Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 16 (April/Mai 2007)

  

  

INHALT: VON DER DEUTSCHEN GEGENWART: Deutsche Sätze aus dem 20. Jahrhundert II (H.A.) – Deutsches:unten und oben – Das wirklich Wichtige.

VON DER LITERATUR (UND VOM FILM): Barockes Trauerspiel (Gryphius und Lohenstein) 1.Teil – The Queen. VON DER DEUTSCHEN POLITIK: Filsers Erben.

VON DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT: Der Erbe Burda. VOM JOURNALISMUS: Medieninformationen – Wie der „Spiegel“ vom Islam redet (Nachtrag, s. Nummer 15).

VOM INTERNET: Wikipedia, -media, -taedia.VOM HEUTIGEN DENKEN: Gebildeter Leser(nach Giorgio Agamben). VON DER RELIGION: Gott und Teufel. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Akademische Anfangsjahre (1957 – 1959). Neue Titel.

  

  

VON DER DEUTSCHEN GEGENWART

  

Deutsche Sätze aus dem 20. Jahrhundert II

  

Warum ist die Unendlichkeit der Dummheit, von der Horväth sprach, in Deutschland manifester als anderwärts? Weil hier weder die vernünftigen noch die emotionalen Traditionen, ja nicht einmal die Alltagskonventionen noch irgendeinen Bestand haben. Deren Zerstörung durch Nazis und Stasis sollte kompensiert werden durch die vollkommene Konzentration auf die Marktwirtschaft, so daß es nur noch ganz wenige ernstgenommene Sätze gibt. Sie heißen etwa: Wieviel bekomme ich? Was kostet das? Das kann ich mir leisten. Die Sätze der poltical correctness werden nur soweit ernstgenommen, als sie der Drapierung der wenigen kruden Sätze der Marktwirtschaft dienen. Denn das Hin- und Herschieben des Bimbes braucht all die Vorhangvokabeln zwischen politischer Verantwortung, Fremdenintegration, europäischer Einigung und Demut angesichts der Verbrechen, um seine Krudität zu verbergen. Wenn ein Volk aber seine Sprache nur mehr kennt als erweiterte Börsen­kurse und als deren demokratische Garnierung, kommt es zu einer mentalen Vertrocknung, die nur augenblicksweise unterbrochen zu werden scheint durch die albernsten und die schrecklichsten Sensationen. Daß die so oft als möglich auftreten, damit die gesellschaftliche Erstarrung weniger deutlich wird, ist das Geschäft der Medien. So können wir uns aufregen über Schwarzgeldaffären und bleiben so fit für das tägliche Weißgeldgeschiebe, das unser Leben ausmacht. Aus Börsenkursen und Phrasen, aus facts und Geschwätz besteht die öffentliche, wahrscheinlich aber auch längst die 'persönliche' Rede in Deutschland. Jeder Blick in eine Zeitung lehrt, daß die Deutschen schon grammatisch  ahnungslos sind,  daß sie mit Metaphern  bewußtlos  hantieren, daß ihre Syntax aus dem Leim ging, daß ihre Texte nicht gewebt, sondern hingehauen werden.

Wie sollten sie in der Lage sein, sprachlich zu denken, also überhaupt zu denken. Nur ein paar Ausländer bewahren die deutsche  Sprache  und denken  in ihr. Die Deutschen lieben sie nicht und respektieren sie nicht und können sie nicht sprechen. Zwischen Jugendjargon und Ballermann bewegt sich ihre Rede, zwischen Nachrichtengeticker und Festrede, zwischen Sportgeschrei und Theaterbanausie., zwischen Spiegelmetaphern und Fernsehwegwurf: Alle reden, wie ihnen der Schnabel verwachsen ist. So leben sie, so leben sie, so leben sie alle Tage. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch nicht.

                                         

                     H.A., Deutschland, ein Winter -. Notizen zu ein paar Monaten in Deutschland

                      und Umgegend zur Zeit des sogenannten Milleniums. [Ausz.] 2000

  

  (nach oben)

  

Deutsches: unten und oben

  

  

Zu dem Thema, wie sich Deutsches heute präsentiere, haben wir Alltagserfahrungen, aber wenig gründlichere nachlesbare Überlegungen. Das gängige Nachdenken  beschäftigt sich mit  deutscher Politik, Wirtschaft, Kultur usw. als solchen und damit  als Geronnenes, Fixes. Mit dem, was uns auffällt, hat das meist wenig oder gar nichts zu tun.

Deutsches heißt aber vor allem deutsche Gegenwart im Verhältnis zur deutschen Geschichte. Letztere ist die Domäne der Historiker, die uns über die Geschichte der Bundesrepublik, der Nazizeit und dann noch über das Vorhergehende als Vorgeschichte aufzuklären behaupten. Die Nahgeschichte, insbesondere die Geschichte der Nazizeit wird uns seit Jahrzehnten immer wieder erzählt und analysiert. Damit letztere nicht wiederkomme, gibt es opulente Beschwörungen und Warnungen. Die  haben sich insgesamt zu einem System verfestigt, das von politischer Korrektheit bestimmt ist. Ob es sehr wirkungsvoll ist, bleibt eine Frage. Jedenfalls ist dieses System nicht so beschaffen, daß es die Erkenntnis des Gegenwärtigen und des darauf  bezüglichen Vergangenen leistete.  Es leistet vielmehr nur die zunehmende Selbstabdichtung des Systems, die Phraseologisierung dank politischer Korrektheit. 

Was zu dieser Leistung nicht beiträgt, wird totgeschwiegen und natürlich nicht reflektiert. Ein Freund schrieb ein kleines Buch über das Verhalten der  deutschen Juden zum Spielfilm der NS-Zeit*), das entgegen den Meinungen der Filmhistoriker weitgehend zustimmend war.Das ist natürlich systemwidrig und wird daher (von Ausnahmen abgesehen) beiseitegelegt.

  

*) E.Offermanns, Die deutschen Juden und der Spielfilm der NS-Zeit. Frankfurt/M. etc: Lang 2005

  

II

Bei einem Gang durch die Stadt fällt in einer großen Buchhandlung auf, daß dort die noch gar nicht alte Romankollektion der Süddeutschen Zeitung,  die übrigens in dem Augenblick erschien, da andere Zeitungen und  Zeitschriften das gleiche machten, für 2,50 € pro Band verramscht wird. Darunter Rilkes Malte, Koeppen, M. Walser, Bernhard etc. Warum war das kein Erfolg? Vielleicht weil,  wie gesagt, viele das gleiche taten, was ein Zeichen für das Einfallslose, Repetitive der heutigen deutschen Kultur wäre. Wahrscheinlicher aber darum, weil die 45 bis 90jährigen die angebotenen Texte haben, den 20 bis 45jährigen aber das Interesse dafür fehlt, da sie entweder im Wortverstand nicht lesen können(die Schule der Achtundsechziger hat es ihnen nicht beigebracht) oder weil sie keine Lust haben, überhaupt zu lesen, oder weil ihre Zeit mit dem blödesten Zeug besetzt ist, so daß sie gar nicht in die Nähe der Versuchung kommen, etwas zu lesen. Daß aber nicht einmal Universitätsbibliotheken sich für Bücher und damit für die kulturelle Überlieferung in Deutschland interessieren, meldet unter anderen die FAZ vom 6.3.2007 aus Eichstätt. Dort habe der Kapuzinerorden in Bayern nach der Auflösung von Klöstern ca 350 000 Bände der Katholischen Universität  überlassen. Die habe davon ca 100 000 Bände vernichtet, darunter bedeutende Stücke aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Gegen die Bibliotheksdirektorin sei ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet worden. Was aber will das sagen gegen das Unmaß von Ignoranz und Gleichgültigkeit inmitten einer Bibliothek gegenüber dem, wofür Bibliotheken da sind: nämlich Bücher?

Man muß sehr damit rechnen, daß wir in die Phase des tatsächlichen und des geistigen Analphabetismus längst eingetreten sind und daß  die 7300 Studenten, die an der Universität in M. für Germanistik inskribiert sind, es zu 90 % pro forma getan haben, sich aber in Wahrheit nur für die nächsten Jahre einen Kuschelplatz  sichern wollen.

In einem Beitrag für die Festschrift eines Kollegen schildert ein angesehener deutscher Schriftsteller, wie der Studienplatz als Kuschelplatz schon vor dreißig Jahren ausgesehen habe: nämlich verrottet und chaotisch und besetzt mit Kommilitonen und –innen, die  nicht nur jeden professoralen Hinweis auf Literatur ablehnten, sondern von dieser selbst bis hin zur Buchstabierung von Schriftstellernamen so viel Ahnung hatten, wie ein schlechthinniger Dummkopf eben hat.

Abends kann man dann im Fernsehen – o Wunder – „Eugen Onegin“  sehen und hören. Die Aufführung kommt aus der Met in New York, ist glänzend besetzt und wunderschön, weil sie sich an der Oper  als einem hochartifiziellen Gebilde orientiert. 

Wie scheußlich wäre dagegen eine deutsche Aufführung gewesen. Im besten Falle wären die Sänger und das Orchester noch passabel, aber ein dilettantischer Regisseur, der natürlich noch nie  etwas mit Musik zu tun hatte, hätte daraus eine Mixtur aus absurdem und proletarischem Theater gemacht mit Blut, Sperma und heruntergelassenen Hosen. Alles das wäre nicht so sehr eine Angelegenheit verfehlter Originalität, sondern schierer Dummheit, Unkenntnis gewesen, die sich als „neue Sicht“ cachierte.

Obwohl die Tschaikowskij-Pièce  eine Art russischer Puccini ist, muß man hoch dankbar sein, daß einem derlei in solcher Inszenierung(wenn auch ganz selten) im deutschen Fernsehen begegnet und es also nicht von einer deutschen Bühne kommt. Allerdings besteht der einzige deutsche Beitrag, nämlich die Übersetzung der Texte, aus einem unnachahmlichen Gewirr von gängigem Opernlibretto und Alltagsjargon, das ein verwirrter Dramatug zusammengeschustert hat.

An einem anderen Tag der Theaterkanal, der eine glückliche Erfindung geblieben wäre, wenn man  die ungenutzten Aufführungsarchive der beiden öffentlich-rechtlichen Sender vor allem verwendet hätte. Das tat man aber leider nicht. Denn schon ist der kleine Kanal in den Fäusten  von Dilettanten. Für den Februar  kündigte man Goldoni als Spielzeitautor an, was natürlich nicht durchzuhalten ist. Also wurde z.B. zur Hauptsendezeit eines der schon beim Primärsender bis zum Überdruß eingesetzten Kriminalspiele  gegeben: „Die Leute wollen es so“. Immerhin hatte irgendein Adjunkt entdeckt, daß im Archiv die Oper „Die vier Grobiane“ nach Goldoni aufbewahrt sei. Die wird zwar nicht zur Hauptsendezeit, sondern am frühen Nachmittag gezeigt. Sie ist, liest man im gedruckten Programm des Theaterkanals, eine Inszenierung von Günther Rennert am Staatstheater Stuttgart  von 1977 und bewährt sich als sehr hübsch mit vielen, vielen Details. Es ist eine der glücklichen Erfindungen von Ermanno Wolf-Ferrari, einem Italo-Deutschen, der fast völlig vergessen ist, obwohl er eine ganze Reihe so reizender Opern geschrieben hat wie die „Grobiane“. Die Oper ist als Sendung  ordentlich dokumentiert, so daß eigentlich gar nichts passieren kann. Dennoch  passiert etwas. Der Dramaturg oder die Dramaturgin lassen in den Programmen ausdrucken:  „Komische Oper  von Giuseppe Pizzolato“. Das ist  natürlich der Librettist, der so erscheint wie auf allen Theaterprogrammen bis heute. Jeder Verständige liest dann das Folgende, nämlich  „Musik von Ermanno Wolf-Ferrari“ so, daß dies die Nennung des eigentlichen Opernverfassers ist. Nicht so die Dramaturgie des Theaterkanals. Dort weiß man von dergleichen Regeln und Rezeptionen augenscheinlich nichts mehr. Als würde ein Tertianer beim ersten Opernbesuch melden, die Oper sei gar nicht von Mozart, sondern von Schikaneder, wird auf eine Oper von Pizzolato hingewiesen, wobei natürlich weder der Übersetzer noch der Bearbeiter der Übersetzung, nämlich Rennert, genannt werden. Und dies, obwohl man nur den Vorspann der archivierten Sendung hätte lesen müssen. 

Beobachtungen wie diese, die alle auf eine erhebliche Reduzierung des geistigen Potentials der Deutschen nach 1945, insbesondere aber nach 1968  hinauslaufen, kann man täglich machen. Sie spielen in der politischen Auseinandersetzung aber so gut wie keine Rolle. Die ist immer nur an der political correctness orientiert und damit an ideologische Voraussetzungen gebunden.

  

III

Wie sich diese Oientierung strukturell auswirkt, kann man am besten  den essayistischen Darstellungen der heutigen deutschen Historiker entnehmen, die insbesondere das 19. und 20. Jahrhundert traktieren. 

Während der „Spiegel“ in früheren Jahren, für manche Felder  bis in die Gegenwart hinein, seine Redakteure mit der Aufgabe von Überblicken betraute, greift man wohl aus Gründen der Gewährleistung der political correctness für Themen neuerer und neuester Geschichte gern auf  Historiker zurück, und zwar auf solche reputierlichster Gestalt.

So kann man über den Nationalgedanken, den Nationalismus und den Antisemitismus in Deutschland  innerhalb einer Serie  in den Spiegel-Heften 7 und 8 des Jahrgangs 2007 zwei Herren deliberieren hören, die nicht nur Historiker sind, nicht nur Professoren, sondern auch anerkannte Kapazitäten ihres Fachs: Hans-Ulrich Wehler  und Heinrich August Winkler.

Wehler  spricht davon für die Zeit des 19. Jahrhunderts bis ca 1890, Winkler  für die Zeit von der Reichsgründung 1871 bis etwa 1990. 

An diesem Zeitraum müssen wir nach wie vor besonders interessiert sein, denn wir fragen trotz aller Antworten immer noch danach, wie eine Nation, die seit der Wende zum 19. Jahrhundert  als besonders humanes und gebildetes, philosophisch, wissenschaftlich und künstlerisch führendes Volk galt, innerhalb von etwa dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur vehement  aggressiv  wurde, sondern auch sich ganz und gar einem Wiener Streuner, der dann zum wilden Rhetoriker wurde, und seinem seltsamen Anhang  aus Leuten zwischen Spinnern und Kleinbürgern anvertrauen konnte. Und wir müssen ebenso nachdrücklich danach fragen, ob dieses Volk nach 1945  zu einer politisch zuverlässigen Gesellschaft geworden ist.

