Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 18 (Dezember  2007)

 

INHALT: Walter Kempowski zum Gedächtnis. VON DER LITERATUR: Einführung in die Literaturwissenschaft in Aphorismen -  Literaturbetrieb, Literaturwissenschaft

und Literatur als Sprache - Barockes Trauerspiel (A.Gryphius, Carolus Stuardus –

D. Casper von Lohenstein, Sophonisbe). Dritter Teil und Schluß. VON DER THEOLOGIE.: Eberhard Jüngel hat über die Einheit der Kirche nachgedacht. VON DEN MEDIEN: Plasberg wird von Suerland interviewt. VON DER WIRTSCHAFT: Deutsche Entwicklungshilfe und menschlicher Fortschritt – „Die Marke Renault hat ein Problem“. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Berliner Jahre 1965 – 66. Neuer Titel.

P.S. zu dem Nachtrag „Google-Transparenz ?“  in Nummer 17 ZLdN

 

 

 

Walter Kempowski zum Gedächtnis

 

I

Er sei ein „Volksdichter im besten Sinne des Wortes“ gewesen, hat nach einer Zeitungsmeldung  sich der Bundespräsident von einem seiner Adlaten aufschreiben lassen. Nichts ist unsinniger. Ähnliches ist zwar gesagt worden seit den Anfängen seiner „Deutschen Chronik“. Genauso sei es gewesen, schrieb man in den deutschen Feuilletons. Aber das alles stimmte vorn und hinten nicht.

Vielleicht hat er selbst ein bißchen für solche Auffassungen gesorgt, wenn er sich klein machte und entgegen den Helden der deutschen Nachkriegsliteratur seine Kleibürgerlichkeit und seinen Wunsch nach einem stillen, freundlichen, aber auch anerkannten Leben hervorhob, er, der sein Erwachsenendasein mit achtzehn Jahren in Bautzen beginnen mußte.

Denn anders als die Antworten auf dem FAZ-Fragebogen, in dem er sogar Thomas Mann als seinen Lieblingsschriftsteller nannte, was heutigem Usus entspricht, war seine Darstellung der Deutschen seit den zwanziger Jahren. Es war  eine harte und entschiedene, aber sehr komische Darstellung der deutschen Alltags r e d e, die man bisher nie so kennengelernt  hatte, nämlich als  eine, die über alles hinwegredete, was ihr unbequem war.

Der letzte Band der „Deutschen Chronik“ hieß „Herzlich willkommen“und erzählt u.a. vom Pädagogikstudium des aus dem DDR-Gefängnis entlassenen Häftlings „Walter Kempowski“. Dessen Verfasser gleichen Namens hatte sich von dem seit dem 19. Jahrhundert gültigen Realismuskonzept entfernt und die deutsche Wirklichkeit dadurch „fiktionalisiert“, daß er  sie als Episoden aus Geschwätz zeigte. Der  Autor   hatte alle Romanfiguren als (zumTeil liebenswerte, zum Teil entsetzliche) Schwätzer ihres Lebens begriffen, von denen einige manchmal mehr waren als das.

Aber zumeist waren es  Darstellungen wie die aus  der Pädagogischen Hochschule in Göttingen, die in ihrem Jargon ‚wissenschaftlicher’ Pädagogik  kenntlich macht, warum es in Deutschland so kam, wie es gekommen ist, und wie man schon in den fünfziger Jahren die vollkommene Bewußtlosigkeit  als poltical correctness gewinnend verhökerte.

Der konservative Walter Kempowski hat ungleich mehr von den Aufgaben des Schriftstellers nach dem Kriege verstanden als die ‚antifaschistischen’ halblinken bis linken Gruppenmitglieder. Dies gilt in besonderer Weise für seine ungeheure

Leistung, das Sprechen  der Zeitgenossen nicht nur darzustellen, sondern auch  zu sammeln, wie es im „Echolot“ geschah. Daß in dessen Harmlosigkeit  sich der Schrecken meldete, lag nicht an ihm.

 

  (nach oben)

 

II

Wir kamen ins Gespräch durch den Roman „Hundstage“, den ich  wegen der von mir empfundenen Privatheit nicht besonders schätzte. Er widersprach natürlich, war aber durchaus bereit, sich kritische Argumente anzuhören. Seitdem waren wir in brieflichem Kontakt.

1988 lud ich ihn zu einer Lesung im Rahmen des „Internationalen Ferienkurses“ meiner Universität ein. Er las mit seiner leicht monotonen, gar nicht auf Effekt abstellenden Stimme.

Nach einer ziemlichen Weile sah ich ihn wieder bei einem Colloquium zu seinem siebzigsten Geburtstag 1999 in der Universität Bonn, das nicht die Kollegen der Germanistik für ihn ausgerichtet hatten, sondern der Pädagoge Ladenthin. Wir saßen mit unseren Vorträgen, wenn ich mich  recht erinnere, zu viert und in kleinem Zuhörerkreis zusammen. Die Abendveranstaltung mit einer Lesung in der Aula mußte wegen zu geringer Beteiligung abgesagt werden. Kempowski reagierte darauf mit eigentümlicher Gemütsruhe. Als wir  uns später im Clubhaus der Universität trafen, entwickelte er aus dem Handgelenk eine kleine Poetik des modernen Romans.

Etwa 2001 besuchte er mich in S. Da das einzige gute Eßlokal  an diesem Tage geschlossen hatte, mußten wir uns mit schlichter Kost begnügen. Aber er war aufgeschlossen, hör- und antwortbereit und sagte u.a.: „Hätten wir uns doch schon  vor zwanzig Jahren getroffen“.  Dann sah ich ihn noch einmal bei einer Rückkehr aus Hamburg 2003. Wir saßen mit seiner und meiner Frau im Turmzimmer in Nartum beisammen. Er hatte mir seine Sammlungen gezeigt. Dann tauschten wir uns über den armen Zustand der deutschen Geistigkeit aus.

Er war ein kluger Mann und ein bedeutenderer Schriftsteller als die meisten seiner zeitgenössischen Kollegen.

 

 

VON DER LITERATUR

 

Einführung in die Literaturwissenschaft in Aphorismen

 

Längst hat sich der Essay als Darstellungsform auch der Literaturwissenschaft durchgesetzt, nicht aber der Aphorismus. Nur das romantische Fragment war ein

Versuch, z. B. poetologische Bestimmungen aphoristisch zu fassen. Die untauglichen Bemühungen des späten 19. Jahrhunderts und der letzten Jahrzehnte zur 'Scientifizierung' der Literaturwissenschaft haben verhindert, jenen Versuch kontinuierlich fortzusetzen. Doch was liegt näher, als diese Form, die auf dem Raine zwischen wissenschaftlichem Diskurs (aus dem sie herkommt) und Literatur anzusiedeln ist, für die Literaturwissenschaft und zu ihrer Kritik zu nutzen?

 

Von den Studenten

 

In der deutschen Literaturwissenschaft versammeln sich heute vornehmlich diejenigen Studenten, die, wenn auch stockend, lesen und schreiben können. Schon wer weiß, daß Friedrich der Große im 18. Jahrhundert lebte, wandert sofort in die Geschichtswissen- schaft ab.

 

Von den Literaturwissenschaftlern

 

Vor 120 Jahren unterschied F. Th. Vischer in der Literaturwissenschaft zwischen Stoffhubern und Sinnhubern. Von diesen gibt es nur noch einzelne Exemplare. Mehrheitlich gehören die Literaturwissenschaftler heute zur Klasse der G'schaftlhuber.

 

Wer heute in der Literaturwissenschaft etwas zu sagen hat, hat nichts zu sagen.

 

Ein denkender Literaturwissenschaftler begegnet so häufig wie ein ehrlicher Politiker.

 

Der mittlere Literaturwissenschaftler: Eine Mischung aus Einfallslosigkeit und Chuzpe.

 

Kollege ist in der Literaturwissenschaft häufig ein Euphemismus für besondere menschliche Unzuverlässigkeit.

                    

Vom Range der Literaturwissenschaftler

 

Die gradus  ad  Parnassum der Literaturwissenschaft? Leser, Autor, Handbuchbeiträger, Rezensent, Herausgeber, Präsidentrektorvorsitzender, Fernsehmoderator.

Literaturwissenschaftler werden heutzutage nicht nach dem Grade ihrer Begabung unterschieden, sondern danach, ob sie beliebt oder unbeliebt sind. Beweist ein unbeliebter Literaturwissenschaftler, daß ein beliebter Literaturwissenschaftler ein Dummkopf ist, so wird ihm anschließend bewiesen werden, daß in seinem Goethebuch Brecht nicht genannt wird, daß er einen vom jeweiligen Kritiker nicht geschätzten Stil schreibt und daß er einen Literaturwissenschaftler, der anerkanntermaßen beliebt ist, einen Dummkopf genannt hat, kurz, daß er inkompetent ist.

 

Von der Geschichte der Literaturwissenschaft

 

Es war der gleiche Opportunismus, der die deutschen Literaturwissenschaftler 1933 mehrheitlich 'völkisch' und 1968 'gesellschaftsorientiert' werden ließ. Wenn die von '68
die von '33 dann faschistisch nannten, so war das nur die Weise, ihren eigenen Opportunismus zu verdrängen.

 

Von der Aufgabe der Literaturwissenschaft

 

Schriftsteller haben die Aufgabe, Texte zu schreiben, damit andere die Gelegenheit haben, darüber Texte zu schreiben.

 

Wenn jemand das Abrakadabra der neueren Franzosen falsch abschreibt, nennt man den in Deutschland einen Literaturtheoretiker.

 

Literaturwissenschaftliche Kongresse dienen vornehmlich dazu, Leute, die nichts hören wollen, mit Leuten zusammenzuführen, die nichts zu sagen haben.

 

  (nach oben)

 

Von den literaturwissenschaftlichen Methoden

 

Literaturwissenschaft geht mit den im ganzen stabilsten Texten innerhalb der Geisteswissenschaften um. Trotzdem lehnt sie sich nur zu gern an die Psychoanalyse an, die mit den unstabilsten Texten sich beschäftigt. Das geschieht natürlich nicht deswegen. Wohl aber hat sich die Psychoanalyse deswegen einen gußeisernen Begriffsapparat konstruiert. Und der fasziniert die Literaturwissenschaft, der es ja gar nicht um die Texte, sondern allein um den Apparat geht, weil der ihre Wissenschaftlichkeit verbürgen soll.

 

Literaturwissenschaftler haben Goethe zumeist gelesen, um herauszufinden, ob er national, feudal oder anal orientiert war. Mehr oder minder haben sie auch eingeräumt, er sei genial. Damit aber konnten sie nie irgendetwas anfangen.

 

Der größte Teil der Literaturwissenschaftler beschäftigt sich nicht mit der Literatur, sondern mit deren Übersetzung in einen Alltagsdiskurs. Das ist etwa so, als reduziere die Musikwissenschaft alle Musik zunächst auf ein Programm und beschäftige sich dann ausschließlich mit diesem.

