Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und
zu den Medien in Deutschland
Herausgegeben von Helmut Arntzen
Nummer 19 (April 2008)
INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Erster Teil).
VON DER KUNST: Alle Guten, alle Bösen. VON DER GESCHICHTE: Der deutsche
Sonderweg – Ein
soziologischer Leserbrief zur „Linken“. VOM JOURNALISMUS:
Immer daneben - Der
alltägliche Sinn des Schreckens – Zeitungssätze. VON DEN
MEDIEN: Dr. Günter Struve
– Ein Fernsehjournalist kritisiert das öffentlich-rechtliche Rundfunk- und
Fernsehwesen in Deutschland – Deutsches Fernsehen. VOM
(EINSTIGEN) LEBEN: Die
wilden Berliner Jahre 1967 – 68.
VON DER LITERATUR
Deutsche Lyrik, kommentiert
Einleitung
In der Lyrik ereignet sich sprachlich das, was im Alltag nur selten sich ereignet, aber die Sprachlichkeit der Sprache eigentlich ausmacht: nämlich die Einheit von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit.
Lyrik ist ja ursprünglich Gesang, wie er mit Begleitung der Lyra vorgetragen wurde. Was aber ist Gesang? Sprache, die Klang geworden ist, also sinnlich - und die dennoch Sprache als logos, als Sinn bleibt.
In der Lyrik ist der Gegensatz von beidem, der so bestimmend scheint für alles Sprach- verständnis, immer schon überwunden. Ist Sprache nicht vor allem Begriffssprache, die sich aufgeben müßte, wenn sie Klang werden will? Und ist Sprache dann nicht wieder ganz Musik, auf die auch Lyriker seit dem Beginn der Moderne gesetzt haben? Nietzsche sieht in „Richard Wagner in Bayreuth" (1876) Musik als eine Art von Sprache, die Empfindung gegenüber der verbalen Sprache repräsentiere. Von da an spätestens scheint das Musikalische an der Sprache die Lyrik wieder zu rechtfertigen. Und Gedankenlyrik, wie sie ja noch einige Jahrzehnte vor Nietzsche, nämlich bei Schiller, als Höchstpunkt der Lyrik galt, wird nun verworfen. Aber beides ist nur ein Mißverständnis, weil es die Sprachlichkeit der Lyrik vom konventionellen Sprachbegriff her versteht: eben dem der Begriffssprache - und Musik als den Gegensatz zu dieser Sprache behaupten will. Doch alle große Lyrik stellt in ihrem Sprechen Sprache als die wahre Synthesis von Sinn und Sinnlichkeit vor. Und jedes Gedicht ist v.a. danach zu beurteilen, wie weit und auf welche Weise in ihm sich diese Synthesis ereignet. -
Die deutsche Lyrik hat ihre ersten großen Zeugnisse im Minnesang, v.a. zwischen 1170 und 1230, und den größten Repräsentanten dieser Zeit in Walther von der Vogelweide. Vor ihm, neben ihm, nach ihm kennen wir etwa bis zu Oswald von Wolkenstein am Anfang des 15. Jahrhunderts noch eine ganze Anzahl von bedeutenden Lyrikern. Doch dann schwindet die große literarische Lyrik fast ganz aus unserer Dichtung. Der lyrische Zug deutscher Sprache begegnet nun fast allein im geistlichen und weltlichen Volkslied. Das gilt für mehr als ein Jahrhundert, und wir können hier nicht untersuchen, ob und wie dies zu erklären ist. Doch muß dieses eigentümliche Phänomen, daß nämlich die sprachlichste Äußerung aus der Geschichte einer Literatur für kürzere oder längere Zeit schwindet, festgehalten werden. Die Geschichte der Literatur ist kein Kontinuum, sondern eine Geschichte in Sprüngen.
17. Jahrhundert (Barock) (1620 – 1720) 1.Teil
Im 16. Jahrhundert orientiert sich die deutsche Ode an italienischen Vorbildern, die auf die Antike bezogenen Formen der Elegie und des Epigramms folgen der lateinischen Humanistendichtung.
Nur das evangelische Kirchenlied, wie es seit Luther sich herausbildet, zeigt neben dem Volkslied ein eigentümlich deutsches Sprachgesicht.
Erst mit Martin Opitz, 1597 in Bunzlau geboren, 1639 in Danzig gestorben, wichtig auch als Poetologe mit seinem „Buch von der teutschen Poeterey" (1624), gelangt die deutsche Lyrik wieder zur Bedeutsamkeit.
Es ist kommun geworden, die deutsche Barocklyrik seit Opitz, ja die Barockdichtung überhaupt in der Abhängigkeit von der neulateinischen, von der italienischen Renaissancedichtung zu sehen, auf ihre rhetorischen Momente, ihre Motivkonstanz, ihre metrische Einheitlichkeit durch den Alexandriner, auf ihre Emblematik hinzuweisen. Dabei ist es noch gar nicht allzu lange her, daß zumindest die Dichtung des Hoch- und v.a. des Spätbarock tadelnd mit dem Namen des Schwulsts belegt wurde, was in unserem Zusammenhang ja gerade bedeuten würde, daß das Barock sich nicht streng in tradierten Bahnen bewege, sondern eine geradezu kuriose Sonderform darstelle. Eine Literaturauffassung, die aber, sei es über die Darstellung von Abhängigkeiten, sei es von kritisierten Eigentümlichkeiten nicht hinauskommt, kann von der wahren Gestalt literarischer Texte keine Vorstellung bilden. Bleiben wir bei der These von der starken formalen wie motivlichen Abhängigkeit der Barocklyrik von den renaissancistischen Vorbildern. Diese These meint eigentlich nur, daß Literatur im allgemeinen und Lyrik im besonderen nie traditionslos ist. Wenn diese Traditionen hier in mancher Hinsicht stärker hervortreten als in anderen Epochen der deutschen Lyrik, so sagt das hinsichtlich der Bedeutung der einzelnen Texte so gut wie gar nichts. Sonette in Alexandrinern, Lieder zum Frühling, zum Abend etc. gibt es zahlreiche. Aber diese Fakten können zum Verständnis und zur Wertung eines Gedichts nicht sehr viel beitragen. Sie liefern allenfalls ein Kriterium dafür, daß sich das lyrische Sprechen als exemplarisches Sprechen gerade auch innerhalb strenger formaler wie thematischer Grenzen entfalten kann. Darüber hinaus ist der im Barock erscheinende formale und thematische Kanon zwar als Kanon auf diese Epoche beschränkt, doch begegnen seine Elemente auch später immer wieder.
Vor allem aber veranlaßt die Fixierung auf diesen Kanon als auf das Wichtigste an der barocken Lyrik zu Fehleinschätzungen. Ich zitiere: „Die Barocklyrik war gesellig und öffentlich. Einige wenige Themen sollten das Individuelle verallgemeinern, persönlicher Erlebnisgehalt wurde durch die Form objektiviert" (Fischetti).
Die letzte Bemerkung gilt für alle Lyrik, ja für alle Literatur mehr oder minder. Aber weder ist die Barocklyrik durchweg gesellig und öffentlich, noch geht es um wenige Themen, die das Individuelle verallgemeinern.
