf  diese Ignoranz aufmerksam macht, nicht in Vergessenheit gerät,

   

zwei Beispiele für die These, daß Journalisten nicht einmal den Unterschied von Staatsoberhaupt und Regierungschef begreifen: 

   

21.7.06,  21,45 h ZDF Heute: Der Medienfürst Kleber nennt den libanesischen Ministerpräsidenten „Staatsoberhaupt“;

26.7.06, 17 h ARD Tagesschau: Es wird vom libanesischen Ministerpräsidenten Siniora als vom Staatspräsidenten gesprochen. 

   

VON DER HOCHSCHULE

   

Schwindel als Basis

Die Entwicklung der Lehrerbildung

    

Fassungslos steht die deutsche Öffentlichkeit  vor der PISA-Misere. Doch sucht sie ihre Fassungslosigkeit durch eine bequeme ideologische Begründung zu beheben. Sie heißt: nirgendwo sonst in Europa wird der Aufstieg in den sekundären Bildungsbereich von Realschule und Gymnasium so behindert wie in Deutschland. Das Elend ist politisch korrekt benannt, das Problem zwar dadurch nicht gelöst, aber so beschrieben, daß es den Erwartungen entspricht.

Aber nicht dieser soziale Mangel ist die Hauptsache in der Entwicklung des Elends, sondern die Gestaltung der Lehrerbildung, die weniger dieser diente als vielmehr der ständig zunehmenden  Verblödung der Öffentlichkeit.

Bis in die zwanziger Jahre wurde der Grund- und Volksschullehrer  an sogenannten  Seminaren ausgebildet, in denen auf ziemlich krude Weise ein Lehrertypus entstand, der den Knaben und Mädchen lesen, schreiben, rechnen beibrachte und dazu vielleicht ein bißchen Musisches, Geschichtliches, ein paar Experimente in Physik und Chemie. Diese Krudität zu überführen in einen Standard, durch den die Einübung  von Fertigkeiten sich hätte fundieren können in passablen anthropologischen Grundsätzen, wäre des Schweißes der Edlen wert gewesen. 

Statt dessen fand aber schon in den zwanziger Jahren unter der Ägide des preußischen Kultusministers Becker eine rein formale Höhergruppierung durch die Etablierung von Pädagogischen Akademien statt(später wurden sie Hochschulen), für die natürlich kein Korps vorzüglicher neuer Professoren zur Verfügung stand - woher sollten sie auch kommen? -, sondern in der Mehrzahl nur jene Viertel- und Halbintellektuellen, die Kempowski in „Herzlich willkommen“ als wandelnde Ensembles aus Phrasen dargestellt hat. Da waren wir schon in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Aber mit diesem ersten Schritt wissenschaftlicher Stilisierung war es noch nicht genug. Nun kam unter dem entsprechenden Druck von Verbänden und dank der tiefen Einsicht bspw. der damaligen NRW-Landesminister Girgensohn und Rau  die Integration der Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten zustande. Aus einer bescheidenen  und natürlich verbesserungswürdigen Institution, die immerhin  den Volksschullehrer als ‚Kulturträger’ auf dem Lande hervorgebracht hatte, war eine „wissenschaftliche“ Einrichtung geworden, die die Chuzpe von Disziplinen nötig machte, für die es objektiv keinen Bedarf gab, die aber „bewiesen“, daß das Lehrerstudium wissenschaftlich fundiert sei, obwohl natürlich Forschung wie Curricula v.a. aus Geschwätz und dessen Einübung bestanden. 

Nicht bessere Lehrer als aus den bescheidenen Häusern der Seminare kamen nun aus den Portalen der universitären Erziehungswissenschaften, sondern jene, denen wir den heutigen Zustand der deutschen Schule zu verdanken haben, in der man zwar kein a und kein b mehr lernt, wohl aber, wie man ein x für ein u macht, auch nicht mehr die Fertigkeit gewinnt, eine Tafel zu säubern, sondern die,  sie zu zertrümmern, eine Fertigkeit, die man im Laufe der Jahre dann mehr und mehr auf die gesamte Schule als Gesamtschule übertragen hat, auf die Mitschüler und auf die wissenschaftlich erudierten Lehrer selbst. 