 

Hört man von jemandem, der sich z. B. mit Märchen und mit Hofmannsthal beschäftigt, so nimmt man an, daß er eine gewisse Sensibilität habe. Ist er aber ein Literaturwissenschaftler, so weiß man schon, daß er zu beidem eine innere Beziehung haben wird wie ein Jurist zum Vertragsrecht. Im letzteren Fall ist das freilich unschädlich.

 

Vom  Rezensionswesen

 

Man stelle sich vor: Ein Eiskunstläufer sei allein dadurch bemerkenswert, daß er bei jedem Auftritt alsbald auf dem Hosenboden sitzt und unter dem Gelächter des Publikums den Platz verläßt, um danach über alle Medien Erklärungen zu Technik und Form des Eiskunstlaufs abzugeben. In der deutschen Literaturkritik ist das unter dem Namen Raddatz die Regel.

 

An die Stelle von wissenschaftlicher Kritik sind in der Literaturwissenschaft längst Sympathie- und Antipathieerklärungen getreten.

 

Ein erheblicher Teil literaturwissenschaftlicher Rezensionen hat die Informations -zuverlässigkeit einer Meldung der Bildzeitung und die Urteilsgenauigkeit eines Reich-Ranicki.

 

An Rö. — Lach dich tot. Der Grund? Das nennt sich Rezensent.

 

Wissenschaftliche Rezensionen in der Literaturwissenschaft werden immer häufiger so gemacht: Der Kritiker fragt sich zunächst, ob er den Verfasser mag oder nicht mag. Dann wählt er eineinhalb Seiten aus und apostrophiert sie entweder als Zeugnis der hohen Intelligenz oder als Beweis für die Unfähigkeit des Autors.

Ist das nicht einfach und genial? Sicher, wenn nur der Rezensent nicht von der Voraussetzung ausginge, daß der Leser das Buch weder im ganzen kennt noch die eineinhalb Seiten. Und wenn er nicht als selbstverständlich annehmen könnte, daß die Redaktion ihn — freie Meinungsäußerung — nach gusto wursteln läßt, weil er z. B. Professor ist und über den Diebstahl silberner Löffel gegen ihn nichts vorliegt.

   

   

Von den Funktionen innerhalb der Literaturwissenschaft

 

Leute, die Bücher kaufen, um damit einen neuen Schrank zu füllen, nennt man hierzulande Leser; Leute, die sich Bücher schenken lassen, um sie anschließend sofort zu verkaufen, nennt man Literaturkritiker; Leute, die sich Bücher leihen, um damit den Schreibtisch abzustützen, an dem sie Bücher über Bücher schreiben, die es gar nicht gibt, heißen Literaturwissenschaftler.

 

 

Zehn goldene Regeln für angehende Literatunwissenschaftler

 

l. Du bist dazu da, einen literarischen Text wieder in die Bestandteile zu zerlegen, aus denen der Autor ihn gebildet hat.

 

2. Lies einen literarischen Text immer so, als sei er ein verschlüsselter Leitartikel.

 

3. Das Wichtigste ist, daß du jede Dichtung in deinen Jargon übersetzt und zu dieser Übersetzung deine Meinung abgibst, die du Interpretation nennst.

 

4. Maßstab für die Sprache der Dichtung ist natürlich die Sprache des Alltags.

 

5. Setze deine Energie ganz in den Nachweis, daß zwischen einem Goethegedicht und dem kommunikativen Geräusch des Alltags kein Unterschied besteht.

 

6. Der Vers "Der Mond ist aufgegangen" ist selbstverständlich lediglich als Information darüber zu betrachten, daß der Mond aufgegangen ist.

 

7. Denke immer daran: Dichtung ist redundant. Erst wenn sie Journalismus geworden ist, wird sie diesen fatalen Mangel verlieren.

 

8. Das Vorhandensein literarischer Texte ist nur dadurch zu rechtfertigen, daß du dich mit ihnen beschäftigst.

 

9. Du kannst sehr wohl einräumen, daß Literatur allein aus Sprache bestehe, wenn du darauf hinweist, daß Sprache nichts als ein selbstbezügliches System ist.

 

10.  Deine höchste Aufgabe? Zeige, daß Literatur keinen Sinn hat.

 

 

Literaturbetrieb, Literaturwissenschaft und Literatur  als  Sprache

 

(Einleitung  zu dem Band: H.A., Zur Sprache kommen. Münster 1983)                           

Die Situation der deutschen Literatur ist glänzend, also erbärmlich. Niemals gab es eine solche Produktionsfülle und eine solche Fülle an Bedeutungslosigkeit. Wo immer jemand im Satzbau tätig ist oder eine Fiktionsmanufaktur betreibt, steht die Literaturindustrie bereit, noch das Kärglichste zu vertausendfachen, und deren Reklame, noch dem Nichtigsten Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ausgeschlossen, daß in dieser tönenden Sprachlosigkeit sich ein Wort, ein Gedanke, eine Geschichte hörbar, gar verständlich machen könnte (die es ja, wenn ich nur an den einen Ernst Meister denke, immer noch, immer wieder gibt).

Vielmehr lehren die Macher des zeitgenössischen Theaters, dem noch niemals so viele Mittel zur Verfügung standen, lehren auch oft die des Films, wie man sogar die ältere, die wichtige Literatur auf das Niveau brutalster Direktheit zurichten könne, und lehren deren sogenannte Kritiker, wie diese automatisierte Wildgewordenheit immer noch einmal als „Mut zum Wagnis" sich apostrophieren lasse.

Die Literaturkritik, für die es zahlreiche Funktionäre, aber ganz wenige Köpfe nur gibt, sorgt vor allem für die Unablässigkeit des literarischen Leerlaufs. Ihre Auswahl ist zumeist beliebig, ihr Urteil auswechselbar, es wird weithin von Vorlieben und Ressentiments gesteuert. Wie wäre auch von einer Species die Fähigkeit zur gerechten Unterscheidung zu erwarten, die sich in Deutschland von zwei Professoren repräsentieren läßt, von denen der eine dafür plädiert, aus dem „Mann ohne Eigenschaften" einen Digest herzustellen, damit so der Verbreitung des Autors aufgeholfen werde. (Solcher Schwachsinn wird dann auch noch öffentlich von denen hin- und hergewogen, die von diesem Gelehrten ehrenhalber abhängen.) Der andere aber verleumdet nach dem Zeugnis des einen, verdächtigt, fälscht und plagiiert nach dem Urteil eines weiteren Literaturkritikers. Doch das „angesehene Blatt", das schon im Namen beansprucht, das Ganze von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein, hält jemanden, der öffentlich (und ohne daß dem widersprochen würde) ein Plagiator genannt wird, für besonders geeignet, der deutschen Gegenwartsliteratur die Richtung zu weisen. Dies macht den Glanz des Zustands der Literatur in Deutschland so unvergleichlich.

An diesem Glanz teilzunehmen ist eine begreifliche Absicht aller, die lesen und schreiben zu können glauben. Zu diesem Glanz beizutragen drängt es auch manche Literaturprofessoren, die in einem Land, wo die Journalisten nun durchweg Professoren werden, vor allem Journalisten werden wollen. Oder doch wenigstens weltläufige Präsidenten, Quizmaster, Adjunkten beim „Playboy". Sie zeigen, wie nicht nur die Produktion von Literatur, sondern auch die Beschäftigung mit ihr fast so prominent machen kann, wie es schon einer ist, der mit Hilfe eines Verstärkers Liedchen trällert.

Aber auch jenseits der Scharlatanerie, die die bestimmende Erscheinungsform des Lileraturbetriebs in Deutschland geworden ist, hat die Literaturwissenschaft nur ein sehr distanziertes Verhältnis zur großen Literatur. Das ist leider in den letzten 150 Jahren noch nie sehr viel anders gewesen. Sie hat sich mit der Literaturhistorie als einer Sonderform der politischen und sozialen Geschichte beschäftigt, mit den Biographien der Dichter und mit ihren Erlebnissen, mit der Psychologie, der Psychoanalyse, der Soziologie bei Gelegenheit literarischer Werke, mit deren Entstehung und deren Aufnahme beim Publikum und mit dem Text als linguistischem Beispiel. Vor allem hat sich die Literaturwissenschaft immer wieder mit sich selber beschäftigt, als stehe sie immer wieder in Legitimationsschwierigkeilen.

Aber Literatur, die als Dokument gilt, kann und soll ein Thema für die entsprechenden Wissenschaften sein; es bedarf zu ihrer Erforschung und Beschreibung nicht einer besonderen Disziplin. Und Literaturwissenschaft, die ihre wissenschaftliche Begründbarkeit davon abhängig macht, daß sie den Kriterien genügt, die für die empirischen Wissenschaften gelten mögen, hat weder etwas von sich selbst noch von der Literatur begriffen. Sie ist im Grunde noch im Zustand eines vorkantischen Bewußtseins.

Wenn es der Literaturwissenschaft aber doch einmal um Literatur als Literatur zu gehen schien, wenn sie sich selbst als Kritik (im Kantschen Sinn) begriff, so hat sie die Literatur alsbald auf ihre Form, ihre Struktur, ihre Immanenz festgelegt und mit Kunst identifiziert,*) Sie hat sich dabei mit gutem Gewissen präsentiert, wenn sie nämlich ein nomenklatorisches Arsenal bereit hielt, das die Nähe zur etablierten Wissenschaft belegen konnte, oder mit schlechtem Gewissen, wenn sie nämlich, meist ohne es offen auszusprechen, an der Darstellung des Essays sich orientierte.

Verlegenheilslösungen und Verlegenheiten immer wieder trotz eines großen literaturtheoretischen Fonds, wie er dieser Wissenschaft in Hamann, Herder und Kant, in Schiller und Humboldt, in Hegel und Friedrich Schlegel wie Schleiermacher gegeben ist. Vor allem trotz der Fülle großer Literatur, die insgesamt ein Postulat stellt, das nie eingelöst sein wird, das aber immer wieder als das zentrale dieser Wissenschaft gegenwärtig sein muß: verstanden zu werden.

Niemals wird etwas anderes die wichtigste Aufgabe der Literaturwissen­schaft sein können, als die literarischen Werke zu verstehen und sie verstehbarer zu machen (wobei der erste Schritt zum Verständnis ist, einzusehen, daß man keine Zeile bedeutender Lileratur konsumieren kann wie ein Stück Kuchen).

Auszugehen ist bei dieser Aufgabe von dem Bewußtsein, daß Literatur nicht aus linguistisch zu erklärenden Texten, nicht aus philosophisch, soziologisch, psychologisch verwendbaren Zitatsammlungen, aber auch nicht aus Kunstwerken besteht, deren Form oder Struktur einzig zu beschreiben wäre. Doch gilt die Bemerkung, daß Literatur Sprache sei, als trivial. Jeder muß das ja ohne weiteres zugeben. Dennoch ist das Bewußtsein von der Sprachlichkeit der Literatur bis heute schwach entwickelt. Denn daß Literatur Sprache sei, hat durch viele Jahrhunderte bedeutet, Sprache sei das Vehikel oder sie sei das Material der Literatur, mit Hilfe dessen oder an dem das erscheine, was das Eigentliche der Literatur ausmache. Und Sprache konnte so verstanden werden wegen der ‚Metasprache' eines vorauszusetzenden Gesamtsinns.