Vielmehr weist die beschränkte Zahl von Themen und Formen auf deren zentrale Funktion und auf Konstanz hin. Aber nicht das Gesellige und Öffentliche zeichnet die Barocklyrik besonders aus, sondern das Widersprüchliche und Gegensätzliche. Wenn man ein Gemeinsames barocker Lyrik behaupten will, so ist es dies und der sich in der Form ausdrückende Versuch, Widerspruch und Gegensatz im rhythmisch-metrischen Sprechen aufzuheben. Die thematischen Spannungen und die formalen Lösungen, die selbst wieder durch Vers, Zäsur und harte Fügung spannungshaft werden können, sind eine Grundfigur des barocken Gedichts. Widerspruch und Gegensatz erscheinen mittels einer Fülle von rhetorischen Figuren, die der juristischen Parteienrede des Altertums entstammen, nun aber dem lyrischen Sprechen assimiliert werden und dadurch aus ihrer alltaghaften Zweckgebundenheit sich lösen können. Widerspruch und Gegensatz realisieren sich lexikalisch mittels einer Metaphorik, die alles Phänomenale in Bedeutung verwandelt. Unsere Auswahl bezieht sich auf das Jahrhundert von ca. 1620 bis ca. 1720. Wir haben sie als thematische Auswahl angelegt, um die thematische Konstanz in der barocken Lyrik besonders sinnenfällig zu machen; gleichzeitig damit tritt ihre formale Konstanz hervor. -
Die ersten drei Gedichte sind noch am ehesten Geselligkeitslieder; ihnen folgen metaphorisch funktionierende Naturgedichte, mystisch inspirierte Epigramme, Gedichte der Selbstreflexion und solche der Weltverwerfung und der Ewigkeitshoffnung, schließlich lyrische Texte über Vergänglichkeit, Tod, Leben im Geist. Sie alle erscheinen sprachlich so, daß das Gesagte jeweils über sich hinausdeutet, und zwar auf die eigentliche Bedeutung, die häufig explizit genannt wird (allegorisch-emblematische Bedeutung), deren Auffindung manchmal aber auch dem Leser als Aufgabe überlassen wird. Philipp von Zesen, von dem das folgende Lied stammt, lebte von 1619 bis 1689, war in seiner Zeit berühmt als Poetologe, Lyriker und Romancier. Er war eine große Formbegabung, widmete sich der Sprachpflege und schrieb den wichtigen ersten großen Barockroman „Adriatische Rosemund" (1645).
Aus seinem „Deutschen Helicon" von 1641 stammt das folgende Lied, das hier in einer Fassung von 1656 wiedergegeben wird:
1.
HAlt / du schöner Morgenstern/
bleibe fern /
und du güldne nacht laterne¹ /
halt der weissen pferde lauf2
itzund auf /
steht ein wenig still / ihr sterne.
2.
Gönne mier die süße ruh /
sonne / du /
Laß uns doch der liebe pflegen /
laß den kühlen reif und tau
auf der au
noch ein wenig meinetwegen.
3.
Ist doch meine Liebste mier
sonn und zier /
die mich itzund in den armen
in den zahrten armen weis /
die mein preis /
und mich also lässt erwarmen.
4.
Und du wunder-schönes Licht /
die ich nicht
nach der gnüge kann beschreiben /
laß den hellen augen-schein
bei mir sein /
bis der Tag die Nacht wird treiben.
5.
Wie hat mich dein rother mund
doch verwundt?
Das zwiefache schild3 mich zwinget /
das vor deinem hertzen steht
aufgeblöht /
da der liljen pracht aufspringet.
6.
Ach entschlage dich ja nicht /
schönes Licht /
dieser lust in deiner jugend /
brauche deine liebligkeit
und der zeit /
schadt es doch nicht deiner tugend.
7.
Laß uns immer freudig sein;
nacht und wein
reitzen uns itzund zum lieben /
dan wan liebe / wein und nacht
uns anlacht /
kan uns langmuth4 nicht betrüben.
Der akzentuierende Vers, von Opitz zwei Jahrzehnte vorher durchgesetzt, wird hier völlig sicher gebraucht. Vierhebige Trochäen einer nur im zweiten und vierten Vers reimenden vierzeiligen Strophe werden durch die zweihebigen, auf die erste und die drtitte Zeile des Vierzeilers reimenden echoartigen Kurzverse unterbrochen. Eine ähnliche Form kennen wir aus dem geistlichen Lied des Barock als Schweifreimstrophe.
Das Gedicht beginnt vergleichsweise konventionell wie ein kirchliches Morgenlied, operiert dann mit einer Mondmetapher („nacht-laterne"), bezieht sich auf die Pferde des Sonnengottes. Dann überträgt es den aufgebauten Apparat von Sonne, Mond und Sternen auf die Geliebte und verbindet ihn mit den Liebesmetaphern Mund und Herz. Das Lied zielt aufs carpe diem (genieße den Tag), aber damit, wenn auch hier ganz diskret, wird bereits ein Gegensatz aufgerufen, der durch das Reimwort „zeit" akzentuiert wird. Daneben gibt es aber auch den Gegensatz von Sonne als Gestirn und der Geliebten als Sonne, die gerade in der Nacht scheint.
Das zweite Lied hat Martin Opitz geschrieben. Er suchte die deutsche Literatur durch ihre Orientierung an romanischer Formkunst zu erneuern und stand bei seinen Zeitgenossen deswegen in höchstem Ansehen. Wie Zesen ist auch er Poetologe, Lyriker, Romancier. Auch um die Oper hat er als Librettist große Verdienste. Schließlich ist er als Übersetzer hervorgetreten.
Das Lied aus seinen „Teutschen Poemata" von 1624 ist analog dem von Zesen ein Abendlied, das wie dieses durch Metaphorisierung der Gestirne zum Liebeslied wird. Doch ist es als trochäischer Vierzeiler schlichter gebaut und hat Paarreim. Hier schon ist die 'nächtliche' Sonne, auch mit dem Reimwort „zier" verbunden, die Geliebte.
EIN ANDERS [LIED]
Jtzundt kompt die nacht herbey/
Vieh vnd Menschen werden frey/
Die gewünschte Ruh geht an /
Meine sorge kompt heran.
Schöne glentzt der Mondenschein /
Vnd die güldnen Sternelein /
Froh ist alles weit vnd breit /
Jch nur bin in traurigkeit.
Zweene manglen vberal
An der schönen Sternen zahl /
Die zween Sternen / so ich mein /
Sind der Liebsten Aügelein.
Nach dem Monden frag ich nicht /
Dunckel ist der Sternen licht /
Weil sich von mir weggewendt /
Asteris5, mein Firmament.
Wann sich aber naht zu mir
Dieser meiner Sonnen zier /
Acht ich es das beste sein /
Daß kein Stern noch Monde schein.
Von Georg Rudolf Weckherlin (1584-1653), älter also als Opitz, ist die „Ode Drunckenheit" von 1641. Weckherlin, der in England hoher Beamter wurde, hat seine ersten Lyrik- Sammlungen vor der Opitzschen Reform veröffentlicht und das bedeutet, daß er oft noch den natürlichen Wortakzent verfehlt. Doch versucht er in den späteren Ausgaben seiner Gedichte, dieser Opitzschen Forderung gerecht zu werden. Unser Gedicht ist ein außerordentliches Beispiel für eine barocke Ode, die bei aller Beachtung von Metrik und Reim die wachsende Betrunkenheit eines Soldaten, der auf seine Kameraden einredet,
faszinierend darstellt: Das Gelage erweist sich als eine Schlacht. Form und Chaos stehen in einer zunehmenden Spannung, die erst mit der entspannenden Schlußbeschreibung der letzten Strophe aufgelöst wird.
ODE
DRUNCKENHEIT
Könt jhr mich dan sunst gar nichts fragen /
Jhr Herren / meine gute Freind?
Dan was ich euch könd newes sagen /
Wie starck vnd wa jetzund der Feind?
Jch bit (doch wollet mir verzeyhen)
Mit fragen nicht zu fahren fort /
Dan sunsten will ich euch verleyhen
Kein einig wort6.
Jch red nicht gern von schmähen/ tröwen7
Von raub / brunst / krieg / vnglick vnd noht /
Sondern allein / Vns zuerfrewen /
Von gutem wildbret / wein vnd brot.
Den Man der wein mit lieb entzündet /
Vnd das brot stärcket jhm den leib
Daß Er das wildbret besser findet
Bey seinem Weib.
So lang zu reden / lesen / hören /
Vnd mit dem haupt / hut / knü / fuß / hand
Gesanten / Herren / König ehren /
So lang zu sprachen an der wand8;
So lang zuschreiben vnd zu reden
Von Gabor9 / Tilly10 / Wallenstein11 /
Von Franckreich / Welschland / Dennmarck / Schweden /
Jst eine pein.
Darumb fort / fort mit solchem trawren /
Daß man alßbald bedöck den tisch /
Vnd keiner laß die müh sich dawren /
Wan wein / brot / flaisch vnd alles frisch;
Der erst bey tisch soll der erst drincken /
So / Herren / wie behend? wolan /
Schenck voll / die Fraw thut dir nicht wincken /
Nu fang ich an.
Ho! Toman / Lamy / Sering /Rumler/ 12
Es gilt euch diser muß herumb /
Jch waissz / jhr seit all gute Tumler /
Vnd liebet nicht was quad13 vnd krumb /
Dan nur das / so man kaum kann manglen /
Die weiber wissen auch wol was
Gedenckend alßbald an das anglen /
Auß ist mein glaß.