Wehler widmet sich dem Problem des deutschen Nationalgedankens und seiner Wandlungen im 19. Jahrhundert. Wir lesen,daß jener um 1800 sich als „Intellektuellen- nationalismus“(7,57) gezeigt habe, der aus „einigen Professoren, Theologen, Schriftstellern, Studenten und Gymnasialschülern – nicht mehr als gut tausend, großzügig gerechnet -“(7,57), bestanden habe. Diese ‚Gruppe’ habe einerseits „die kulturellen Traditionen und Lebensformen der Deutschen im alten Reich  als nationale Vorgeschichte“ umgedeutet, andererseits habe sie „die Metaphysik der Nationalidee“ (7,57) beschworen. An diese generelle Behauptung , die sowohl für Schiller, Humboldt, Schleiermacher, Stein und Scharnhorst wie auch für Arndt und den „Turnvater“ Jahn in gleicher Weise gelten soll, wird unmittelbar angeschlossen, daß es schon vorher um „die Vorherrschaft der deutschen ‚National-Sprache’“, des deutschen „National-Theaters“ und der „National-Literatur“gegangen sei, die sämtlich im „kulturellen Leben  die Hegemonie der Franzosen“ (7,57) durchbrechen sollten. Das ist nun insgesamt bereits eine so schreckliche Vereinfachung, wie wir sie etwa von Knopp gewohnt sind, aber von Wehler nicht lesen möchten. Obwohl es sich aber bei jenen ‚Ideologen’, zu denen freilich eben auch Schiller, Humboldt und Schleiermacher gehören sollen,  nur um eine kleine Außenseitergruppe gehandelt habe, hören wir  anschließend  hinsichtlich des Nationalgedankens nichts von Sektierern, sondern  davon, daß der Nationalismus schon vor der Revolution von 1848/49, also etwa dreißig Jahre später, nicht mehr übersehen werden konnte, was aber im Kontext keinesfalls als Problem gilt, sondern als affirmiertes  „Massenphänomen“, das sich an Frankreich, England und den USA ebenso orientierte wie an den Aktualitäten des griechischen Unabhängigkeitskampfes (1821 – 30), des  polnischen Aufstands (1830) und  der Rheinkrise von 1840. Und nun gilt in fast  emphatischer Betonung: „Das nationale Gedankengut ergreift breite gesellschaftliche  Schichten, und das in organisierter Form“ (7,59). 

Wie denn: Fordert politische Korrektheit wegen des ‚Massenphänomens’ und der „breiten gesellschaftlichen Schichten“, daß der Nationalismus  nun anzuerkennen und nicht  mehr durch „die Metaphysik der Nationalidee“  gekennzeichnet sei, sondern durch das Streben nach einem ‚liberalen Nationalstaat’, wie ihn der Bamberger Burschenschaftstag(!) von 1827 wollte?  Während also die Humboldt und Schiller mit dem „Turnvater“ Jahn  sich in nationaler Metaphysik verlieren, allerdings auch nur einer Sekte angehören, ist für Wehler der Burschenschaftstag noch nicht drei Jahrzehnten später Repräsentant der Forderung nach dem „liberalen Nationalstaat“ und wiederum wenige Jahre danach gar der Vorläufer der „Speerspitze einer liberalen Organisation mit eigener wagemutiger Publizistik“(7,59). Hier wird die Geschichtsforschung zur Geschichtsklitterung: Die großen Gedanken von Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, aber auch von Stein und Scharnhorst werden nicht nur  den engen Postulaten von Arndt und dem Turnvater Jahn gleichgestellt, sondern auch als besiegte  der Attitude der Burschenschaftler unterworfen.

Das ist als Geschichtsreflexion  so unbefriedigend wie  die These,  daß nach der „Aufbruchstimmung“ (7, 59) von 1848/49 sich die „Kräfte der konservativen Gegenrevolution“ „schon wieder“ durchsetzen(7,61). Doch gleich darauf handelt es sich „bei dem deutschen Nationalismus um eine junge, schwungvolle, nur zeitweilig zu bremsende Bewegung“(7,61). So geht es hin und her: „Aufbruchstimmung“, „konservative Gegenrevolution“, „schwungvolle…Bewegung“. Mit derlei können wir wenig anfangen, und es mutet uns an wie der Versuch, das Bedeutende  zur Sektiererei und das ‚Massenhafte’, weil es  dies ist, zur affirmierten Geschichtsgröße  zu machen. Wir würden gern wissen, wie sich  aus dem angeblich metaphysischen  Konventikel  die Idee vom angeblich „liberalen Nationalstaat“ entwickelt und  sich angesichts dessen die „konservative Gegenrevolution“ wieder durchsetzt und dann abermals der Nationalismus als „junge, schwungvolle … Bewegung“. Nein, es wird offenbar etwas ganz und gar nicht verstanden und das Unverstandene als Erklärung ausgeboten. Was soll uns solche Geschichtswissenschaft? Und wo ist in solchen Thesen ein Moment einsichtiger Analyse?

Ganz ähnlich ist es bei Winkler, der „national“ als etwas durchaus Verschiedenes zu Anfang und zu Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts erklärt.  Auch er sagt nichts dazu, wie es zu diesem behaupteten Wandel kam, warum  noch Anfang der Siebziger „national“ und „liberal“ „fast auswechselbare Begriffe“ gewesen seien und Ende des Jahrzehnts „national“ „anti-international“ bedeutet habe, und zwar als Bekenntnis gegen die Sozialdemokratie, das Freihändlertum und gegen das „internationale Judentum“(8,54). Dies alles wird nun in die engste Nachbarschaft  des „wirtschaftlich, kulturell und rassisch argumentierenden Antisemitismus“ gebracht, der wiederum mit der „Gründerkrise“(8,54)zusammengehangen habe.

Also: der liberale, antisemitismusfreie Nationalismus wird in Windeseile  zu einem

u.a.  rassischen Antisemitismus, und dieser Antisemitismus setzt sich gegen jene Tendenzen durch, die den deutschen Juden noch in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts  den stärksten gesellschaftlichen Akzept innerhalb Nord- und Westeuropas  verhießen. Weiter:  nur „eine Minderheit der Deutschen“  sei während der „Kanzlerschaft Bismarcks“ „den Parolen“ „rassisch argumentierende[r] Antisemiten“ (8,54) gefolgt. Noch  bei den Reichstagswahlen 1917 sei ein Stimmenzuwachs für Sozialdemokraten und  Linksliberale, „wenn nicht gar eine ‚linke’ Mehrheit“(8,55) zu erwarten gewesen. Und  plötzlich ist da eine antisemitische Massentendenz? Was ist das für eine  Argumentationsstruktur, die man etwa in den Sätzen über Thomas Mann besonders  deutlich erfahren kann? Der „war sich nicht zu schade“(8,56), noch im letzten Kriegsjahr  die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ dem Gegensatz   deutscher Kultur vs. westlicher  Zivilisation zu widmen. Wie: „war sich nicht zu schade“, nein, er war ganz entschieden dieser Ansicht, wobei Winkler ausläßt, daß Thomas M. dabei die massive Aversion gegen den Bruder Heinrich bestimmte. Und dann gehört er wenige Zeilen später „zu jener Minderheit von Intellektuellen, die rasch erkannten, daß die erste deutsche Demokratie… sehr wohl an deutsche Traditionen anknüpfen konnte“ (8,56). Vielleicht zu „rasch“ angesichts jenes Buches. Das müßte z.B. gefragt werden, ehe man das, wofür  jener „sich nicht zu schade war“, durch das „rasch“ ausgleicht, so daß Thomas Mann plötzlich zu einer republikanischen Minderheit von Intellektuellen gehörte.

Winkler weiß genau, daß  „in der Regel nicht opportunistische Anbiederung“ „deutsche Akademiker“ „dem Regime[der Nazis] ihre Feder und ihre Stimme“ leihen ließen(8,58), er weiß genau, daß im „verballhornten [!] deutschen Bildungsgut“ Hitlers „sich große  Teile des gebildeten Deutschland immer noch wiedererkennen“ konnten(8,58). Und er weiß schließlich genau, daß das „’Wirtschaftswunder’ der fünfziger Jahre und die rasche Rehabilitierung durch die Westalliierten das  ihre“ taten, „um aus der Bundesrepublik  eine westliche Demokratie zu machen“(8,59). Kann man so viel w i s s e n, wenn es sich  bei näherer Prüfung nur als  Bewertung im Sinne von political correctness erweist? Keine  „opportunistische Anbiederung“ von Akademikern angesichts törichter Parolen, vor  denen eine Minderheit doch deutlich warnte? Im „verballhornten[!] deutschen  Bildungsgut“ Hitlers sollten sich „Teile des gebildeten  Deutschland“ wiedererkannt  haben, obwohl  es doch dessen massive Perversion war? Geht es vielleicht nur darum,  bestimmte Tendenzen zu ‚verstehen’, weil es nichts kostet? Und wurde  die  Bundesrepublik zur ‚westlichen Demokratie vielleicht’  nur wegen des  Wirtschaftswunders  und wegen der „Rehabilitierung durch die Westalliierten“, wie die  Winklersche Formulierung es wider Willen  verstehen läßt?

Jedenfalls sind wir durch  die fachwissenschaftliche Reflexion um keinen Deut klüger hinsichtlich der Entstehung und Bedeutung des deutschen Nationalismus, des Antisemitismus und der Wendung  zur Demokratie. Der „Spiegel“  hat nur ein Mehr an Reputierlichkeit gewonnen  und die Reputierlichen  haben ein Mehr an Honoraren.

  

IV

Hingewiesen werden soll also darauf, daß im breiten Felde der  Alltagskultur sich eine Abwendung  selbst von der Literatur des 20. Jahrhunderts vollzieht, daß selbst Bibliotheken kein sinnvolles Verhältnis mehr zu den ihr anvertrauten Büchern  haben und daß es täglich mehr an informierten, gar gebildeten Vermittlern  der Literatur, des Theaters, der Kunst fehlt und daß diejenigen, die dies Geschäft heute versehen, schon an den einfachsten, erst recht natürlich an den anspruchsvolleren Aufgaben scheitern, es aber offenbar niemanden gibt, der auf Primitivierung, Unkenntnis, Reflexionslosigkeit, sagen wir auf den Mangel an Kultur aufmerksam macht, weil das die politische Korrektheit stören würde. 

Hingewiesen werden soll aber auch darauf, daß daneben der ungeheure Anspruch  gestellt wird,  bspw. selbst  in Wochenblättern, etwa in Serien über  die zentralen  historischen, kulturellen und politischen Fragen der Deutschen angemessen  zu handeln.  Dabei scheint es nur darum zu gehen, Kapazitäten, die das natürlich aus 

dem Effeff  können, über diese Fragen vortragen zu lassen. Was aber ist zu tun, wenn diese Kapazitäten hinsichtlich  von Phänomenen  wie deutschem Nationalgedanken und Nationalismus oder Antisemitismus in Deutschland nicht  mehr zu kompatiblen Argumentationen fähig sind, sondern in einem ständigen Zwar-Aber mit Thesen hantieren, die schon in sich problematisch sind, die aber vor allem keinesfalls zu einer zusammenhängenden Analyse taugen, sondern nur das erwünschte und politisch korrekte Ideologische präsentieren, wovon - und das ist das Tollste -  die Vortragenden selbst  wahrscheinlich nicht einmal etwas merken? So erscheint der Nationalgedanke erst als  einer des Konventikels, dann plötzlich als  liberaler und fortschrittlicher und wiederum  plötzlich als konservativer, bis er zum chauvinistischen und totalitären wird, ohne daß wir  erkennen können, wie das zu dem kommt. Dabei werden bedeutende  Denker zu  Repräsentanten des  Konventikels  und die Burschenschaftler zu Liberalen und Fortschrittlern. Der Antisemtismus  ist eben noch die These  einer abseitigen Minderheit und plötzlich  ein Zentralgedanke der Mehrheit, dem sich auch Akademiker anschließen, und zwar nicht aus Opportunismus, sondern weil sie in den Balhorniaden Hitlers deutsches Bildungsgut erfahren. 

Bei den Rezipienten treffen wir auf eine Lethargie, die nur noch bei Brot und Spielen überwunden wird, bei den intellektuellen Produzenten aber  auf ein purzelbaumhaftes Gedanken- und  Argumentationschaos, das aus dem Wunsch nach einer politischen Korrektheit hervorgeht, die das Vergangene in einem  Aufwasch mal verurteilt und  mal lobt, und zwar wissenschaftlich.

  

  (nach oben)

  

Das wirklich Wichtige

  

Aus dem Kommentar einer würdigen, leicht kölnisch timbrierten Stimme bei Gelegenheit des Rosenmontagszuges 2007 (Hörzeit ca ¼ Stunde):

  

Darauf der Große Senat – Wenn es den Großen Senat nicht gäbe, gäbe es auch

das Karnevalsmuseum nicht – Die größte Friedenstruppe, die sie hier in Köln haben – Der deutsche Botschafter  zusammen mit dem Regierungspräsidenten – Eine Parodie auf den sturen Militarismus – Die Vereidigung eines Funks…geht ganz eigenwillig vor sich – eine Funkenfibel… wird zu einem Preis von 2,50 € an Kölner Schulen verkauft – Wurfmaterial, das in Ländern der Dritten Welt hergestellt wurde – ein Mann, der immer lacht, er hat einen ernsthaften Beruf – in Knubbeln, das ist in Köln „in Haufen“ – Do is he ja. Jott sei Dank der Präsident is im Bild – Die Gesellschaft hat in kürzester Zeit den Weg nach oben gefunden – Sie haben Sorge getragen…

  

Vor Urzeiten hat man versucht, mittels eines solchen Zuges witzig, gar satirisch zu wirken. Als das trotz aller Bemühung nicht mehr gelang, hat man den neuzeitlichen Rosenmontagszug erfunden. Daß bei dem nicht gelacht werden dürfe, ist natürlich Unsinn. Die Textbeispiele zeigen aber, daß es objektiv um den feierlichen Ernst einer Beerdigungsveranstaltung geht. Der ist allerdings durchaus komisch, denn „Spaß muß sein, sonst geht niemand mit zur Beerdigung“. 

  

  

VON DER LITERATUR (UND VOM FILM) 

  

Barockes Trauerspiel 

(A.Gryphius, Carolus Stuardus – D.Casper von Lohenstein, Sophonisbe)

Erster Teil

  

Vom langwährenden Verdikt  des barocken Schwulsts bis hin zur Venerierung des Barock, v.a. in Deutschland seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, zieht sich die literarhistorische Beschäftigung mit dessen lyrischen, dramatischen, erzählerischen Texten hin. Die war v.a. aus  auf Typologien und Formalisierungen, wie sie sich in den Arbeiten zur Rhetorik des Barock  aus den letzten Jahrhzehnten noch einmal  durchzusetzen suchte. Als einer der wenigen hatte es Walter Benjamin anders gemeint und im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“  von 1928 auf die spezifische Sprachlichkeit des barocken Trauerspiels abgehoben. Er sucht sie in der Idee, doch ist sie ebenso in dem einzelnen Text aufzusuchen, zumal dann, wenn der heute nur noch als Material für die Verifizierung von Großbegriffen, mit denen die Idee nicht zu verwechseln ist, gebraucht wird. Denn von der Notwendigkeit der Interpretation ist kaum noch die Rede (s. dazu meine Ausführungen in: Thomas Althaus(Hrsg.), Sprachlichkeit. Zur Thematik und zu den Schriften von Helmut Arntzen. Münster 1999.S.7 – 21).