   

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VOM SPORT  

   

Die Welt als Fußball

(Miszellen)

   

Sprache ist schwere Sprache

Nach der offiziellen Website der FIFA erhielt  deren  Präsident Joseph F. Blatter u.a. folgende Ehrungen:

„Von[!] Sultanat von Pahang (Malaysia) wurde er zum Ritter(Dato) geschlagen.

Empfänger der[!] Rang  des Grossoffiziers von[!] Wissam Al Arch(Marokko).

Empfänger der[!] UEFA-Verdienstorden in Diamant[!].

Empfänger der[!] Verdienstorden von Jemen.“

   

Der Bundestrainer Herr Klinsmann äußerte im ZDF am 9.6.06  u.a.:

„Die Wade[Ballacks] ist noch nicht da, wo sie hin muß.“

  

Fest des Friedens

Die „Westfälischen Nachrichten“ meldeten am 10.6.06 u.a.:

„Auf dem Marienplatz[in München] wurde ferner ein Mann festgenommen, als er begann, wild mit einem Stock um sich zu schlagen. In einem Biergarten wurde ein Däne von vier Deutschen verprügelt, weil er die falsche Fahne schwenkte.“

  

„Der Spiegel“ macht (auch) mit

„Christoph Metzelder war eine Idee. Ein Versprechen.“. Das schreibt Herr Brinkbäumer am 19.6.06 im „Spiegel“, und so hört sich bis auf einen Beitrag eines Herrn Kramer alles an, was zumindest in dieser Ausgabe über die Fußball- weltmeisterschaft und Deutschland in deren Epoche verbreitet wird. „Der Spiegel“ ist begeistert von Volk und Land, obwohl er nichts anderes über beide zu berichten, will sagen zu hymnisieren weiß, als daß die Deutschen anläßlich dieser sogenannten WM feiern und feiern und feiern. Aber das ist das, was sie spätestens seit den achtziger Jahren alleweil getan haben, es war die Bezeugung der Fun-Gesellschaft, die die Friedlichkeit der Deutschen, aber auch ihren Verlust an Initiative, an Energie, an Leistungsbereitschaft bewies, durch die sie in den Jahren nach 1948 noch einmal von sich reden machten. Nun kann man natürlich sagen,  daß ein ganz und gar gelöstes und leichtes Land  etwas ist, das den Verlust an Arbeitswut verkraften läßt, doch da das gerade im Augenblick einer Globalisierung geschieht, die neben der shareholder value nichts anderes kennt als den heftigsten Arbeitseinsatz, wird das eine nicht ganz zufriedenstellende Auskunft sein. Doch feiert der „Spiegel“, wenn denn das Feiern anderer seine Aufgabe wäre, viel mehr als Heiterkeit und Gelöstheit, zu der heute sowieso kein Mensch mehr fähig ist, eine Regression und laute Infantilität, die sich vor allem in schamanischer Vermummung und Einfärbung bezeugt und allenfalls noch in den Alkoholräuschen, die auch Jungmänner und ehemalige Jungfrauen brauchen, um Leben zu spüren. Die Leere der sprachhymnischen  Begeisterung, die der „Spiegel“ plötzlich verbreitet, läßt jedenfalls nichts  erhoffen für die Dauer der guten Laune. Denn statt des erwarteten tätigen Optimismus hatte sich nur das karnevalistische Juchhu  für ein paar Augenblicke durchgesetzt  und wurde in  „Spiegel“-Sätzen wie dem am Anfang als die große Landesharmonie gefeiert.