Nim weg von meinem Ohr die Feder /
Gib mir dafür ein Messer her;
Ho / Schweitzer14 / kotz Kreutz / zeuch von leder /
Vnd Schweitzer gleich streb nu nach ehr:
Wolan / jhr dapfere soldaten /
Mit vnverzagtem frischem muht /
Waget zu newen / freyen thaten
Nu flaisch vnd blut.
Feind haben wir gnug zu bestreitten
Jn dem Vortrab vnd dem Nachtrab /
Nu greiffet an auff allen seitten /
Vnd schneidet köpff vnd schenckel ab:
In dem sich straich / schnit / bissz vermischen /
Vnd der Nachtrab mag hitzig sein /
So ruff ich stehts euch zu erfrischen /
Ho! schenck vns ein.
Sih / wie mit brechen / schneiden/ beissen /
Dem lieben Feind wir machen grauß!
Laß mich das Spanfährlein15 zerreissen /
Stich dem Kalbskopff die augen auß:
So / so / wirff damit an die Frawen16 /
Die wan sie schon so süß vnd milt
Doch könden hawen vnd auch klawen17;
Es gilt / es gilt.
Wan die Soldaten vor Roschellen18 /
Wan die Soldaten vor Stralsund19 /
Die Mawren könten so wol fällen /
Wie hertzhaflt wir in diser stund
Nu stürmen wöllen die Pasteyen /
Jch sag die starck wildbret pastet /
So würden sich nicht lang mehr freyhen
Die beede Stät.
Frisch auff / wer ist der beste treffer?
Ha l ha / frisch her! ho / ich bin wund /
Das pulver ist von saltz vnd pfeffer /
Ho! die brunst ist in meinem mund:
Doch sih / es hat euch auch getroffen;
Zu löschen muß es nicht mehr sein
Gedruncken / sondern starck gesoffen /
So schenck nur ein.
Durch disen becher seind wir Siger;
So sauff herumb knap / munder / doll /
Drinck aus / es gilt der alten Schwiger20 /
Ich bin schon mehr dan halb / gar / voll:
Darumb so lassz den Käß herbringen;
Kom küssz / so küß mich artlich / so;
Laß vns ein lied zusamen singen /
Hem hoscha ho!
Die Schwäblein / die so gar gern schwätzen
Jn Thüringen dem dollen land /
Frassen ein Rad für eine bretzen
Mit einem Käß auß Schweitzerland:
Jn vnsrer hipschen Frawen namen /
Schwab / Schweitzer / Thüringer / Frantzoß /
So singet frölich nu zu samen /
Kom küß mich Roß21.
O daß die Schweitzer mit den lätzen22 /
Die Schwaben mit dem Leberlein
Die Welschen mit den frischen Metzen23
Die Thüringer mit bier vnd wein
Jn jhrer hipschen Frawen namen
Ein jeder frölich / frisch herumb
Sing / spring vnd drinck: vnd allzusamen /
Küssz mich widrumb.
Nu schenck vns ein den grossen becher /
Schenck voll / So / ho! Jhr liebe freind /
Ein jeder guter Zecher / Stecher /
So offt als vil Buchstaben seind
Jn seines lieben Stechblats namen24
Hie disen gantz abdrincken soll /
Jch neunmahl / rechnet jhr zusamen /
Es gilt gantz voll.
Wol / hat ein jeder abgedruncken /
Drey / fünff/ sechs / sieben / zehen mahl?
Jst dises käß / fisch oder schuncken25?
Jst dises pferd graw oder fahl /
Darauff ich schwitz? gib her die flaschen/
Es gilt Herr Grey / Herr Gro / Gro / groll /
So dise wäsch wirt wol gewaschen /
Seit jhr all doll?
Ho / seind das Reutter oder Mucken?
Buff / buff / es ist ein hafenkäß26:
Zu zucken / schmucken / schlucken / drucken /
Warumb ist doch der A. das gsäß?
Pfuy dich / kiß mich / thust du da schmöcken?
Wer zornig ist der ist ein Lump /
Hey ho / das ding die Zähn thut blöcken
Bumb bidi bump.
Ha / duck den kopff/ scheiß / beiß / Meerwunder27.
Nu brauset / sauset laut das Meer;
Ein regen / hagel / blitz vnd dunder /
Hey / von Hayschrecken ein Kriegsheer;
Ho! schlag den Elefanten nider /
Es ist ein storck28 / ha nein / ein lauß /
Glick zu / gut nacht / kom küssz mich wider /
Das liecht ist auß.
Alßdan vergessend mehr zu trincken
Sah man die Vier / wie fromme schaf
Zu grund vnd auff die bäncke sincken /
Beschliessend jhre frewd mit schlaf:
Vnd in dem Sie die zeit vertriben /
Hat disen seiner Freinden Chor
Alsbald auff dise weiß beschriben
Jhr Filodor29.
Anmerkungen:
1 güldne nacht-laterne: der Mond.
2
der weissen pferde
lauf: der Sonnengott Apollo fuhr auf einem Wagen, von Pferden
gezogen, über
den Himmel; in der Antike wurde so der Lauf der Sonne beschrieben.
3 das zwiefache schild: die weibliche Brust.
4 langmuth: Langeweile.
5
Asteris: als
poetischer Name der Geliebten Opitz’ Hinweis auch auf einen „weislich
schimmemde[n]
Edelstem", der „gegen die Sonne gehalten, die Strahlen in Form eines Sternes
zurückwerfe und daher der Name komme" (Paulys Real-Encyclopädie
der classischen
Altertumswissenschaft 1896), sowie die außergewöhnlich schöne
Tochter
von Phoebe (= Mondgöttin) und dem Titan Koios.
6 kein einig wort: kein einziges Wort.
7 tröwen: dräuen, drohen.
8 sprachen an der wand: sich unterreden, ratschlagen.
9
Gabor: Gabor Bethlen,
Fürst von Siebenbürgen, im 30-jährigen Krieg Heerführer auf
Seiten der
Protestanten.
10
Tilly: Johann Tserclaes
Graf von Tilly (gest. 1632), Oberbefehlshaber des Heeres der
katholischen Liga
und Bayerns; seit 1630 (nach der ersten Absetzung Wallensteins)
Generalissimus
der Truppen des Kaisers und der Liga.
11
Wallenstein: Albrecht
Wenzel Eusebius von Wallenstein (1583-1634), kaiserlicher
Feldherr und
Staatsmann, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Dreißigjährigen Krieges.
12 Toman, Lamy, Sering, Rumler: vier Freunde Weckherlins in London.
13 quad: böse, verkehrt.
14 Schweitzer: Toman (wohl auch Anspielung auf die Schweizergarde).
15 Spanfährlein: Spanferkel.
16 wirff damit an die Frawen: Jemanden „mit Augen anwerfen" heißt 'mit ihm liebäugeln'
17 klawen: kratzen.
18 Roschellen: La Rochelle (Frankreich); 1628 von Kardinal Richelieu erobert
19 Stralsund: 1628 von Wallenstein erfolglos belagert.
20 der alten Schwiger: Schwiegermutter.
21 küß mich Roß: Rose, Rosa; Frauenname.
22 den lätzen: Hosenlätze.
23 Metzen: Pl. von Metze; Mädchen, Hure, Dirne.
24 seines lieben Stechblats namen: Schutzvorrichtung am Degen, oft mit einer Inschrift versehen.
25 schuncken: Schinken.
26 hafenkäß: Topfkäse.
27 Meerwunder: Ungetüm.
28 storck: Storch.
29 Filodor: Weckherlins schäferlicher Deckname.
VON DER KUNST
Alle Guten, alle Bösen
„Beethovens Neunte“ heißt ein französischer Dokumentarfilm, der, besser als das in Thomas Manns „Doktor Faustus“ geschieht, richtiger nämlich die Instrumentalisierung dieses höchsten Kunstprodukts seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zeigt: von der „Bismarck-Symphonie“ über die rote Revolutionshymne, die Siegeshymnen der Deutschen und der Alliierten im Ersten Weltkrieg, die Riesenveranstaltung unter Mascagni zu Ehren Beethovens, zu Ehren Mussolinis, die Nazi- und die Demokratie-Aufführungen, Japan und China und immer so weiter bis zu Europa: derselbe Klang für den Krieg, für den Frieden, zum Gedenken an Mauthausen, vor dem Papst, der als Vorgänger des jetzigen die Hände vors Gesicht schlägt. Was anderes ist möglich bei der unendlichen Wiederholung des Lieds an die Freude ? „Freude trinken alle Wesen/An den Brüsten der Natur,/Alle Guten, alle Bösen/ Folgen ihrer Rosenspur.“ Alle Guten, alle Bösen…Mai 1785.