Aufmerksam ist vor allem zu machen auf die sprachlichen Energien, die unerhört im einzelnen Text sich verbergen und gerade als solche und in ihrer Verborgenheit Erkenntnis des Gegenwärtigen bereithalten, die freilich nicht so kommun ist  wie das, was aus den Novitäten tönt, welche fast allesamt als so geglückt gelten und als so hinfällig sich erweisen

  

(Aus einer Vorlesung WS 1986/87). 

Die Entstehung des barocken Dramas

Das 16. Jahrhundert kennt v. a. das Fastnachtsspiel, das als episodische Komödie zu verstehen ist. Hans Sachs hat die wichtigsten dieser Stücke geschaffen, noch gegen Ende des Jahrhunderts bewegt sich der Nürnberger Jacob Ayrer in den Traditionen dieses Genres.

Daneben ist das humanistische Drama in lateinischer Sprache zu nennen, das an der römischen Tradition, insbesondere an Senecas Dramen orientiert ist. Ebenfalls lateinisch sind die Schuldramen der Zeit mit deutlich didaktischer Absicht, an die ein Jahrhundert später Christian Weise mit seinen deutschen Schulstücken sich anschließt.

Am Ende des Jahrhunderts erscheinen englische Theatertruppen auf dem Festland, nie natürlich die Truppen erster Garnitur. Sie spielen in den Canevas von Stücken Greens, Marlowes, Kyds, auch Shakespeares, übersetzen die Vorlagen grob und verlassen sich auf die mimisch-gestische Sprache. 

An den Texten dieser Truppen sind die Stücke des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig orientiert, der aber in seinen komödienhaften Spielen auch noch das Fastnachtsspiel vor Augen hat.

1593 erscheint seine "Comoedia" "Von einem Weibe" mit dem uralten Schwankmotiv des düpierten Hahnreis, eines von drei Stücken gleichen Themas, die alle die gesetzlichen Maßnahmen des Herzogs gegen "Hurerey und Ehebruch" unterstützen sollen. Die Komödie "Von einem Weibe" verselbständigt sich aber gewissermaßen, sie endet nicht mit der Bestrafung, sondern mit dem Triumph der ehebrecherischen Frau.

Das Stück ist tief pessimistisch, was die menschliche Erkenntnisfähigkeit, ja den menschlichen Erkenntniswillen anlangt. Der Kaufmann Thomas Mercator hat eine unheilbare Augenkrankheit. Die ist aber nicht so sehr ein physiologisches als vielmehr ein Bewußtseinsproblem: er weigert sich immer stärker, zu sehen, was am Tage ist. Zunächst läßt er sich noch mißtrauisch machen durch Hinweise von Nachbarn. Aber als seine Frau ihn immer dreister betrügt, vertraut er ihr immer mehr. Und als ihm schließlich gar der Geliebte seiner Frau alle Vorgänge im Zusammenhang mit dem Ehebruch ausführlich erzählt, läßt er sich dennoch wieder von seiner Frau beruhigen.

Die Massierung des alten Themas nicht nur, sondern v. a. seine Steigerung nach dem Prinzip: je offenkundiger der Betrug, desto blinder der Betrogene, weist auf die wichtige Täuschungsthematik der Barockdramatik voraus. Reflexion entdeckt sich hier als Hinderliches: als Zögern zunächst, dann als günstiges (oder auch ungünstiges) Vorurteil, das durch keine Erfahrung mehr revidiert wird.

Das Stück ist nicht mehr in Viertaktern geschrieben wie das Fastnachtsspiel, aber auch noch nicht in Alexandrinern, sondern in Prosa wie die Spielvorlagen der Engländer.

Deren erste Sammlung "Engelische Comedien und Tragedien" erscheint 1620 (Spieltexte der Wanderbühne hrsg. v. M.Brauneck. Bd 1. Berlin: de Gruyter 1970; die Zahlen im folgenden verweisen auf die Seiten) und wird eingeleitet durch die "Comoedia" "Von der Königin Esther und hoffertigen Hamann", einem Stück mit biblischem Stoff also, den Goethe noch in dem Estherdrama innerhalb des "Jahrmarktsfests von Plundersweilern" aufnimmt. In das Trauerspielgeschehen um Verfolgung und Rettung der Judenheit, wie er im alttestamentarischen Buch Esther erzählt wird, sind komische Szenen, Ehestreit etc. kontrastierend eingefügt.

Zwei Momente vor allem sind solche, die auch für das barocke Trauerspiel zentral sein werden. Einmal die Tyrannengestalt des Königs Ahasverus, dessen Entscheidungen nicht nur immer wieder auf Todesurteile hinausgehen, sondern die v. a.  den treffen, den sie eben noch belohnt und erhöht haben. Ahasver ist, wie Haman, sein allmächtiger Rat, von ihm sagt, sein "selber nicht mächtig" (42). So wird der Tyrann zum Spielball seiner jeweiligen Ratgeber.

Das andere Moment ist die Melancholie, von der der König so sehr betroffen ist wie seine Räte, deren Grund aber, wie Haman sagt, "mir selbst unbewust" ist (64). Beides wird  in diesem Stück aber kompensiert durch die komischen Szenen, die die Grenzen der Tyrannei und der Melancholie zeigen.

Läßt der Tyrann wegen des Ungehorsams der Königin ein Mandat im Reich verkünden, "das ein jedermann Herr und Haupt im Hause seyn soll und die Frawe dem Manne unterthan" (8), so kümmert das die Ehefrau des Hans in den komischen Szenen überhaupt nicht. Hier wird die Frage der Herrschaft allein durch brachiale Gewalt entschieden, die einmal auf der Seite der Frau, einmal auf der des Mannes ist.

Der orientierungslosen bzw. von Haman gesteuerten Machtausübung des Herrschers steht auf dessen Ebene allein die Klugheit der Esther und des Mardocheus entgegen, die die Ausrottung ihres Volkes verhindern; ja Mardocheus versucht sogar zu verhindern, daß der König, nachdem er Haman seiner Stellung entsetzt hat, nun die ganze Sippe Hamans tötet. –

KOENIG.

Mein getrewer Rath HAMAN es were  uns verweßlich vor jederman wann wir sie

[eine Bitte] dir nicht gewehren solten. Sag an deine Bitte und wenn du auch

ein unzehliche grosse Menge Goldes oder Silbers auß meiner Schatzkammer begehretest / hettestu es wegen deines getrewen Raths wol verdient.

HAMAN.

O Großmaechtigster Koenig und Allergnaedigster Herr umb solch grosse Gnade willen mag ich mich wol den allerglueckseligsten Menschen schatzen. Dieses ist meine unterthaenige Bitte ihr Majestaet wolle zugeben das alle Juden das verstrewte Volck in seinen gantzen Lande sambt Weib und Kind und all ihr Geschlecht umbs Leben gebracht und sie also auß ihr Majestaet Landen gantz und gar vertilget und außgerottet werden moegen. So wolt ich alßdenn zehen tausend Centner Silbers geben und deßwegen den Obersten des Landes daß solches in des Koeniges Schatzkammer gebracht werde.

KOENIG

Getrewester Rath HAMAN deiner Bitte sol folge geleistet werden / lebe nach deinen Gefallen mit den angeklagten Volck der Jueden / thue nur so viel boeses an ihnen mit gebloesseten Schwerdt / Fewr Mordt wie dein Hertz geluestet. Das Silber aber so du uns vor dieselben Jueden geben wollest / sey dir dazu zu eigen geben. (44 f)

[...]

KOENIG

Diese vergangene Nacht ist uns laenger gewesen / denn andere drey /weil wir sie mit MELANCHOLICI haben vertreiben muessen / und nichts geruhet /

[ …](58)

  

Gewalt und Melancholie beherrscht auch die Adaptation des frühen Shakespeare- Stückes "Titus Andronicus". Titus hat zu Gunsten eines anderen auf den Thronanspruch verzichtet. Aber eben dies führt zu Beleidigungen, dann zu Verfolgungen des Titus und seiner Familie durch den neuen Kaiser. Titus aber rächt sich auf die schrecklichste Weise. Der Schluß - ein scheinbares Versöhnungmahl - ist ein wechselseitiges Töten aller Hauptfiguren des Stücks. Vespasian, der am Anfang des Trauerspiels den Titus zum Kaiser ausrufen wollte, tritt nun die Herrschaft an.

Hier steht am Ende, worauf Walter Benjamin als auf die bestimmende Ansicht des barocken Trauerspiels hingewiesen hat: „die Bühne ist voller Leichen“ als Zeichen heillosen Geschichtsverlaufs. Sehr bezeichnend auch, wie sich dieses Erscheinen der Heillosigkeit mittels kleinster Störungen und Irritationen ergibt. Zwar gibt es schon ziemlich zu Anfang die Zurückweisung der Tochter des Titus als künftiger Gemahlin des Kaisers, an deren Stelle der neue Kaiser die "Königin aus Mohrenlandt" zur Kaiserin wählt. Aber nicht dies löst das katastrophale Geschehen aus, sondern es genügt nun der Spott der Andronica über die Kaiserin, die Serie schrecklichster Greuel in Gang zu bringen, die unaufhaltbar sich fortsetzen, wobei der Gefolterte als Märtyrer dem Tyrannen gegenübertritt. -

Neben den Dramen der englischen Wanderkomödianten ist noch das Jesui­tendrama zu erwähnen, zwar durchweg lateinisch, aber in wichtigen Zeugnissen auch übersetzt. Es ist bedeutsam für die Barockdramatik, weil es das Vergänglichkeitsthema ganz in den Mittelpunkt stellt und damit ein auch für das barocke Drama zentrales Thema.

Das Stück, das im allgemeinen als das wichtigste dieses Typus angesehen wird, ist der "Cenodoxus" von Jacob Bidermann. Es wurde 1602 erstaufgeführt, erst 1666 jedoch zum ersten Mal gedruckt, erschien aber schon 1635 in einer deutschen Übertragung von Joachim Meichel. Es geht darin um den gelehrten Cenodoxus, der trotz aller Bemühung der Engel und der Einrede seines Gewissens sich nicht von den Todsünden des Stolzes, der Selbstsucht, der Überheblichkeit befreit und darum der ewigen Verdammnis anheimfällt. Den Schluß bildet die Szene des ewigen Gerichts über Cenodoxus und der Bekehrung seines Schülers Bruno, dem der wiedererwachte Leichnam des Cenodoxus die ewige Qual der Hölle vorgestellt hat. Diese Bekehrung zeigt sich - auch das durchaus barock - in völliger Weltabkehr:

  

Brun. Fahr hin der Welt Wollustbarkeit /

Fahr hin all eytle Herrlichkeit:

Hinweck mit euch jhr Klaider zart /

So waicher vnd subtiler art /

Hinweck jhr Ring vnd Guldin Ketten /

Darinn ich bin daher getretten /

In denen vns die eytle Welt /

Gleichsamb für jhre Gfangne helt /

Ihr Würdigkeiten fahret hin /

Wann man von euch hat solchen gwin.

Vnd weil jhr gebet solchen Lohn /

Denen die euch gedienet hon.

Ihr sollt mich nit zum Thoren machen /

Will selber ewrer Torheit lachen.

[…]

Omn. Von Euch so weichen wir kein tritt.

Steph. Wohin jhr geht/gehn wir auch mit.

Doch führet vns nur weit hindan/

Vom Weeg / den der verdambte Mann

Der Cenodoxus gangen ist.

Brun. […]

Mein Sinn steht in ein wilden Wald/

Damit ich dort mein Seel erhalt/

Daß es mir nit auch also geh /

Vnd wie dem Cenodoxo gscheh.

Omn. Diß haben auch wir all im Sinn / 

Wir gehn zugleich mit Euch dahin. 

  

Brun. kniet nider vnd beschleust:

O Gott gib vns dein Krafft vnd Sterck /

Zu disem angefangnen Werck /

Gib Gnad vnd Segen Jesu Christ /

Der du der wahre Heyland bist.

Seel / Hertz vnd Gmüet / sambt Leib vnd Leben /

Sey dir in Ewigkeit ergeben.

Fahr hin /O Welt / mit Guet vnd Gelt /

Fahr hin all Frewd auff diser Welt.

  

(Übersetzung von Joachim Meichel.)

(In: Das Zeitalter des Barock.Texte und Zeugnisse. Hrsg. v. Albrecht Schöne. 2.Aufl. München 1968. S. 335 f)

  

  (nach oben)

  

Es begegnen also Motive und Themen, die auch im barocken Trauerspiel zu finden

sind, daneben  solche - wie das der Weltabkehr -, die im barocken Roman, v. a. im Picaro-Roman, z. B. im "Simplicissimus", vorkommen.

Doch so  zentral  Tyrann (als Melancholiker) und Weltverneiner oder Märtyrer für eine generelle Betrachtung des barocken Trauerspiels auch sind, so sind derlei Kategorien hinsichtlich des einzelnen  Textes nicht allein, ja nicht einmal dominant bestimmend. Denn der literarische Text sänke ja zum bloßen Exempel  von Kategorien herab, und der Leser  wäre nicht aufgefordert, diesen Text, sondern das Allgemeine an ihm  zu verstehen, also eigentlich gar nichts zu verstehen, sondern  nur, als repräsentiere der Text vornehmlich Kategorien, unter diese zu subsumieren.

Es geht daher nun darum,  das Spezifische der  Dramenrede  zweier bedeutender  Stücke des Barock zu beobachten und die dramaturgische wie semantische Funktion dieser Spezifica zu verstehen. Mag die Dramenrede  auch von Tyrann und Märtyrerr mitbestimmt sein, wir bleiben aufgefordert, ihr Spezifisches vor allem anderen zu respektieren.

  

Andreas Gryphius' (1616 - 1664) "Carolus Stuardus" ist wahrscheinlich schon 1650 abgeschlossen gewesen, aber erst 1657 veröffentlicht worden. Ihm war der "Leo Armenius" (1646 abgeschlossen, 1650 erschienen) vorausgegangen. Es folgten die "Catharina von Georgien" (1651 abgeschlossen), "Cardenio und Celinde" und der "Peter Squentz" (1658), 1659 der "Papinian", 1660 das Doppelspiel "Verlibtes Gespenste  und Die geliebte    Dornrose"   und 1663 schließlich der "Horribilicribrifax".

