Zur Lage der Nation
Bemerkungen zur Sprache, Literatur,
Kultur, Politik und
zu den Medien in Deutschland
Herausgegeben von Helmut Arntzen
Nummer 20 (September 2008)
INHALT: VON DER LITERATUR:
Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Zweiter Teil). VON DER GEGENWART:
Einigkeit und Recht und Freiheit. Vom deutschen Vaterland. Einfache Sprüche.
VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Die Anfänge in M. 1968 – 1972.
VON DER LITERATUR
Deutsche Lyrik, kommentiert
17.Jahrhundert (Barock) (1624 – 1720). 2. Teil
Die drei folgenden Stücke von Spee, Paul Gerhardt und Gryphius sind barocke
Naturgedichte, formal und thematisch aber ganz unterschiedlicher Art.
Friedrich von Spee, Jesuit aus Kaiserswerth bei Düsseldorf, 1591-1635, ist
einer der ersten, der sich gegen die Hexenprozesse wandte: Seine Sammlung
„Trvtz-Nachtigal" (1649 gedruckt, schon in den dreißiger Jahren
entstanden) versammelt geistliche Lieder, die z.T. einen sehr innigen Ton
haben. Im 'Lobgesang der Vögel' wagt er es, zwei Reimsilben durch das ganze
Lied hindurch zu gebrauchen, die auf die Zartheit und geringe Größe der Vögel
deuten. Nur in zwei Strophen wird der Gottesname und die unendliche
Wiederholung des Lobs zur Unterbrechung dieses Reimschemas eingesetzt. Die
Vögel erscheinen in diesem Text als Sänger des Gotteslobs wie als fast
impressionistisch erfahrene bewegte und tönende Lebewesen.
DIE GESPONß30 IESV ERWECKT DIE VÖGELEIN ZUM LOB GOTTES
I.
Wacht auff jhr schöne vögelein /
Jhr Nachtigalen kleine /
Die jhr auff grünen zweigelein /
Noch eh die Sonn recht scheine /
Stimmt an die lautbar schnäbelein /
Gedräht von helffenbeine.
II.
Her / her / gefedert Schwesterlein /
Euch samblet zur gemeine/
Blaßt an die beinen psälterlein31 /
Jhr sämbtlich keusch vnd reine.
Lobt GOTt / lobt GOTt / jhr vögelein /
Jhr / Jhr / vnd all die seine.
III.
Lobt GOTt / jhr süsse schwetzerlein /
Jhr Nachtigalen kleine /
Jhr lufft- vnd wolcken-Sängerlein /
Für jhn bestelt alleine /
Mit euch zun besten liedelein
Jch harpff vnd Laut vereine.
IV.
Ich euch zu lieb / jhr pfeifferlein /
An holer Eichen leine32 /
Vnd euch die wilde färbelein33
Mit worten klar bescheine34;
Laßt gahn die klinglend stimmelein /
Zum tieffen wald hineine.
V.
Da seind viel klarer brünnelein /
Gefaßt in marmersteine /
Dort netzet vor die züngelein /
Nach ordnung ein / vnd eine;
Da spület hälß- vnd gürgelein /
Drauff besser singt jhr kleine.
VI.
Den Tact gebt mit den flügelein /
So schickt sichs recht /jhr feine;
Auch frewdig schwingt die federlein /
Wegt ärmelein vnd beine /
Erstreckt zum klang das hälselein /
Ein jedes thu das seine.
VII.
Habt jhr kein sonders Liedelein /
So lernet nur das meine /
Jst gnug mit einem seufftzerlein /
Man darff der ander keine.
Singt nur allein: Gelobt sey GOTT /
GOTT Sabaoth35 alleine.
VIII.
Zu tausentmal gelobt sey GOTT /
GOTT Sabaoth alleine:
Zu tausent-tausent-tausent-mal /
GOTT Sabaoth alleine /
Vnd dan noch tausent-tausent-mal
GOTT Sabaoth alleine.
IX.
Singt nur diß eintzig liedelein /
Das stücklein das ich meine:
Singt / singt / vnd klingt / jhr vögelein;
Dan ich für frewden weine:
Bin wund von süssem Liedelein /
Was hilfft daß ichs verneine?
X.
Fliegt hinn durch alle wäldelein /
Bleibt tag vnd nacht beyn eine36 /
Singt jmmer nur diß liedelein /
Bey Sonn- vnd Mone-scheine /
Gelobt sey Gott / Gott Sabaoth /
Gott Sabaoth alleine.
XI.
Sonn / Mon / vnd lützel37 Sternelein /
Wie gäntzlich ich vermeine /
Mit sampt der Erden pfläntzelein
Laub / graß / busch / heck / vnd zäune /
Thun werden ein schöns täntzelein /
Daß höll vnd Teuffel greine.
XII.
Frewd bringen wirds den Engelein /
Den bösen bringt es peine;
Drumb singt jhr schöne vögelein /
Jhr Nachtigalen kleine /
Also will Gott gelobet sein /
Gott Sabaoth alleine.
XIII.
Gelobt sey Gott / Gott Sabaoth
Singt tausentmal alleine /
Gelobt sey Gott / Gott Sabaoth /
Noch tausentmal alleine;
Vnd dan noch tausent / tausentmal /
Gott Sabaoth alleine.
Bekannt ist Paul Gerhardts „Sommergesang" von 1653. Gerhardt (1607-1676)
war Pastor an der Berliner Nicolaikirche und stellte sich aus theologischen Gründen
gegen seinen Landesherrn, den Großen Kurfürsten. Er hat eine Fülle von
Kirchenliedern geschrieben, die neben denen Luthers die bedeutendsten der
evangelischen Kirchenliedgeschichte sind. Das Sommerlied bezieht sich im
ersten Teil, den Strophen 1-6, ganz auf die schöne Phänomenalität des
Wachsenden und Blühenden. In Strophe 7 findet ein Übergang statt zu den
Strophen 8 – 15, in denen diese Phänomenalität aus der Sicht des „ich“ zur
Metapher des geistlichen Wachsens und Blühens wird, das sich erst im ewigen
Leben vollendet.
SOMMERGESANG
Mel. Den Herren meine seel
erhebt.