VON DER GESCHICHTE
Der deutsche Sonderweg
Der deutsche Sonderweg – das ist die Warnungstafel, die uns die neueren deutschen Historiographen an jeder Straßenecke aufgehängt haben: keine Freiheit, keine Demokratie, kein Parlamentarismus. Damit habe unser Elend begonnen.
Natürlich wollen sie nicht Bach verbieten oder sich gegen die sogenannten Dioskuren von Weimar aussprechen, auch nicht gegen Kant und Hegel, aber bei den Romantikern machen sie schon scheele Gesichter. Daß alle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus aller Welt nach Deutschland kamen, um von jenen zu hören und zu lernen, um diese einzigartige Verbindung von Innigkeit und Kosmos kennenzulernen, das nehmen sie in ihre Überlegungen gar nicht auf.
Aber wenn man es nun einmal herumdrehte und sagte, der Sonderweg sei unser Weg gewesen, auf dem unsere Begabungen sich gezeigt und bewährt haben: mit den verrufenen kleinen deutschen Souveränitäten, mit Hauptstädten wie Weimar, Jena, Tübingen, mit den Leuten, die deutsch sprachen und nicht denglisch, mit den Wissenschaftlern, die nicht Scheide-, sondern Verbindungslinien zogen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, den Medizinern, die ganzheitliche Betrachtungen noch kannten, statt immer wieder an Apparaten nichts zu erfahren, mit den tüftelnden Handwerkern, die, was gedacht wurde, nachdenklich umsetzten, kurz mit einem ganzen Volk, das Denken, Sprechen und Tun noch zu verbinden suchte.
Und war nicht Hitler der, der den Sonderweg endgültig beendete, nachdem natürlich schon die Fließbandtechnik begonnen und jener Wilhelm sie mit dröhnenden Volksreden begleitet hatte, die die eines Insouveräns waren? An sie schloß sich der ‚Führer’ an, der ja in erster und letzter Linie ebenfalls Volksredner nach dem Muster der französischen und weiterer Revolutionen war: ein phraseologischer Rhetoriker, der seinen Entschluß, Politiker zu werden, mit Recht im Beginn seiner Redetätigkeit bestätigt sah.Hier war einer,der keinen durchdachten Satz mehr zusammenbrachte, aber wohl die fertigen Phrasenprodukte, die er sich durch Zeitungslektüre zusammengeklaubt hatte, den orientierungslosen Leuten an die inzwischen leeren Köpfe warf . Um Großmachtstellung ging es ihm, an England suchte er sich zu orientieren. Er wollte das imperiale Muster des 19. Jahrhunderts erfüllen: mit Wagners Kultur und mit einer Politik, die er sich aus allem Imponierenden zwischen dem Wiener Bürgermeister, den englischen Premiers und den französischen Rednern amalgamiert hatte. Und daß am Ende dieses rhetorischen Konzepts „der Jude“ als Weltfeind stand, das hatte er sich aus den Antisemitismen Österreich-Ungarns, Englands, Frankreichs und Amerikas zusammengeklaubt bis hin zu der ‚Konsequenz’, die Auschwitz hieß und u.a.die Zerstörung des Sonderwegs bedeutete.
Der war vor allen Dingen aus einer Sprache gebaut, die die Verbindung von Poesie, Philosophie und Wissenschaften zuließ und nicht die eine oder andere nur als dekorative Verzierung für das mißbrauchte, um das es jeweils vor allem ging. Denn sie war wie keine geeignet, sich gegen den scheinbar unaufhaltsamen Trend, aus der Welt eine Fabrik und aus den Menschen Konsumenten zu machen, entschieden zu wehren, und zwar einfach dadurch, daß in ihr Sätze entstanden, die aller globalisierenden Ökonomie sich widersetzten, nicht zuletzt in ihrer wahren Popularisierung: der Sprache der Musik. Was heute nach den erfolgreichen Tagesgeschäften nichts anderes ist als die abendliche Bekränzung des so Scheußlichen wie Sinnlosen mit dem Schönen, war in Bachs Kantaten, in Mozarts Opern, in Beethovens Symphonien das Zentrum des Lebens.
Jetzt aber ist wüstes Chaos der Erfolg des wirtschaftlichen Großunternehmens. Und beide, die gierigen Raffer und die vom Hungertuch gerade noch Existierenden, sind gleichermaßen die Betrogenen. Diese mit evidenter Sicherheit, insofern ihnen die Weltwirtschaft noch das trinkbare Wasser vorenthält. Jene, insofern ihnen nichts anderes als Kontobewegungen bleiben, mit denen sie nichts anfangen können, als sie immer schneller und effektiver verlaufen zu lassen. Die globale Gesamtwirtschaft ist der Irrsinn, der als Aufklärung und Zukunftshoffnung von Reklameboys ausgegeben wird.
Sobald die Deutschen nicht mehr den Mut zur eigenen Sprache als dem Ausdruck des Sonderwegs haben, passen sie sich auf das lächerlichste dem an, was sie für das Herrschende halten. Was sie sich da zusammenstottern an englischer Trivialsuada ist die äußerlichste Schicht der Unselbständigkeit, die sie das eine Mal als tobendes Geschrei, das andere Mal als hemmungslose Toleranz bewähren. Sie verstehen nichts, aber verstehen alles.
Nirgendwo ist die unstrukturierte Rhetorik – ein Widerspruch in sich – schlimmer als im Tagesgequassel der Politiker, Geschäftsleute, vor allem aber der Journalisten. Was in Frankreich, England, Nordamerika noch aufruht auf einer langen Tradition von zwar längst apparathaft gewordenen Wendungen, das erscheint hierzulande in dem, was die Deutschen für deutsch halten, jener Einheit des Leitartikeljargons, den die Journalisten sich aus dem, was sie Aufklärung und was sie weniger gern intellektuellen Stammtisch nennen, zusammensetzen , und was die Leser als eigene Meinung, die ihnen von den Journalisten oktroyiert wird, glauben machen wollen. Keine Zeitung, die nicht vom Mittleren des Zwar-aber lebt, kein Zeitungleser, der dies nicht für vernünftige Welterklärung hält, in die er sich nur manchmal mit einem Leserbrief, der darüber aufklärt, daß es nicht um Quadratkilometer , sondern um Quadratmeilen gehe, einmischt. Deren Intellektualität ist fast immer die von Hausmeistern.
Seitdem sie den Sonderweg verlassen haben, interessiert die Deutschen nichts als das von Fernsehredakteuren Aufbereitete. Die nie endenden Krimireihen, die ihnen die Wohligkeit im Schlimmen vermitteln, die Schönheit der Welt der Frau Pilcher, sogenannte Heimatmusik, die weder mit unserer großen noch mit unserer Volksmusik irgendetwas zu tun hat. Es ist in Wahrheit alles so erbärmlich geblieben wie vor vierzig Jahren. Nur daß nun auch die revolutionären Achtundsechziger dem dummen Zeug applaudieren. Nach dem Verlassen des Sonderwegs machen wir es so wie alle, nur wesentlich schlechter.
Ein soziologischer Leserbrief zu den „Linken“
Üblich ist dies: Irgendeine politische Affäre erscheint zunächst in den Rundfunk- und Fernsehsendern, dann in den Tages- und Wochenzeitungen als Ereignis, dem viele Worte und Zeilen gewidmet werden. Nach wenigen Tagen erlischt das publizistische Interesse daran. Eine neue Affäre wird der Aufmerksamkeit empfohlen. Es ergibt sich die vage und plakative Vorstellung von einer Politik, die vor allem aus Affären besteht.
Daneben gibt es die unübersehbare Fülle von in flüchtiger Alltagsrede, in Vorträgen und den Berichten darüber, in Texten der Zeitungen und Zeitschriften dokumentierten Meinungen, die vielfach dauernder als die groß aufgemachten Affärenberichte in die Köpfe einsickern und dann, versehen mit den eigenen Nuancen, weiterwandern. Aus all dem formen sich Vorstellungen, die, verbunden mit jenen vagen über die großen Affären, politische Strömungen und Tendenzen bestimmen.