Wo aber neuere Theorien das konstitutiv Sprachliche der Literatur bezeichnen wollen, da ist dieses Sprachliche durch eine systemorientierte Sprachauffassung bestimmt, die ihren prägnantesten Ausdruck im Begriff des Zeichens hat und die Sprache in der Literatur eben von diesem aus zu begreifen sucht, obwohl durch diese methodische Eingrenzung die Frage nach der Bedeutung geradezu abgeschnitten wird.

Will sagen; Bisherige Literaturwissenschaft hat Sprache entweder reflektiert als das Medium, das die (metasprachliche) Semantik der Werke nur transportiert, oder aber als Medium, das als solches systematisch darzustellen sei. Sie hat also immer schon entweder auf das geblickt, was ,hinter' dem Medium sein sollte, oder sie hat zwar auf die Sprache sich konzentriert, aber in ihrer Medialität.

Jedes Werk der Literatur aber ist Sprache, die als Medium unzulänglich nicht nur, sondern unrichtig beschrieben ist, und es ist dennoch ausschließlich Sprache. Denn sowenig eine Gedichtzeile, ein Dramenvers, der Satz einer Erzählung auf irgend etwas Empirisches oder Außerempirisches zeigen, das außersprachlich wäre, sowenig sind Gedichtzeile, Dramenvers, Satz einer Erzählung linguistisch zu beschreibende Bewegungen innerhalb eines Mediums.

Literatur ist nicht ein einzelner sprachlicher Bereich, auf den eine Sprachauffassung anzuwenden wäre, die - wie alle linguistischen, informations- oder kommuni- kationstheoretischen - auf jeden Fall niemals an der Literatur als Sprache gewonnen ist. Literatur ist vielmehr als Intention der Sprache derart zu begreifen, daß sich an ihr erst eine Sprachauffassung entwickeln kann, deren Legitimation jedenfalls von vornherein so gesichert wäre wie jene heute gängigen, die, ohne daß die Sprachtheoretiker dies wissen oder einräumen, an dem verbreitetsten öffentlichen Sprechen, also an der Sprache der Nachrichten- und Meinungsmedien ihr Paradigma hat.

In der Literatur ist Sprache gleich weit entfernt von magischer Identifizierung von Sprache mit Sache wie von einer scientifischen Unterscheidung des signifiant vom signifié. In der Literatur ist sie Vermittlung, welcher Begriff nicht wie der des Mediums ein Mittel nur aussagt, vielmehr immer schon das Vermitteln als das Erscheinen der ‚Sache’. Sprache ist hier auf die konkreteste Weise Vermittlung, insofern Allgemeines und Besonderes, Ganzes und Einzelnes, Idealität und Materialilät, die in jedem Wort schon potentiell in einem Verhältnis zueinander sind (das die genannten Pole immer unterscheidbar, doch auch immer untrennbar erhält), in der Literatur als Einheit in der Verschiedenheit wirklich erscheinen. In allem anderen Sprechen ist dieses Verhältnis zugunsten von Distinktheit, Exaktheit, aber auch von Konvention verdeckt oder verkümmert, obwohl es doch wesentlich zur Sprache gehört. Darum wird immer noch, immer wieder mittels der Vereinzeltheit jener Kategorien Wirklichkeit zu beschreiben und zu begreifen versucht.- Darüber hinaus heißt Literatur als Sprache auch, daß ihre Darstellung der Wirklichkeit als Natur, Gesellschaft, Individuum sich als ein Sprechen von deren eigener Sprachlichkeit erweist. Unsinnig sind ja alle Versuche, Literatur und Wirklichkeit in ein Verhältnis zueinander zu setzen, das sich nicht in der Sprachlichkeit beider konstituierte, weil ohne diese zwischen beiden ein Abgrund klaffte. Denn was hätte eine eo ipso als sprachlos behauptete Natur, aber auch eine auf Information und Kommunikation redu­zierte Menschheit etwa mit dem Vers zu tun:

 

        Füllest wieder Busch und Tal

        Still mit Nebelglanz  . . .?

 

Darum verzichtet Literatur von vornherein auf den Schwindel, sie bezeichne eine ‚objektive' Wirklichkeit (oder deren Vorstellung). Sie spricht vielmehr so von und mit Wirklichkeit, daß die ihre Sturnmheit, in die sie moderne Wissenschaft gebannt hat und in ihrem Gefolge alles verdinglichende Sprechen, aufgeben kann. Das Zauberwort, das die Welt zum Singen brächte, wäre aber kein magisches mehr, es wäre das seiner eigenen Sprachlichkeit bewußte Sprechen, also eines, das aufgehört hätte, sich als Instrument, als Medium mißbrauchen zu lassen. Das erscheint bereits - aber als Schein eben nur, als ,schöner' Schein, als Darstellung -  in der unerhörten Sprache der Literatur, die Gleichnis heißt.

 

*)  Das gilt selbst für jene, die sich am meisten noch mit der Sprache der Literatur befaßt haben; sie haben fast immer den Stil der Werke betrachtet und vom „Wortkunstwerk" oder vom „sprachlichen Kunstwerk" gesprochen.

 

  (nach oben)

 

Barockes Trauerspiel

(A.Gryphius, Carolus Stuardus – D.Casper von Lohenstein, Sophonisbe)

Dritter Teil und Schluß.

( Erster Teil s.ZLdN 16, zweiter Teil s. ZLdN 17)

 

Lohensteins  “Sophonisbe“

Lohensteins Trauerspiel, zur Vermählung Leopolds I. mit Margarethe von Spanien 1665/66 entstanden, 1669 in Breslau uraufgeführt, 1680 zum ersten Mal gedruckt, hat eine Reihe von Vorgängern. Schon 1515 gibt es eine Tragödie "Sofonisba" von Giorgio Trissino. Sie galt als die erste regelmäßige Tragödie der europäischen neuzeitlichen Literatur im Anschluß an die griechische Tragödie. Trissino wählte aber keinen mythologischen Stoff, sondern einen aus der römischen Geschichte, und zwar  aus des Livius' "Ab urbe condita libri". Das Stück wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. In Frankreich erschien 1634 "La Sophonisbe" von Jean Mairet, mit der die klassische französische Tragödie eingeleitet wird im Gegensatz zur bis dahin vorherrschenden Tragikomödie. Und 1663 wird in Paris die "Sophonisbe" des bedeutendsten frühklassizistischen französischen Tragödiendichters, nämlich Pierre Corneilles, zum ersten Mal aufgeführt. An ihn, der sich recht genau auf die römische Geschichtsschreibung bezieht, schließt sich Lohensteins kurz nach Corneilles Stück entstandenes Trauer­spiel an. Es ist nur wenige Jahre nach Gryphius' letztem Trauerspiel, dem "Papinian", geschrieben worden, allerdings immerhin 16 Jahre nach dem "Carolus Stuardus". Aber es ist, wenngleich ein barockes Trauerspiel, dennoch ein ganz anderes denn das des Gryphius.

Die Episode, die den Stoff liefert, gehört zum Umkreis des zweiten Punischen Krieges zwischen Rom und Karthago. Aber in der Historie sind diese Vorgänge eben nichts als beiläufig, im Trauerspiel ist es ein bedeutendes Geschehen. Kurz der Umriß der historischen Episode: Karthago, im ersten Punischen Krieg noch ohne entscheidende Niederlage, dehnt seinen Einfluß auf das numidische Hinterland Nordafrikas aus. Dazu kommt die machtpolitische Expansion in Spanien und im westlichen Mittelmeer. Rom fühlt sich erneut bedroht. Hannibal erobert Sagunt (an der spanischen Ostküste). Es kommt zum zweiten Punischen Krieg, der bis 201 v. Chr. dauert, zunächst große Siege für Karthago bringt, schließlich aber mit dessen Niederlage endet, die v. a. dem jungen Publius Cornelius Scipio zu danken ist. Gegen Ende dieser Auseinandersetzung steht Syphax, der König von Westnumidien, der zunächst Rom unterstützt hatte, an der Seite Karthagos, an die er durch die Heirat mit Sophonisbe, der Tochter des Hannibalbruders Hasdrubal, gebracht worden war. Nun wird er durch den neuen Verbündeten der Römer, den Ostnumidier Massinissa , mit dem Sophonisbe einst verlobt war, in seiner Hauptstadt Cirta (dem heutigen Constantine) bedrängt und nach der Eroberung Cirtas gefangen genommen. Dies ist die Ausgangslage des Trauerspiels von Lohenstein, der selbst den Inhalt seines zweiten afrikanischen Trauerspiels zu Anfang ziemlich ausführlich paraphrasiert.

An dieser Inhaltsparaphrase wird sofort  eine außerordentlich bewegte, und zwar immer wieder rasch umschlagende Handlung kenntlich, obwohl die doch auch hier wie bei Gryphius in Abhandlungen, also vor allem in Reflexion, in Rede sich entfaltet und das Ganze wiederum seine formale Einheit in Alexandrinern hat.

Verkürzen wir und heben wir die Handlungsumschläge hervor: Der König Syphax soll getötet werden; seine Frau Sophonisbe, davon unterrichtet, will sich selbst töten, entschließt sich dann zum Kampf. Vorher will sie den Göttern einen Sohn opfern; im letzten Augenblick vor der Opferung erscheint Syphax, der sich hat befreien können, und rettet seinen Sohn. Kurz darauf ist die Stadt von Masanissa (so oft im Stück) eingenommen, Syphax wiederum eingekerkert: er will sich töten. Da schleicht sich die verkleidete Sophonisbe zu ihm, befreit ihn, läßt sich selbst fesseln. Masanissa wiederum will den Syphax töten; als er den Dolch hebt, entblößt die verkleidete Sophonisbe ihre Brüste. Masanissa bekennt neuerlich seine Liebe zu ihr; Sophonisbe entschließt sich, ihn zu heiraten. Im Augenblick der Heiratszeremonie taucht der römische Feldherr Laelius auf und will Sophonisbe von Masanissa wegreißen. Im zornigen Streit mit Masanissa befiehlt Laelius dann drei Numider zu opfern. Dazu findet sich schließlich nur Sophonisbe bereit. Als sie das Opfermesser schon ergriffen hat, erkennt sie in einem der Numider ihren Mann Syphax. Der will Sophonisbe wegen Untreue erstechen und schließlich sich selbst entleiben. Scipio wirkt auf den Masanissa ein, so daß der schließlich von seiner Heiratsabsicht abläßt und Sophonisbe, damit sie nicht in die Hand der Römer falle, Gift schickt. Sophonisbe will sich im Sonnentempel mit ihren Söhnen verbrennen; ihr bringt ein Vertrauer Masanissas dessen Gift. Sie trinkt das Gift. Schon erscheint Masanissa und bereut, ihr das Todesmittel geschickt zu haben. Er will sich selber töten, wird daran wiederum im letzten Augenblick von Scipio gehindert.