1. Geh aus / mein hertz / und suche freud Jn dieser lieben sommerzeit An
deines Gottes gaben: Schau an der schönen gärten zier Vnd siehe / wie sie mir
und dir Sich außgeschmücket haben.
2. Die bäume stehen voller laub / Das erdreich decket seinen staub Mit einem
grünen kleide Narcissus und die Tulipan / Die ziehen sich viel schöner an /
Als Salomonis seyde.
3. Die lerche schwingt sich in die luft / Das täublein fleugt aus seiner
kluft / Vnd macht sich in die Wälder. Die hochbegabte nachtigal Ergötzt und
füllt mit jhrem schall / Berg / hügel / thal und felder.
4. Die glucke führt jhr völcklein aus / Der storch baut und bewohnt sein haus
/ Das schwälblein speist die jungen / Der schnelle hirsch / das leichte reh
Jst froh und kömmt aus seiner höh Jns tiefe graß gesprungen.
5. Die bächlein rauschen in dem sand Vnd mahlen sich in jhrem rand / Mit
schattenreichen myrthen / Die wiesen ligen hart dabey / Vnd klingen gantz vom
lustgeschrey Der schaf und jhrer hirten.
6. Die unverdroßne bienenschaar Fleucht hin und her / sucht hie und dar Jhr
edle honigspeise. Des süssen weinstocks starcker saft Bringt täglich neue
stärck und kraft / Jn seinem schwachen reise.
7. Der weitzen wächset mit gewalt / Darüber jauchzet jung und alt Vnd rühmt
die grosse güte Des / der so überflüssig labt / Vnd mit so manchem gut begabt
Das menschliche gemüthe.
8. Jch selbsten kan und mag nicht ruhn / Des grossen Gottes grosses thun
Erweckt mir alle sinnen / Jch singe mit / wenn alles singt / Vnd lasse / was
dem Höchsten klingt Aus meinem hertzen rinnen.
9. Ach denck ich / bist du hier so schön Vnd läßst dus uns so lieblich gehn /
Auf dieser armen erden / Was wil doch wol nach dieser welt / Dort in dem
vesten himmelszelt Vnd güldnem schlosse werden.
10. Welch hohe lust / welch heller schein / Wird wol in Christi garten seyn /
Wie muß es da wol klingen / Da so viel tausent Seraphim38 / Mit
unverdroßnem mund und stimm / Jhr Alleluja singen.
11. O wär ich da! o stünd ich schon / Ach süsser Gott / für deinem thron Vnd
trüge meine palmen: So wolt ich nach der Engel weis / Erhöhen deines Namens
preis Mit tausent schönen psalmen.
12. Doch gleichwol wil ich / weil ich noch Hier trage dieses leibes joch /
Auch nicht gar stille schweigen / Mein hertze soll sich fort und fort / An
diesem und an allem ort Zu deinem lobe neigen.
13. Hilf mir und segne meinen Geist Mit segen / der vom himmel fleußt / Daß
ich dir stetig blühe / Gib / daß der sommer deiner gnad Jn meiner seelen früh
und spat Viel glaubensfrücht erziehe.
14. Mach in mir deinem Geiste raum / Daß ich dir werd ein guter baum / Vnd
laß mich wol bekleiben39 / Verleihe / daß zu deinem ruhm Jch
deines gartens schöne blum Vnd pflantze möge bleiben.
15. Erwehle mich zum Paradeis Vnd laß mich bis zur letzten reis An leib und
seele grünen / So wil ich dir und deiner ehr Allein / und sonsten keinem mehr
/ Hier und dort ewig dienen.
Der bedeutendste Lyriker des Barock, vielleicht der bedeutendste deutsche
Barockdichter überhaupt, ist Andreas Gryphius, geboren 1616, gestorben 1664,
in Schlesien lebend. Er machte Bildungs- und Studienreisen durch Europa und
war dann Syndikus der Landstände in seiner Vaterstadt Glogau. In seiner Lyrik
sind insbesondere die Sonette eindrucksvoll, die er in strenger Form zur
Darstellung barocker Spannung und ihrer Aufhebung gebrauchte. Das folgende
Gedicht „Einsambkeit", 1650 gedruckt, ist geradezu der Gegensatz zu
Gerhardts „Sommergesang" und trifft sich doch mit diesem in der
durchgehenden Metaphorizität alles Naturhaften.
EINSAMBKEIT
IN dieser Einsamkeit / der mehr denn öden wüsten /
Gestreckt auff wildes
Kraut / an die bemößte See:
Beschaw' ich jenes
Thal vnd dieser Felsen höh'
Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten.
Hier / fern von dem Pallast; weit von deß Pövels lüsten /
Betracht ich: wie der
Mensch in Eitelkeit vergeh'
Wie auff nicht festem
grund' all vnser hoffen steh'
Wie die vor abend schmähn / die vor dem Tag vnß grüßten.
Die Höell / der rawe
wald / der Todtenkopff / der Stein /
Den auch die zeit
auffrist / die abgezehrten bein.
Entwerffen in dem Mut vnzehliche gedancken.
Der Mauren alter grauß
/ diß vngebaw'te Land
Ist schön vnd
fruchtbar mir / der eigentlich erkant /
Das alles / ohn ein Geist / den GOt selbst hält / muß wancken.
Ich, Welt, Gott sind eine Dreiheit, die im Barock eine ständige Spannung
bedeutet. Sie kann mystisch, sie kann in orthodoxer Gläubigkeit, sie kann als
Verzweiflung, sie kann als Stoizismus erscheinen, immer wird sie in einem
metaphorischen Sprechen vermittelt werden, das jedes Einzelne aus seiner
Vereinzeltheit heraushebt.
Wir kommen zu Angelus Silesius, dem Übernamen Johann Schefflers, nach seiner
berühmten Epigrammsammlung auch der „Cherubinische Wandersmann"
(Erstausgabe Buch 1-5 1657; Ausgabe von 1675 ergänzt um Buch 6) genannt.
Scheffler (1624-1677) war Arzt, er trat vom Protestantismus zum Katholizismus
über. Er war ebenso Polemiker wie Mystiker und seine Epigramme, eine für das
Barock wichtige Form, bezeugen die Eindringlichkeit dieser Mystik, die dank
der Form des Epigramms aber nicht vage, sondern sehr pointiert erscheint.
CHERUBINISCHER WANDERSMANN
Gott lebt nicht
ohne mich.