Von denen, lese ich, spreche die Soziologie. Der Professor a.D. für Soziologie und Sozialpädagogik der Universität Münster Roland Reichwein sagt in einer Stellungnahme vom 15. Mai 2007, die Soziologie versuche, „hinter das zu blicken, was jedermann selbstverständlich erscheint. Sie versucht also hinter die Oberfläche, die Fassade der sozialen und politischen Erscheinungen zu schauen, die uns täglich präsentiert wird…“
„Selbstverständlich erscheint“, ja wir wollen annehmen nahezu „jedermann“, daß die seit den letzten Wahlen in Deutschland erfolgreiche Partei „Die Linken“ auf die PDS zurückgeht und die wiederum, und zwar nicht nur ideologisch, sondern auch institutionell, auf die SED, die vierzig Jahre lang für eine Diktatur in Mitteldeutschland verantwortlich war und in engen Beziehungen zur KPdSU stand, die ihrerseits durch Jahrzehnte zunächst durch Lenin, dann durch Stalin repräsentiert wurde, welche Tod und unendliches Elend über Millionen Menschen gebracht haben.
Professor Reichwein schaut nun in einem kurzen Leserbrief, der am 11. März 2008 in den „Westfälischen Nachrichten“ veröffentlicht wurde, „hinter die Oberfläche, die Fassade“ des Selbstverständlichen und hält es für „ziemlich unerträglich“, wie „einseitig und moralisierend Spitzenpolitiker und Medien die Vorgänge um die Regierungsbildung in Hessen kommentieren“ Ich nehme an, daß er damit meint, (einige, nicht annähernd alle) Spitzenpolitiker und Medien hätten die Ansicht, die Geschichte der „Linken“ sei auf eine schreckliche Weise besudelt,. und daß er dieser Ansicht entgegentreten will. Er spricht zwar nicht von dem, was die Vorgeschichte der Partei in der Zeit der DDR ausmache, wohl aber davon, daß „’Die Linke’ bzw. ihre Vorgängerin, die PDS, in den fünf neuen Bundesländern eine etablierte Volkspartei“ und „seitdem“ „zu einer neuen, gesamtdeutschen Linkspartei geworden“ sei, die „auch in den alten Bundesländern Erfolge erzielt“ habe.
Das Soziologische des Soziologen besteht also, verstehe ich Professor Reichwein recht, darin, daß die Scheußlichkeit der SED und ihrer „Bruderpartei“, der KPdSU, nur „die Oberfläche, die Fassade“ war, hinter der sich eine erfolgreiche Volkspartei zeigt, auf die es einzig ankommt. Moral aber ist in diesem Falle, weiß der Soziologe überdies, nichts anderes als ‚unerträgliches Moralisieren’, über das man soziologisch aufklären muß, was knapp, aber vorbildlich und wirkungsreich mittels eines kleinen Leserbriefs, fern aller politischen Affären, geschehen ist.
VOM JOURNALISMUS
Immer daneben
„So beginnt (in Gisbert Jäkels
eindrucksvollem Bühnenbild) Benjamin Korns Inszenierung des ‚Don Juan’[von
Molière], der in Frankfurt ‚Dom Juan’ heißt.“
So Benjamin Henrichs in einer Rezension in der „Zeit“ aus dem Jahr 1985.
Wenn man drüber schreibt, muß man wissen, daß das Stück nicht in Frankfurt so heißt, sondern bei Molière. Aber Henrichs weiß es nicht, sondern nur besser. Und Männern wie ihm, die nicht einmal nachgucken, wie das Stück heißt, soll man hinsichtlich ihrer Urteilsfähigkeit vertrauen? So ist es tausendfach, wenn Journalisten nur anfangen etwas zu sagen. Immer daneben.
Der alltägliche Sinn des Schreckens
Wieder hat eine geistig verwirrte Mutter soundsoviele ihrer Kinder umgebracht oder eine sozial Depravierte hat es mit soundsovielen gleich nach der Geburt getan oder ein sogenannter Vater hat einen Jungen verhungern lassen oder hat ihn totgeschlagen. So wird es nun immer weitergehen.Und man weiß nicht, woran es liegt. Ob man vielleicht doch oder vielleicht gar?
Nur der Mann vom journalistischen Abenddienst weiß es. Er fragt, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben? Und obwohl die Antwort nicht schwer wäre, sagt er sie nicht. Sondern bereitet sich schon wieder auf die Stellung dieser Frage für den nächsten Abend vor. Und erschreibt sich in ein paar Minuten das übliche Honorar von 200 oder 300 Euro. Denn das ist eben der eigentliche Sinn des Schreckens. Die Journalisten haben etwas zu tun und streichen, zu etwas muß das alles ja gut sein, ihr Honorar ein.
Zeitungssätze
„Der Machtpoker beginnt…Das bürgerliche Lager ist herausgefordert…Andrea Ypsilanti[…], wortwuchtige Gegnerin[…] schlüpft ins Anwalts-Gewand der kleinen Leute…Sie[...]haben einen zwölfjährigen Sohn. Er engagiert sich seit Monaten intensiv für ihre Karriere…Statt 23 wie 1991 fühlten sich heute 34 Prozent der Bürger ‚links’…Unmöglicher Wählerauftrag… ‚Deutschland ist nach links gerutscht’… Genossen erleben in Niedersachsen erneut ein Wahldebakel…Woher kommen die Wähler der Linken? ... Politisches Erdbeben.
Der Fels in der Brandung. Europäische Zentralbank will sich nicht von der Börsenpanik treiben lassen…Finanzkrise zwingt Landesbanken zum Handeln…Ex-WestLB-Vorstand erinnert sich nicht…Wachstum verliert an Tempo.
Kleinkind mißhandelt…Porno-Bilder: Professor zahlt Strafe…Jäger findet im Wald eine Leiche…37jähriger gesteht Drogenhandel…50 Männer in Schlägerei verwickelt…Mutter zeigt Sohn wegen Diebstahls an … ‚Ein schweres Los für eine Mutter’, kommentierte ein Polizeisprecher den Fall…Heilpraktiker muß ins Gefängnis ... Möglicherweise könnte sich der Rest der Strafe im offenen Vollzug abspielen.
Angehörige wollen gerechte Strafe. …Zwei Jahre Jahre nach dem Einsturz der Eishalle in Bad Reichenhall müssen sich[…] drei Bauingenieure und Architekten wegen fahrlässiger Tötung vor dem Landgericht Traunstein verantworten…Die Mutter spricht von Ohnmacht und Fassungslosigkeit…Rätsel um Kasseler Skelette nie gelöst?...Überreste von mehr als 60 Menschen… ‚Es ist jetzt klar, dass es sich um keine Opfer des Nationalsozialismus handelt, und ein Verbrechen der letzten 50 Jahre können wir auch ausschließen’, sagte Oberstaatsanwalt Hans-Manfred Jung.
Özil kämpft gegen Image als geldgieriger Profi…Zidan will auch beim HSV glänzen… Trotz der zahlreichen persönlichen Probleme seiner derzeit knapp 40 EM-Kandidaten will Löw von einer Alarmstimmung nichts wissen… ‚Im Moment ist es so, dass Jens unser absolutes Vertrauen genießt’, erklärte der DFB-Chefcoach.
10 000 Narren feierten den traditionellen Umzug der Karnevalsgesellschaft ‚ZiBoMo’… Pünktlich um 14,11 Uhr war der prächtige Lindwurm gestartet… Traditionell angeführt von Heinz Mittmann… ‚ZiBoMo und Sonnenschein lasst[!] soll unser Motto sein’…Prinz und Prinzessin begegnen sich im Kindergarten…Jeckes Treiben am Sonntag in Otti-Botti ohne Zwischenfälle…Rollerfahrer kippte um …In Wolbeck stehen die Narren Kopf...… Gemeinschaft der Domhöfer feiert ausgelassen Karneval.