V. a. in dieser Verkürzung wirkt das Ganze fast kolportagehaft, von einer katastrophischen Raschheit, wie sie bis vor wenigen Jahrzehnten nur noch auf Jahrmärkten, nämlich in der Moritat und im frühen Stummfilm etwa bekannt war, wie sie sich heute allerdings zunehmend in Theater und Film wieder zeigt. Das hatte psychologisch gewiß etwas mit der bewußt starken Erregung der Affekte der Zuschauer zu tun, auf die man im 17. Jahrhundert noch ganz entschieden setzte, während seit dem späten 18. Jahrhundert an deren Stelle eine zunehmende Sensibilisierung der Zuschauer trat, die sich dann in theater- bzw. dramen- oder generell in literaturgesellschaftlichen Geboten und Verboten niederschlug.

Aber wir verstünden wenig von diesem Trauerspiel, wenn wir z. B. nur diese allgemeine poetische Regel der Affektenerregung uns vor Augen hielten. Denken wir daran, daß gerade dieser Stoff so gern und häufig im Drama der Zeit (übrigens auch in der Oper) aufgenommen wurde. Sehen wir dann, daß Lohenstein versucht oder sich gezwungen sieht, nicht nur ein Trauerspiel, sondern auch gleichzeitig ein Festspiel zu der kaiserlichen Hochzeit zu schreiben. Durch den notwendigen Kontrast zwischen der Überfülle katastrophalen oder eben noch Katastrophen verhindernden Wechsels und dem Elogium auf den Kaiser und seine Braut wird eine erste Sicht auf die Bedeutung dieser vielfältigen Wechsel und Veränderungen möglich. Zunächst natürlich auf die einfachste Weise. Diese Veränderungen sind der düstere Hintergrund der (behaupteten) heiteren, glückseligen Gegenwart. So jedenfalls die Absicht des Verfassers. Glanzvoll soll sich das Schicksal Leopolds und seiner Frau von dem Sophonisbes unterscheiden, glanzvoll auch das Schicksal des Habsburger Reiches von dem der Numider. Aber hier wird schon die Grenze der Verwirklichungsmöglichkeiten solcher Absicht erkennbar. "Eine neue Welt" zwar soll nach den Schlußversen des "Verhängnüsses" Österreich repräsentieren, aber wohl auch ein Ans-Ende-Kommen des ewigen Wechsels von siegenden und niederbrechenden Staaten und  ihrer  Fürsten. Doch nur vom Wechsel ist als von einer Realität die Rede. . Die vier großen Monarchien des Altertums: das assyrische, das persische, das griechische und das römische Reich müssen sich vom Verhängnis sagen lassen:

 

        Daß ihr umbsonst so mühsam seit

        Umb diesen Preiß [unvergänglicher Weltherrschaft ] der gantzen Erden!

        (V, 671 f. Zitiert wird nach der Ausgabe von R.Tarot.Stuttgart 1970)     

 

So tritt die Konventionalität des Fürstenlobes und der Behauptung, Habsburg werde, und zwar endgültig, die Weltherrschaft in der Neuzeit innehaben, vor diesem Hintergrund nur allzu deutlich hervor.

Der rasche Wechsel, die ständige Veränderung des Zustandes, und zwar so oft mit katastrophaler Tendenz, ist gerade die eigentliche Intention des Stückes, das auf zwei Ebenen von solcher Veränderung handelt. Ist der "Carolus Stuardus" noch die Darstellung eines Umschlags von tendenzieller geschichtlicher Unveränderlichkeit in die katastrophal gesehene tendenzielle Veränderung, so stellt die "Sophonisbe" bereits eine Welt dar, die von Augenblick zu Augenblick sich in ihr Gegenteil verändern kann. Das gilt sowohl für die staatlich-politische Sphäre wie für die Geschichte des Einzelnen.

Obwohl es sich doch um einen Stoff der römischen Geschichte handelt, hat das Stück mit der eben nur so viel zu tun, wie der Stoff am Drama beteiligt ist. Es erscheint darin die "neue Welt" ständigen Wechsels. Nun ist der Glückswechsel ein Begriff, der zentral ist für die Intention der Tragödie. Aber die Tragödie zeigt den Glückswechsel als einmaligen und totalen: der Held, sich gerade in höchster Sicherheit wähnend, stürzt in eine Tiefe, die ihm sein eigenes, so erfolggesättigtes Handeln bereitet hat. Dies ist, wenn von ständigem Wechsel die Rede ist,  hier nicht gemeint. Gleich zu Anfang stehen sich der siegreiche Masanissa und der unterlegene, gefangene Syphax gegenüber. Und Syphax sagt:

.

            Dis ist des Glückes Spiel. Ich habe noch für gestern

            Mehr/ als du itzt geprangt. Gewalt und Fall sind Schwestern.

            So Ich als Craesus kan dir ein schön Beyspiel sein:

            Daß niemand für der Gruft sein Glück ihm darf beschrein.

            Dis und ein Solon kan dich klüglich unterweisen:

            Daß Sieger fürstlich solln besiegte Fürsten speisen. (I, 95-100)

 

"Des Glückes Spiel" - das manifestiert sich in diesen Wechseln, von denen das Trauerspiel handelt.

In der ersten Abhandlung kommen Himilco und Micipsa, zwei Gefolgsleute des Syphax, mit der Forderung Masanissas zu Sophonisbe, entweder die Stadt zu übergeben oder mit der Hinrichtung ihres Gatten rechnen zu müssen.

Sophonisbe schwankt zwischen der persönlichen Reaktion auf den Wechsel und der der Königin. Sie entscheidet sich schließlich für die Reaktion der Königin, und zwar mit allen Konsequenzen, entsprechend den Worten des Amilcar:

 

        Die Fürsten, denen ist der Purper angebohrn

        Sind ohne Zepter kranck /   und mehr als todt in Ketten.(I,322 f)

 

Die Situation steigert sich in der zweiten Abhandlung, nachdem Masanissa die Stadt eingenommen und Syphax, der sich hatte befreien können, wieder gefangen genommen hat. Sophonisbe ist bereit zu sterben, sieht sich aber unvermittelt Masanissas Liebe konfrontiert. Die aber ist selbst, wie der folgende Monolog des Masanissa zeigt, dem Wechsel in der Reflexion des Einzelnen unterworfen. Denn sie ist durch und durch zweideutig: nur Trieb, den Vernunft regieren muß, oder doch die entscheidende Erfahrung des Individuums? Der Einzelne vermag das nicht oder nur ad hoc zu entscheiden.

 

               MASINISSA

               Ach! Aber ach! Bin ich Besigter oder Sieger?

               Den Jäger zwar erlegt oft ein gehetzter Tyger/

               Nicht aber ein schwach Reh. Und Sophonisbe schlägt

               In Band und Eisen mich! wir siegen! und sie trägt

               Die Lorber-Kräntze weg! wir schneiden/ und fühln Schmertzen!

               Wir herrschen in der Burg/ sie aber uns im Hertzen!

               Wir sind Herr dieses Reichs/ sie Hencker unser Lust!

              Tyrann in unser Seel’ und Natter in der Brust!

               […]

               Und  Masinissa will sich gatten mit den Drachen/

               Umbarmen  diesen Wurm/ mit Nattern Freundschaft  machen?

               Schleuß diese Zauberin  in ein Gefängnis ein;

               Stoß sie aus Schoos und Brust. Nein! Masinissa/ nein!

               Der Ehrgeitz bländet dich/ du rennst in schnöden Schrancken/

               Die Rach' und Eyfer setzt; du frevelst mit Gedancken/

               Wenn du des Syphax Schuld auf ihre Schultern lägst;

               Die Unschuld mit Verdacht- und Neides-Peitschen schlägst..

               […]

                                                                       Dis/Sophonisbe/steckt

               Mich mehr mit Flammen an; daß deine Schönheits-Strahlen

               Nicht tumme Steine sind und Perlen-leere Schalen:

               Daß du von Asdrubaln dem Helden stammest her/

               Der neu Carthago baut'/ ein Herr war zweyer Meer'/

               Und stets voll Tapferkeit zum Kampffe war gegürtet;

               Daß deine Lilgenbrust Alcidens Hertz bewirthet;

               Daß Blitz beseelt dein Aug' und Anmuth die Gestalt.

               Ich brenn! Ach! aber/ ach! mein Hertze wird mir kalt/

               Wenn es an Rom gedenckt/ an Scipions Gesichte.

               Geschwinde Brunst gebiehrt der Reue saure Früchte.

               […]

               Mein Lebens-Faden hengt in Sophonisbens Hand;

               Mein Puls schlägt/ wie in ihr/ mein Hertz in ihren Brüsten!

               Wird aber Syphax nicht noch unsern süssen Lüsten

               Schälsichtig ihrer Gunst und Lieb' am Wege stehn?

               Nein! Syphax sol schnurstracks durch diese Faust vergehn!

               (II, 159-218)

 

Dem schnellen Wechsel, der sich so gut in den politischen Ereignissen wie in den Empfindungen des Einzelnen zeigt, sucht Sophonisbe durch das einzige Mittel zu begegnen, das dem Wechsel nicht auszuliefern scheint: äußere Anpassung, die den Wechsel zu dirigieren sucht. Kaum hat sie Masanissas Vertrauen und Liebe gewonnen, befreit sie Syphax aus seinem Gefängnis, aber unmittelbar danach gibt sie dem Werben Masanissas nach. In der Szene mit Syphax scheint sie sehr deutlich ihre Position darzustellen. Als sie sich Syphax als verkleidet entdeckt, fragt der:

                

                 Wie? ist/ mein Engel/ sie ein Römisch Kriegs-Knecht worden?

                 SOPHON. Die Liebe/ liebstes Haupt/ ist aus des Proteus Orden/

                 Die sich zu allen macht/ nimbt jede Farb' an sich

                 Wie ein Chamaeleon. Die hat/ mein Engel/ mich

                 Auch in  dis Kleid versteckt dir Hülf und Rath zu bringen.

                 SYPHAX. Was kan aus der Gefahr für Hülffe mir entspringen?

                 SOPHON. Verwechsele mit mir nur Augenblicks dein Kleid.

                 SYPHAX. Ach/ Ausbund wahrer Treu! SOPHON. Verspiele keine Zeit.

                 Der Wächter Aufsicht läßt uns nicht viel Wesens machen.

                 SYPHAX. Wil sie mich denn befreyn/ sich opfern diesen Drachen?

                 SOPHON. Beförder deine Flucht. Ich weiß auch mir schon Rath.

                 SYPHAX. Wer schleußt die Fessel mir auf? SOPHON. Sophonisbe hat

                 Schon  Schlüssel.