   

   

Von starken Stücken

Der evangelische Bischof Huber, ein akzeptabler Mann übrigens, habe in der Münchner Liebfrauenkirche eine Predigt mit dem Motto gehalten „Fußball ist ein starkes Stück Leben“, was jenen preisen soll. Doch sagt er damit auch, daß es mit dem Fußball „ein starkes Stück“ ist. Und das ist kein Preis, sondern etwas sehr Bedenkenswertes, insofern Fußball, der doch als das aufkam, was für Hinz und Kunz etwas war, im Lauf der Zeit Hinz und Kunz zu einem bestimmenden Wert gemacht hat, obwohl er angesichts  dieser Welt, so sau’r die sich stellt, ein einigermaßen lächerliches Stück ist. Das aber wiederum ist angesichts einer Masse aus Jubelfans, die sich schamanisch beschmieren, wiederum ein starkes Stück. Denn: „Getretner Quark/ Wird breit, nicht stark“ (Goethe). 

   

Kindereien

Der britische Evolutionspsychologe Bruce Charlton von der University of Newcastle upon Tyne glaube laut „Spiegel“(27/2006), daß viele heutige Erwachsene schwerer als ihre Vorfahren „zu wahrer geistiger Reife“ gelangen.

Auch wenn er es nur glaubt, so gilt es doch als wissenschaftliche Erkenntnis und wird darum publizistisch verbreitet. Daß Beobachtung und Erfahrung seit etwa 30 Jahren nichts anderes lehren, ist hingegen nicht publikationswürdig. 

Dabei bekommt es das gesamte erwachsene Deutschland zur Zeit täglich vermittelt in den Weltmeisterschaftserscheinungen. Ein Kinderspiel, immerhin mit Regeln, rückt in den Vordergrund der Wahrnehmung von Millionen. Dann wird in einem dieser Spiele die Überlegenheit der argentinischen Mannschaft über die deutsche gezeigt: 1:0. Mit Mühe bringen es die Deutschen zum Ausgleich. Und darauf wird, um den Sieger zu ermitteln, etwas vollkommen Kindisches betrieben: das sogenannte Elfmeterschießen. Bei diesem Gipfel einer Ermittlung per Zufall sind die Deutschen erfolgreich.

 Nun kurven nicht nur auf gefährliche Weise Deutsche hupend durch die Straßen, versichern sich Jubelchöre nicht nur, daß sie, die die Mittelmäßigkeit ihrer Spieler-Landsleute kannten und beklagten, nun als Angehörige eines Volkes, das keines seiner Probleme zu lösen vermag, die Besten in der Welt seien, sondern etliche Intellektuelle dieses Volkes treiben das Kindische so weit, daß sie in Blättern und Sendern urkunden, dieses läppische „Tore schießen“ sei der Beweis für eine große sportliche Leistung, die in Wahrheit die ballernder Kinder ist. Und gröhlend, lallend, fahnenschwenkend  feiern Millionen Kindlein diese Leistung.  

    

Die Sieger

„Werden wir Welt m e i  ster sein“ gröhlen sie, obwohl sie nicht einmal mehr richtig akzentuieren können. Sie sind es nicht geworden, sie sind natürlich gar nichts geworden, die elf Spieler sind Dritter, ein passabler Platz für eine mittelmäßige Mannschaft, aber doch sicher  kein Grund, außer Rand und Band zu geraten. Es interessiert sie auch gar nicht mehr, wer an diesem Tag wirklich Weltmeister wird. Sie lassen sich allesamt von den Verrückten des Fernsehens zu „Weltmeistern der Herzen“ ernennen, ernennen ihrerseits eine Mannschaft, die nicht ganz miserabel und tranig war, zu unseren „Helden“, schwanken aus der Depression in die Manie und werden dann wieder zurückschwanken in die Depression. 

   

Das Ende

Klinsmann geht. Ausgebrannt. Der Bundespräsident bedauert. Die Bundeskanzlerin bedauert sehr. Das Kabinett liegt auf den Knien. Selbst Claudia Roth beschwört. Aber Klinsmann geht. Ausgebrannt.

Es geht darum, daß einer elf Fußballspieler dazu gebracht hat, auf den dritten Platz in einem Wettbewerb zu kommen.

   

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

   

1955

    

Das Referat sei unter ein Notdach gebracht worden, später: es sei nun abgeschlossen und habe zu einem glücklichen Ergebnis geführt,  aber die ständige Beschäftigung mit der Formfrage [bei Schiller] habe doch den Sinn für jegliche Meditation in anderer Richtung verdorben.

   

„Der Zauberberg“ werde weiter gelesen. Das Bedeutende sei oft zu bedeutend gebracht und wirke darum platt. Musil habe doch „andere Dimensionen“. Dennoch sei das Schnee-Kapitel „ingeniös“, v.a. die Passagen, die Hans Castorps Schlaf-Wach-Zustand gäben. Dann Peeperkorn, der als Konterfei des „großen deutschen Dichters“ genommen werde. G. Hauptmann sei ein merkwürdiges Phänomen: ein Dichter, der „sehr oft überhaupt nicht mit dem Wort fertig“ werde, dann wie ein Sekretär schreibe. 

Erzählungen Thomas Manns. Darunter das Krull-Fragment. Das sei das Element Manns, dagegen sei der „Doktor Faustus“ „zäh und unordentlich“.

Die „possierliche Bravheit“ von Gellerts „Leben der schwedischen Gräfin…“ Ein oder zwei Episoden lese man mit Vergnügen

   

Sorge ums Studium. Wie das alles je zu bewältigen sei. Aber da es die anderen auch machen, trete ein Herdengefühl ein, das für etliche Tage wärme.

   

Bei Emrich wegen der Doktorarbeit. Er sei grundsätzlich einverstanden. Ich schlage Friedo Lampe und  etwas zur deutschen Satire vor. E. kennt Lampe nicht, will ihn lesen. Für Satire sei er gleich eingenommen gewesen. In 8 – 14 Tagen solle ich ihn wieder aufsuchen.

E. habe gesagt, reine Forminterpretation gebe es gar nicht. Ich sei einigermaßen überrascht gewesen. 

Später sei ihm der Lampe-Vorschlag ungerechtferigt erschienen. Er meinte, ich habe ihm einen unbekannten Autor ersten Ranges bieten wollen. Mir sei es um den geringen Umfang des Werkes gegangen. Er habe nun wohl überhaupt etwas an meinen Fähigkeiten gezweifelt. Das Referat habe er anscheinend ganz vergessen. Es sei nicht leicht, mit E. umzugehen. Man wisse nie, was und wieviel er behalte.

Ich hätte eine Disposition für meine Doktorarbeit versucht, hätte E. schriftlich vier Vorschläge gemacht. Er habe mich nach Köln geladen. Es sei zu einer bewegenden und bewegten Ausprache gekommen, fast zum Bruch. Plötzlich habe sich die Spannung aber gelöst. Er habe mir zu Musil geraten, was ich gern angenommen hätte.

  

Prof. Alewyn, der seine Vorlesungen schon auf ein Mindestmaß reduziere, lasse bekanntgeben, er sei ab sofort bis zum Semesterende freitags „krankheitshalber“ verhindert, seine Kollegs abzuhalten.

Eine studentische Fakultätsversammlung, auf der es gleich zu Beginn zu politischen Streitereien komme.

Unterhaltung mit einem Kommilitonen, der im Landesvorstand der FDP sitze. Er habe Sätze gesprochen wie: „In unserer Partei gibt es kein…“ Man habe dann versucht, deutlich zu machen, daß es längst nicht mehr darum gehe, festzustellen, ob diese oder jene Partei dies oder etwas anderes gut oder schlecht mache. Aber wie solle man das dem Sprecher solcher Sätze klar machen? 

   

Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen“. Freude daran. B. wisse mehr als  die Sippe seiner Zeitgenossen. Skepsis habe damals noch einen richtigen Denker bezeichnet. Heute sei jede Marktfrau stolz darauf, skeptisch zu sein.

   

Beim Einsteigen in die Bahn der Zeitungsausrufer: „Malenkow gestürzt“. Atavistisch prickelndes Gefühl, daß jetzt wieder etwas geschehe.

   

Lektüre von Loerkes Gedichten: neben Verkrampftem gebe es großartige und intensive Sachen. „Pansmusik“ sei doch wohl das beste. 

Tucholskys gewürztes Pyrenäenbuch. Jean Pauls „Siebenkäs“. Koeppens „Treibhaus“: eine Welle von Trauer und Vergeblichkeit. Es fange maniriert an, das letzte Drittel sei aber faszinierend.

  

W.H. berichte bei einem Besuch Interessantes aus Berlin, wo er zehn Tage gewesen sei. Die östliche Misere sei ganz erstaunlich: keine Form, kein Ausdruck stimme. Die Stalin-Allee sei ein  Schrecknis. Unter seinen Fotos sei auch das  Arztschild Dr.Benns.

   

Ich hätte mich auf Emrichs Vorschlag an die Interpretation eines Musil-Kapitels gemacht, und zwar an die des von mir vorgeschlagenen Tugut-Kapitels. Es sei eine Sammlung M’scher Vernichtungswaffen.

  

Im April Warten auf den Umzug. Halb ausgeräumte Zimmer. Nach dem Umzug (im April): meine Kammer: klein, angenehm und freundlich. Einweihungsfeier mit der KWV: einige Kraus-Stücke, Polgars gedacht, der vor drei oder vier Tagen in der Schweiz gestorben sei.

   

Musils „Törleß“: der Versuch, ein ‚gefühltes’ Leben zu erfassen. Bis zum „Mann ohne Eigenschaften“ sei von da aus noch ein weiter Weg.

   

Zum Sommersemester wieder in Köln. Treffe O., der morgen ins Philosophicum gehe, ohne alle Aufregung und Unsicherheit. 

   

„Arsenic and  old lace“: ein höchst witziger Film aus Amerika. Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ sei ein erstaunlicher, den heutigen Provinzialismus überragender Film.

  

Die Musilinterpretation werde abgeschrieben und solle Anfang nächster Woche an Emrich gehen. Ein paar Tage später hätte ich sie mit allem Lob und schöner Zustimmung zurückbekommen. Nun könne ich ruhig arbeiten.

  

Glanzvolles Stokowski-Konzert. „Er: ein weißer Wattebausch, blasierte Hände.“ Am besten seien die Paganini-Variationen von Blacher gewesen.

In der Franz-Marc-Ausstellung. Der Tiger. Vögel und Adler. Das blaumähnige Pferd vor dem gelben Acker : ganz aus Rundungen komponiert. Zwei kleine blaue Rehe und das blaue Pferdchen „für Waltherchen Macke“.

   

Buch und Film über die deutsche Widerstandsbewegung. Die Größe der Tat des 20. Juli habe in der Einsamkeit gelegen, die sie umgab. Es sei kein Anfang gewesen, keine Erneuerung. Statt dessen habe es das ‚deutsche Wunder’ gegeben: „ein Höllensabbat aufs genaueste wiederbestellter Behaglichkeit“.

   

Schiller-Vortrag von Emrich: präzis und angenehm wie immer. Wichtiger sei die heutige Vorlesung über „Wilhelm Meister“ gewesen: die Struktur, v.a. die Funktion Mignons, „weit über dem gewohnten Philologengeplausch“.

Käthe Hamburger abends zu den literarischen Gattungen. Von Aristoteles ausgehend habe sie Epik, Lyrik, Dramatik als falsche  Gliederung abgewiesen und an ihre Stelle Lyrik und Fiktion gesetzt. Mit O. darüber gesprochen. Es sei uns als eine zu magere Interpretation erschienen, Lyrik primär als Ausdruck zu sehen. 

   

Zum zehnten Todestag Valérys habe der Rundfunk eine Rede gebracht, die V. 1932 über die Politik des Geistes gehalten habe. Es habe Beängstigendes, „eine solche Lucidität, fast wäre zu sagen: Einfachheit des Geistes zu erleben, hinter der sich solche Anstrengung des Denkens und solcher Skeptizismus der Aussage“ verberge. Uns Deutschen sei eine „solche Selbstverständlichkeit des geistigen Aktes immer unheimlich“.

   

Im Juli Beginn der Genfer Verhandlungen: Die Herren aus Moskau seien im offenen Wagen gefahren, Eisenhower sei von Leibwächtern umgeben gewesen. Die Bilder hätten sich umgekehrt. „Ein Kommentator bewies nur seine Ratlosigkeit, als er sagte: Herr Eisenhower müsse eben besser geschützt werden als die Moskauer Herren. Eine beliebte Populardemonstration von Demokratie war bisher stets der unter seinem Volk sich frei verlustierende Präsident, während Diktatoren in kugelsicheren Wagen mit grimmigen Scharfschützen an der Seite durch die Straßen zu brausen pflegten.“

  

„Der letzte Fabulierer“[Thomas Mann] sei „still außer Landes gegangen“ nach den Ehrungen zum 80. Geburtstag.

  

Beendigung des Semesters mit einer Schiffsfahrt nach Linz am Rhein: mit M.W.,O. und Fräulein V. 

Der Neffe  J. in D. zu Besuch, rollere auf der Straße, esse wie ein Scheunen- drescher.

Ich hätte davon gehört, daß in Löwen jemand säße, der sich auch mit Musil beschäftige.

Die ersten beiden Bücher des „Gargantua“ gelesen, dann wieder einmal Swift, auch Reuters „Schelmuffsky“,Wielands „Abderiten“, Immermanns „Münchhausen“,Jean Pauls „Katzenberger“. Alle für die Stilanalysen der Einleitung.

  

Ende August mit L.Urlaub in Abenden in der Eifel. In Heimbach sei das Schwimmbad genutzt worden Schöne Lage und Lieblichkeit des Ortes. Waldspaziergänge. Im Städtchen Nideggen würden nach starken Kriegszerstörungen Türme, Tore und Mauern wiederhergestellt. Das sei ein so suspektes wie rührendes Unternehmen. Aus dem „Felix Krull“ sei vorgelesen worden. Schachpartien. Volkswirtschaftliche Gespräche. Ausflug in den Kermeter mit dem Trappistenkloster Mariawald, im Tal das ansehnliche Gemünd, dann nach Steinfeld, der bewehrten Abtei inmitten der Eifelwälder. Das wohlerhaltene Fresko in der Seitenkapelle: ein Jüngstes Gericht. Dann nach Schleiden, die einsame Straße nach Monschau mit Heide und Wald, der Ort Höfen mit tiefgezogenen Dächern und hohen Hecken, Monschau im Rurtal, eine Stadt von höchster Originalität. An einem anderen Tag nach Schwammenauel, der Rurtalsperre. Gutes Sommerklima und freundlicher Himmel. In Gemünd seien wir mit O. zusammengetroffen. Erstaunen über die „Perversionen des Religiösen“ im Kloster Mariawald. Abreise unter grauem Himmel.

  

Endlose Debatte im Bundestag. Die Rede des CDU-Fraktionsvorsitzenden sei an „faselhaftem Primitivismus nicht mehr zu unterbieten“ gewesen.

Im Lager Friedland habe es eine „phrasendröhnende Heimkehrerbegrüßung“ gegeben, die „Ekel und Beschämung“ erweckt habe. 

  

Zuckmayers „Kaltes Licht“ in der Düsseldorfer Inszenierung. Es sei der mißlingende Versuch, eine so diffizile Problematik „forsch und redend anzugehen“. Bei solcher Naivität sei auch „ein gut Teil Unverschämtheit“. 

   

Hinweis, daß ich  die Bücherei der Evangelischen Akademie in Speldorf katalogisiere.

   

An einem Wochenende im Oktober bei M.W. in Wuppertal. Am Samstagabend spreche in einem evangelischen Vereinshaus Benn. Der Saal sei gut besetzt. Der Pedell lege einen Rosenstrauß auf das Podiumstischchen. Aus der Tür trete B. in grauem Anzug, Silberkrawatte, bürgerlich anständig, ein Schädel mit schweren Wimpern, ein moquanter Zug, der für Arroganz gehalten werde, aber nur Verwunderung andeute  über eine solche Situation. Verbeugen, Ledermappe. Ziemlich leise sage er: „Erschrecken Sie nicht, meine Damen und Herren, daß ich so viele Bücher auspacke“, etwas später: „Ich schäme mich fast, vor so einer erlesenen Versammlung, vor dem „Bund“ zu sprechen… Ich sehe zahlreiche Kapazitäten“.

Es sei der Tritt vor das Schienbein, den sie nicht merken. Sie halten es für übertreibende und freundliche Ironie. Heiterkeit.

Er beginne mit Prosa aus der „Ausdruckswelt“, sehr leise, ganz für sich. Man werde unruhig. Starkes Räuspern, Röcheln, Schnarren, Flüstern. In ein Gedicht töne hinein: „Bitte lauter!“ Von der anderen Seite: „Ich verstehe gar nichts“. Er lese das Gedicht so zu Ende. Auch das nächste nicht lauter. Um uns herum beginne man „eine hübsche Wut“ zu haben, einer sage: „Mikrofon!“ B. rücke ein wenig vor. Das Podium werde von Schülern und Studenten besetzt. Er lese das erste Kapitel aus dem „Ptolemäer“. Nicht zu Ende. „Ich merke, es wird zu lang.“ 

Knall: Tür zu! Wieder Gedichte zum Ende: sehr leise. Er verbeuge sich. Wende sich der Mappe zu, gehe beiläufig, als es schon niemanden mehr interessiere. Der Herr neben mir schweige, habe auch keine Zwischenrufe gemacht. Auf den Knien liege die ganze Zeit ein Band vom Dichter Hausmann. Beim Hinausgehen zwei Gören: „…und die Diskussion?“ B. komme an der Garderobe vorbei, mir scheine, daß ihn kaum jemand erkenne. Er gehe – "Pathos der beiläufigen Abgänge“ – „für sich“, verschwinde im gebrochenen Dunkel.

   

Im Sendesaal in Köln Benn und Reinhold Schneider. Brief an B. 

   

Herr Meyer beschäftige sich mit Kunst und definiere: Kunst sei das, was man selbst auch könnte, wenn man mehr Zeit hätte.

Die Scharen Halbwüchsiger in den Straßen und vor den Kinos: Remmidemmimonde.

Ein Herr Tillmanns[Bundesminister] sei gestorben. Herr Gerstenmaier [ Bundestags- präsident] sage: Deutschland neige sich an der Bahre eines der größten Deutschen.

   

Adolf Hitler: Kanzler des tausendjährigen Reiches. Ob wohl jemals bedacht worden sei, daß diese Floskel eine ganze Assoziationswelt heraufhebe? Der letzte Stellvertreter eines Erzamtes der Heiligen Römischen Reiches ein dämonischer Kleinbürger mit Schneuz.

   

„Lotte in Weimar“: eine weit bessere Erfassung des großen Naiven aus Weimar, als es eine Biographie je sein könne.

Eine Schallplatte mit Thomas Mann, der aus dem Krull lese.

   

Ich müsse zu den Fächern Germanistik und Geschichte für das Rigorosum noch ein weiteres wählen: Philosophie sei zwar sehr reizvoll, mache mich aber mindestens ein weiteres Semester zum Antichambreur.

Musil, Tagebücher begonnen. Im Lesesaal der Stadtbücherei Emrichs Aufsatz über den „Schwierigen“. Ein Hörspiel von Günter Eich

W.H. erzähle von seinem Rigorosum. Bei ihm Doktorschmaus.

   

   

Nummer 13(Mai/Juni 2006) s.Archiv

  

INHALT: VON DER DEUTSCHEN KULTUR: Die Epoche, die Nowendigkeit der Satire und deren Vergeblichkeit (von Karl Kraus) – Hölderlin - Nach Leipzig: Matthäus-Passion und Parsifal. VOM JOURNALISMUS: Der Journalist – Ein journalistisches Leben. VON DER RHETORIK: Ein Festredner. Joschka Fischer zu Marcel Reich-Ranicki. VOM TÄGLICHEN LEBEN: Alles wie immer ? VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1954.

  

Die Nummern 1 – 14 s. Archiv  

   

s. Register der Nummern 1 – 15 von „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen.

  

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