Schumachers Ehe am glücklichsten…Fast jeder Zehnte glaubt, dass der ehemalige Rennfahrer und seine Frau die harmonischste Ehe führen…Unsagbar einsam und ewig suchend wirken diese Menschen…Sonst müsste auch dem Zuschauer der Tod als Erlösung erscheinen.“
(Westfälische Nachrichten 29. Januar 2008)
VON DEN MEDIEN
Dr. Günter Struve
In Nummer 10 ZLdN hatte ich in einer Antwort an den Vorsitzenden des Hörfunkrates des Deutschlandradios, Dr.h.c. Enderlein, darauf aufmerksam gemacht, daß es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Schwindelei der Redaktion sei, wenn behauptet werde, der königlich britische Botschafter Sir Peter Torry habe weder wie korrekt „Exzellenz“ noch „Herr Botschafter“ noch „Sir Peter“ angeredet werden wollen, sondern „Herr Torry“ .
Darauf war ich von dieser prächtigen Aufsichtsperson, nämlich Dr.h.c. Enderlein, angemahnt worden, zu glauben, daß die Behauptung als „Aussage eines Redakteurs“ glaubhaft sei.
In Wahrheit wird uns längst sehr viel mehr zugemutet. Es fällt ihnen nämlich schon gar nicht mehr ein, zu behaupten, daß jemand, der in ihre Fänge gerät, selbst gewünscht habe, so und so genannt zu werden. Sie frönen vielmehr ihrem Wunsch nach Kameraderie dadurch, daß sie jedermann, sagen wir die Bundeskanzlerin, schlankweg mit Vor- und Familiennamen anreden, also z.B.Angela Merkel. Sie wollen weder Respekt noch Distanz, sondern tendieren sicher darauf, auch den Bundespräsidenten demnächst als „Horst“ oder den Papst als „Beni“ zu begrüßen.
Allerdings mit einer Ausnahme. Geht es um einen gewissen Günter Struve, der uns seit langem dadurch auf die Nerven fällt, daß er dank der merkwürdigen Organisationsformen der ARD nicht nur als deren Programmdirektor figuriert, sondern auf diesem Posten die Zuschauer öffentlich-rechtlich für so dumm verkauft, wie er sie inzwischen dank eines Programms, das sich an Flachheit von keinem privaten mehr unterscheidet, gemacht hat, sieht das alles anders aus.
Taucht der einmal in Gestalt im eigenen Programm auf wie am 6.12.07 um 20,15 bei dem Fernsehschaffenden Pilawa, so weiß dieser, was er zu tun hat. Nicht nur erscheint nämlich in der Legende, und einzig bei diesem Namen, die Schreibung „Dr. Günter Struve“, sondern dieser Dottore wird auch in den Reden des Herrn Pilawa als „Herr Doktor Struve“ apostrophiert. Denn ist diese ganze Bagage der Öffentlich-Rechtlichen auch mit jedem längst auf du und du, so weiß sie, um ihr Pöstchen bangend, natürlich dann, was sich gehört, wenn es sich um den „Herrn Doktor Struve“ handelt. Obwohl der doch einzig als „Blödmacher“ benannt werden dürfte.
Ein Fernsehjournalist kritisiert das öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehwesen in Deutschland
Erfahrungen aus einem Berufsleben aufzuschreiben und zu veröffentlichen ist nützlich.
Daß es zumeist erst nach der Pensionierung geschieht, sagt auch etwas über den Mut zu solchen Bekenntnissen. Jürgen Bertram, ein Fernsehjournalist, geboren 1940, schreibt sie unter dem Titel „Mattscheibe. Vom Niedergang des Fernsehens“, 2006 im Fischer Taschenbuch Verlag (Frankfurt/M.) erschienen.
Was er von den Anfängen des Nachkriegs-Rundfunks in Norddeutschland unter Hugh Carleton Greene mitteilt und was ihm den Maßstab für Späteres gibt, hat er nicht erlebt, sondern gelesen. Es ist die Geschichte von dem ganz und gar liberalen, demokratischen und kritischen Rundfunkmann, die längst gängig geworden ist.
Was fehlt, ist die deutsche Vorgeschichte: nämlich die all jener nazifreundlichen Journalisten wie etwa Nannen oder Höfer, die aus der Aufklärungsepoche der zwanziger Jahre ganz selbstverständlich hervorgingen, obwohl doch der journalistische Berufsstand sich selbst gern als den feiert, der nicht nur zuständig ist für Aufklärung und Meinungsfreiheit, sondern dessen nie schwankender Repräsentant bleibt.
Und es fehlt eine Bemerkung darüber, daß dieser hochgelobte neue Rundfunk Ergebnis eines Oktrois war, also nicht der Initiative der Deutschen entsprang. Wie auch, waren das doch durchweg von der Nazizeit geprägte Journalisten.
Auch ist ganz seltsam, wie rasch die Grundsätze des Hugh Carleton Greene nach Bertram aufgegeben wurden. Die Gründe dafür werden nicht zum ersten Mal behauptet, sie gelten ebenfalls als kommun. Die Parteien seien dafür verantwortlich, daß aus dem liberalen und demokratischen Rundfunk alsbald ein parteipolitisch gesteuerter geworden sei. Wenn dem so ist, sollte gefragt werden: Woher kamen all die servilen journalistischen Befehlsausführer, die sofort bereit waren, die Prinzipien Greene’s wegzuwerfen ? Und wie geschah es, daß der parteipolitische Übergriff alsbald und offenbar in den Funkhäusern selbst in großer Zahl Personen aktivierte, die mit allen Mitteln der Intrige den politisch anders Orientierten ausschalteten. Keine Rede ist bei Bertram von sachorientierten Diskussionen, aber viel von ständiger Überwachung durch Intendanten und Hauptabteilungsleiter.
Bertram gehört selbst natürlich zu den gesellschaftlich orientierten und kritischen Journalisten, denen es im Lauf der Zeit aber immer schwerer gemacht wird. Das entspringt aber nach Bertrams Darstellung nicht mehr so sehr jener systeminternen Intriganz, sondern einer sich mehr und mehr an der Quote messenden Fernsehpolitik der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Die hat offenbar eine hemmungslose Korrumpierung dieser „Anstalten“ ebenso zur Folge wie den Zynismus seiner Dirigenten, für den eine Gestalt wie Günter Struve zurecht als besonders beweiskräftig charakterisiert wird. Wie aber, muß man wiederum fragen, kann ein solcher Mann, dessen Prinzipien allein im Erfolg fundiert sind, die zehn oder zwölf Intendanten davon überzeugen, daß er der richtige Mann als Programmdirektor der ARD ist ?
Er sei Pressechef des Berliner Senats gewesen und habe für Willy Brandt Reden geschrieben, weiß Bertram. Und so müßte er doch etwas darüber sagen, daß dies offenbar keine Empfehlung sein muß, sondern eine Warnung sein kann.
Bertrams Kritik stellt sich in journalistischer Suada dar mit neckischer oder sensationierender Metaphorik. Er kommt gar nicht darauf, daß die Zustände, die er durchaus plausibel macht und die himmelschreiend sind, aus dem Beruf hervorgehen könnten, den er ausfüllte und den er gleichzeitig als eine Versammlung von mittleren Scharlatanen und Schurken darstellt. Ob es Leute sind, die nach Bismarck ihren Beruf verfehlt haben, oder solche, die ihn gerade als eine Mixtur aus vermeintlicher Gesellschaftskritik und tatsächlicher Verlumpung gefunden haben, ist wiederum zu fragen.
Deutsches Fernsehen
Jemand schreibt ein Buch und wählt als Untertitel „Das Ende der Fernsehkultur“.
Als hätten wir nicht allen optimistischen Behauptungen zum Trotz längst bitter erfahren müssen: Das Ende der Fernsehkultur ist die Fernsehkultur.
Was brauche ich weiter Zeugnis, wenn ich höre, daß ein neuer Typus von Fernsehsendung „Format“ heißt? Das bedeutet doch, daß es zunächst einen gibt, der gar nicht merkt, was er mit einem solchen Namen für eine Behauptung aufstellt. Und dann natürlich diese Scharen der hinter solchem Begriff Herwimmelnden, die ihre Sätze mit derlei Nonsens anfüllen, als sei der das Selbstverständlichste von der Welt.
„Öffentlich-rechtlich“ bedeutet, daß sie sich den Schund, den sie liefern, im Gegensatz zu den „Privaten“ durch Zwangsgelder, die sie ihren Zuschauern auferlegen, bezahlen lassen.
Da machen sie sich Gedanken über den sogenannten Anchorman(oder die Anchorwoman) bei ARD und ZDF. Dabei handelt es sich um Leute, die im besten Fall das richtig akzentuiert vortragen, was man ihnen aufgeschrieben hat.