                 […]

                 Der Witz mus aus der Noth ihm eine Tugend machen:

                 Er hält auch mich und's Reich schon für verlohrne Sachen/

                 Der Sophonisben nicht mit rechte fluchen kan/

                 Die seine Ketten bricht und ihr an Hals legt an;

                 Die Ketten/ durch die ich selbst traue Masinissen/

                 Als Zeichen meiner Treu' ins Liebes-Garn zuschlüssen. (II, 259-308)

 

Aber unerkennbar wird nun gerade, welche Rede wahrhaftig, welche nur taktisch ist. Wird zum Schluß der Szene die Verbindung mit Masanissa als politisch- taktischer Zug angekündigt, so hört sich die Zustimmung Sophonisbens zu Masanissas Ehewunsch in der folgenden Szene immerhin so an:

   

                 SOPHON. Ich sorge: daß mir dis den Sterbekittel webt!

                 MASIN. Ich wil den Bund mit Rom/ eh als den Eyd dir brechen.

                 SOPHON. Ich darf/ mein Schutz-Gott/ dir nun nicht mehr widerspre­chen

                 Die Flamme läßt in mir sich länger nicht verhöln.

                 Laß einen heissen Kuß den todten Mund beseeln.

                 Denn Küssen ist der Kern/ die Seele ja der Liebe.

                 Itzt folgt nach Thränen Lust/ und Sonnenschein aufs Trübe.

                 Ich bin aus mir entzückt/ ersäuft von Glück und Lust!

                 Ich opfere mein Hertz und wiedme meine Brust

                 Zum Tempel. (II, 418-427)

 

Herr des Wechsels scheint in Wahrheit nur noch die jeweilige Weltmacht, hier Rom, zu sein, die in der Gestalt des Feldherrn Laelius die plötzliche Heirat Masanissas mit Sophonisbe zu verhindern sucht, und zwar allein aus politischen Gründen. Sophonisbe soll Gefangene Roms und damit aus dem politischen Spiel ausgeschaltet werden. In einer Auseinandersetzung zwischen Laelius und Masanissa zeigt sich dessen Versuch, sich gegenüber der Omnipotenz Roms wenigstens in seinen persönlichen Entscheidungen zu behaupten.

Gegen Ende der Szene wechselt aber die Perspektive. Laelius macht das Men­schenopfer der Numider zum Thema und will sich für das verabscheute Opfer seinerseits ausgerechnet durch Opferung von Numidern rächen. Auch die Weltmacht ist also in ihren Repräsentanten dem Wechsel, hier dem raschen Wechsel individueller Haltungen ausgesetzt. -

Da niemand von den Numidern die Opferung seiner Landsleute vollziehen will, versucht Sophonisbe in einem äußersten Akt der Anpassung sich vor den verhaßten Römern zu retten.

 

                SOPHON.Darf ich mich wol erkühnen
                Durch ein verzweifelt Werck mir Wolfahrt zu verdienen?
                Hier stellt sich Laelius/dir eine Königin/
                Die kein Bedencken trägt die Drey zu richten hin/
                Umb euch zu machen wahr: daß ich durch Masanissen
                Mit Römern Freindschaft wolln/mit Mohren Feindschaft schlüssen/
                Daß ein Schneeweißes Hertz in braunen Brüsten steckt.
                LAELIUS. Ist's glaublich/was sie sagt? Sehr wol ! es sey vollstreckt
                Was uns ihr Mund verspricht. SOPHON. Ich will mit Lachen schneiden
                Die Hertzen aus der Brust. Kommt/laßt mich euch entkleiden.
                Reicht mir das Messer her.   (III, 351 – 341)  

 

Da entdeckt sie in dem einen Gefangenen Syphax, dessen Eifersucht nun ausbricht.-

 

Der Schluß-Reyen sucht die Intention der Abhandlung, wie übrigens durchweg in diesem Stück, auf einer allegorisch-abstrakten Ebene einzuholen. Eifersucht, Neid, Narrheit und Vernunft streiten miteinander. Die drei Ersten repräsentieren die Affekte, die die Personen zum Wechsel ihrer Empfindungen und damit ihres Verhaltens treiben. Vernunft sucht immer wieder die Gründe des Stimmungswechsels in Zweifel zu ziehen, bis sie zuletzt auch nur auf stoische Resignation verweisen kann. So hat auch nicht sie mehr das letzte Wort, sondern Verzweiflung.

 

                Die Eyfersucht.

                Ach! Schwester/zetter! zetter! ich vergeh!  

                Ach! siehst du's nicht? wer meinen Schatz umbfängt.

                Er küsset sie/sie ihn. Weh/weh! ach! weh!

                Schau! wie er gar den Brautt-Schmuck umb sie hengt.

                Sie reichet ihm ein Haarband; nebst zwey Ringen.

                Nun ist es Zeit sie und mich umbzubringen.

 

               Die Vernunft.

               Bezwinge dich! Ein solch Meineydisch Weib

               Ist keiner Lieb' auch keines Seuftzers werth.

               Sie verunehrt nicht dich/nur ihren Leib.

               Und endlich wird ihr Straf und Schmipf gewehrt!

 

               Die Verzweifelung.

               Weg mit Geduld! Ein Strick und Dolch ist besser.

               Geh tödte dich und sie. Hier ist ein Messer. (III,551-562)

 

Bei Lohenstein setzt sich immer wieder gegen die erklärte Absicht des Autors das durch, was durch Vernunft als Staatsräson sowohl wie als Triebverzicht oder als Anpassung des Einzelnen beherrschbar gemacht werden soll: der Wechsel als glücksvernichtender, zerstörerischer.

Masanissa vermag sich  nicht gegen die römische Staatsraison durchzusetzen, aber er vermag in sich selbst auch nicht die "nüchterne Vernunft" zum Sieg zu bringen; er bleibt  dem Wechsel von "Begierden und Vernunft" ausgesetzt. Sein Monolog in der vierten Abhandlung teilt die 104 Verse fast exakt zur Hälfte auf Begierde und zur anderen Hälfte auf Vernunft auf und kann zu einem Ergebnis doch nicht kommen.

Genauer wäre es zu sagen: die Figur des Masanissa kann zu einem Ergebnis nicht kommen; das Ergebnis des Monologs aber ist die Darstellung des Wechsels zwischen Begierde und Vernunft. Denn nicht nur ist diese Darstellung, indem sie der Reflexion des einen wie des anderen gleichen Raum zugesteht, poetisch 'gerecht', sie stellt auch die Gegensätze, zwischen denen sie wechselt, als Einheit kraft analoger, funktional analoger Metaphorik dar. So wird aus dem unentrinnbaren Wechsel ein Spiel gemacht, wie es Lohenstein schon in dem Widmungsgedicht an Franz von Nesselrode ankündigt. Spiel als Darstellung ist die Harmonisierung des ständigen Wechsels, das als Einheit des Daseins geradezu postuliert wird, indem alle seine Aspekte zusammengestellt werden und das Wort "Spiel" als eine Art universellen Homonyms für deren Zusammengehörigkeit einsteht.

Aber so sehr das Trauerspiel als ästhetische Erscheinung in seiner Darstellung Herr des Wechsels wird, so wenig kann im Weltspiel eine solche Dominanz sich zeigen. Sophonisbes Anpassung, ihr Spiel um Macht und Überleben, führt zu eben der Einsicht, die die Hauptfiguren des Gryphius in dessen Trauerspielen.gewissermaßen gleich an den Anfang ihrer Rede stellen: "Es muß gestorben sein" (V, 374)

Aber es ist natürlich nicht unwichtig, daß ein solcher Satz hier erst am Ende steht, obwohl doch die Bereitschaft zur Selbsttötung so oft schon von Sophonisbe geäußert worden ist. Doch erst wo die Bereitschaft sich mit der Einsicht verbindet, vor dem Zwang zu stehen, sich töten zu müssen, ist der Vergleich mit und die Differenz zu der Bereitschaft zum Tode von Gryphius' Titelfiguren sinnvoll.

Bei Gryphius ist diese Bereitschaft die einzige Weise, dem Wechsel und der Veränderung als weltgeschichtlich heilloser zu entgehen, bei Lohenstein ist die Bereitschaft Ausdruck des Wechsels selbst, oft als taktischer Versuch der Hauptfiguren, einen Wechsel zum Günstigeren herbeizuzwingen. Im "Carolus Stuardus" sagt dieser als einen der ersten Sätze: "Wir sind des Lebens sat", in der "Sophonisbe" diese als einen der letzten: "Es muß gestorben sein". Die Resignation vor dem Leben als sich heillos veränderndem und die Einsicht in den Zwang, die Veränderung durch Anpassung nicht mehr überspielen zu können, sind die Formeln für die Differenz im barocken Trauerspiel des Gryphius und Lohensteins. Es ist das Scheitern des Versuchs, der heillosen Immanenz doch noch das eigene Heil abzuzwingen.

"Dis kummerhafte Leben/ Kan uns mehr keine Lust/die Zeit kein Heil mehr geben" (V, 385 f), sagt Sophonisbe, die sich dagegen wehrt, nur exemplum des Weltspiels zu sein, hier Roms Weltherrschaft als gefangene Königin zu bestätigen. Aber gerade das gelingt ihr nicht. Doch auch Rom steht schon in der Perspektive des Wechsels, und die Verkündung der ewigen Blüte des Hauses Habsburg ist nicht mehr als eine Floskel. Lohenstein zieht aus des Gryphius' Trauerspielen die Konsequenz: unaufhaltbar ist die Veränderung geworden, aber als Wechsel ist sie der ziellose, vom Verhängnis bestimmte Ablauf der Immanenz. Die Bemühung, das Schlimmste, den eigenen Fall, durch Geschick ("Witz") und Anpassung zu verhüten, bringt ihn herbei. Sophonisbe bleibt wider Willen bedeutungsvolles exemplum, aber die Bedeutung ist nun geschrumpft auf den Aspekt, daß es im ständigen Wechsel so weitergehe und daß der Tod dieses wechselvolle Leben nicht überwinde, sondern nur beende.

 

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VON DER THEOLOGIE

 

Eberhard Jüngel hat über die Einheit der Kirche nachgedacht.

 

Zum Reformationstag, den sich die Evangelische Kirche in Deutschland als ihren Gründungstag hat nehmen lassen, obwohl er doch zuvörderst ein staatlich anerkannter Feiertag  im ersten protestantischen Lande  sein müßte, hat der evangelische Theologe Eberhard Jüngel, den wir spätestens bei Gelegenheit  ihrer Dissertation über Gleichnisse unserer Schülerin Bärbel Koch-Häbel zu schätzen gelernt haben, in der FAZ  vom 31.Oktober 2007 einen Aufsatz über den „Glauben an die Einheit der Kirche“  veröffentlicht. Er beginnt mit einem literarischen Rekurs auf  Goethes erste der sechzehn Parabeln von 1808, von der Emil Staiger meinte, sie dürfe „nicht zu rigoros ausgelegt werden“. Jüngel sagt hingegen, in der Parabel werde „das Wesen des Gedichtes“ bedacht, das mit „gemalten Fensterscheiben“ (Goethe) verglichen würde. Da es  weiter geht mit „Kirche“ und „heiliger Kapelle“, konstatiert  Jüngel dann eine gewisse Ähnlichkeit von „Gedicht“ und „Kirche“, welch letztere er als „una sancta catholica et apostolica“ bestimmt, was aber nur geglaubt werden könne.

Nun ist vom „Glauben“ bei Goethe hinsichtlich des Gedichtes die Rede nicht. Nehmen wir dieses als Repräsentanten der Poesie/Literatur, so zeigt sich uns(nach Goethe), sobald wir die Verdrießlichkeit des „Herrn Philister“ hinter uns lassen, in der „heiligen Kapelle“ jene als „farbig helle“, in der „Geschicht’ und Zierat glänzt in Schnelle“ und „ein edler Schein“ „bedeutend wirkt“. Dies alles wird (nach Goethe) „euch Kindern Gottes taugen,/Erbaut euch und ergetzt die Augen !“ Will sagen: wenn wir erst  einmal  aufhören, vom „Markt in die Kirche“ zu sehen, also nicht nur von draußen, sondern von jenem Draußen aus blicken , das sich als Markt erfüllt, als der Inbegriff der Handelswelt, in der alles käuflich ist und aus Käuflichkeit besteht, wird  das Innere der „heiligen Kapelle“, insofern wir in sie eintreten, nicht mehr „dunkel und düster“, sondern  das Gegenteil sein: „farbig helle“, ‚glänzend’, „bedeutend“. Was das alles sagt, kann einem Handelsgeschlecht so schnell natürlich nicht aufgetan werden, aber sicher sagt es so gut wie nichts  zur „una sancta catholica et apostolica“.

Ja selbst wenn man zustimmen könnte, daß ex negativo  die „empirisch wahrnehmbare und erfahrbare Christenheit“ auf die „leuchtenden Vollkommenheitsattribute der Kirche“ weise, ist das eine sehr andere Sache als die Gegenwart  der Helle, des Glanzes, der Bedeutung  von Literatur, die jenseits des Philisteriums  für die ‚Kinder Gottes’ beginnt.

Aber bald schon entfernt sich Jüngel von der Frage, ob die jeweils jetzige Christenheit auf die vollkommene Kirche verweise, und wendet sich der Übereinstimmung von ‚dreieinigem Gott’ und einer Kirche zu. Die Trinität ist für Jüngel konkret in der jeweiligen Kirche, von der er drei namhaft macht: nämlich die römisch-katholische, die orthodoxe und die evangelische. Da es auch hier um Trinität geht, muß man zunächst einmal sagen, daß Jüngel Glück hatte, weil es – zumindest nach ihm – nur drei verschiedene Kirchen gibt, obwohl es  nach anderen auch sechs oder acht oder eben nur eine gibt. Jüngel geht auch gar nicht auf den sich aufdrängenden Einwand ein, daß diese drei Kirchen ganz im Gegensatz zur göttlichen Trinität doch keinesfalls ‚von Anfang an’ da waren und anders als jene  durch härteste Auseinandersetzungen, die natürlich die Kirchlichkeit der anderen eben bestritten, entstanden sind.

Luther  habe seine Exkommunikation so verstanden, daß  die ihn so behandelnde Kirche  „nicht auf die Stimme Jesu Christi hören wollte“, der die Reformation  wieder Gehör zu verschaffen sich bemüht habe. Mag Luther es derart verstanden haben, aber kann man dieses Verständnis zur Grundlage  einer in der Differenz einigen Kirche machen? Und  wird  alles sinnvoller, wenn man statt  der gegenseitigen „Exkommunikation“ anerkennt, daß in jeder der Kirchen  die „una sancta catholica et apostolica ecclesia“  „ihre ‚konkrete Existenzform’ habe?  Abgesehen davon, daß man sich Jahrhunderte lang  gegenseitig nicht nur exkommuniziert, sondern auch erschlagen hat, ist es schon eine eigentümliche theologische Arroganz zu glauben,  wir hätten nun endlich den Durchblick und sähen so, wie die Wissenschaft  heute die Evolutionslehre  als Grundlage unserer Erkenntnis ausmacht, die Dreiheit der Kirchen als die notwendige Dreieinigkeit (wobei man, wie gesagt, noch Glück hat, daß der Trinität eine [behauptete] Trias der Kirchen entspricht.).

Und sehr hübsch ist es dann,  wenn als Toleranzedikt beschrieben wird, daß die EKD, wie die bürokratische Abkürzung  einer „una sancta catholica et apostolica ecclesia“ lautet, Kirchengemeinschaft  mit „kirchenrechtlich  selbständig bleibenden Kirchen“ hält, sofern diese  das bekennen, was auch die EKD bekennt..

Wenn es aber trotz allem gar nicht mehr weiter geht, so ist laut Jüngel  „das kirchliche Amt“da. Und diese Feststellung wird nicht nur Benedikt XVI., auch im Namen seiner Vorgänger, mit Zustimmung hören, sondern auch alle Hubers dieser Welt, gleich ob sie nun mehr bischöflich oder mehr synodal gesinnt sein mögen. Das war so und wird wohl immer so bleiben.

Es hat heute allerdings  mehr denn je damit zu tun, daß die Kirche des Lehramts und die anderen Kirchen weniger innerhalb einer aufgeklärten denn  einer verblödeten nichtchristlichen Mehrheit stehen. Und damit, daß dieser egal ist, ob es eine „una sancta“ gibt, die sich in der Differenz zeigt. Und damit, daß der größere Teil der Glieder oder Mitglieder der Kirchen (in Deutschland jedenfalls) durch Kirchensteuer  dafür sorgt, daß das Amt sich auf den Beinen hält. Und damit, daß das allgemeine Priestertum der reformatorischen Kirchen  sich gern damit abfindet, dieses allgemeine Priestertum nicht auszuüben, sondern es dem Amt zu überlassen. Und damit, daß dieses Amt  immer weniger durch ‚Christenmenschen’  oder auch durch Landpastoren, sondern v.a. durch Oberkirchenräte, Präsides, Landesbischöfe unter Assistenz von Theologischen Fakultäten  ausgeübt wird.

Wenn wir auch sehr froh sein dürfen,  daß es neben dem Tinnef aus Politik, Wirtschaft, Kultur etc immerhin ein Feld gibt, auf dem dann und wann einmal etwas anderes traktiert wird  als die Frage : Wie gehen die Geschäfte ?, so muß die andere nach der „una sancta“ in der Dreieinigkeit  uns angesichts einer Situation, die  uns freilich nur fragen läßt „Was meinte Luther mit dem Apfelbaum ?“(Benn) ein bißchen dünn erscheinen.

 

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VON DEN MEDIEN

 

Plasberg wird von Suerland interviewt

 

„37 Millionen für mehr Geist“, überschreiben die „Westfälischen Nachrichten“ (19.10.07) einen Artikel,  in dem es um einen bewilligten Antrag der Universität geht. Meint es Karin Völker, die den Beitrag geschrieben hat,  ironisch oder doch, was zu vermuten steht, ernst: auch mit 38 Millionen läßt sich nicht mehr Geist produzieren, wie es Interview und Sendung, um die es in jenem geht, ein paar Seiten weiter beweisen. Das Interview ist mit einem fiktiven Zitat überschrieben: „Weiterhin ohne Krawatte“. Das hat sich der als „Redaktionsmitglied“ vorgestellte Harald Suerland so ausgedacht, und es ist in der Tat   nahezu schon die ganze Botschaft.Gibt es  etwas, über das weniger zu sagen wäre denn über das „Format“ einer Talkrunde? Interessant ist ja allenfalls die oder jene Meinung aus einer bestimmten Sendung, obwohl es sich dabei meist auch nur um einen rhetorischen Dreh handelt, den sich  durchweg Politiker ausgedacht haben. Aber die Sendung ‚als solche’, die hier in Rede steht, weil sie nicht mehr im WDR 3, sondern in der ARD erscheint? Warum  gibt es (noch) keine Sendungen über die Einrichtung, sagen wir, eines Metzgerladens: wie präsentieren Sie, Meister, Ihre Würste, wie hängen Sie die Schinken auf? Hier heißt es, denn man kann schon auf Geschichte zurückgreifen: „Weiterhin ohne Krawatte“. Und zum Zeichen des wird   Frank Plasberg auf einem großen Foto ohne Krawatte abgebildet wie der Fleischermeister mit Schürze. Das ist die Botschaft.

Wie ist das überhaupt möglich? Neben Spielen, die sich entweder um Mörder oder um Frau Pilcher drehen, besteht das Hauptprogramm des Herrn Struve, der mit unserem Geld macht, was er will, aus derartigen ‚Formaten’ ohne Format. Ein paar Leute, oft Langweiler, dann und wann rhetorisch Begabtere, werden zu Unwichtigem und Wichtigem einvernommen. Der Rede wert kann sein, was sie sagen oder auch,  was sie nicht sagen, vielleicht noch ein mehr oder minder gelungenes Späßchen.  Moderator oder Moderatorin können eigentlich nur vorkommen, wenn sie etwas besonders Albernes oder Peinliches sagen, wovor sie meist behütet werden.

Aber daß sie als Vollgestalten, also dredimensional wahrgenommen werden sollen und wollen, ist schon eine Frechheit. Sie machen das, was man eben machen muß, wenn vier oder sechs Personen, die etwas sagen sollen, zusammensitzen. Jeder private Gastgeber kennt das seit Jahrhunderten. Niemand schreibt darüber oder macht  über jenen ein Interview. Das aber tut  Herr Harald Suerland, das „Redaktionsmitglied“, und zwar in folgender Weise. „Arbeiten Sie eigentlich“, fragt er z.B. „gern im Stehen?“ „Arbeiten“ ist natürlich schon prima. Denn soweit es bei derlei   überhaupt um „arbeiten“ geht, macht das eine Redaktion, die der alte Gastgeber natürlich nicht kannte, der zwischendurch übrigens noch Wein einschenkte. „Im Stehen“, hat Herr Suerland gefragt, und man merkt, daß einem das bisher und auch jetzt so uninteressant ist, daß man es gar nicht wahrgenommen hat.  Herr Suerland aber hat sich auf dieses Interview vorbereitet, wobei ihm aber, man kann es gut verstehen, nicht mehr eingefallen ist. So  fragt er jetzt  nach den sog. Einspielfilmen, die die Sendung von Plasberg „von allen vergleichbaren“ unterscheide. Der Gastgeber zeigte zwischendurch Dias vom Königsee, die man bald so leid war, wie die Teilnehmer die Einspielfilme leid sind. Und die Zuschauer im Saal, die sich freuen, dabei sein zu dürfen, sind sie auch leid, denn sie dürfen im Anschluß daran nicht klatschen, was sie am liebsten tun und was mit Sympathie für die Teilnehmer oder Herrn Plasberg nichts zu schaffen hat, sondern was nur bedeutet: ‚Wir sind da’ -  und ein Ersatz für das Winken in die Kamera der sechziger Jahre ist.

Aber Harald Suerland will nicht nur  das Unvergleichbare benennen, nein, er will auch fragen. So fragt er, ob es für das Unvergleichbare „Vorbilder“ gebe, worauf Frank Plasberg mit allem Bierernst antwortet: Stefan Raab, bei dem habe er es gesehen. Und dann nennt er die Vorteile.

Harald Suerland aber hat in bezug auf die „Dekoration“ noch die Frage parat: „Etwa alles orange?“

Wer ist hier irrer oder dummer: Suerland oder Plasberg? Doch wohl letzterer, denn er bringt es fertig, ohne daß ihm das Maul offen stehen bleibt, zu sagen: Was Kerner mache, von dem man  schon seit Frage 11 spricht, was der mache, sei „eine eigene Kunstform“. Eine  Plaudertasche, der das Produkt einer anderen eine „Kunstform“ nennt, also irgendetwas ziemlich nahe bei Michelangelo oder Goethe. Und da ist keiner, der sagt, die müssen jetzt ins Bett gebracht werden oder in die Anstalt. Aber in der ist einer ja schon: „weiterhin ohne Krawatte“!

 

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VON DER WIRTSCHAFT

 

Deutsche Entwicklungshilfe und menschlicher Fortschritt

 

In einem Interview des Deutschlandfunks  vom 12.11.07 teilt der verdienstvolle Rupert Neudeck mit, daß die dreißigjährige Entwicklungshilfe (ist sie nicht noch zwanzig Jahre älter?) trotz  Milliardenbeträgen nichts gebracht habe. Das liege an der Schurkenhaftigkeit  der einheimischen Regierungen, für die er beispielhaft  Mobutu im Kongo nennt. Aber er hätte, was z.B. prätentiöse Dummheit anlangt,  doch wohl auch Leute wie die rote Heidi Wieczorek-Zeul zu nennen, die seit 1998 Entwicklungshilfeministerin ist und anscheinend nichts gemerkt hat. Mag das nun nur auf Dummheit oder auch auf Schlamperei zurückzuführen sein, die Verantwortlichen unserer Entwicklungspolitik –  weiteres Beispiel: der als klug ausgegebene Erhard Eppler war ebenfalls Entwicklungshilfeminister - haben mindestens so sehr versagt wie die Schurkenherrscher, mit denen sie jahrzehntelang „zusammengearbeitet“ haben. D.h. erst die „Zusammenarbeit“ zwischen Schurken und dummen Kerlen führte zu den Katastrophen, die als „Pech gehabt“ registriert werden, ein verbales Schulterzucken, dem natürlich die unablässigen Erfolgsberichte von der Ministerin bis zum letzten Mann ‚vor Ort’ vorausgegangen sind.

 

Dies ist ein Beispiel dafür, wie es überall läuft bzw. nicht läuft.

Die Außenpolitik: Herumgerenne zu den auch bei der Bundeskanzlerin beliebten Konferenzen. Wegen des Kosovo, wegen Nahost, wegen Pakistan und Afghanistan, wegen Afrika. Hat sich irgendwo irgendetwas stabilisiert ? Und wenn, dann doch  so, daß gleich nebenan oder  auch weit weg  sich schon das Nächste und Übernächste bemerkbar machen. Gelingt aber etwas,  so gelingt es auf  kleinstem Raum. Dann sagen sie, sie müßten dicke Bretter bohren. Aber was da ansonsten gebohrt wird, es hat in Korea nichts geholfen und nicht in Vietnam, schon gar nicht  in China  oder in Birma und nicht  in Angola, Kongo, Ruanda, Liberia, Somalia und dem übrigen Afrika. Vor allem hat es nicht geholfen im Nahen Osten: im Irak und Iran, im Libanon, in Israel und bei den Palästinensern. Auch in der Türkei scheint es nicht zu helfen. Und wie steht es mit Südamerika, mit Indonesien und den Philippinen? Wie steht es selbst mit dem durchorganisierten Europa, also mit  dem Balkan, mit Italien, mit Belgien, mit Polen undsoweiter?

Und klappt es einmal im Kleinen, sagen wir in Estland, dann  droht  ein großer Schattenmann wie Putin mit dem Finger und ein Hampelmann wie Schröder lobt den als in der Wolle gefärbten Demokraten.

Nein, alles ist immer und immer ganz und gar wacklig in dieser Welt, hält allenfalls bis morgen früh. Daß der geduldige Steinmeier Beruhigendes spricht,  dient nur dazu, daß es heute nicht umfällt, sondern erst morgen.

Und daheim? Mit der Bildung klappt es weder in der Grundschule noch in der Universität. Man  weiß nicht, wie man es machen soll, und hat auch kein Geld. Man belügt sich ständig über die Bildungsreserven, obwohl die Zahl der Analphabeten wächst und denen, die schreiben können, die Geduld und die Konzentration und die Begabung fehlen.

Die Integration der Migranten ist nur ein Wort, denn  es gelingt nichts, wenn man nicht die Albernheiten der Grünen für Erfolge hält.

Mit dem Gesundheitssystem klappt es schon gar nicht. Die Medizin befördert zwar die Alten in ein mehr oder minder ewiges Leben. Aber was machen die damit? Und können sie vor den  Beschwerden des Alters bewahrt werden? Alle werden ständig behandelt, obwohl die Behandler vielfach gar nichts tun können. Dazu sind sie müde und unwillig.

Auch sagen sie, daß sie viel zu wenig verdienen. Das ist das einzige, was übrigens allen  als wirklich interessant gilt: den Lokführern und den Piloten und den Ärzten und den Rechtsanwälten und natürlich den Managern  und den Aktionären und den Hartz IV-Empfängern.

Geht es mit dem Verkehr auch nur einigermaßen oder besteht er wesentlich aus Staus?

Kann man sich auf Herrn Mehdorns Bahn verlassen, auch wenn die Lokführer nicht streiken, oder immer nur auf seinen Nußknackercharme?

Ist der Tourismus nicht vor allem für die Touristikunternehmen da?

Sind die Städte erfreulich? Oder nur überfüllt? Bieten die Gaststätten Gutes oder ist das Kochen  nur  noch das Vorkochen im Fernsehen?

 Lohnt sich irgendetwas in diesem Fernsehen? Gibt es darin außer dem Vorkochen hauptsächlich den Krimi und Frau Pilcher? Ist es nicht völlig egal, ob uns der kommerzielle Unsinn der Privaten aufgetischt wird  oder die sogenannten Öffentlich-Rechtlichen, die vor allem aus dem Zynismus des Herrn Struve bestehen? Und aus dem Oberzynismus des Herrn Schmidt, der bei seinen Vorführungen ständig lacht, als sei er ein Depp, was vielleicht so ist.

Und die sonstigen Medien, die uns den immergleichen Pallawatsch täglich von links nach rechts und dann von rechts nach links räumen. Sind sie ernsthaft mit anderem beschäftigt als mit sich selbst und damit, die Politiker zittern zu lassen?

Sind die Politiker mit Politik oder mit den üblichen Machtspielen  beschäftigt und damit,  sich mit sogenannten Nebentätigkeiten  finanziell in die Gegend der Manager zu bringen?

Selbst soetwas Harmloses wie der Wetterbericht soll uns ja nicht über das Wetter informieren, sondern gibt den Kachelmännern aller Zonen Gelegenheit, sich zu inszenieren.

Produzieren Verlage und verkaufen Buchhandlungen anderes  als  diese großartigen Romane oder Biographien, die man auch kennt, wenn man sie gar nicht aufschlägt? Die auch gar nicht aufgeschlagen werden sollen, sondern nur gekauft.

Was produzieren die globalen Produzenten anderes als das, was kein Mensch braucht, aber ihm als unentbehrlich von der Reklame aufgeschwatzt wird ? Ist die ganze Globalisierung etwas anderes als die totale Ökonomisierung der Welt, die alles andere nur noch als Rhetorik und Garnierung gelten läßt.

Von der Selbstzerstörung  der Menschheit durch Klima-, Wasser-, Landschafts- zerstörung,  durch die Atomkräfte und vor allem vom Terrorismus soll im Augenblick  außer ihrer Erwähnung nichts gesagt werden.

Es genügt das Triviale. Warum fahren, sagen wir,  diese riesigen Lastwagen hin und her? Sind sie zu anderem da,  als größere Unfälle, die zu unendlichen Staus führen, zu präsentieren  mit ein paar Toten und Schwerverletzten?

Das ist der Preis des Fortschritts, sagen sie. Worin aber besteht der? Aus nichts, das sich immer rascher ins Nichts verwandelt.

  

  

„Die Marke Renault hat ein Problem“,

 

schreibt die „ADAC-Motorwelt“ im November 2007. Nein, sie ist das Problem und müßte zum Teufel gejagt werden, wenn man dabei nicht selbst  mitgeschleppt würde.

In Nummer 15 von „Zur  Lage der Nation“ habe ich unsere Erfahrungen mit der Deutschen Renault  von  der sog Assistance über  die Vermittlungsdame in Brühl, den Kundendienstdirektor Braun bis hin zum französischen Vorstandvorsitzenden  für Deutschland Rivoal dargestellt, als es in kurzer Zeit drei erhebliche Schwierigkeiten mit unserem Renault gab. Es war, als habe man anstelle eines Unternehmens, das wenigstens  den Anschein erweckt, Kundendienst zu betreiben, zu dem es ja verpflichtet wäre, wie es an ihm interessiert sein müßte, eine träge Versammlung von Unverschämten  erwischt,  von denen völlig unklar ist, warum sie über ein sehr mäßiges Taschengeld hinaus größere Gehaltszahlungen bekommen, da sie sicher nicht einmal in der Lage und fähig wären, den Fabrikhof sauber zu halten.

Nun wissen wir wenigstens, daß wir als Renault-Kunden in Kollektivhaft sind. „Unzuverlässigkeit und Defektanfälligkeit“ zeichne  die Exemplare dieser Firma aus, meint die Mehrheit der befragten Renault-Kunden im ADAC-Test . Vor allem Laguna und Espace  „machen immer wieder Ärger“. Wir wissen Bescheid. Und finden sozusagen erfreulich,  daß Renault  im ADAC-Praxistest  „den schlechtesten Wert“ erreicht. Bei der Werkstattgüte  kam heraus, daß Renault von Platz 23 weiter auf Platz 31 abfiel: „ein beispielloser Absturz“. Auf dem letzten Platz, nämlich 32, liegt Renault bei der Fage nach der Zufriedenheit mit der Automarke.

Was macht ein Großunternehmen  mit dieser Manifestation  der Unfähigkeit seiner  Manager von oben bis unten?  Es legt ihnen wahrscheinlich noch etwas zu, damit sie  noch  unbekümmerter ihrer Unverschämtheit frönen können. Renault ist offenbar ein anderes Wort für Bagage.

 

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

 

Berliner Jahre 1965 -1966

 

Diese Jahre sind die Ruhe vor dem  (Berliner) Sturm seit 1967. Ich freute mich nach gesundheitlich schwierigen Jahren über die Heirat mit R.Wir zogen in eine großzügige Altbauwohnung in der Nähe des Kurfürstendamms, die der Onkel eines Freundes bewohnt hatte. Der war froh, in meine kleine Wohnung am Lietzensee übersiedeln zu können.

Interessant war, daß  in dieser Gegend am oberen Kurfürstendamm vor 1933  (und wohl auch noch danach) vor allem Juden gewohnt hatten und daß sich dies noch in den sechziger Jahren darin zeigte, daß z.B. die kleinen Geschäfte „um die Ecke“ zum jüdischen Neujahrsfest Gratulationskarten anboten.

Wir freuten uns, in der neuen Wohnung Kollegen und Freunde empfangen zu können und erlebten dort eine besonders glückliche Zeit.

Aber man ging auch gern zu anderen, so z.B. zu Petalozzi, der wiederum einmal Werner Kraft aus Jerusalem einlud für  einen kleinen Vortrag über Robert Walser, der es darauf angelegt habe zu verschwinden.Kraft erzählte  sehr zögernd von Israel, wo es ein Durcheinander der Richtungen und Strebungen gebe.

Oder es wurde ein Abend bei Joachim Günther verbracht, der in einem winzigen Haus in Lankwitz wohnte, in das ich (wohl an seinem Geburtstag) mit meinem ersten Verleger W. Rothe eingeladen war: in schöner Enge u.a. mit Canetti und Hans Kudszus, der heute, obwohl ein wichtiger Aphoristiker, fast ganz vergessen ist. Mit dem gab es  sozusagen vor Publikum einen kräftigen Strauß, an dessen Thema ich mich nicht mehr erinnere.

Das war ‚hausintern’. Aber um diese Zeit gab es in den „Neuen Deutschen Heften“ auch eine Polemik, die „Keine Kritik + keine Polemik = keine Literatur“ hieß. Vorher hatte mir Günther geschrieben: „Die ‚Genueser Augenblicke’ gefallen mir;  ich bringe sie wahrscheinlich schon bald.“ Das war gehobenes Reisefeuilleton mit ein bißchen Ironie. Aber ich war naiv genug zu meinen, auch Rabiateres sei möglich und auch nötig. Daß Günther es  über sich brachte, einen Angriff auf die gesamte damalige  (wie heutige) Literatur- und Theaterkritik zu drucken, war, wie sich im Laufe der Zeit erwies, eine wirkliche Mutprobe, die ihm eigentlich gar nicht lag. Es ging einmal  um eine ‚Abrechnung’ Karlheinz Deschners mit etlichen zeitgenössischen Autoren(„Talente, Dichter, Dilettanten“), die nach meiner Ansicht als Polemik nichts taugte, aber bezeichnende Kritikerzitate enthielt. Bezeichnend erschienen sie mir darum (und bis heute), weil sie das Mittelmäßige hemmungslos lobten. Und ich tat ein Übriges, geradezu Selbstmörderisches. Ich nannte nämlich Berliner Kritiker - Theater- und Filmkritiker, die damals dort große Leute waren, heute kein Mensch  mehr kennt -, und sagte ihnen nach, daß sie ganz und gar nicht urteilsfähig seien. Ebenso sei es  bei den Literaturkritikern, die ich als„Literaturbeamte“ bezeichnete. Benjamin habe gesagt: „Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf“. „Heute“, fuhr ich fort, „ist er längst bei der Intendantur“.  Dann  nannte ich Adorno, Enzensberger, Rühmkorf, Boehlich als mögliche Polemiker, machte mir aber nicht klar, daß sie auf solche Kennzeichnung sicher keinen Wert legten, da sie selbst natürlich, um sich nicht unbeliebt zu machen, mit aller Vorsicht taktierten.

Schon beim zweiten Versuch, einem über das Ende der Nazizeit, der mit dem Titel: „Zwanzig Jahre danach?“  schon drei Nummern nach  der mit der Kritikpolemik erschien, sprach auch der tapfere  Günther von „gehäuften Akten solcher Polemik“, durch die ich mir mehr schade, als daß ich dadurch meinen Ruf befestigte. Das war aus seiner Sicht nur allzu berechtigt und  nannte in schöner Offentheit die Priorität: Rufbefestigung.-

Wohl durch Günther lernte ich Ulrich Sonnemann kennen, der 1963  das Buch „Das Land der   unbegrenzten Zumutbarkeiten“ veröffentlicht hatte, das  mich sehr beeindruckte. In der Rezension  eines Buches von Adorno in den „Neuen Deutschen Heften“ schrieb er Anfang 1966: „Daß zur Literatur eines zivilisierten  Volkes eine Tradition großer Polemik gehöre, ist seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts  nicht mehr gern in unserem Lande vernommen worden. Die Folgen sind bekannt; verstanden werden können sie erst, wenn die großen Polemiker erst selbst eines Tages bekannter sind, Kraus Volkslektüre ist, Adorno Abiturientenlektüre.“ Diese Sätze und ähnliche  ließen mehr Vertrauen fassen als die  deutsche Literaturkritik  und die politische Publizistik. „Des unverbindlichen Klugschnacks  im Spiegel-Ton“sei „ja übergenug“, hieß es in „Zwanzig Jahre danach?“. Aber ein Denken, „das mehr ist  als das Theorem von Taktikern“ fehle „wie Wasser in der Sandwüste“. Es fehle nicht ganz: „die Bücher von Ulrich Sonnemann haben Strukturen und Umrisse dieses Denkens vermittelt.“  Aber kein Politiker habe  sie „aufgenommen und verarbeitet“. Und nichts sei dümmer als die Behauptung, „die Jugend habe mit dem allen ja nichts zu tun, welches Zugeständnnis den ‚Alten’ die Exkulpation und der Jugend das Alibi für neue Denkbequemlichkeit schaffen soll. Es gibt keine Geschichte pro Generation, sie ist die Geschichte aller oder überhaupt keine.“ Auf  einen Sonderdruck dessen hin schrieb Sonnemann u.a.: er habe  sich über „die unbeirrte Analytik des Ganzen“ gefreut: „wenn Sie so weitermachen, machen Sie sich auch um die Hoffnung verdient, daß das Wachstum jenes Denkens, das Sie vermissen, nicht abermals abbreche“.Hier ging es doch wohl nicht allein um ‚Rufbefestigung’. Und dann kamen die Achtundsechziger.

Sonnemann zog mich zu seinem Magnum-Heft  von November 1966 bei: „Die verlorenen Paradiese der Deutschen“, worin ich über „Vergangenheit  und Prüfung einer Weltstadt oder Fällt Berlin durch?“ handelte. Darin wurde der gängigen und politisch korrekten Auffassung widersprochen, daß West- und Ostteil sich der  Wiedervereinigung entgegensehnten. „Die beiden  Städte und ihre Bewohner haben sich arrangiert. Noch nie habe ich in West-Berlin   jemanden sagen hören, ihn verlange es nach den Linden oder dem Alexanderplatz.“ „Was die verstopften Gehirne  einzig zu produzieren vermögen, ist hier wie dort die Repetition der immergleichen Phrasen.“ Es sei aber ein Vorteil, „daß z.B. an der Freien Universität   nicht der Aufstand geprobt., wohl aber erprobt werden kann, wie sich Reflexion realisieren lasse“. Ach nein, jetzt kamen die Achtundsechziger.

Spätestens seit Anfang 1965 mußte ich meine Gedanken wieder  auf die Habilitationsschrift mit den Überlegungen zur ernsten Komödie konzentrieren. Wilhelm Emrich und Peter Szondi  verwandten sich  für ein Habilitationstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Es wurde mir vom 1. April 1966 an gewährt und half natürlich sehr, mit der Arbeit bis zum Spätherbst zu Ende zu kommen.

Im Herbst 1964 war die Anthologie  deutscher Satire im 20. Jahrhundert mit dem Titel „Gegen-Zeitung“ und einem prinzipiellen Vorwort  als „Nachricht von der Satire“ erschienen.

Zwei Jahre später gab es das Büchlein  „Kurzer Prozeß“ mit Aphorismen und Fabeln. Es  kamen zwar auch einige Aufsätze zur Literaturwissenschaft heraus, aber vor allem doch Publizistisches, Literarisches, Editorisches. Das brauchte es wohl auch, um wieder Tritt zu fassen.

Und 1965/66  erschienen bei de Gruyter fünf Bände  von „Komedia“, also Editionen und Kommentare deutscher Lustspiele. Die Editoren waren der Reihe nach W.Hartwig, W. Hinck, W.Schubert, U.Helmensdorfer, R.Grimm und V.Zmegac als Duo. Es ging um Wedekind, Lenz, Weise, Raimund und Goll.

 

Neuer Titel: H.A., Literatur als Sprache. Aufsätze und Essays. Hrsg. v. Robert M. Solis. Lublin 2007. [10 Texte  über Grundsätzliches zu Sprache  und Literatur, Komödie und Satire, Karl Kraus und Robert Musil zwischen,1971 – 1999; alle bereits veröffentlicht]

 

P.S. zu dem Nachtrag „Google-Transparenz ?“  in Nummer 17 ZLdN

„Ich will wenig von Google: nur, daß das Unternehmen  die jeweils aktuelle Fassung meiner Website, jetzt ‚Zur Lage der Nation Nummer 17’, einigermaßen  entsprechend  deren Publikation  anzeigt“. Kaum war das publiziert, da  zeigte Google nicht nur die Nummer 17 an, sondern tat es überdies noch  so, daß in der Anzeige  die  anfangs zitierten Worte standen.

Da Google aber natürlich über Kontrolleure verfügt, die verhindern, daß Google Kritik an seinen Verfahren zuläßt, haben die „Halt“ gerufen und die Anzeige von Nummer 17 stante pede wieder  zurückgezogen. Denn Information hat dem Geschäft zu dienen und nicht der Information.

 

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Nummer 17 (Sept./Okt. 2007) s. Archiv

 

INHALT: VON DER LITERATUR: Barockes Trauerspiel (Gryphius und Lohenstein)

2.Teil . VON DER POLITIK: Der Fall Bremen – Politische Rede. VON DER UNIVERSITÄT: „Kuschelnoten“ – Lumpengesindel. VON DEN MEDIEN: Die Welt als Zeitung – Zwar-aber – Fernsehnachrichten -- Öffentlich-rechtliche Volksmusik – Ein Metaphoriker des Deutschlandfunks – Festenbergs Marquise von Posa. VON DER WIRTSCHAFT:Reisende mit Traglasten – Soll Frechheit siegen? VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Erste Berliner Jahre (1959  - 1964). – Nachtrag. Google-Transparenz?(Okt. 2007)

 

Die Nummern 1 – 17 s. Archiv  

  

s. Register der Nummern 1 – 18 von „Zur Lage der Nation“, hrsg.von Helmut Arntzen.

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