Ich weiß daß ohne mich GOtt nicht ein Nun kan leben /
Werd' ich zu nicht Er muß von Noth den Geist auffgeben.
Die Rose.
Die Rose / welche hier
dein äußres Auge siht /
Die hat von Ewigkeit in
GOtt also geblüht.
Ohne
warumb.
Die Ros' ist ohn warumb / sie blühet weil sie blühet /
Sie achtt nicht jhrer selbst / fragt nicht ob man sie sihet.
Zufall
und Wesen.
Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht /
So fällt der Zufall weg / das wesen das besteht.
Das
jnnere bedarf Nicht deß äuseren.
Wer seine Sinnen hat ins jnnere gebracht /
Der hört was man nicht redt / und siehet in der Nacht.
Beschluß.
Freund es ist auch genug. Im fall du mehr wilt lesen/
So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen.
„Wesen", „wesentlich" sind zentrale Kategorien dieser Epigramme.
Wesen ist die eigentliche Bedeutung eines jeden (Gott, Rose, Mensch), die
dann erscheint, wenn es als Schrift begriffen, gelesen wird.
Die nächsten drei Gedichte bezeugen die starke Selbstreflexion des lyrischen
Ich in der barocken Lyrik. Hier geht es um nichts weniger denn um
Geselligkeit und Öffentlichkeit.
Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694) ist eine der wenigen
Lyrikerinnen des Barock. Ihr Sonett „Auf meinen bestürmeten Lebens=Lauff“
(1662) zeigt in der viel genutzten Metaphorik der Schiffahrt das Leben als
ständig bedrohtes und nur religiös zu bewältigendes.
AUF MEINEN BESTÜRMETEN LEBENS=LAUFF
Wie sehr der Wirbelstrom so
vieler Angst und plagen
mich drähet um und um / so bistu doch mein Hort /
mein mittel punct / in dem mein Zirkel fort und fort
mein Geist halb hafften bleibt vom sturm unausgeschlagen.
Mein Zünglein stehet stät /
von Wellen fort getragen /
auf meinen Stern gericht. Mein Herz und Aug' ist dort /
es wartet schon auf mich am Ruhe=vollen Port40:
dieweil muß ich mich keck in weh und See hinwagen.
offt will der Muht / der
Mast / zu tausend trümmern springen.
Bald thun die Ruder=Knecht / die sinnen / keinen Zug.
Bald kan ich keinen Wind in glaubens=Segel bringen.
jetz hab ich / meine Vhr zu
richten / keinen fug.
Dann wollen mich die Wind auf andre zufahrt dringen,
bring' an den Hafen mich / mein GOtt / es ist genug!
Bei dem letzten Barocklyriker, bei Johann Christian Günther (1695-1723), ist
in einem Gedicht aus 7 Großstrophen mit je 10 Zeilen von dieser Bewältigung
die Rede kaum noch. Günther, noch im Vers des Alexandriners dem Barock
zugewandt, ist gleichzeitig in der Haltung seiner Gedichte schon viel
Späterem, etwa dem Sturm und Drang, nahe. Nirgendwo finden wir in der Zeit so
drastisch den Ausdruck der Verzweiflung, der erst in der letzten Strophe sich
in den ganz leiser Hoffnung verändert. Seine Gedichte erscheinen erst nach
seinem Tode 1724 - 1735. Das vorliegende Gedicht entstand 1720.
ALS ER DURCH INNERLICHEN TROST BEY DER UNGEDULT GESTÄRCKET WURDE
GEDULT, Gelaßenheit, treu, fromm und redlich seyn,
Und wie ihr Tugenden euch sonst noch alle nennet,
Verzeiht es, doch nicht mir, nein, sondern meiner Pein,
Die unaufhörlich tobt und bis zum Marcke brennet,
Ich geb euch mit Vernunft und reifem Wohlbedacht,
Merckt dieses Wort nur wohl, von nun an gute Nacht;
Und daß ich euch gedient, das nenn ich eine Sünde,
Die ich mir selber kaum jemahls vergeben kan.
Steckt künftig, wen ihr wollt, mit euren Strahlen an,
Ich schwöre, daß ich mich von eurem Ruhm entbinde.
Ihr Lügner, die ihr noch dem Pöbel Nasen dreht,
Von vieler Vorsicht schwazt, des Höchsten Gnad erhebet,
Dem Armen Trost versprecht und, wenn ein Sünder fleht,
Ihm Rettung, Rath und Kraft, ja, mit dem Maule gebet,
Wo steckt denn nun der Gott, der helfen will und kan?
Er nimmt ja, wie ihr sprecht, die gröbsten Sünder an:
Ich will der gröbste seyn, ich warthe, schrey und leide;
Wo bleibt denn auch sein Sohn? Wo ist der Geist der Ruh?
Langt jenes Unschuldskleid und dieses Kraft nicht zu,
Daß beider Liebe mich vor Gottes Zorn bekleide?
Ha, blindes Fabelwerck, ich seh dein Larvenspiel.
Dies geb ich auch noch zu: es ist ein ewig Wesen,
Das seine gröste Macht an mir nur zeigen will
Und das mich obenhin zur Marter auserlesen;
Es führt, es leitet mich, doch stets auf meinen Fall,
Es giebt Gelegenheit, damit es überall
Mich rühmlich strafen kan und stets entschuldigt scheine.
Bisweilen zeigt es mir das Glücke, recht zu gehn,
Bald läst es mich in mir dem Guten widerstehn,
Damit die frömmste Welt das Ärgste von mir meine.
Aus dieser Quelle springt mein langes Ungemach:
Viel Arbeit und kein Lohn als Kranckheit, Haß und Schande.
Die Spötter pfeifen mir mit Neid und Lügen nach,
Die Armuth jagt den Fuß aus dem und jenem Lande,
Die Eltern treiben mich den Feinden vor die Thür
Und stoßen mich - o Gott, gieb Acht, sie folgen dir -
Ohn Ursach in den Staub und ewig aus dem Herzen.
Mein Wißen wird verlacht, mein ehrlich Herz erdrückt,
Die Fehler, die ich hab, als Laster vorgerückt,
Und alles schickt sich recht, die Freunde zu verscherzen.
Ist einer in der Welt, er sey mir noch so feind,
An dem ich in der Noth kein Liebeszeichen thäte,
Und bin ich jedem nicht ein solcher wahrer Freund,
Als ich mir selbst von Gott, erhört er andre, bethe,
Hat jemand auf mein Wort sein Unglück mehr gefühlt,
Hat boßheitsvoller Scherz mit fremder Noth gespielt
Und hab ich unrecht Gut mit Vorsaz angezogen,
So greife mich sogleich der bösen Geister Bund
Mit allen Martern an, wovon der Christen Mund
Schon über tausend Jahr den Leuten vorgelogen.
Was wird mir nun davor? Ein Leben voller Noth.
O daß doch nicht mein Zeug aus Rabenfleisch entsproßen,
O daß doch dort kein Fluch des Vaters Lust verboth,
O wär doch seine Kraft auf kaltes Tuch gefloßen!
O daß doch nicht das Ey, in dem mein Bildnüß hing,
Durch Fäulung oder Brand der Mutter Schoos entgieng,
Bevor mein armer Geist dies Angsthaus eingenommen!
Jezt läg ich in der Ruh bey denen, die nicht sind,
Ich dürft, ich ärmster Mensch und gröstes Elendskind,
Nicht stets bey jeder Noth vor größrer Furcht umkommen.
Verflucht sey Stell und Licht! - - Ach, ewige Gedult,
Was war das vor ein Ruck von deinem Liebesschlage!
Ach, fahre weiter fort, damit die große Schuld
Verzweiflungsvoller Angst mich nicht zu Boden schlage.
Ach Jesu, sage selbst, weil ich nicht fähig bin,
Die Beichte meiner Reu; ich weis nicht mehr wohin
Und sincke dir allein vor Ohnmacht in die Armen.
Von außen quälet mich des Unglücks starcke Fluth,
Von innen Schröcken, Furcht und aller Sünden Wut;
Die Rettung ist allein mein Tod und dein Erbarmen.
Stoisch dagegen ist der Grundton des 1641 gedruckten Sonetts von Paul Fleming
(1609-1640), des wichtigsten Schülers von Opitz. Seine (deutschen) Gedichte
wurden postum veröffentlicht.
AN SICH
Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
Weich keinem Glücke nicht. Steh' höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir/ und acht es für kein Leid/
hat sich gleich wider dich Glück’ / Ort / und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und
labt/ halt alles für erkohren.
Nim dein Verhängnüß an. Laß' alles unbereut.
Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.
Was klagt / was lobt
man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
Diß alles ist in dir / Laß deinen eiteln Wahn /
und eh' du förder
gehst / so geh' in dich zu rücke.
Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann /
dem ist die weite Welt und alles unterthan.
Wir sehen, wie auch im Barock zwei jung verstorbene Dichter völlig
unterschiedlich eine Situation äußerster Belastung im Gedicht aufnehmen. -
Die beiden nächsten Texte sind in der Thematik sehr verwandt (beide sprechen
von der vanitas, der Eitelkeit als Nichtigkeit), obwohl das erste (1679
gedruckt) ganz weltimmanent, das zweite (von 1637, hier in der Fassung von
1643) in der letzten Zeile welttranszendierend ist. Das erste Gedicht stellt
die vanitas in Vorstellungen dar, die in sich kontrastieren, das zweite in
Vorstellungen, die einen Umschlag darstellen. Das erste Gedicht schrieb
Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1617-1679), der Lyriker des Hochbarock,
das zweite Andreas Gryphius.
DIE WELT
WAs ist die Welt / und ihr berühmtes gläntzen?
Was ist die Welt und ihre gantze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurtzgefasten Gräntzen /
Ein schneller Blitz bey schwartzgewölckter Nacht.
Ein bundtes Feld / da Kummerdisteln grünen;
Ein schön Spital / so voller Kranckheit steckt.
Ein Sclavenhauß / da alle Menschen dienen/
Ein faules Grab / so Alabaster deckt.
Das ist der Grund / darauff wir Menschen bauen /
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm Seele / komm / und lerne weiter schauen /
Als sich erstreckt der Zirckel dieser Welt.
Streich ab von dir derselben kurtzes Prangen /
Halt ihre Lust vor eine schwere Last.
So wirstu leicht in diesen Port41 gelangen /
Da Ewigkeit und Schönheit sich umbfast.
ES IST ALLES EITELL
DU sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auff erden.
Was dieser
heute bawt / reist jener morgen ein:
Wo itzund
städte stehn / wird eine wiesen sein
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.
Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden42.
Was itzt
so pocht vndt trotzt ist morgen asch vnd bein.
Nichts ist
das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
Itz lacht das gluck vns an / bald donnern die beschwerden.
Der hohen
thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Soll den das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten/
Als
schlechte nichtikeitt/als schaten staub und windt.
Als
eine wiesen blum/ die man nicht wiederfindt.
Noch will was ewig ist kein einig mensch betrachten.
Anmerkungen:
30 Die Gespons: die Braut, die Gemahlin, die Seele als Gottes Braut, die
Kirche als Braut Christi
(Grimmsches Deutsches Wörterbuch).
31 beinen psälterlein: „Saiteninstrument von harfenähnlicher gestalt“ (Grimms
Deutsches Wöterbuch),
das hier mit dem Vogelschnabel identifiziert wird.
32 holer Eichen leine: an hohler Eiche lehne.
33 die wilde färbelein: „Töne, welche die Färbung des nachfolgenden Gesangs
angeben“ (Spee, HKA Bd. 1, S.474; 5, S.33).
34 Mit worten klar bescheine: klar zeige.
35 Sabaoth: hebr. talm. Zebaoth: „Heerscharen““ hier Gott der Heerscharen.
36 beyn eine: zusammen.
37 lützel: klein, gering.
38 tausent Seraphim: himmlische Wesen, Engel, die Jahwe umschweben, mit den
Cherubim zusammen das Trishagion singen („Heilig, heilig, heilig…“).
39 bekleiben: bekleiden.
40 Port: lat.-frz. Hafen, Ziel, Ort der Geborgenheit, Sicherheit.
41 Port: s. Anm. 40: Auf meinen bestürmeten Lebens=Lauf.
42 sol bald zutretten werden: zertreten, vernichtet werden.
VON DER GEGENWART:
Einigkeit und Recht und Freiheit
Vom deutschen Vaterland
Einfache Sprüche
Politik
In Deutschland gibt es Parteien.
Schweigen wir.
In Deutschland wird regiert.
Schweigen wir.
In Deutschland macht man Gesetze.
Schweigen wir.
In Deutschland reden sie.
Schweigen wir.
Verwaltung
Die Verwaltungen sagen,
wie es sein muß:
Stuß.
Sie sagen selten,
wie es ist:
Mist.
Industrie
Die Industrien produzieren,
was keiner braucht.
Damit es doch jemand braucht,
bestechen etliche etliche.
Denn es geht gar nicht um Produktion,
sondern um Korruption.
Banken
Die meisten Banken
wanken
im Westen und im Osten
auf unsere Kosten.
Aber die Vorstände grinsen
und gewähren sich hohe Gehälter
und den Kreditnehmern höhere Zinsen.
Das ist die Wahrheit der Binsen.
Verkehr
Wie der Verkehr aussieht,
kann man jeden Morgen
an den Meldungen
über verstopfte Autobahnen lernen ,
die v.a. aus Baustellen bestehen,
an denen nichts geschieht,
es sei denn,
eine Straßenbaufirma
hat etwas Holpriges
für unser Geld
hingelegt
Bundesbahn
Hinter jedem
verspäteten und verdreckten Zug
muß man Herrn Mehdorn sehen,
hinter all dem Durcheinander,
hinter all der Unfähigkeit:
Herrn Mehdorn,
gestützt von einem Manne namens Tiefensee.
Universitäten
Die Universitäten
zappelten an den Drähten
der Achtundsechziger.
Jetzt sind die Administrationen mächtiger
und tun, was sie immer schon taten:
sie beraten.
Schulen
In den Schulen
wird alles besprochen
und ausgesprochen
und berochen
und bestochen
und gestochen
und nichts gelernt.
Polizei
Die Polizei läßt sich alles melden.
Dann trinkt sie Kaffee.
Dann berät sie.
Dann steigt sie in den Streifenwagen:
schwierige Lagen.
Meist fängt sie keinen.
Manchmal erwischt sie einen,
aber selten.
Justiz
Die Richer richten,
meist auf Bewährung.
Dann gehen sie zur eigenen Ernährung
nach Hause.
Jugendkriminalität
Wenn ein Fünzehnjähriger 30 und ein Siebzehnjähriger 70 Rechtsbrüche begehen,
wird man ernsthaft mit ihnen reden und auch mit den Eltern
und warten, bis sie 40 oder 80 Rechtsbrüche begangen haben.
Medien
Die Medien
predijen
und sensationieren
statt zu informieren.
Im übrigen machen sie fun:
na dann!
Fernsehen
Das Fernsehen sorgt für die Dümmsten.
Die einen benutzen dazu „unser gutes Recht“,
die anderen verdienen daran nicht schlecht.
Sie diskutieren stets:
Geht’s
noch blöder
oder noch öder -
die Braven.
In der Technik wird derweil geschlafen
Sport
Der Sport
hat immer das Wort
und das Geschrei.
Sonst ist nichts dabei.
Leute
Sie sind unterwegs.
Sie machen mit.
Sie sind dafür.
Sie klatschen.
Sie schunkeln.
Dann sind sie betrunken
Dann hauen sie sich.
Dann ziehn sie die Messer.
So wird alles besser.
Das deutsche Volk
in allen seinen Stämmen,
in allen seinen Landen,
in allen Städten und Dörfern,
in Berg und Tal.,
an Alpen und Meer
guckt zu.
Die Deutschen wollen
sich nicht anstrengen,
Spaß haben,
nett sein,
alles verstehen,
alles vergessen,
noch mit dem Teufel gut auskommen
(wie mit Hitler und Honecker)
und zugucken.
Vergangenheit
Viele haben einen Opa,
der dabei war
da und dort in Europa,
wohin sie heute reisen,
aber jedes Schießen vermeiden.
Sie müßten sonst vielleicht leiden
im Gegensatz zum Opa.
Sie sind tolerant
in jedem Land
von Europa bis China.
Im Ganzen
Sie brausen im Auto.
Sie ballen sich.
Sie rennen durcheinander.
Sie schlafen.
VOM (EINSTIGEN) LEBEN
Die Anfänge in M.:1968 - 1972
Am 7. Juli 1967 hielt Theodor Adorno an der Freien Universität Berlin einen
Vortrag „Zum Klassizismus von Goethes ‚Iphigenie’“. Ich habe eingetragen
„abds Adorno“, aber für 13 h taucht wohl zum ersten Mal der ominöse Begriff
„Vollversammlung“ auf. Es war wenige Wochen nach den Unruhen um den
Schah-Besuch, v.a.nach den tödlichen Schüssen auf den Studenten Benno
Ohnesorg.
Inzwischen war es zu Anklagen gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel wegen
Aufforderung zur Brandstiftung gekommen: ein Großbrand in einem Brüsseler
Warenhaus war auf einem Flugblatt mit dem Protest gegen den Vietnam-Krieg verbunden
worden.
So ernsthaft und aufregend die Vorgänge um den Besuch des Schahs waren, so
fragwürdig war die Verbindung von Kaufhausbrand und Krieg, und zwar durch
zwei Studenten, die nie durch irgendwelche ernst zu nehmenden Reflexionen
aufgefallen waren, sondern allenfalls durch pubertäre Feixereien. Teufel
hatte in einem Kleist-Seminar, das ich abhielt, nicht eine interessante, auch
keine absurde Arbeit geschrieben, sondern eine der vielen ganz und gar
durchschnittlichen. Dies charakterisiert ihn als einen der führenden Leute
innerhalb der studentischen Aufstände. Er gehörte sicherlich zu einem der
kleineren Zirkel, nämlich zu einem der Clowns, war aber selbst keineswegs ein
besonders begabter, sondern sah einfach eine Chance aufzufallen darin, sich als
Clown zu geben. Nicht von ungefähr überlieferte er sich in einem einzigen
Zitat. Die Aufforderung, bei Erscheinen des Gerichts aufzustehen,
beantwortete er mit der Bemerkung „Wenn es der Wahrheitsfindung dient“.
Journalismus und Jugend fanden dieses Zitat hoch bemerkenswert.
Doch es ist ein Beispiel dafür, welcher Grad von Reflexion schon ganz zu
Anfang der Achtundsechziger genügte, um den Eindruck einer kraftvollen und
ins Ziel treffenden Opposition zu erzeugen.
Kein Wort, daß die Schwäche und vollkommene Einfallslosigkeit der
juristischen und administrativen Dirigenten verteidigen soll, aber die
Attacken der jungen Leute gingen von Anfang an nur selten über Pubertäres
hinaus, von dem ja auch die heutigen Bildmontagen des Fernsehens am liebsten
gespeist werden, selten waren es mehr - und damit kommen wir zum
entscheidenden Punkt – als Verbalinfamien, die sich anfangs durch die Nähe,
später durch den Zusammenhang mit Gewaltaktionen auszeichneten. So zitiert
Friedemar Apel in einem Artikel der FAZ vom 8.Mai 2008, dem ich einige
Erinnerungen verdanke,den Ton jener ganz frühen Achtundsechziger. Sie
sprechen hinsichtlich des Vortrags Adornos vom „großen Zampano der
Wissenschaft“, der „druckreife Sätze auskotzen“ werde, während sie „nur noch
den Worten des großen Vorsitzenden Mao, den Parolen der Revolution“
„lauschen“. Das war die Art der Befreiung, die sie meinten und von denen noch
heutige Erinnerungsbücher schwärmen.
Es muß jetzt schon gesagt werden, daß es sich nicht nur um aggressive,
sondern um bösartig aggressive Leute handelte, die nie einen eigenen Gedanken
gehabt hatten, aber gern bereit waren dreinzuschlagen, weil dies die einzige
Weise war, wie sie Feixereien und Langeweile überwinden konnten. Daß hier die
Tore aufgestoßen wurden zu einer neuen Ära, stimmt nur insofern, als diese
Ära sich unter die Ägide einer sehr alten, eben nur handgreiflichen und mit
unverstandenen Formeln hantierenden Barbarei stellte.
In der Provinz, in die ich nun gehen mußte, ging es bald nicht anders zu als
in der Hauptstadt der Revolution. Mir fallen zunächst drei Namen ein, die in
der Germanistik von M. den barbarischen Ton angaben und vor allem, uns, den
Lehrenden, vor allem den Professoren die Zeit stahlen.
In der Fachbereichskonferenz, einem Gremium, das die Fakultät ablöste,
führten sie stundenlang das große, das großsprechende Wort und sorgten für
eine krakeelende Mannschaft, die jede sinnvolle Diskussion von allem Anfang
an unmöglich machte.
Sie hießen Damann - ein Bürokratentyp, den ich den Molotow der Studentenrevolution
nannte - Neumann, den ich einen Provinzpiraten hieß und dessen schlechtes
Benehmen vorbildlich wurde - und der blonde Höhler, der seit Jahren als
Rundfunk-Korrespondent auf dem Peloponnes sitzt, aber damals stärker den
HJ-Gebietsführer vorstellte als Repräsentant einer an die
Nazi-Studentenbewegung gemahnenden Truppe, an die Götz Aly erst wieder
erinnerte.
Sie und ihre Leute hielten „Vollversammlungen“ ab und waren destruktiv.
Im Juni ’69 tagte die Philosophische Fakultät u.a., um den Vortrag von Wolfgang
Harms innerhalb seines Habilitationsverfahrens anzuhören und zu bewerten.
Diese für jedermann schwierige Situation hielt die Meute aber nicht davon ab,
den geplanten Angriff auf die Fakultät auszuführen. Zunächst versammelten
sich Studenten vor der Tür zum Fakultätsflur. Assistenten übernahmen die
Verteidigung, die alsbald nötig wurde. Es kam zum Ringkampf. Nach dem Ende
der Habilitation wurde um ca 21,40 h die Tür zum Fakultätsflur aufgebrochen,
an die Tür zum Dekanat gehämmert, mit Zangen, Scheren, Schraubenziehern
manipuliert. Einer der Einbrecher rannte gegen die Tür, um sie aufzubrechen.
Die Polizei erschien und ging ziemlich hart gegen die Angreifer vor. Aber es
gab dennoch Steinwürfe gegen das Fakultätszimmer vom Platz vor dem
Fürstenberghaus aus, Fenster zerbrachen. Da die ganze Front des
Sitzungszimmers aus Fenstern besteht, mußte man sich innerhalb des
Sitzungsraums sichern. Gegen 24 h verließen die Fakultätsmitglieder über eine
Seitentreppe das Füstenberghaus.
So unschön solche Vorfälle waren, man wird heute sagen, daß im Laufe der Zeit
viel Schlimmeres sich zeigte, man wird auch einräumen, daß in anderen
Bereichen der Universität alles ruhig blieb. Aber man wird auch merken
müssen, daß die hier sich äußernde Gewaltbereitschaft, einmal erschienen,
nicht wieder schwand, sondern zur Alltagsnormalität wurde. Die heutige
Interpretation, vor allem in Zeitungen und Zeitschriften, redet gern von
Befreiungen, Auflösung von Verkrustungen u.ä., aber stellt sich nie der
Frage, wie es denn mit der Bereitschaft und der Exekution von Gewalt war, die
verbal begann, sich handfest bis zu den Taten der RAF steigerte und an die
Jahre seit 1932 erinnerte.
Vor allem veränderte sie den Zustand einer ruhigen wissenschaftlichen Arbeit,
wie sie in den fünfziger Jahren sich wieder konsolidiert hatte, sicher unter
Verdrängung einer nazistisch dirigierten Universität.
Das Leben des einzelnen Wissenschaftlers, der Professor wird, ist ja durch
die Etablierung in Haus, Institut und Gesamtuniversität genügend belastet.
Natürlich klappte wie üblich schon auf dieser Ebene das meiste nicht. So
fehlte die Einrichtung des Dienstzimmers, in der Verwaltung übernahm niemand
dafür die Verantwortung. Alsdann mußten irgendwo erste Gespräche mit den
neuen Mitarbeitern geführt werden, eine Vorlesung über das 18. Jahrhundert
war vorzubereiten, mit den (wesentlich älteren) Kollegen waren Gespräche über
das Institut zu führen, die Vorstellung im Senat und beim Kurator stand an.
Dazu kamen private Sorgen wie die schwere Krankheit des Vaters. Zu einer
Taufe wurde man als Pate gebeten.
Alles übliche, aber kraftfordernde Tätigkeiten, zu denen alsbald Fakultäts-
und Konventssitzungen kamen, erste Habilitationen und vieles andere mehr.
Aber damit war es nun nicht mehr getan. Einer der Assistenten hatte vom
Berliner Germanistentag und seinem Chaos berichtet, und dies war das neue
Stichwort. Schon gründete man einen Arbeitskreis Studienreform, das
Ministerium hatte unserem Massenfach Stellen für Studienräte im
Hochschuldienst zugesprochen, die ganz schnell besetzt werden mußten. Und
während noch Korreferate für Dissertationen zu verfassen waren, mußte eine
neue Assistentin, eine neue Sekretärin eingestellt werden, bildete sich und
tagte eine Lehrkörperkonferenz, organisierte man die Universität um, mußte
auf Briefe der (studentischen) Fachschaft geantwortet werden, lud der Rektor
zu Gesprächen über die neue Universitätsverfassung ein, kam der Leiter der
Hochschulabteilung des Ministeriums zu uns.
Die neue Verfassung wurde an verschwiegenem Ort angenommen. Man fand sie in
manchem so bedenklich , daß man Einspruch erhob.
Was immer man aber tat, es hatte schon das Zeichen der Vergeblichkeit an
sich, denn daß es bei allem um eine große und sehr verletzliche Institution,
eben die Universität ging, interessierte eigentlich keinen. Während ein
kleinerer Teil der Studentenschaft gern ihr Studium fortgesetzt hätte, aber
zu schwach war, diesen Wunsch durchzusetzen, hatten sich die
Vollversammlungsideologen etabliert, deren Chefs u.a. die oben Genannten
waren, die nach unveränderlichen autoritären Mustern Anhänger brauchten und
schufen und mit ihnen ‚revolutionäre Akte’ unternahmen. Die begannen in der
Entzivilisierung und Unverschämtheit, zeigten sich alsbald in der sogenannten
„Gewalt gegen Sachen“, die v.a. in Schmierereien sich bewährte und ging dann
in „Gewalt gegen Personen“ über. Kurz, man benahm sich bengelhaft und feierte
dies als Tat. Die, garniert mit der Ödnis von gestanzter Phraseologie, war
schon das Ganze. Aber es genügte natürlich, um ein Gebilde, das vornehmlich
argumentativ auftrat, zu zerstören und an seine Stelle einen Massenbetrieb zu
setzen, in dem alles akzeptiert wurde, wenn es auch nur den Schein des
Artikulierten hatte.
Das war natürlich nur möglich, wenn die Verfasser des Unsinns auf Kollegen stießen,
die ihnen derlei als intellektuelle Leistung abnahmen. Im Dezember 1970
erzählte mir ein publizistischer Privatdozent, der mit studentischer
Unterstützung Prorektor geworden war, von den Forderungen eines Promovenden:
sein Gutachten müsse bis zu einem bestimmten Tag fertig sein, er, der
Promovend müsse es einsehen können, die Arbeit sei mit „summa cum laude“ zu
bewerten. Die Forderungen des akademischen Jungmannes waren sicher
interessant, interessanter aber war die Reaktion des Hochschullehrers, der
die Terminforderung akzeptierte, die Einsicht in das Gutachten tapfer
ablehnte und sehr stolz darauf war, daß er dem Studenten ins Gesicht gesagt
hatte, er werde kein s.c.l. bekommen. Noch kurze Zeit zuvor hätte man den
Burschen vor die Tür gesetzt. Etwa zur gleichen Zeit forderte der
Studentenfunktionär Neumann bei einer Habilitation, man müsse dem
Zusammenhang von Sexual- und Prüfungsneurosen nachspüren. Es waren aber die
Vertreter der Roten Zelle, zu denen er gehörte, die wie undisziplinierte
Untersekundaner den Ablauf der Habilitation gestört hatten.
Was in keiner auch der kritischen Darstellungen verzeichnet ist, ist das sich
nun täglich ereignende Hickhack zwischen den und innerhalb der Gruppen.
Dinge, die in friedlichen Zeiten einigermaßen friedlich abgelaufen wären,
wurden nun zum Anlaß für mehr oder minder Drastisches. Unter den Professoren
waren wenige eine Zeitlang einigermaßen stabil und widerstanden dem planen
Unsinn, andere, oft ältere, zogen sich, soweit das ging, zurück. Die kaum mit
ihren Aktivitäten beginnenden sogenannten ‚Mittelbauern’, also die
Studienräte im Hochschuldienst oder Akademischen Räte, waren mehrheitlich und
zunehmend der Ansicht, daß ihnen die Funktionen der Professoren gebührten und
wehrten ansonsten Tätigkeiten, die ihnen nicht gefielen, entschieden ab,
wollten aber von den Professoren möglichst rasch habilitiert werden. Die
Studentenfunktionäre schalteten sich in alles ein, von dem sie nichts
verstanden, was sich segensreich vor allem bei Berufungen auswirkte, während
derer sich ein Teil der Bewerber Liebkind bei den Studentenvertretern machte,
die ihrerseits entschieden der Auffassung waren, daß es vor allem auf sie und
ihre Meinungen ankomme. So hatte sich ein im Umgang sanfter junger Kollege
aus Berlin gemeldet, der bis dato durch keinerlei marxistische
Literaturauffassung sich bemerkbar gemacht hatte, aber nun Lessings Fabeln
als Darstellung des Herr-Knecht-Verhältnisses aus dem ff verstand. Die
studiosi jubelten. Daß der junge Gelehrte jeweils den Jargon wählte, der gerade
en vogue war, wurde von den Kollegen aufmerksam zur Kenntnis genommen, aber
nur, um es für einen Kuhhandel zu benutzen, der weit über diesen Casus
hinausging. So kam es zu einer von allen möglichen Interessen dirigierten
Liste.
Dem Kollegen M. wurde bei den Verhandlungen von den Studenten Faschismus
vorgeworfen. Sie bereiteten ein Sondervotum vor. Der Berliner Jungmann gab
ihnen sein Manuskript, das nur für das Protokoll verwendet werden sollte.In
der Fachbereichskonferenz, die die Liste billigen mußte, kam es zu
erheblichen Störungen. Die Rote Zelle aktivierte ihre Anhänger, die in den
Verhandlungssal einmarschierten. Dieser Regelverstoß wurde von den
Studentenfunktionären dazu mißbraucht, zum Verwaltungsgericht zu gehen und
die Abweisung der Liste zu beantragen, da sie ja in öffentlicher Sitzung, für
die sie gesorgt hatten, beschlossen worden sei…
So ging es wochen-, monate-, ja jahrelang. Die Fachbereichskonferenzen
verliefen in einer „Atmosphäre der Feindseligkeit und Pression. Die Studenten
sind auch emotionell programmiert; sie schalten von einer Sekunde auf die
andere von Zurückhaltung auf Weißglut um“. Soll man aufhören?
Im November ’71 kommt die Nachricht aus Berlin, Peter Szondis Leiche sei aus
dem Halensee geborgen worden. Unser letztes sehr langes Gespräch war mit
Berliner Fragen angefüllt. Er hatte sich, nachdem er anfangs viel zögernder
war als ich, mit den Argumenten der Studenten identifiziert. Ich hielt ihm
entgegen, es sei zu befürchten, daß aus deren Behauptungen und Forderungen nur
mehr Barbarei hervorgehe als schon da sei, wir konnten uns darüber nicht
einigen, sprachen von anderem, gingen freundlich auseinander.
Im Musil-Seminar hatte ich den Eindruck tiefer Literaturfremdheit, ja
–feindschaft auch bei den intelligenten Teilnehmern.-
Im August 1970 geht es zum Internationalen Germanistenkongreß nach Princeton.
Ich lerne dort etliche Auslandsgermanisten kennen; Herrn Rosenthal aus Sao
Paulo, Herrn Zagari aus Neapel, Herrn Ziolkowski u.a. Die Großzügigkeit der
Amerikaner nimmt einen gefangen.Es gibt allerlei Referate, als lebten wir in
ausgeglichenen Zeiten. Ich rede über „Literatur und öffentliche Meinung“.
Diskussionen, Empfänge, Ausflüge, so nach New York, eine Schiffs-Rundfahrt um
Manhattan auf Einladung des Generalkonsuls. Ein Stein wird von einer Brücke
auf das Schiff geworfen, jemand ist verletzt. Wieder in Princeton: die
großartige Library, die Häuser von Thomas Mann, Einstein, Broch,das
Schlußessen, der Gartenempfang, die Schlußversammlung. Herr Lindberg aus Las
Vegas nimmt Freund W. und mich nach New York mit, wo wir im Adams, ich glaube
in der 86. Straße, wohnen und in den nächsten Tagen vielerlei sehen und
hören: in Theatern und Museen, beim Besuch der deutschen Lyrikerin, Frau
Scharpenberg, bei Herrn Kahn von Columbia, wo Herr Urzidil von der Prager
Literatur erzählt, auch von Thomas und Heinrich Mann.
Zu Hause wird ein Buch vorbereitet, Vorträge werden gehalten, Staatsarbeiten
beurteilt, sonstige Gutachten geschrieben, verwaltet, wegen Hilfskraftstellen
gefeilscht, neue Berufungskommissionen werden betrieben, den Genossen etwas
ins Stammbuch geschrieben: Ihr nehmt ‚bürgerliche’ Argumentation in Anspruch,
haltet euch selbst aber an keine Spielregel.
In Dortmund ist PEN-Versammlung, zu der ich, im vorigen Jahr in den Club gewählt,
zum ersten Mal fahre. Böll ist als Verhandlungsführer sehr angenehm, aber
auch hier geht es um die junge rote Garde. Die Redner heißen: Chotjewitz,
Astel und Karsunke. Es gibt eine Diskussion um Klaus Manns „Mephisto“, danach
ein naives Arbeiterkrippenspiel, das von allen linken Snobs gefeiert wird.
Schlimm ist der Auftritt eines Arbeitgeberjünglings, dicklich und schneidig,
aber ebenso schlimm ist, wie er von den Herren Dichtern behandelt wird. Nur
Böll ist fair.
Wir verhalten im Mai 1972. Rainer Barzel hat versucht, Kanzler zu werden. Das
gelingt nicht, aber die Lage ist schwierig wegen gleicher Stärke von
Regierung und Opposition. Die Verträge mit dem Osten, um die es ja ging,
können nicht abgelehnt werden, schon insofern gibt es keine freie Entscheidung.
Die Tendenz zum links- oder rechtsautoritären Staat ist stärker geworden.
Für den Professor, wenn er sich nicht selbst betrügt, ist die Situation
hoffnungslos: die Wirkungsmöglichkeiten und der Wirkungswille sind reduziert,
die Entfernung der Studenten, ja der ganzen Gesellschaft von der Literatur
als bedeutungsvoller wächst täglich. Die Studenten wissen oft gar nicht,
wovon man redet.
Dennoch soll man nicht der Tendenz zum Selbstmord des Bewußtseins folgen.
Zwar ändert man als einzelner nichts, selbst die Lehre kann weitgehend
unmöglich werden, aber man kann sich als Energie erhalten wollen, was ein
bißchen mystisch klingt, aber nicht sprachlos ist und darum nicht sinnlos.
Die Universitätssituation aber ist völlig aussichtslos, die Barbarei erscheint
in jeder Beiläufigkeit. Der große Terror der Nazis war nur der Anfang.
Nummer 19 (April 2008) s. Archiv
INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Erster Teil).
VON DER KUNST: Alle Guten, alle Bösen. VON DER GESCHICHTE: Der deutsche Sonderweg
– Ein soziologischer Leserbrief zur „Linken“. VOM JOURNALISMUS: Immer daneben
- Der alltägliche Sinn des Schreckens – Zeitungssätze. VON DEN MEDIEN: Dr.
Günter Struve – Ein Fernsehjournalist kritisiert das öffentlich-rechtliche
Rundfunk- und Fernsehwesen in Deutschland – Deutsches Fernsehen. VOM
(EINSTIGEN) LEBEN: Die wilden Berliner Jahre 1967 – 68.
Die Nummern 1 – 19 s. Archiv
s. Register der Nummern 1 – 19 von „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut
Arntzen
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