Wickert sei ein großartiger Anchorman gewesen. Er sei belesen, heißt es. Natürlich, in einem Volk, das Mühe hat, ein paar Seiten zu lesen, ist derjenige, der eine Seite mehr liest, ein Belesener.
Der ARD-aktuell-Chef heißt Kai Gniffke. Ein Medienforscher heißt Jo Groebel. Da wissen wir doch Bescheid.
VOM (EINSTIGEN) LEBEN
Die wilden Berliner Jahre 1967 – 68.
Die Habilitationsschrift zur „ernsten Komödie“ kann abgeschlossen werden. Im Frühjahr beginnt die Vorbereitung für die beiden Vorträge: der eine über Lichtenberg vor der Fakultät, der andere als Probevorlesung, die aber anders als anderwärts hier bewertet wird, über Kraus und Hofmannsthal, durchaus nichts Gängiges für einen solchen Zweck.
Da ich seit einiger Zeit ein Habilitationsstipendium der Forschungsgemeinschaft bekomme und beurlaubt bin, habe ich keinen existentiellen Druck auszustehen, der freilich oft genug ein Problem für Menschen Mitte der dreißig ist, die mit befristeten Verträgen leben müssen. Das wird in der kommenden Zeit noch ein Thema sein.
An der Freien Universität brodelt es seit geraumer Zeit. Da ist lokal der Fall Krippendorf: ein Assistent der Politologie, der wegen kritischer Äußerungen entlassen wird. Da ist überlokal der Streit um die Notstandsgesetze und vor allem der Vietnam-Krieg. Auch Fragen des Studiums, insbesondere der Germanistik, spielen eine nennenswerte Rolle. Der Wissenschaftsrat hat Vorschläge gemacht, schon im November 1966 nimmt dazu ein „Papier“ der Institutsvertretung des Germanischen Seminars Stellung. Von denen wird es in den nächsten Monaten und Jahren unübersehbar viele geben. Man zitiert etwa Prof. Lämmert, der schon im Jahr 1963 vor unzureichend ausgebildeten Deutschlehrern gewarnt hatte. Jetzt fordert man ein „integriertes Studium“, das „nicht zuletzt ein integriertes Studieren im engen Verband mit Dozenten und Kommilitonen“ sein soll. Dies und vieles andere macht in der nächsten Zeit immer wieder den Eindruck einer vagen Allgemeinheit.
Dem wird sich dann in der Germanistik und in vielen anderen geisteswissenschaftlichen Fächern die Drastik sehr bestimmter Forderungen entgegensetzen. Seit Beginn des Sommersemesters 1967 gibt es ein Nebeneinander von fast bürokratisch agierenden Kommissionen und Ausschüssen und ersten Aktionen wie Aufrufen zu weiteren, die am massivsten in den Flugblättern der Kommune 1 zum Ausdruck kommen.
Ich verhandle Anfang 1967 mit dem Hessischen Rundfunk über Rundfunkkommentare zur „Sprache der Zeitgenossen“, die dann ab April in einem bestimmten Rhythmus ausgestrahlt werden. Dem Sender geht es zunächst, wie ich schreibe, um eine „Art von impresionistisch-ästhetischer Sprachkritik“ als „Sprachhilfe“, während es mir um die Darstellung „miserabler Reflexion“ zu tun ist, die in ihrer Artikulation zum Ausdruck kommt.Darüber einigen wir uns einigermaßen. Schwierigkeiten habe ich v.a. mit dem unmittelbar Verantwortlichen wegen kritischer Töne zum Journalismus. Drastisch wird mir vorgeführt, daß alles kritisierbar ist, nicht aber dieser.
Gleichzeitig gibt es aber auch persönliche Hinweise zum Aufenthalt Musils in Berlin, die zu einer Gedenktafel am Kurfürstendamm führen, Vorträge da und dort und z.B. eine Diskussion über Courths-Mahler in der Buchhandlung Elwert und Meurer, an der sich neben mir der „teddyhafte Hans Scholz“, „die naive Frau Drewitz“ und die Kritikerin Annemarie Weber beteiligen , „die das Thema schon irrelevant findet“.
Ich registriere z.B.: „Die Frankfurter Rundschau überschreibt ihre Ausgabe vom 29.März 67 mit der Schlagzeile: ‚Papst kritisiert [in seiner Enzyklika] den Kapitalismus’. ‚Die Welt’ vom gleichen Tage bringt auf der ersten Seite über die Enzyklika nur eine kleine Meldung, die die sozialen Aspekte hervorhebt, schreibt aber dann auf S.4 oder 5 einen größeren Bericht unter der Überschrift ‚Papst Paul warnt vor Gewalttaten, Aufständen und totalitären Ideologien’. In einem Kommentar , zwei Seiten vorher, heißt es dann eindeutig kritisch: ‚Auch wird der Kommunismus [in der E.] mit keinem direkten Wort erwähnt.’“
Sehr muß ich mich auf den Abschluß der Habilitation konzentrieren, auch darum, weil man der Germanistik in der Fakultät mißtraut und weil nicht lange vor meinem Termin ein Freund Emrichs sozusagen „durchgefallen“ ist und ein etwas älterer Kollege auf dringenden Rat seine Schrift zurückgezogen hat. Daß es dann Ende Juni und Anfang Juli 1967 gut klappt, habe ich außer mir selbst und der freundlichen Vorbereitung durch Peter Szondi wohl den Umständen zu verdanken. Jedenfalls ist die Lage so, daß gleich nach dem Colloquium vor der Fakultät einer unserer Ordinarien mir gegenüber davon spricht, daß dies ein hochschulgeschichtliches Ereignis sei. Und u.a. schrieb mir ein früherer Student, der dann im Ausland Ordinarius wurde, über die Probevorlesung: „… wir staunten sehr – und freuten uns daran -, was Sie alles in einer Stunde unterbrachten.“ Jedenfalls war man erleichtert.
Die „Umstände“ waren vor allem die Demonstrationen anläßlich des Schah-Besuchs in Berlin, die Prügeleien durch Schah-Adlaten(„Jubel-Perser“) vor der Oper und die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten am 2. Juni 1968. Diese Tötung führte zu einer Zuspitzung der Situation und zu einer Solidarisierung großen Umfangs, wie es sie bisher noch nicht gegeben hatte. Wenn ich mich recht erinnere, fand schon am Tag darauf im Henry-Ford-Bau eine Studentenversammlung statt, die von großer Spannung bestimmt war. Ich nahm daran teil, saß neben dem (früheren?) ASTA-Vorsitzenden Knut Nevermann und versuchte in einer kurzen Stellungnahme zur Mäßigung zu raten: nicht Aktionen, sondern Reflexionen seien nötig, was freilich wirkungslos blieb, bleiben mußte.
Noch bei der Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses am 6. Juni wurde aber andererseits das Verhalten der studentischen Demonstranten einhellig verurteilt. Der Senator Stein sprach davon, daß der Todeschuß den latenten Zustand der Unzufriedenheit [der Studenten] evident gemacht habe. Eine Rundfunkdiskussion wenige Tage nach dem Ereignis mit dem Innensenator Büsch, dem Chef der Polizeiinspektion Charlottenburg, dem Abgeordneten Jürgen Wohlrabe, aber auch mit Günter Grass, Herrn Gleitze von den „Falken“, dem studentischen Sprecher im Akademischen Senat machte deutlich, daß es keine Gemeinsamkeiten mehr gab. So beginnt schon längst vor ’68 die immer hemmungslosere Verdächtigung und Beschuldigung des politischen Gegners, in denen sich die Studenten und ihre Protektoren als Stärkere darum erweisen, weil sie immer mehr von der sprachlichen Auseinandersetzung abweichen zugunsten körperlicher und denunziatorischer Gewalt, wie es z.B. Koenen und Aly in ihren Publikationen zu den Achtundsechzigern deutlich gemacht haben. Als siebenten meiner Sprachkommentare spreche ich einen Text mit dem Titel „Ein Polizeipräsident redet in Bildern“, in dem ich den Satz des Berliner Präsidenten analysiere: „Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt“. (H.A., Literatur im Zeitalter der Information. Frankfurt/M. 1971. S.361.)
Zum Wintersemester 1967/68 werde ich mit der Vetretung eines Lehstuhls in Münster betraut. Das läßt sich insgesamt noch durchaus zivil an mit einer Vorlesung über Lichtenberg und einem Seminar über Brecht .