Daniel Casper von Lohensteins (1635 - 1683) Dramen, um diese Daten gleich anzuschließen, sind  in folgenden Jahren vollendet  bzw. gedruckt worden:

Ein frühes Trauerspiel "Ibrahim Bassa" schrieb L. schon auf der Schule; es wurde1653  gedruckt.   "Cleopatra"   erschien 1661,   "Agrippina" und "Epicharis" 1665/66. "Sophonisbe" entstand 1666 anläßlich der Heirat Leopolds I.  mit Margarete von Spanien. 1673 erschien schließlich "Ibrahim Sultan".

  

Gryphius' "Carolus Stuardus"

Gryphius’ Trauerspiel „Carolus Stuardus“ ist zunächst insofern ein erstaunliches Stück,

als es einen Gegenwartsstoff des 17. Jahrhunderts bearbeitet, nämlich die Hinrichtung Karls I. von England am 30. Januar 1649. Schon im März 1650 hat, nach Willy Flemming, der Text der ersten Fassung (A) vorgelegen. Zwar hat Gryphius auch in der "Catharina von Georgien" einen zeitgenössischen Stoff gewählt; dennoch war dies, wie die Stücke von Lohenstein zeigen, keineswegs gängig, ja in Hinsicht auf das klassizistische Theater der Franzosen, selbst auf das elisabethanische Theater ungewöhnlich. - Auf der anderen Seite ist das Stück nicht im geringsten das, was ein heutiger Zeitgenosse bei der beschriebenen Sachlage erwarten könnte:  ein politisches Gegenwartsstück. Weiter wird nicht einmal die in der Fassung  B von 1663, die wir hier behandeln, eingefügte Intrige der Frau des Fairfax, nämlich Karl zu befreien, im heutigen Sinn dramatisch genutzt, es geht also augenscheinlich auch nicht um die Tragik der Person Karls I., der im letzten Augenblick auf Rettung hoffend, wie etwa Schillers "Maria Stuart" , nun umso hoffnungsloser dem Tod entgegensehen muß, als der Plan der Rettung scheitert.

Wenn man den vollen Titel des Stückes liest, nämlich "Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus  König von Groß Britanien", so deutet sich dem aufmerksamen Leser eher so etwas wie die Umkehrung des Erwarteten an. Nicht geht es um das Aktuelle, das mir heute auch in historisch entfernten Gegenständen und Fabeln vermittelt werden soll, sondern um das Typische, das auch im Gegenwärtigen erscheinen kann. "Ermordete Majestät" ist das Thema, dessen gegenwärtiges Exempel ist "Carolus Stuardus". -

Historisch ist folgendes festzuhalten: Karl, verheiratet mit einer Schwester Ludwig XIII., von Frankreich, begünstigt die Katholiken und tendiert auf königlichen Absolutismus. Die Auswanderung der Puritaner nach Amerika beginnt. Karl ist im ständigen Streit mit dem Parlament, das er 1629 für 11 Jahre entläßt.

Der Erzbischof von Canterbury William Laud will die königliche Kirchenpolitik durchsetzen und bekämpft den Puritanismus.

1640 wird gegen den engsten Berater des Königs Thomas Wentworth, den Earl of Strafford, Anklage vor dem Parlament erhoben, weil er England militärisch habe unterwerfen wollen. Der König unterschreibt unter dem Druck der Londoner Massen  schließlich das  Todesurteil   gegen ihn.   Es   kommt zu weiteren Auseinandersetzungen mit dem Parlament. 1642 muß Karl aus London fliehen.

Seitdem herrscht Bürgerkrieg in England; gegen König, Adel, viele Städte und die Katholiken stehen die Parlamentspartei, v. a. die sogenannten Independenten, religiöse Puritaner aus kleinem Adel und freien Bauern, unter der Führung Oliver Cromwells,  der sich ein Reiterheer schafft,  die Ironsides.  1644 wird das königliche Heer geschlagen, 1645 Erzbischof Laud hingerichtet, 1647 Karl, der nach Schottland geflohen war, von den Schotten ans Parlament ausgeliefert. Das Rumpfparlament macht dem König den Prozeß und verurteilt ihn zum Tode, in England wird 1649 der Freistaat ausgerufen, der 11 Jahre besteht. -

Die erste "Abhandelung" des Trauerspiels enthält den Plan der Frau des Feldherrn Fairfax, Karl zu befreien, einen Plan, den sie ihrem Manne nahezubringen sucht.

In einer anderen Szene besprechen Peter, Hewlet und Axtel, Vertreter der Independenten, welche Maßnahmen nötig sind, um die Vollstreckung des Todesurteils an Karl zu sichern.

Der „Chor der ermordeten engelländischen Könige“ reflektiert die Bedeutung des Todesurteils.

In der zweiten "Abhandelung" sprechen die Geister der beiden Vertrauten des Königs, des Earl of Strafford und des Erzbischofs Laud, über die Gründe und Wirkung des Todesurteils gegen Karl; beide waren vor dem König auf den Spruch des Parlaments hingerichtet worden. Dann folgt ein Monolog des Geistes der ebenfalls hingerichteten Maria Stuart über den Aspekt des Unrechts des Todesurteils gegen Karl. Erst jetzt erscheint Karl im Gespräch mit dem Bischof Juxton: Der König ist einverstanden mit seinem Tod. Im anschließenden Gespräch mit seinen Kindern stellt er ihnen die Schwere der königlichen Stellung, die Bedeutung des Rechts und der Ergebung in Gottes Willen vor.

Der abschließende "Chor der Syrenen" weist auf die katastrophale Änderung des

Weltlaufs durch den geplanten Königsmord hin.

In der dritten "Abhandelung" gibt es nach einer kurzen Szene zwischen Fairfax und seiner Gemahlin einen Disput zwischen den Revolutionären über die Frage der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit des Urteils.

Zwei Obersten reflektieren den militärischen Sinn einer Befreiung des Königs.Ginge er ins Ausland, so würde er als ständige Gefahr für die Independenten Einheit und Größe des Heeres garantieren.

In einer Wechselrede zwischen Fairfax und Cromwell, zu denen Hugo Peter, ein Independentenführer, hinzukommt, geht es um die Unabänderlichkeit des Geschehens, um das neue, durch Gewalt gesetzte Recht und um die neue Freiheit. Nach einem Monolog des Fairfax kommen die Gesandten des Pfalzgrafen und Hollands: Sie sprechen über die Wirkungen des Urteils.

Zwei englische Grafen sprechen darüber aus der Sicht der englischen Ver­hältnisse. In einer weiteren Szene weist Cromwell den schottischen Gesandten mit seiner Bitte ab, das Leben des Königs zu schonen: Man könne nicht in den Weltlauf eingreifen.

Der Chor der englischen Frauen und Jungfrauen sieht den Tod des Königs als Ende Englands.

Die vierte Abhandlung wird v. a. durch Karl bestimmt, der sich in einem langen Monolog auf seinen Tod vorbereitet, indem er sich auf die Erlösung durch Christus beruft. In einem kurzen, kontrastierenden Monolog ruft Hugo Peter Gott zur Bestätigung des Todesurteils an. Eine Szene zwischen Fairfax' Gemahlin und den Obristen zeigt das wahrscheinliche Scheitern der Bemühungen von Fairfax um die Rettung des Königs.

Im „Chor der Religion und der Ketzer“ bleiben diese mit den Fetzen des Mantels der Religion zurück.

Am Anfang der fünften Abhandlung steht ein Dialog des kurpfälzischen Gesandten und eines englischen Grafen, in dem vor allem die Analogie zwischen dem Leiden Christi und dem des Königs hergestellt wird. Ein Bericht des Grafen über die Verzweiflung des Volkes schließt sich an.

In einem längeren Monolog beschuldigt sich der wahnsinnig gewordene Poleh, "einer aus des Königs Richtern", des Königsmordes.

Die vorletzte Szene ist die auf dem Richtplatz unmittelbar vor der Hinrichtung Karls, dessen Tod nur durch eine Art Mauerschau der "Jungfrauen an den Fenstern" vermittelt wird.

Das Stück schließt mit dem Chor der Geister der ermordeten Könige und dem Epilog der Rache, die Englands Unheil heraufruft. -

Die Inhaltshinweise lassen bereits klar erkennen, daß es nicht etwa um das persönliche Schicksal Karls geht. Die Szenen zwischen Fairfax'  Frau und ihrem Mann oder die zwischen den Gesandten, die ja bei einem neueren dramaturgischen Verständnis den Aufbau einer Intrige zugunsten des Königs erwarten lassen, bringen v. a. Erörterungen und Dispute über die Bedeutung des Todesurteils und des Todes als dessen Folge.

Der Haupttitel des Stückes geht bereits von dem Vollzug der Hinrichtung aus ("ermordete Majestät"), macht also den Tod zum Faktum und  in einem zum Problem, indem er das Faktische bewertet und diese Bewertung (‚ermordet’) zum Attribut eines Nomens macht, zu dem es eben als Attribut gewissermaßen nicht gehören darf. Es geht also um Bedeutung nicht nur, sondern um Bedeutung eines Unerhörten, ja Undenkbaren. Dies macht die Einheit des Ganzen aus, von dieser Perspektive wird keinen Augenblick abgewichen. 

Nun ist eine neuere Auffassung, die v. a. Albrecht Schöne (Postfigurale Gestaltung. Andreas Gryphius. In: Gerhard Kaiser (Hrsg.), Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Stuttgart 1968. S. 117 – 169) vertreten hat, daß es sich bei der Darstellung Karls im Trauerspiel um eine imitatio der Passion Christi vor allem handle, um eine Post-Figuration, wie gesagt worden ist. Wir treffen ohne Zweifel auf diese Analogie v. a. in der fünften Abhandlung. Aber ob dies das Ganze ist, zumal in Hinsicht darauf, daß es sich um ein Drama (in welchem Sinne immer) und nicht um eine Erzählung oder eine Legende handelt, bleibt eine Frage, die wir im Durchgang durch das Stück prüfen müssen. -

Auffallend ist wohl auch sofort, daß die erste und die dritte Abhandlung die Figuren in den Mittelpunkt stellen, die die Hinrichtung des Königs aus dieser oder jener Sicht reflektieren, die zweite und die vierte aber v. a. die Reflexion des Königs selbst vermitteln. In der fünften Abhandlung begegnen sich diese Reflexionen als Innen- und Außenperspektive des gleichen. Gryphius hat dem Text des Trauerspiels "Kurze Anmerckungen" folgen lassen, die nicht allein die barocke Lust an der Gelehrsamkeit repräsentieren, sondern auch für die historische Wahrheit des Dargestellten zeugen sollen, allerdings nicht im Sinne eines modernen Historismus. Historische Wahrheit bedeutet  hier nicht, daß ein historischer Vorgang dramatisiert worden wäre, vielmehr, daß die bewußte Auswahl aus dem historischen Material, die Gryphius für sein Werk getroffen hat,  belegt, wie stark  in der   Historie schon angelegt   ist,  was der bedeutunggebende Dichter explizit macht..Dies könnte z.T. an Schillers Geschichtsdrama erinnern, das sicherlich auch Züge des barocken Trauerspiels noch zeigt.

Aber sehen wir genauer zu. Nennt Schiller bis zum "Don Carlos" die Teile des Dramas Akte, von der "Maria Stuart" an (mit Bezug auf das theatralische Moment des Dramas) diese Teile "Aufzüge",  so heißen sie bei Gryphius "Abhandelungen". Und abgehandelt, d.h. redend reflektiert wird gleich zu Eingang die bevorstehende Hinrichtung des Königs durch "die Gemahlin des Feld Herren Fairfax":

  

So ist / ihr Himmel / dann die letzte Nacht verhanden.

Die wie man leider waehnt / den König in den Banden  

Doch auch bey Leben find / und drewt der nächste Tag 

Des froemsten Fürsten Hals mit dem verfluchten Schlag /

Der  Krone / Zepter / Reich und Throne wird zusplittern /

Vnd die erschreckte Welt durch disen Fall erschuettern?

Sind aller Hände los? Wil nimand widerstehn?

Sol Carl vor seiner Burg so schändlich untergehn?

Vnd wie leicht Glück und Zeit sich ändern und verkehren 

Durch den verfluchten Tod ohn Seel und Haubt bewehren?

Bebt die ihr herscht und schafft! bebt ob dem Trauerspill!

Der welchem Albion vorhin zu Fusse fill: 

Soll auf dem Mord-geruest in seiner Haubt-Stadt sincken 

Vor schnoeder Hencker Fuß! dem alles auff ein Wincken 

Zu Dinst und Willen stund; wird freventlich gefast 

Verurtheilt und enthalst vor seinem Erb-Palast! 

Kein Man beut Hand noch Huelff ! ist schon das Land bestuertzet;

Traurt gleich das weite Reich / doch bleibt der Mutt verkuertzet!

Ein unerhoerte Furcht nimt aller Seelen ein /

Der Britten König steht in Albion allein! (W 14 f)

(Andreas Gryphius, Carolus Stuardus. Trauerspiel. Hrsg. von Hans Wagener. Stuttgart  1972. S. 13 f.  W + Seitenzahl)

  

Die ersten 20 Verse des Eingangsmonologs gelten allein der Reflexion der für den nächsten Tag bevorstehenden Hinrichtung, aber nicht einer psychologischen Reflexion, sondern sofort der allgemeinen, ja universellen Bedeutung des "verfluchten Schlags": Krone und Zepter, also das Königtum, "Reich und Throne", also der Staat, würden dadurch zerstört, "die erschreckte Welt" gilt als tief mitbetroffen. Dann erst wird des Königs selbst gedacht, aber eben des Königs, nicht der Person Karls. Es geht um den Glücksumschlag des Herrschers, um seinen tiefen Fall, die Wendung vom Tyrannen um Märtyrer.

Erst im zweiten Teil des Eingangsmonologs entdeckt die Frau des Fairfax ihren Plan, den König mit Hilfe ihres Mannes und anderer Vertrauter zu befreien. Und wieder wird dabei in den Vordergrund "unser Heil und Brittens Ehr", die allgemeine Bedeutung der Tat gestellt, dann erst ist die Rede von der persönlichen Bedeutung: dem eigenen Ruhm.

Genau umgekehrt argumentiert z. B. Mortimer bei Schiller in der Szene (I, 6), in der er Maria Stuart seinen Befreiungsplan entdeckt. Er fühlt sich ganz aus dem persönlichen Erleben, dem sinnenhaften des katholischen Rituals, dann aus dem Erlebnis der Konversion, schließlich aus dem der Begegnung mit Maria zu seiner Tat gedrängt. Und nicht die Rettung Schottlands ist der Grund für seine Konspiration, sondern die schließlich unverhüllte, ja gewalttätige Liebe zu Maria und der Haß gegen Elisabeth: "Geh, falsche, gleisnerische Königin! ... Recht ist's / Dich zu verraten, eine gute That!" (II, 6). Hier erweist sich, daß Schillers  Stück auch wesentlich anderes  zeigt als das barocke Trauerspiel des Gryphius.

Ein Wort fällt am Anfang von Gryphius' Stück, das immer wieder auftaucht und mit seinem Synonym von fast allen Figuren mindestens einmal gebraucht wird, also auch von den Gegenspielern Karls: Es ist das Wort "Trauerspill" bzw. "Jammerspill". Eigentümlich genug: In einem Trauerspiel sprechen dessen Figuren mit Bezug auf das Dargestellte ebenfalls von einem Trauerspiel. Der Begriff ist nicht nur ein wichtiger Repräsentant der Einheit, und zwar der Bedeutungseinheit des Ganzen. Er weist auch darauf hin, wie die Figuren das Geschehen auffassen. Nicht als Handelnde, die zwar auf ihr Eingreifen ins Geschehen sich  redend beziehen, die aber v. a. agieren, sondern als Reflektierende, die den Sinn dessen ergründen wollen, was geschieht und was als mehr oder minder unabwendbar angesehen wird (denn auch der Plan der Frau von Fairfax ist mehr ein Postulat dessen, was geschehen sollte, als eine dramatische Intrige).Die Figuren sind selbst bereits Zuschauer, fiktionale Zuschauer, die den realen Zuschauer anweisen, ihre Perspektive mit -  bzw. nachzuvollziehen.

Die folgende Szene zwischen Fairfax und seiner Frau wirkt am ehesten wie die

eines Dramas der klassischen und nachklassischen Zeit: Fairfax wird von seiner Frau allmählich überredet, sich für Karls Befreiung zu verwenden. Aber auch hier sind zentrale Stellen der Hinweis von Fairfax auf den König als freiwilligen Märtyrer und die Ermahnung der Gemahlin des Fairfax: "Mein Trost! Er nehme doch des Höchsten Lehr in acht!" (W 20). Es geht also um einen ersten Hinweis auf den Tod des Königs als imitatio der Passion Christi, und es geht um das Verhalten des Feldherrn, aber nicht vor allem als politisch kluges oder richtiges, obwohl Fairfax' Gemahlin auch davon spricht, sondern als eines, das der Situation des Königs als Postfiguration Christi entspricht. 

In genauer Opposition dazu steht die letzte Szene der ersten Abhandlung: Hugo Peter, der Führer der Independenten, und die Obristen Hewlet und Axtel reflektieren den Tod des Königs wie die Gemahlin des Fairfax, nur aus dem genau entgegengesetzten Aspekt. Die Bedeutung der Hinrichtung des Königs liegt nicht in der Zerstörung des Staates, sondern in dessen Rettung. Der König folgt nicht dem sich opfernden Christus nach, sondern wird als "Schuld-Opfer" bezeichnet, von einer imitatio Christi ist also nicht die Rede. Und nun entsteht eine eigentümliche, aber für das Drama sehr bezeichnende Dialektik: während des Königs Märtyrertum den "Sündern", also denen, die seinen Tod billigen und herbeiführen, nicht Erlösung, sondern Verdammnis bringen wird, soll die Opferung des schuldigen Königs, des "Mörders", wie es ausdrücklich heißt, gerade "Christus Kirch'" retten. Es deutet sich eine Verkehrung der dogmatischen Voraussetzungen an. Diese Dialektik  wird im "Chor der ermordeten Engelländischen Könige" aufgenommen, der die erste „Abhandelung“ beschließt:

  

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Chor der ermordeten Engellaendischen Koenige.

 

                             I. Chor.

      Die heisse Pest die Kirch und Herd / 

      Vnd gantze Reich in nichts verkehrt / 

      Auffruehr / das Ebenbild der Hellen /

      Daß die mit Blutt gefaerbten Wellen /

      Mit tausend Leichen ueberdeckt       

       Vnd das verderbte Land befleckt / 

       Wil nach den Buergerlichen Krigen / 

       Auff Stuards truebem Mord-Platz sigen. 

  

  

                           I.Gegen-Chor.

      Was hat dich Albion erhitzt? 

      O Land mit Koenigs Blutt durchspritzt? 

      Machst du mit einem tollen Streiche 

      Dich selbst zu einer todten Leiche? 

      Das Beil daß du auff Carlen wetzt 

      Wird deiner Ruh' an Hals gesetzt. 

      Habt ihr wol je nach unsern Wunden 

      Ihr Koenigs Moerder Ruh gefunden?

  

  

                           I. Abgesang.

      HErr der du Fuersten selbst an deine stat gesetzet 

      Wie lange sihst du zu?

      Wird nicht durch unsern Fall dein heilig Recht verletzet? 

      Wie lange schlummerst du?

               

     

                          II. Chor.

      Wahr ists! ein Fuerst der frevelt dir / 

      Vnd du hast Mittel da und hir / 

      Dein Recht / das ewig Recht muß zihren / 

      Durch Menschen Vnrecht außzufuehren. 

      Wird aber das verkehrte Reich / 

      Erquickt durch seines Koenigs Leich? 

      Vnd steht es frey den Mord zu wagen 

      Vnd die Gesalbten außzutagen?

  

  

                         II. Gegen Chor.

      Zu tagen vor ein blindes Recht! 

      Da ueber Herren spricht ein Knecht! 

      Da was der Vnterthan verbrochen / 

      Wird durch des Fuersten Mord gerochen. 

      Des Fuersten / dessen hoechste Schuld 

      Kein ander / als zu vil Geduld! 

      Wird diß mit Wolthun noch beschoenet? 

      Heist daß nicht Recht und Gott verhoenet!

  

  

                        II. Abgesang.

      Meer / Himmel / Lufft und Erd' hat sich auff dich verschworen / 

      Verblendet Brittenland!

      Die Straffen brechen ein! du hast dein Haubt verloren 

      Vnd taumelst in den Sand!

  

  

                        III. Chor.

      Ach! Insel rauher denn dein Meer !

      Die jederzeit der Moerder Heer 

      Auff deine Printzen außgeschicket / 

      Die du Meyneydig hast verstricket. 

      Wer fil nicht hir nach herbem Hohn 

      Durch Schwerdt / durch Pfeil / durch Gifft vom Thron.

      Nur diß ist new: mit tollen Haenden 

      Der heil’gen Themis Richt-Axt schaenden.

  

  

                       III. Gegen Chor. 

      Auff neue Laster zeucht auch ein 

      Der unerhoerten Straffen Pein! 

      Krig / Erdfall / Seuchen / faule Lueffte 

      Gehn noch nicht gleiche deinem Giffte. 

      Was eines jeden der gekroent / 

      Vnd durch dich hinfil / Mord außsoehnt; 

      Wird wider dich zu Felde zihen. 

      Wer kan des Hoechsten Faust entflihen?

  

  

                      III. Abgesang.

      Weicht Geister! Britten ist kein Ort vor stille Seelen!

      Entweicht dem Traurgericht!

      Entziht dem Mord-Tumult / der ungeheuren Hoelen /

      Eur weinend Angesicht.      (W 25 ff)

 

Dieser Chor erinnert äußerlich an den Chor der antiken Tragödie. Aber  in dem erscheinen die Bürger der Polis, die das Spiel ständig kommentierend begleiten. Hier aber sind es Tote, die das Stück reflektieren, und zwar in Form der sogenannten Pindarischen Ode mit Strophe, Antistrophe und Epode, und die Dreiheit der Einzelteile der Ode wiederholt sich noch einmal im Ganzen: drei dieser dreigeteilten Einheiten machen das Ganze dieses Chors aus. Das deutet auf Gegensatz wie auf Synthese innerhalb der Einheit des Ganzen. Aber warum gerade im Chor der "ermordeten Engelländischen Könige"? Der macht doch aus dem Thema "Ermordete Majestät" ein häufiges historisches Ereignis, so daß die Hinrichtung Karls nur ein weiterer Fall, aber gerade nicht das bedeutende Exemplum wäre.

Die erste Einheit spricht in der Tat von der Analogie zwischen der jetzigen Tötung eines englischen Königs und den früheren. Aber gleichzeitig wird das Thema von der bisher unerhörten Tat mit  ihren unerhörten Folgen aufgenommen.

  

      Machst du mit einem tollen Streiche 

      Dich selbst zu einer todten Leiche?

  

fragt der erste Gegen-Chor. Das eben ist ein anderer Zustand, nämlich einer der allgemeinen Vernichtung, als der, für den die andere Frage des Gegenchors gilt: 

  

      Habt ihr wol je nach unsern Wunden

      Ihr Königs Mörder Ruh gefunden?

  

Hier wird ein Widerspruch erkennbar, der nicht gelöst wird: 1. Die Königsmorde in England, von denen dieser einer ist; 2. diese Hinrichtung, die ganz unvergleichlich ist.

Der zweite Chor antwortet gar nicht auf diesen Widerspruch, sondern führt einen gänzlich anderen Aspekt ein: Fürsten sind nicht schuldlos. Mehr: Gott straft solche Fürsten nicht nur, um ewiges Recht durchzusetzen, er straft sie sogar mittels menschlichen Unrechts. Aber nun wird das Thema des Königsmordes wieder aufgenommen: Ist eben der die Weise, das ewige Recht durchzusetzen? Ja, der Schluß des zweiten Chors nennt bereits das Thema, das der zweite Gegenchor aufnimmt; es ist in jenem Schluß erst Frage: nämlich die Frage, ob das Verhältnis des göttlichen Rechts und seiner Durchsetzung sogar durch menschliches Unrecht ersetzbar sei, durch ein menschliches Recht, das im zweiten Gegen-Chor bereits als "blindes Recht" behauptet wird. Es geht also sehr deutlich um das Verhältnis verschiedener Rechtsbegriffe, wie sie übrigens auch anderwärts bei Gryphius eine Rolle spielen: so z. B. im "Papinian".

Nicht der Königsmord schlechthin ist das zentrale Problem, es ist das Spezifische dieses Königsmordes. Nicht ist, wie nach moderner Interpretation des Absolutismus erwartet werden müßte, der absolute Fürst sakrosankt: Vergeht er sich gegen das ewige Recht, bei welchem Begriff immerhin an das Naturrecht gedacht werden darf, so kann dieses Recht sogar durch Unrechtshandlungen wiederhergestellt werden, wenn das Gottes Wille ist.

Das Problem ist das "blinde Recht", "da über Herren spricht ein Knecht".  Denn es ist  ein Hinweis auf eine Umkehrung, auf eine Revolution unter der These, diese stelle eben das, was das Überwundene, Abgeschaffte bedeutet habe, wieder oder erst her: nämlich Recht. Und gerade diese Umkehrung ist das  Unerhörte.

Der dritte Chor deckt auf, was im ersten Chor noch latent war: das Verhältnis der zahlreichen historischen Königsmorde in England zu der Hinrichtung Karls. Keine Rede ist darin von der 'heilen Welt' früherer Zustände. Die Ermordeten geben den Königsmord geradezu als das Normale der Geschichte aus:

  

      Wer fil nicht hir nach herbem Hohn 

      Durch Schwerdt / durch Pfeil / durch Gifft vom Thron.

  

Die Weltgeschichte ist in dieser Reflexion ein Leichenberg. Und dennoch gibt es die entscheidende Nuance der letzten beiden Zeilen des dritten Chors:

  

      Nur diß ist new: […]

  

Die Perspektive ändert sich vollkommen. Was immer war, war nicht das Bessere. Aber das Neue ist das Schrecklichere:

     

      […] mit tollen Händen 

      Der heil'gen Themis Richt-Axt schänden.

  

Es ist nicht so sehr das Schrecklichere, weil Schrecklicheres sich faktisch ereignet. Was der "unerhoerten Straffen Pein" sei gegenüber "Krig / Erdfall / Seuchen / faule Lueffte" wird nicht etwa in drastischen Hinweisen gesagt. Nicht mehr als daß es "unerhoerte Straffen" seien, wird gesagt. Aber wegen welches Neuen, das das Schrecklichere ist? Dieses Neue ist, daß nun das offenbare Unrecht, ja die völlige Verwirrung aller Rechtsvorstellungen als Recht sich durchsetzt. Die Differenz zwischen den immer schrecklichen Taten der Geschichte und dem Bewußtsein ihres Unrechtscharakters soll nun verschwinden.

"Nur diß ist new" - hier deutet sich etwas an, das dieses barocke Trauerspiel in ganz ungewöhnlicher Weise vorausdeutend macht, obwohl es sich doch um nichts anderes denn um eine literarische Interpretation eines längst historisch interpretierten Geschehens handelt, das für den Historiker zwar noch von Interesse, aber keineswegs von universeller Bedeutung ist. Aus der Fiktion des Chors der ermordeten Könige entwickelt sich allmählich ein Teil der Intention des Trauerspiels, und zwar als Intention der modernen Geschichte. –

                                                                                                                (wird fortgesetzt)

  

  (nach oben)

  

The Queen

  

heißt der Film, der die Geschichte Elizabeth’ II. bei Gelegenheit  des Todes der Prinzessin Diana wie eine Dokumentation darstellt. Nicht nur spielt er wie der „Carolus Stuardus“des Gryphius im englischen Königshaus, die heutige Königin ist auch, repräsentiert von der sehr beachtlichen Helen Mirren, wahrhaft die letzte Nachfahrin des Königs, der nach Gryphius als Opfer der Veränderung durch „neues Recht“, das sich als „blindes“ erweist, aufs Schafott kommt. 

Der Film ist  die Farce jenes Geschehens, nicht nur weil die heutige Königin eben nicht geköpft wird, obwohl selbst der Film-Tony Blair in einer erregten Szene gegenüber seinem zynischen Adlaten mit der Assoziation  einer blutigen Verfolgung, die der Königin  zugefügt werde, operiert.

Von wem? Von  den neuen Mächtigen, die nur scheinbar das Kollektiv des Demos sind, aus dem die Hysterie  hervorgeht, die tote Prinzessin, die keine Princess of Wales mehr ist, aber, dank der Erfindung Tony Blairs, die „Prinzessin des Volkes“, möge von der Königin öffentlich geehrt werden. Die neuen Mächtigen sind natürlich die Medien, vorweg Fernsehen und Yellow Press, die das Volk instrumentalisieren und die Königin zu ihrer Angestellten machen.

Natürlich kann man sagen, schon das „neue Recht“ bei Gryphius  habe jeden König Großbritanniens, der nach der „Ermordeten Majestät“ kam, zum Funktionär der Öffentlichen Meinung gemacht. Vor dem König muß zwar noch heute der neue Premierminister knieen, um den Regierungsauftrag (my government) zu bekommen, den er aber durch das Wahlergebnis  schon hat, so daß das Ganze ein historisches Spiel ist, das dem Volk Unterhaltung schafft und das den Medien die Stichworte liefert, die sie brauchen, um zwischen Ironie und Beschwörung ihre Spiele inszenieren zu können.

Diese Königin, die ihr Leben lang  meinte, sie könne durch Würde um des Staates willen einen Rest des Königtums retten und solle zwischen Privatem und Öffentlichem trennen, muß sich nun klar machen, daß sie nur noch als Medienangestellte akzeptabel ist, sonst aber gar nicht. 

Die Pflichten, von denen sie sinniert, sind nicht mehr Pflichten gegenüber dem Vereinigten Königreich, sondern Pflichten gegenüber dem „neuen Recht“, das auch nicht mehr die Demokratie, sondern deren einst beiläufigster Zweig ist, jenes unartikulierte Geschrei von Sensationismen, das deren Verwalter zur eigentlichen Macht hat werden lassen, indem sie den Demos wie den Monarchen tanzen oder heulen lassen,so wie sie es eben brauchen.

  

  

VON DER DEUTSCHEN POLITIK

  

Filsers Erben

  

Der erzwungene  Abgang  Edmund Stoibers macht eine Sitzung des Bayerischen  Landtags interessant. Aber nicht darum, weil man hoffen dürfte, daß der  Ministerpräsident oder irgendjemand aus der CSU etwas über diesen Abgang sagen  würde. Jeder weiß, daß das nicht geschehen wird.

Auch der Antrag der Oppositionsparteien SPD und Grüne über die Abwahl des  Ministerpräsidenten ist selbstverständlich nicht mehr  als die traurige Bemühung eines  Drittels der Mitglieder des Landtags, in einer grotesken Situation auch etwas zu tun,  obwohl sie bei den herrschenden Mehrheitsverhältnissen gar nichts tun können.

Interessant ist eine solche Sitzung darum, weil sie die Arbeit eines deutschen  Landesparlaments zeigt. Diese Arbeit ist eingebettet in einen sogenannten  Internet-Auftritt, der u.a. ein Landtagsamt vorstellt,an dessen Spitze ein  Ministerialdirektor, also der Gipfel der Beamtenschaft, ein Ministerialdirigent und ein  Leitender Ministerialrat stehen. Mit ihnen wäre sicher die Leitung der Reichskanzlei unter  Bismarck ausgekommen. Über diesem Landtagsamt thront ein Präsidium, an dessen  Spitze ein Präsident und zwei Vizepräsidenten. Das genügt,  um sich vorstellen zu  können, wieviele Beamte und Angestellte nötig sind, um Präsidium und Vorstand des  Landtagsamtes  zu ermöglichen.

Der Fraktionsvorsitzende  der SPD spricht einmal davon, daß die laufende Sitzung eine der seltenen sei, in der der Ministerpräsident in corpore auftrete. Der hält mithin die seltenen Plenarsitzungen des Landtags für einigermaßen irrelevant.

Diese ganze Veranstaltung ist also eine Farce, da, was hier entschieden wird, immer schon entschieden ist, denn die zwei Drittel der Mehrheit machen unter sich aus, was  beschlossen wird. Überdies haben diese Parlamentarier kaum Nennenswertes zu beschließen,  da dies in Brüssel und Berlin geschieht. Die einzigen, die wichtige Entscheidungen treffen oder doch mittreffen, sind die Regierungschefs der Länder(bis auf die Stadtstaaten). Ein Teil dieser Entscheidungen fällt ihnen zu,  weil das Grundgesetz bestimmt, daß die Administration der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes mitwirkt, was auf die Gewaltenteilung in unserem Land ein Schlaglicht wirft. Dieses Verschwinden der Gewaltenteilung – letzteres  als die zentrale Qualität der Demokratie behauptet --,  ist nicht bloß ein Moment, sondern das Charakteristikum der politischen Entscheidungen auf der europäischen Ebene, der wir alle zustreben sollen.

Die Farce „Plenarsitzung des Bayerischen Landtags“ wird durch einen Subaltern- beamten eingeleitet, der im Kostüm des Fraktionsvorsitzenden  der SPD auftritt und mit gemäßigtem Zorn sich über die Mehrheitspartei und den Ministerpräsidenten hermacht. Er tritt mit einer Suada an, die an kritische Bemerkungen eines kommunalen Amtsleiters in einer Referentensitzung erinnert und ihre politische Zuspitzung in der wiederholten Bemerkung erfährt: „Das ist die Wahrheit“. Damit macht er sich zum mannhaften Verteidiger der Interessen des Freistaates Bayern und seiner Bürger, ohne sich offenbar klar darüber zu sein, daß die große Mehrheit dieser Bürger nicht seine Partei, sondern die Mehrheitspartei gewählt hat, also nur die Wahl eines anderen Volkes seiner Empörung das realpolitische Fundament liefern könnte. Die Entscheidung, meint er, gehöre in die Hand des Volkes, aber das Volk hatte sie ja gemäß den Bestimmungen der Bayerischen Verfassung schon in der Hand  und läßt nun die eine  die andere waschen.

Kurz, er giftet gegen die „Arroganz der Macht“, tut aber so, als hätte er keine Ahnung davon, daß die Wähler die Macht und ihre Arroganz  nicht ihm, sondern denen gegeben haben, die ihren Ministerpräsidenten nun zum Rückzug bringen. Er wäre natürlich froh, wenn e r diese Macht hätte, die Arroganz käme dann von selbst dazu.

Jenseits solcher semantischer Überlegungen bleibt festzuhalten , wie ein Verwaltungsbeamter, der alle Fehler bis zu grammatikalischen macht (er hat natürlich Germanistik studiert), die man als politischer Redner nur machen kann, sich hier als Fraktionsvorsitzender der ältesten Partei Deutschlands  zu bewähren sucht.

Wird er übertroffen von der danach auftretenden alleinerziehenden Mutter, die für die Grünen das spricht und so spricht, wie man es vor dreißig Jahren erwartet hätte? Auch sie hat Germanistik studiert und macht trotz des Papiers, von dem sie abliest, grammatische Fehler. Sie hat nicht den Hauch eines Gedankens, während ihr der Akten abarbeitende Ministerpräsident, den das alles gar nichts anzugehen scheint, nicht zuhört.  Ihr fällt wiederum nicht einmal das ein, was ihr Vorredner für einen Einfall gehalten hat. Man hat schon einen Tag später nur die Erinnerung an eine trübselige Sozialwissenschaftlerin und nimmt zur Kenntnis, daß sie ebendies auch wirklich ist.

Nachdem die beiden Oppositionspolitiker ihr Nichtssagendes aufgesagt haben, betritt  der erste Tenor des Stadttheaters  Passau im Auftrag der CSU die Bühne und singt die Arie   von  der Treue  zum   Ministerpräsidenten,   die bis zum September unverbrüchlich sei. 

Wie ist es möglich, daß auf solch dilettantische Weise Demokratie ad absurdum geführt wird? Wie ist es möglich, daß es nicht einmal den Versuch einer Inszenierung gibt, die wenigstens  den Dümmsten die  Möglichkeit ließe, die ganze Veranstaltung als das Tun von Politikern anzusehen?  Aber vielleicht soll uns allen nur beigebracht werden, daß selbst ein Minimum an Strategie, Taktik, Intellekt, Rhetorik unnötig ist, um einen Staat,  ja sogar einen Freistaat zu markieren. Volk und Knecht und Überwinder gestehen so wieder einmal, daß höchstes Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit sei, die ihr Gemeinsames darin hat, daß sämtliche Persönlichkeiten sich als die gleichen Idioten zeigen. 

   

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VON DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT

  

Der Erbe Burda

  

Im Fernsehen werden innerhalb einer Reihe Erben der Nachkriegszeit vorgestellt. Man müßte dem Ganzen, wenn das zugelassen würde, einige Worte über das Elend des (großen) Erbes voranstellen. Denn nichts behindert ja einen eigenen Weg so sehr wie eben jenes, unter dem jeder Lebensversuch  von vornherein erstickt wird.

Und so haben jene bienenfleißigen und hartgesottenen„Unternehmerpersönlichkeiten“ der  Nachkriegszeit  für die Anhäufung von Vermögen und nennenswerte Zahlen von Arbeitsplätzen gesorgt und mit letzteren dafür, daß sie  als Leute mit sozialem Gewissen hochgeehrt wurden, obwohl  es sich bei diesem Gewissen eher um einen Nebeneffekt dessen handelte, was als Erfolgssensus in einem Augenblick des vollkommenen politischen Desasters und darum gleichzeitig des schlechthinnigen Anfangs zu benennen ist.

Der Vater Burda, der seine Reputation darin fand, sich wie niemand anderer entsprechend Geehrter zeitlebens „Senator“ zu nennen, ein Titel, der ihm wie der doctor honoris causa von einer süddeutschen Universität als Dank und in Erwartung weiterer Dankmöglichkeiten zuerkannt worden war und ihm, dem kleinbürgerlichen Drucker, noch auf dem Grabstein bestätigt  wurde. Er vermachte außer dem Genetischen Säcke mit Geld und sonstigem Vermögen drei angejahrten Männern, seinen Söhnen, von denen zwei ihr Ererbtes so anlegten, daß sie gut davon leben konnten, wenn man diese vorzeitige Pensionärsexistenz denn Leben nennen will.

Der dritte aber und jüngste, Hubert, erwies sich, wie man aus dem Film erfährt, als ein  sensibler junger Mann., der etwas malen lernte, sich als studiosus um Kunstgeschichte,  um Literatur, um Philosophie kümmerte und sein Studium mit einem doctor philosophiae  in Kunstgeschichte abschloß.  Der Film gibt keine Möglichkeit zu beurteilen, wie weit die  Intelligenz und die Produktion Huberts sich in Wissenschaft und Kunst entwickelt hat oder  hätte entwickeln können. Das ist ihm nicht so wichtig und ist es vielleicht auch objektiv  nicht, da der Film zeigen will, was der eigentliche Erfolg des Hubert Burda war und ist,  nämlich ein großer Verleger zu werden.

Zwar kennt die Sprache auch Bierverleger, aber sie hat den Namen des Verlegers und  damit auch des großen Verlegers doch dem Buchverleger vorbehalten, also den Cotta  und S.Fischer und Suhrkamp, an den sich dann die Unseld und Unseld angehängt haben.  Aber einen Mann einen großen Verleger zu nennen, der Geschäfte mit Anzeigen und  sensationistisch bedrucktem Papier macht, ist schon eine der laufenden  Ungebührlichkeiten unseres Zeitalters.

Ärger ist es aber, einen Mann, der immerhin zumindest einen Ahnungshauch davon mitbekommen hat, was Kunst und Erkenntnis für das Menschengeschlecht bedeuten, abdriften zu sehen in eine Geschäftemacherei, von der er heutzutage  behauptet, daß sie ihm Spaß mache.

Auch seine Ehefrau, eine geborene Furtwängler und als Großnichte des „bedeutenden Komponisten“, der Wilhelm Furtwängler nun wirklich nicht war, vorgestellt,  wußte den Fantasiereichtum ihres Gatten zu rühmen. Der hatte erst einige geschäftliche Mißerfolge, dann aber Erfolg durch den „Focus“, den er mit dem Herausgeber Markwort, der sich bis anhin mit Fernsehblättern emporgeboxt hatte, schon dreißig Jahre zuvor plante. Dieser  kommerzielle Sukzeß  machte jenen dann zum „großen Verleger“.

Dabei genügten zwei Blicke in die Erstausgabe des „Focus“, um zu erkennen, daß hier eines der vielen Buntblätter auf den Markt kam, ein bißchen gehobener vielleicht als die meisten, aber doch einzig dazu da, ganze Generationen zu unterhalten.

Der Vergleich mit dem „Spiegel“, der selbst natürlich immer ein Problem war, aber immerhin ein erwägenswertes, war von Anfang an läppisch. Und dieses Produkt lanciert zu haben macht einen Mann, der sich einläßlicher mit der Geschichte der Kunst beschäftigt hat, wenn nicht glücklich,  so doch spaßerfüllt. Gut, Hubert wollte dem Vater zeigen, daß er seinen Geschäftsmann stehen könne. Das ist traurig, aber verständlich. Aber darin eine Lebenserfüllung zu sehen kann höchstens dazu dienen, begreiflich zu machen, daß auch die Nennenswerteren unter den G’schaftlhubern, die doch nie an etwas einen Gedanken, wenn man das denn so nennen will, gewendet haben als den, noch mehr als dick zu verdienen, einer schönen Gesellschaft angehören, die auf der einen Seite an die Mafia und auf der anderen an das Nichts grenzt.

  

  

VOM JOURNALISMUS

  

Medieninformationen

  

Wir werden täglich informiert. Die Medien sagen, wir  müßten informiert werden, denn wir hätten das  Recht, informiert zu werden. Und weil das so sei, gebe es sie.

In Hamburg lebt ein Mann. Darüber werden wir von einem Medium  namens „Westfälische Nachrichten“ am 14.2. 2007 informiert. Natürlich gibt es, hört man, viele Männer in Hamburg. Hier soll es sich handeln um einen Mann, der Alt-Erzbischof genannt  und 80 Jahre alt wird. Oder vielleicht besser, der so genannt werden und so alt geworden sein soll. Denn man weiß schon nicht genau, wie der Mann heißt. Am Anfang der Information heißt er Averkamp, dann heißt er zweimal Averdunk und dann heißt er wieder Averkamp. Kurz, man weiß nichts Genaues. Aber man informiert darüber.

Genau weiß man nur, daß der Hamburger Mann „ein älterer erfahrener Lotse“ ist, „der sein Schiff aus dem Hafen in ruhige Fahrwasser bringt“. Gut, daß man das weiß und nicht fälschlich annimmt, ein Lotse manövriere ein Schiff in den Hafen. Nein, der Mann aus Hamburg sagt  selbst, wie das Medium sagt, daß „unser Schiff“ „jetzt langsam Spur und Fahrt“ aufnehme. Dann ist das Schiff  des Mannes also gar nicht dazu da, in „ruhige Fahrwasser“ gebracht zu werden, sondern im Gegenteil,  ‚Fahrt aufzunehmen’. Aber das sind ja mehr Metaphern als Informationen bzw. metaphorisch verpackte Informationen. Wichtig ist, daß  Averdunk oder Averkamp – das weiß man nicht so genau –„in Hamburg  andockte“ und vorher „bereits in vielen Häfen vor Anker gegangen“ war, kurz, daß es mit der Metaphorik weiter geht, wenn man auch nicht erfährt, ob er nun  mehr andockte oder doch mehr Fahrt aufnahm.

Und wenn wir auch leider nicht genau informiert werden , wie der Mann nun  heißt (der vielleicht  auch gar nicht Erzbischof  war und keinen achtzigsten Geburtstag hatte), wichtig ist, daß wir informiert werden über etwas, das geschehen ist, wenn wir auch nicht genau wissen, was. Aber ist das wirklich so wichtig? Denn es heißt ja nur, wir müßten informiert werden, aber nicht, daß wir über etwas und dann auch noch richtig informiert werden müssen. 

Darum: -kamp oder –dunk, Ausfahrt oder Einfahrt, die Richtung stimmt: Wir werden informiert, und zwar täglich.

  

  

Wie der „Spiegel“ vom Islam redet (Nachtrag, s.Nummer 15)

  

Vom 21.12.06 ist eine Antwort von Herrn Matussek vom „Spiegel“ datiert, die  auf mein in Nummer 15 zitiertes Schreiben antwortet, aber für diese  Nummer nicht mehr verwendet werden konnte. Sie lautet:

  

„Sehr geehrter Herr Professor,

leider komme ich erst jetzt dazu, auf Ihren Brief vom September zu antworten. Ihre Differenzierung zwischen Islam und Christentum ist höchst angebracht.

Der Artikel,. auf den Sie Bezug nehmen, hat meine Anregungen nur peripher aufgenommen [M. ist als Mitverfasser genannt, H.A.].Ich werde Ihren Brief an die betreffenden Autoren weiterreichen [die nichts dazu zu sagen wußten, H.A.]. 

  

Mit den besten Wünschen für ein frohes Fest und einen guten Rutsch

Ihr Matthias Matussek“.

  

  

VOM INTERNET

  

Wikipedia, -media, -taedia

  

Also: Internet ist trotz aller Wirrnisse und Trivialitäten schön und gut.

Wikipedia auch ?

Am 12.3.07 schickte ich an den Vorstand der Wikimedia Deutschland, Herrn Jansson, den ich im Impressum gefunden hatte, folgende e-mail:

   

„Sehr geehrter Herr Jansson,

  

in Wikipedia (deutsch) ist u.a. der Artikel "Satire" erschienen.

Er ist ohne Begründung für Änderungen gesperrt, was das zentrale Prinzip von Wikipedia verletzt.

Es muß vermutet werden, daß es sich  dabei um eine Manipulation zum Schutz privater Auffassungen von der Satire handelt, die auf diese Weise durchgesetzt werden sollen.

Diese Vermutung stützt sich u.a. darauf, daß die sog. "menippeische Satire" in das Zentrum der Betrachtung gestellt wird ("älteste und langlebigste Untergattung der Satire")und  daß meine Schriften zur Satire, in denen u.a. diese Einschätzung der "menippeischen Satire" abgewiesen wird,  bis auf die Anthologie "Gegen-Zeitung" (1964) nicht genannt werden. (Sie finden die Titel meiner Arbeiten zur Satire unter www.helmut-arntzen.de, "Veröffentlichungen nach Themen geordnet", "Satire". Wie Sie dort sehen, publiziere ich seit 1961 zu diesem Thema.)

Zu einigen Einzelheiten: 

1. Die Definition  von "Satire" ist ganz ungenau ("Spottdichtung").

2. Unter den wichtigsten "Untergattungen"(?) steht wie gesagt die "menippeische Satire" an der Spitze des Systems, in dem sich dann Historisches und Systematisches aufs Absurdeste mischen.

3. Unter dem Rubrum "Pikaresker Roman" wird Andreas Gryphius genannt, der nie einen pikaresken Roman geschrieben hat.

4. Schiller, der wichtigste Autor  für das moderne Satireverständnis, habe "die Satire in der Wertschätzung an den Rand der Dichtkunst" gerückt.

Dies allein, bei flüchtiger Durchsicht bemerkt, läßt an der Kompetenz des Verfassers/ der Verfasser  für den Gegenstand  Satire erheblich zweifeln.

Die dezidierte Aussparung fast aller meiner Schriften zur Satire hat evident ressen- timentäre Motive und verletzt die Informationspflicht. 

Die Sperrung des Artikels für Änderungen ist unbegründet.

  

Ferner ist zu vermuten, daß der Artikel "Helmut Arntzen" ungerechtfertigt und unter manipulativen Absichten als einer Überarbeitung bedürftig benannt wird.

Die Diskussionsseite, auf die hingewiesen wird, enthält nur eine Bemerkung, verfaßt von dem Teilnehmer "Xocolatl", in der behauptet wird, daß, falls der Text nicht "geklaut" sei, er "wikifiziert" werden müsse.

Diese Art von Jargon läßt nicht erkennen, was Letzteres meint, noch, warum dieser Text "geklaut" sein könne. 

Nach meiner Prüfung besteht er lediglich aus Feststellungen, die in zugänglichen Handbüchern und biographischen Verzeichnissen enthalten sind.

Es ist völlig unverständlich, warum ein Einwand wie der genannte genügt, um das Bedürfnis einer Überarbeitung  seitens Wikipedia zu konstatieren.

  

Wikipedia führt sich selbst ad absurdum, wenn sie nicht in der Lage ist, sich vor übelwollender Manipulation, die sich als wissenschaftliche Auseinandersetzung geriert, zu schützen und wenn sie überdies noch ihrerseits diese Manipulation inkorrigibel macht;

wenn sie andererseits die Überarbeitung eines Artikels postuliert, nur weil ein Anonymus einen insubstantiellen, ja sinnlosen Widerspruch einlegt.

  

Mit freundlichen Grüßen: Univ.-Prof.Dr. Helmut Arntzen“

  

Statt von Herrn Jansson erhielt ich von Herrn Sven Taschke, der zur „Wikimedia Team Support“ gehört, am 23.März 2007 folgende Antwort:

  

„Hallo Helmut Arntzen  [welche Anrede eigentlich nur die Bemerkung eines alten Berliner Kritikers zuläßt: ‚Schon faul’]

  

vielen Dank für Ihre Nachricht, die ich mit Interesse gelesen habe. Wikimedia
Deutschland e.V. ist nicht Betreiber der Wikipedia und nicht verantwortlich
für deren Inhalte.
Ich möchte Ihnen vorschlagen, einen Entsperrantrag zu stellen. Der richtige
Ort dafür ist:
http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Entsperrw%C3%BCnsche
Inhaltliche Fragen werden auf der Diskussionsseite des/der Artikel besprochen.
Damit bleiben die Änderungen der Artikel auch für Dritte transparent. Es
besteht keine Notwendigkeit und auch keine Möglichkeit, von dieser Stelle in
die Entwicklung der Artikel einzugreifen.

-Hinweis: Mails an diese Adresse werden von Freiwilligen beantwortet,
alle Auskünfte sind unverbindlich. Den Diensteanbieter erreichen Sie
unter http://www.wikimediafoundation.org

  

Ich soll also, wie der Freiwillige Taschke, der kein Gezogener und kein Berufssoldat ist, vorschlägt, einen „Entsperrantrag“ stellen und auf die Diskussionsseite gehen, damit ich einem ressentimentären Unsinn zuleibe rücken kann.

Von dem hanebüchenen „Xocolatl“ ist gar nicht die Rede.

  

Das heißt:

unter „Satire“ wird vielfältiger Unsinn zusammengestellt, der als „lesenswert“ deklariert wird und unveränderbar ist, wenn man nicht einen „Entsperrantrag“ stellt, den irgendwer  genehmigt; 

ein Artikel, der nichts als überprüfbare Daten enthält, wird von „Xocolatl“ gerügt und damit nicht nur zur Änderung freigegeben, sondern unter das Dictum: „muß geändert werden“ gestellt. 

Der Unsinn erscheint als Dekret, gesicherte Daten aber werden unter das Urteil „Xocolatls“ gestellt.

So sieht die freie Enzyklopädie aus, die sie meinen.

  

  

  

VOM HEUTIGEN DENKEN

  

Gebildeter Leser (nach Giorgio Agamben)

  

In einem Kommentar zum Incipit des Römerbriefs, den der italienische Philosoph Giorgio Agamben schrieb, lese ich an versteckter Stelle den Satz: „Man kann das Gedächtnis  eines gebildeten Lesers mit einem historischen Wörterbuch vergleichen, das alle Bedeutungen eines Wortes von seinem ersten Erscheinen bis zur Gegenwart enthält.“

Die Figur des „gebildeten Lesers“ erweckt Aufmerksamkeit dadurch,  daß sie nicht wie in Schriften etwa der fünfziger Jahre  einfach gesetzt wird, so daß sich jeder Leser dabei denken konnte, was er wollte. ‚Gebildeter Leser’ heißt hier jemand, dessen „Gedächtnis“ so funktioniere, daß es gleich einem „historischen Wörterbuch“ die gesamte Semantikgeschichte „eines Wortes“ enthalte.

Wir wissen also ziemlich genau, mit wem wir es bei dem Zitat zu tun haben sollen. Ziemlich genau. Denn wie bei aller Worterklärung bleibt eine Ungewißheit, die hier vor allem in dem Dictum „eines Wortes“ liegt. Bezieht sich ‚ein Wort’ lediglich als pars pro toto auf die Methodik des ‚Gedächtnisses’, das in den Fällen anderer Wörter genauso funktioniert, so daß der ‚gebildete Leser’ ein philologischer Universalist wäre? Oder ist daran gedacht, daß schon die Semantikgeschichte eines einzigen Wortes zu kennen den ‚gebildeten Leser’ ausmache?

Der erste Fall ist unvorstellbar. Denn die Leistung eines schriftlichen „historischen Wörterbuchs“, an dem gemeinhein viele, gar Hunderte von Gelehrten gearbeitet haben, kann von den Kenntnissen eines einzelnen nicht eingeholt werden.

Im anderen Falle würde die Kenntnis der Geschichte eines einzigen Wortes genügen, jemanden zum „gebildeten Leser“ zu machen, was wiederum zu wenig wäre.

Oder ist – wieder einmal – nur Ironie am Werke, so daß die Verbindung von  Leser und Wörterbuch nur darauf hinweisen soll, daß es einen „gebildeten Leser“ nicht gibt, ja nicht geben kann.

Nehmen wir das alles aber metaphorisch, so wird die Figur des „gebildeten Lesers“ jedenfalls nicht nur in engste Beziehung zu Kenntnis und Verständnis  natürlicher Sprachen, sondern zu ganz spezifischen Kenntnissen in Etymologie und Semantik von Wörtern gesetzt  und damit schon nicht mit jenem allgemein Gebildeten verwechselt, den  eine gewisse Menge von Kenntnissen enzyklopädischer Art auszeichnet. 

Wenn auch die Reduktion auf den Wortschatz andere Bereiche der Sprache wie etwa Grammatik, Syntax und  Textlehre außer acht läßt, so ist die Verbindung, die hier hergestellt wird, doch eine, die den Begriff  der Bildung der Unverbindlichkeit enthebt.

Doch ist  die eben angesprochene, auf enzyklopädische Sachkenntnisse reduzierte Bildung noch einmal zu reflektieren, die ja als „Allgemeinbildung“ seit dem 19. Jahrhundert  sich ausgebreitet hatte. Historisch  ist deren vollständiges Verschwinden zu konstatieren, ohne daß gesagt werden könnte, daß an ihre Stelle  sich (wieder) die philologische Bildung gesetzt habe.

Vielmehr ist der gegenwärtige ‚Normalzustand’ so beschaffen,  daß wir in jeder Hinsicht, die von „Bildung“ sprechen ließe, uns tabula rasa gegenübersehen. Wobei „wir“ längst eine Menge meint, die, an der Gesamtbevölkerung gemessen, eine unbeachtliche Größe  geworden ist, obwohl man ihr vor Dezennien noch das Gewicht der Elite zugemessen hätte.

Im  heutigen ‚Normalzustand’ der Bildung wird aber die völlige Abwesenheit  jedweder aus Sprache hervorgehender Kenntnis wie Reflexion nicht als Belastung, sondern als Befreiung ausgegeben und erfahren, und zwar bei gleichzeitiger Behauptung, wir stünden dank der Medieninformation in der Tradition der Aufklärung. Will sagen: Verblödung wird als eine Weise von globaler Aufklärung behauptet, und die Verblödeten, die sich längst in Äußerungen brachialer Gewalt vorwiegend bewegen,  sind zwar im Augenblick noch von PISA-Feststellungen betroffen, werden aber gleichzeitig  als tendenziell  auf dem Weg zur Bildung befindlich charakterisiert, die ja unser einziges Kapital sei. Doch sind die zu Bildenden ohne das geringste Interesse an ihrer Bildung, für die überdies auch kaum jemand in Schule und Hochschule zur Verfügung stehen kann, denn die Bildenden entstammen ja durchweg der Hinterlassenschaft der Achtundsechziger, die schon ungebildet waren und denen es nie um Bildung, sondern allenfalls um fun ging.

Zurück zu Agamben. Erstaunlich ist, daß der Philosoph der Gegenwart  dank der Bestimmung „gebildeter  Leser“ sich so verhält, als gehe es nur um eine zulängliche Begriffsklärung, die die längst  vorhandenen Gebildeten wieder kenntlich macht, denen ja auch z.B. der Kommentar zu den zehn Worten des Incipit zum Römerbrief gewidmet ist. Obwohl es doch in Wahrheit nur darum geht, daß vielleicht noch Vorhandene Techniken entwickeln, die ihnen gestatten, den Schlagetots aus Ost und West, die sich als die echten Erben der SA erweisen, für ein paar Augenblicke  zu entkommen.

  

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VON DER RELIGION

  

Gott und Teufel

  

Sonntag für Sonntag teilt uns unter der Verantwortung des evangelischen oder katholischen Rundfunk- und Fernsehbeauftragten jemand im Deutschlandfunk mit, was sie oder er für Theologie hält. Na schön.

Aber daß uns manche dieser Experten auch sagen, wer oder was Gott ist, was er schafft, was er redet, was er denkt, kurz, daß sie uns glauben machen wollen, sie hätten ganz kurz vor der Sendung noch mit Ihm gesprochen, hätten also alles, was sie sagen  - und zwar oft atemlos, weil sie so viel aufgschrieben haben – aus erster Hand, ist eine Art von Schamlosigkeit, die selbst heutzutage, wo ja alles möglich ist, noch unangenehm auffallen kann.

Natürlich sagen sie uns dazu, was Er nicht ist und daß wir nicht glauben sollen, Er sei nur der liebende Vater. Aber sie wissen z.B. ganz genau, daß Gott „alle Tage zu einem Stoff“ werde. Vergessen habe ich, zu was für einem Stoff, aber genügt nicht eine solche Formulierung, um schreiend davonzulaufen und von solcherlei automatisierter Redensart nichts mehr hören zu wollen? Jedenfalls, wenn dies Gott ist, wie uns in derlei Sendungen mit äußerster Geläufigkeit erzählt wird, dann zum Teufel mit ihm.

  

  

VOM (EINSTIGEN) LEBEN

  

Akademische Anfangsjahre (1957 – 1959)

  

Die Zeit des Studiums  (1952 – 56) war vielleicht die interessanteste Lebenszeit, manchmal  beglückend. In Heidelberg beeindruckten am meisten Karl Löwith, im Abstand Otto Mann und  der junge Walter Müller-Seidel, noch im Assistentenstande, dann der Kunsthistoriker und Museumsmann G.F. Hartlaub. In Freiburg war es  v.a. der Rechtsphilosoph Erik Wolf, in Köln natürlich Wilhelm Emrich, dann Richard Alewyn, Theodor Schieder als Historiker, der Philosoph Ludwig Landgrebe und der Kunsthistoriker Wolfgang Kroenig.

Nicht sicher war ich mir, ob ich schon am Ende des neunten Semesters  ins Rigorosum gehen könnte. Ich brauchte noch Kant-Lektüre, die ich schwierig fand. Emrich sagte, von Schwierigkeit könne man erst bei Husserl sprechen. Wahrscheinlich war das eine Bemerkung in Bezug auf den Husserl-Schüler Landgrebe.

Eine leidige Aufregung verursachte der Pedell der Philosophischen Fakultät, der vor dem Rigorosumstermin anrief und als Information die Worte gebrauchte: „Herr Prof. Schieder wünscht Sie vorzuprüfen.“ Gemeint war, Sch. wolle mich schon vor dem Tag des Rigorosums prüfen, ich aber verstand – mit Recht -, er wolle prüfen, ob ich zu prüfen sei.

Ich verzog mich in ein kleines Hotelzimmer in Köln und war am Nachmittag des 26.Mai 1957 fertig. Noch kein richtiger Doktor, denn das hing von der Abgabe der Dissertationsexemplare ab, die wiederum von einer neuen Reihe abhingen. Bis die funktionierte, dauerte es etwas.Eigene Fehler kamen hinzu. So war ich erst 1960 so weit. Nähme man den Tag des Rigorosums als Abschluß der Promotion, was er ja in Wahrheit war, wäre der 26.5.2007 der Tag des goldnen Doktorjubiläums.

Ich hatte mich für das Rigorosum als Praktikant in der Stadtbücherei in D. beurlauben lassen, an der ich einen Teil der Ausbildung für die Bibliothekarsprüfung absolvierte. Die Stadtbücherei wurde damals von einem Archivar geleitet, doch die Seele des Ganzen war die Erste Bibliothekarin, die mir viel an Kenntnis und  Einsicht vermittelte. Die Tage in der Bücherei waren oft interessant. Man mußte z.B. lernen, Leserwünschen  nicht einfach zu entsprechen, sondern auf sie mit sinnvollen Angeboten zu antworten. Es gab nämlich noch keine Freihandbibliothek.

Interessant waren auch die Sitzungen der Bibliothekare mit der Vorstellung von Neuerscheinungen. Ich erinnere mich an meine Vorstellung von Günter Anders’ Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“. Auch über Musil wurde vorgetragen. Und ich versuchte mich  an einer Umfrage  unter den Lesern. 

Am Beginn des Wintersemesters 1957/58 bot mir Wilhelm Emrich die Stelle eines  Hilfsassistenten an. Sie bezeichnete das, was man heute wissenschaftliche Hilfskraft  nennt, und bot  ein zwar bescheidenes, aber ausreichendes Salär. Zunächst war es nur  ein bißchen Verwaltungstätigkeit, dann aber die Assistenz des neuberufenen Paul  Böckmann, da Emrich auf ein Freisemester Anspruch hatte. Er schrieb an seinem  Kafka-Buch. Böckmann war eine der mir betont als Ordinarius sich darstellenden  Persönlichkeiten, eine Seltenheit. Ich kannte ihn schon aus Heidelberg und war anfangs  beeindruckt von der Entsprechung von Gegenstand und Vortrag, die er zu pflegen  schien. Es ging um Hölderlin, aber  er trug, wie ich merkte, immer mit dem gleichen  etwas öligen Pathos vor. Das konnte nichts mit dem Gegenstand zu tun haben. Er fand  mich offenbar nicht adäquat. Doch mußte ich seine Hauptseminaristen beraten, was in  einem armseligen Stübchen unter dem Dach vor sich ging.

Emrich hatte einen Assistenten mit Namen Hans Olschewski, der ein gehemmter, aber sehr kluger Mann war. An ihn, der auch schriftstellerisch arbeitete, schloß  ich mich bald an. Schwieriger war das Verhältnis zu dem Emrich-Schüler H.G. Rappl, der als Akademischer Rat  tätig war und später mit nach Berlin ging.

Die zwei Jahre in Köln waren durchaus passabel, obwohl ich gleichzeitig die theoretische Ausbildung am sogenannten Bibliothekar-Lehrsinstitut zum Ende bringen wollte. Die fand im Keller des Kölner Universitätsgebäudes statt. Das Institut stand unter der nominellen Leitung des Direktors der Universitätsbibliothek, faktisch aber unter der einer Dame, die als Geschäftsführerin firmierte und noch aus dem Geschlecht jener frühen Emanzipierten  stammte, die nach dem ersten Weltkrieg angetreten waren.

Die Ausbildung war notwendig hinsichtlich des Bibliographierens, Katalogisierens und verwandter Fertigkeiten. Ganz schlimm und dilettantisch waren  aber die literatur- geschichtlichen Instruktionen, die sich auf der Ebene der zwanziger Jahre vollzogen. Dazu kam, daß man den wenigen „Akademikern“ natürlich überhaupt nicht grün war, zumal jemandem, der im gleichen Hause, wenn auch in bescheidenstem Rahmen Literaturwissenschaft betrieb. Sollte es dort gelingen, mußte man von vornherein  sich nicht nur anpassen, sondern eine Attitude der Zustimmung für den herrschenden Dilettantismus zeigen. Wenn einem das nicht bis zur Humilität gelang, wurde man auf sublime oder auch drastische Weise bestraft.

Für die Abschlußprüfung hatte man eine Hausarbeit anzufertigen, die sich an der Staatsexamensarbeit orientieren wollte. Ich wählte unter den Vorschlägen ein literaturkritisches Thema aus, nämlich den Roman „Vanadis“ von Isolde Kurz, und bekam dafür, daß ich den als fragwürdiges Mittelmaß charakterisierte, ein „befriedigend“. Der Versuch, gegen diese Benotung vorzugehen, war natürlich völlig aussichtslos, da es  keinerlei rationale Kriterien für die Bewertung  gab. Im Herbst 1958 schloß ich dieses „Studium“ mit dem Diplom ab.

Auf dem Flur der Kölner Universität begegnete ich im Dezember 1957 Walter Müller-Seidel, der sich auf seine Habilitation bei Böckmann vorbereitete und  mit mir sprach, als lägen nicht mehr als vier Jahre seit unserem letzten Gespräch dazwischen. 

Begegnung auch mit Otto Mann, der in Köln einen Lehrstuhl vertreten hatte und nun nach Heidelberg zurückkehrte. Er sprach  über seine Methoden und Anschauungen, wollte getreu vortragen, was Herder und Lessing sagten, durch die Romantik und ihre Kunstmetaphysik sei alles ins Unglück geraten. 

Ich dachte daran,  den „Mutigen Seefahrer“ von G.Kaiser mit dessen „Kolportage“, die ich noch bei Gelegenheit von theaterkritischen Übungen gesehen hatte, und dem Musilschen „Vinzenz“ zu vergleichen. Das geschah dann auch. Den fertigen Aufsatz, das erste Produkt nach der Dissertation, wurde Emrich gezeigt. Der war nicht beglückt. Zwar gebe es akzepable Ergebnisse, aber Feuilletonismus sei zu rügen. E. wollte mir seinen Wedekind-Aufsatz mitbringen. Wohl am selben Tag  noch gab es ein längeres Gespräch mit E. im größeren Kreis. Ich wagte, Sprachanalyse als Ausgang  für Gehaltanalyse zu fordern, sonst sei die Gefahr der Kreuzworträtselei wie im Kafka-Seminar gegeben. E. griff in mir die Formanalytiker an: das sei ein Irrweg.

Der Ordinarius für germanistische Mediaevistik Josef Quint lud anläßlich seines  60. Geburtstages  zum Festessen ein, das man aber bezahlen mußte. Qu. war Korreferent meiner Arbeit gewesen. Er war  sehr gefürchtet. Vor seinem Zimmer während der Sprechstunde sitzend sagte eine Kommilitonin klagend: „Ich geh’ da nicht hinein“. Qu. besorgte v.a. die Eckehart-Ausgabe. Zu diesem Behufe versammelte er täglich seine beiden Assistenten Schützeichel und Bauer um sich, mit denen  er, wie wir aus dem Oberseminar wußten, ebenso streng verfuhr wie mit den Studenten. Meine Einladung verdankte ich meinem  bescheidenen Pöstchen, denn neben der Hierarchisierung an der Universität gab es auch das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Wissenschaftler. Die Feier erschreckte mich auf mehrfache Weise. Wenn die Fachsprache ausfiel, war die Zusammenkunft von Wissenschaftlern völlig stillos. Emrich versuchte sich  an einem Trinkspruch, der aber zum Gestammel wurde. Und einer der auswärtigen Gäste war Benno von Wiese, der sich als Menschenberg in leicht aufgelöstem Zustand präsentierte. Er suchte nach Beiträgern für eines der damals beliebten Sammelwerke und fand ihn in Rainer Gruenter, der von Wiese persiflierte und ihn in Anlehnung an Musils Großschriftsteller einen Großordinarius nannte. Ganz schlimm wirkte auf mich der Althistoriker V., der sich wie ein leicht debiler Subalternbeamter darstellte.

Im Mai 1958 fuhr ich zum ersten Mal nach Berlin, wo mir die ständige Nähe von Geschäftigkeit und Verlassenheit auffiel. Potemkinsch wirkte die Stalinallee auf mich: kolossale Kulisse, flatternde Fahnen, aber in Richtung Alexanderplatz räudige Vorstadt-Landschaft.  Unter den Linden waren aufgebaut  Oper, Zeughaus, Neue Wache, Humboldt-Universität, wie auf alten Stichen: akkurat, wenige Figuren, die Leben inmitten von Fassaden repräsentierten. 

Danach gab es die Universitätsgründungsfeier in der neu geputzten Aula in Köln.

Der Rector Magnificus fiel durch sein schönes Haupt auf, seine Einleitungsrede schwankte zwischen Juristenwürdigkeit und Familiengeplänkel. Das Professorium  erschien sehr uneinheitlich trotz der Talare, manche mit auf eine Seite oder ins Genick geschobenem Barett. Die Festrede hielt ein Mediziner, sozusagen über den Zusammenhang der Nieren mit dem Volksganzen, wie es ähnlich bei Musil heißt. Das Auditorium sang schließlich ermattet „Gaudeamus igitur“.

In einem Dozentencolloquium sprach der Mediaevist Jungbluth über das 18. Kapitel des „Ackermann“. An der Diskussion nahmen nur die Hierarchen teil. Irgendjemand sagte, in den letzten drei Sätzen seien drei verschiedene Auffassungen von Ironie vorgetragen worden.

Im Sendesaal des Rundfunks  gab es ein Gespräch über moderne Musik, an dem auch Adorno teilnahm. Ich sah ihn zum ersten Mal, er wirkte wie ein Postamtmann, aber noch die dümmste seiner Phrasen  war eine Offenbarung gegenüber den Auslassungen der  Musikologen.

Gelesen wurde u.a.Lessing, Proust, Gogol, Gontscharow. Unter den literatur- wissenchaftlichen Arbeiten fiel als besonders miserabel Johannes Kleins Geschichte der deutschen Novelle auf, die aber offenbar gern gelesen wurde.

O.und M.W. hatten kurz vor Weihnachten 1958 ihre Rigorosa. Frl. von Heydebrand und Herr Karthaus besuchten mich im Frühjahr als „Musil-Experten“.

Mit O. bewarb ich mich beim DAAD  um eine Lektorenstelle. Bandung  in Indonesien schien sich als Ziel herauszubilden.

In Mainz fand die Tagung des Germanistenverbandes statt. Emrich nahm mich mit. Ich sah und erlebte die künftige Germanistencrème, erinnere mich aber nur noch an Schöne und G. Kaiser.

Emrich bot mir dann eine Assistentenstelle in Berlin an, wohin er berufen wurde. Ich akzeptierte natürlich und war Anfang Oktober 1959 dort, zog in ein Zimmer bei einer Ärztin ein, in dem vorher Herr Alewyn gewohnt hatte. Mein unmittelbarer Kollege war  Herr Pestalozzi, ein Staiger-Schüler, den der Berliner Ordinarius Hass E. empfohlen hatte.

Das erste eigene Seminar – Satire im 18. Jahrhundert – wollte versehen sein.

  

  

Neue Titel (außer  „Zum  Verhältnis von Tatsache und Sprache seit  dem Ende  des 18. Jahrhunderts“ und „Reflex und Reflexion der Jugendbewegung und ihrer Literatur in Kempowskis kollektivem Tagebuch ‚Das Echolot’“, die in ZLdN  Nummer 14 und 15 erschienen sind).

  

Deutsche Satire im 20. Jahrhundert [II]. In: Kairoer Germanistische Studien. Band 13.

Hrsg. v.A.E.Ayad, N. Metwally, H. Matta u. M. Fischer. Kairo 2002/2003 [2004]. S. 1 –21.

  

Karl Kraus: Nestroy und die Nachwelt. Skizze zu einem Kommentar. In: Bis zum Lorbeer versteig ich mich nicht. Festschrift für Jürgen Hein. Hrsg. v. Claudia Meyer. Münster 2007  S. 125 – 132.

  

  

Nummer 15 (Jan./Febr. 2007) s.Archiv

  

INHALT: VON DER DEUTSCHEN GEGENWART: Deutsche Sätze aus dem 20. Jahrhundert (Karl Kraus) - Leser-Reaktionen. VON DER WISSENSCHAFT:  Vom Zeitungsinterview mit einem Geisteswissenschaftler zur Frage von Sprache und Krise in den Geisteswissenschaften .VON DER DEUTSCHEN VERGANGENHEIT: Reflex und Reflexion der Jugendbewegung und ihrer Literatur in Kempowskis kollektivem Tagebuch „Das Echolot“.VOM ISLAM:Wie der „Spiegel“ vom Islam redet – Dialog mit dem Abgeordneten Volker Beck.VON DER DEUTSCHEN KULTUR: Der Wiederaufbau der deutschen Kultur. VOM JOURNALISMUS: Die vierte Gewalt – Nach dem Presseclub – Das Blatt bespricht. VON DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT: Renault-Erfahrungen - Wie die Postbank aus eigenen Fehlern Vorteile zuungunsten ihrer Kunden zieht – Stromausfall. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1956.  

  

  

Die Nummern 1 – 15 s. Archiv

  

s. Register der Nummern 1 – 15 von „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen.

   

  

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