In Berlin zieht man mich als Vertreter der Privatdozenten in die Hearings wegen eines neuen Universitätsgesetzes hinein. Im Seminar gibt es den Versuch, zu einer neuen Struktur zu kommen, in die alle Gruppen einbezogen sein sollen. Aber solche Bemühungen erweisen sich als scheiternde, weil alle Gruppen innerhalb und außerhalb der Universität immer gesprächsunfähiger werden. Dazu tragen natürlich auch so schreckliche Ereignisse wie die Schüsse auf Rudi Dutschke bei(200 Meter von unserer Wohnung), die wiederum eng mit der verbalen Aggressivität der Springer-Zeitungen zusammenhängen.
Schon im Laufe des Frühlings 1968 zeigt sich auch im Germanischen Seminar in Berlin, daß man an einem Endpunkt angekommen ist, so daß ich am 25. Mai dem Vorsitzenden der Studentenvertretung Kriebel schreibe, die Studenten und ihre Vertretung hätten einerseits „mit Kritik und Energie zu einer positiven Entwickung am Seminar“ „wesentlich beigetragen“. Andererseits hätten sie aber „durch die plötzliche Forderung nach totaler Öffentlichkeit, mehr aber noch durch die autoritäre Art und Weise, wie sie diese Forderung auf Vollversammlungen behandeln“ ließen „und durch andere autoritäre Methoden[…] ihre eigenen Ziele einer nicht-autoritären Universität und Gesellschaft in leichtfertiger Weise aufs Spiel gesetzt…“ Hier meldet sich zu einer Zeit, da ich entschieden für eine Evolution der Universität eintrat, das Bedenken gegenüber den autoritären Attituden und den Aktionismen der Studenten. „Vieles deutet darauf hin, daß [die Studentenvertretung] nun Aktionen beginnen wird, die aus einer falschen Analyse der Situation entspringen und die darum schließlich zu totaler Resignation bei allen Beteiligten führen werden“. Noch am gleichen Tage schreibe ich auch an den Geschäftsführenden Direktor des Germanischen Seminars Prof. Wapnewski. Am 20. Mai hatte sich eine Lehrkörperkonferenz des Seminars entschlossen, zu verschiedenen Vorfällen,u.a. zu ungerechtfertigten Angriffen auf Prof. Emrich als früheren Geschäftsführenden Direktor Stellung zu nehmen. Unter dem Vorsitz von Prof. Wapnewski erarbeitete eine Gruppe einen Text, der zur Unterschrift im Seminarsekretariat ausgelegt wurde. Noch am 21. Mai hatte Herr Wapnewski mir seine Unterschrift ausdrücklich zugesagt. Am 22. Mai hat er diese Zusage widerrufen. „Diese Deasvouierung der Resolution, der übrigen Mitglieder des Komitees, der Unterzeichner der Resolution und des eigenen Entschlusses kennzeichnet endgültig die Situation am Germanischen Seminar.“ „Es muß festgehalten werden, daß der Lehrkörper dieses Seminars zu keinem Konsens in irgendeiner wichtigen Frage mehr in der Lage ist.[…] Es muß festgehalten werden, daß Ihre eigene Unentschlossenheit zu diesem Versagen des Lehrkörpers erheblich beigetragen hat.“ Feststellungen wie diese und solche im Brief an die Institutsvertretung bestätigen sich in den folgenden 10 bis 12 Jahren. Es wird (fast) nur noch Aggressivität, Opportunismus und Indolenz geben, jedenfalls, was die Germanistischen Institute in Berlin und Münster angeht.
Im Sommersemester 1968 muß ich, wieder mit der Vertretung des Münsteraner Lehrstuhls betraut, auch in Berlin lehren, wo ich die schöne Stellung eines „beamteten Privatdozenten“ erhalten habe.In Münster geht alles noch seinen einigermaßen normalen Gang, in Berlin ist das Tumultuarische schon selbstverständlich geworden. Doch läuft daneben die Prüfungs- und Beratertätigkeit so, als lebten wir im „tiefsten Frieden“. Der spätere Sachbuchautor Wolfgang Schievelbusch z.B. will bei mir über DDR-Dramatiker magistrieren und schreibt mir von den verschiedenen Stilebenen in „Die Sorgen und die Macht“ von Hacks.
Im Sommer bekomme ich die Einladung zu Berufungsverhandlungen in Düsseldorf, dann die Berufung, zusammen mit dem Akademischen Rat Wofgang Martens, der sich inzwischen auch habilitiert hat. Herr Pestalozzi wird etwas später nach Basel berufen und habilitiert sich noch danach in Berlin. Anfang September 1968 fahren wir nach Münster, ich habe dort erste Gespräche mit meiner Hilfskraft, später mit der Assistentin. Auch geht es ums Vermessen der Wohnung, um den Maler, um Fragen der Verwaltung usw. Wir fahren dann an die Nordsee. Bei der Rückkehr machen wir in Münster Station, wo ich von dem katholischen Kirchenhistoriker Kötting, der zur Zeit Rektor ist, vereidigt werde. Mir ist nur noch erinnerlich, daß ich bei den Vereidigungsformeln einen Fehler mache. K. guckt erstaunt.
Anfang Oktober Abschied von Berlin. Flug nach Hannover. Mit dem D-Zug von Hannover nach Bielefeld, weiter mit dem Triebwagen durch’s Münsterland. Manchmal das Gefühl von Rückkehr. Ich wohne in einer kleinen Pension. Das Dienstzimmer ist noch nicht eingerichtet. Meine kleine Truppe stellt sich ein. Herr St. berichtet vom Germanistentag. - Fahrt zu den Eltern in D., v.a. zu dem sehr kranken Vater.
Herr Klotz, der einen Lehstuhl vertritt, ist empört darüber, daß die Forschungs-
gemeinschaft ihm über die Zahlung seines Gehalts noch nichts mitgeteilt hat.
In der Universität beginne ich mit einer Aufklärungsvorlesung und spreche über Hagedorn.
R. ruft aus Helmstedt an, wohin sie den Möbeltransport begleitet hat.-
Kaum hatte man das neue Amt in Münster übernommen, begann auch dort der Rumor. Wie schon in Berlin wurde man nun auch in Münster, allerdings erheblich exponierter, all dem ausgesetzt, was den Studenten aus Gründen, die oft gar nichts mit der Universität zu tun hatten, Unzufriedenheit bereitete und was Verwaltung, Rektorat und Ministerium sich vom Halse halten wollten. Es ist völlig unbestreitbar, daß kein anderes Fach so strapaziert wurde wie die Germanistik, daß das Fach allerdings auch in Gestalt von Kollegen, Assistenten, Räten und Studenten unfähig war, den z.T. absurden Attacken zu widerstehen oder mit den nicht sehr zahlreichen sinnvollen Forderungen fertig zu werden. Man kann sagen, daß ein Universitätsfach auf all das nicht vorbereitet sein konnte. Aber man muß auch sagen, daß man erlebte, wie man entweder einem hemmungslosen Opportunismus sich ergeben mußte oder wie Fortkommen und Forschung behindert wurden und man seine Tage, damit andere passabel leben konnten, mindestens eineinhalb Jahrzehnte lang mit immer neuen Schwierigkeiten und z.T. bösartigen Attacken zu verbringen hatte.
Nummer 18 (Dezember 2007) s. Archiv
INHALT: Walter Kempowski zum Gedächtnis. VON DER LITERATUR: Einführung in die Literaturwissenschaft in Aphorismen - Literaturbetrieb, Literaturwissenschaft
und Literatur als Sprache - Barockes Trauerspiel (A.Gryphius, Carolus Stuardus –
D. Casper von Lohenstein, Sophonisbe). Dritter Teil und Schluß. VON DER TH EOLOGIE.: Eberhard Jüngel hat über die Einheit der Kirche nachgedacht. VON DEN MEDIEN:
Plasberg wird von Suerland interviewt. VON DER WIRTSCHAFT: Deutsche
Entwicklungshilfe und menschlicher Fortschritt – „Die Marke Renault hat ein Problem“. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Berliner Jahre 1965 – 66. Neuer Titel.
P.S. zu dem Nachtrag „Google-Transparenz ?“ in Nummer 17 ZLdN
Die Nummern 1 – 18 s. Archiv
s. Register der Nummern 1 – 19 von „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen.