Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

 Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 21 (März 2009)

 

 

INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Dritter Teil und  Schluß). – VON DER GEGENWART: Ein Leserbrief – Dialog mit einer Bundeskanzlerin – Wie heißen die Ganoven, wie die dummen Kerle? – Bundesbahn und Mehdorn -- Zürich zum Beispiel. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Fortgang in M. und Reisen 1973 – 1976.

 

VON DER LITERATUR

 

Deutsche Lyrik, kommentiert

17. Jahrhundert (Barock) (1624 – 1720). 3.Teil und Schluß

 

Es folgen zwei Liedtexte, die als Thema und Variation anzusehen sind, wobei die Variation bedeutender ist als das Thema. Sie operieren mit dem sehr barocken Gedanken der Endlichkeit, wie wir ihn  schon vorgetragen hörten. Doch wenden sie das Wort „endlich" zu einem Wort der Hoffnung um, wobei das Wort im ersten Gedicht den Abschluß, das Ende des notvollen Lebens, im zweiten den schließlichen Beginn eines neuen paradiesischen Zustands hervorruft. Das erste Gedicht (1704) wurde von Benjamin Schmolck (1672-1737), einem Theologen und Kirchenliederdichter, geschrieben. Johann Christian Günther ist der Dichter des zweiten (entstanden 1713).

 

DAS LETZTE / DAS BESTE

Mel. Meinen JEsum laß ich nicht / etc.

 

1.ENdlich, Endlich muß es doch

Mit der Noth ein Ende nehmen:

Endlich bricht das harte Joch,

Endlich schwindet Angst  und Grämen,

Endlich muß der Kummer=Stein

Auch in Gold verwandelt seyn.

 

2.Endlich bricht man Rosen ab,

Endlich kommt man durch die Wüsten43,

Endlich muß der Wander=Stab

Sich zum Vaterlande rüsten;

Endlich bringt die Thränen=Saat,

Was die Freuden=Erndte hat.

 

3. Endlich sieht man Canaan44

Nach Egyptens Dienst=Haus45 liegen;

Endlich trifft man Thabor46 an,

Wenn der Oelberg47 überstiegen.

Endlich geht ein Jacob48 ein,

Wo  kein Esau49 mehr wird seyn.

 

4. Endlich! o du schönes Wort,

Du kanst alles Creutz versüssen;

Wenn der Felsen ist durchbohrt,50

Läßt er endlich Balsam fliessen,

Ey mein Hertz drum mercke diß:

Endlich! endlich kommt gewiß.

 

TROSTARIA

 

ENDLICH bleibt nicht ewig aus,

Endlich wird der Trost erscheinen,

Endlich grünt der Hofnungsstrauß,

Endlich hört man auf zu weinen,

Endlich bricht der Thränenkrug,

Endlich spricht der Tod: Genug!

 

Endlich wird aus Waßer Wein, 51

Endlich kommt die rechte Stunde,

Endlich fällt der Kercker ein,

Endlich heilt die tiefste Wunde,

Endlich macht die Sclaverey

Den gefangnen Joseph52 frey.

 

Endlich, endlich kan der Neid,

Endlich auch Herodes53 sterben,

Endlich Davids Hirtenkleid54

Seinen Saum in Purpur färben,

Endlich macht die Zeit den Saul55

Zur Verfolgung schwach und faul.

 

Endlich nimmt der Lebenslauf

Unsers Elends auch ein Ende,

Endlich steht ein Heiland auf,

Der das Joch der Knechtschaft wende,

Endlich machen vierzig Jahr56

Die Verheißung zeitig wahr.

 

Endlich blüht die Aloë, 57

Endlich trägt der Palmbaum Früchte, 58

Endlich schwindet Furcht und Weh,

Endlich wird der Schmerz zu nichte,

Endlich sieht man Freudenthal,

Endlich, Endlich kommt einmahl.

 

Vergänglichkeit, Tod, Ewigkeit werden immer wieder in der Abend- und Nachtmetapher vermittelt. In Paul Gerhardts „Täglicher Abendgesang" (1647 oder 1648) wird das Thema tröstlich, in Gryphius' Sonett „Abend" (1650) drohender und bittender, in seinem daktylischen Sonett „Mitternacht" (1650) verzweifelt und richterlich zugleich aufgenommen.

 

TÄGLICHER ABENDGESANG

Mel. O welt / ich muß dich lassen.

 

NUn ruhen alle wälder / Vieh / menschen /städt und felder / Es schläft die gantze

welt: Jhr aber/ meine sinnen / Auf / auf / jhr sollt beginnen / Was eurem Schöpffer wol gefällt.

2. Wo bist du/ Sonne / blieben? Die nacht hat dich vertrieben / die nacht des tages feind: Fahr hin / ein andre Sonne / mein Jesus / meine wonne Gar hell in meinem hertzen scheint.

3. Der tag ist nu vergangen / Die güld=ne sternen prangen Am blauen himmelssaal: Also werd ich auch stehen / Wann mich wird heissen gehen Mein Gott aus diesem jammerthal.

4. Der leib eilt nun zur ruhe / Legt ab das kleid und schuhe / Das bild der sterblichkeit / Die zieh ich aus: dagegen Wird Christus mir anlegen Den rock der ehr und herrlichkeit.

5. Das haupt / die füß und hände Sind fro / daß nun zum ende Die arbeit kommen sey. Hertz / freu dich / du solt werden Vom elend dieser erden / Vnd von der Sünden arbeit frey.

6. Nun geht ihr matten glieder / Geht hin und legt euch nider / Der betten ihr begehrt: es kommen stund und zeiten / Da man euch wird bereiten Zur ruh ein bettlein in der erd.

7. Mein Augen stehn verdrossen / Im huy sind sie geschlossen / Wo bleibt dann leib und seel? Nim sie zu deinen gnaden / Sey gut für allem schaden / Du aug und Wächter Israel.

8. Breit aus die flügel beyde / O Jesu meine freude / Vnd nim dein küchlein59 ein / Wil satan mich verschlingen / So laß die Englein singen: Dis kind sol unverletzet seyn.

9. Auch euch jhr meine lieben / Sol heinte60 nit betrüben Ein unfall noch gefar / Gott laß euch selig schlafen / Stell euch die güldne waffen Vmbs bett und seiner Engel schaar.

 

 

ABEND

 

DEr schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt jhre fahn /

Vnd führt die Sternen auff. Der Menschen müde scharen

Verlassen feld vnd werck / Wo Thier und Vögel waren

Trawrt jtzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!

 

Der port 61naht mehr vnd mehr sich / zu der glieder Kahn.

Gleich wie diß licht verfiel / so wird  in wenig Jahren

Ich / du / vnd was man hat / vnd was man siht / hinfahren.

Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

 

Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Laufplatz gleiten /

Laß mich nicht ach / nicht pracht / nicht lust / nicht angst verleiten.

Dein ewig heller glantz  sey vor vnd neben mir /

Laß / wenn der müde Leib entschläfft /die Seele wachen

Vnd wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen /

So reiß mich auß dem thal der Finsternuß zu dir.

 

 

MITTERNACHT

 

Schrecken / vnd stille / vnd dunckeles grausen / finstere kälte bedecket das Land /

Jtzt schläfft was arbeit vnd schmertzen ermüdet / diß sind der trawrigen einsamkeit stunden.

Nunmehr ist / was durch die Lüffte sich reget / nunmehr sind Thiere vnd Menschen verschwunden.

Ob zwar die jmmerdar schimmernde lichter / der ewig schitternden62 Sternen entbrand!

 

Suchet ein fleißiger Sinn noch zu wachen? der durch Bemühung der künstlichen hand/

Jhm die auch nach vns ankommende Seelen / Jhm / die an jtzt sich hier finden verbunden?

Wetzet ein bluttiger Mörder die Klinge? wil er vnschuldiger Hertzen verwunden?

Sorget ein ehren-begehrende Seele / wie zuerlangen ein höherer stand?

 

Sterbliche! Sterbliche! lasset diß dichten! Morgen! ach! morgen ach! muß man hin zihn!

Ach wir verschwinden gleich alß die gespenste / die vmb die stund vnß erscheinen vnd flihn.

Wenn vnß die finstere gruben bedecket / wird was wir wündschen vnd suchen zu nichte.

Doch wie der gläntzende Morgen eröffnet / was weder Monde noch Fackel bescheint:

So wenn der plötzliche Tag wird anbrechen / wird was geredet / gewürcket / gemeynt.

Sonder vermänteln eröffnet sich finden vor deß erschrecklichen Gottes Gerichte.

 

Tod und Sterben des Einzelnen gehören auch als direkt an-und ausgesprochene

Vorstellungen zu den zentralen der Barocklyrik.

In Flemings folgendem Gedicht (entstanden 1635) wird der einzelne Tod zum

exemplum des Ganzen, das vergehen muß und 'kindisch' bleibt. Der Herzog Anton Ulrich von Braunschweig (1633 -1714), bedeutender Romancier der Zeit, schreibt sich selbst ein Sterbelied (1667), das in seiner durchgehenden, in der Zeit häufiger

auftauchenden Formel das Kreuzwort Jesu (es ist vollbracht) und das antike Wort

des Cornelius Nepos (satis vixi = ich habe genug gelebt) aufnimmt, das wir schon in dem Sonett der Catharina von Greiffenberg und in Günthers „Trostaria" fanden.

 

 

ÜBER  HERRN JOHAN   VON WANGERSHEIM - ERSTGEBORNEN SÖHNLEINS KUNRADENS ABSTERBEN AN  DIE FREUNDSCHAFT 1635.

 

O du wolgeplagtes Haus,

wievielmal doch solt du weinen

um die abgelebten Deinen,

die man von dir träget aus,

und mit ungegläubter Not

mehr im Tode sein als tot?

Fünfmal hat nun, als ich weiß,

Phöbe neue Hörner63 krieget,

seit das dritte Kind erlieget

und tut seinen Todesschweiß.

Seit der Zeit fühlst du die Qual

itzund nun das dritte Mal.

Tu betrübt und schlag die Brust,,

doch gedenk in solchem Zagen,

das dich fast kein Wort läßt sagen,

ob du denn so recht dran tust,

daß du dich um das du liebst

aus der Weise so betrübst!

Weine, was du kanst und wilst!

Er wird, wo er ist, wol bleiben.

Wilst denn du den Wehmut64 treiben,

bis auch du die Erde füllst,

dahin Alles Fuß für Fuß,

wider Willen, eilen muß?

Was beseufzt man so ein Kind?

So viel' tapfrer Helden sterben,

ganze Länder die verderben,

manche Stadt fleugt in den Wind,

und wie soll ein Mensch bestehen,

muß diß Ganze doch vergehen?

Du klagst und bist doch ergetzt:

wird schon Eines itzt verloren,

so ist Eines schon geboren,

das den bittern Fall ersetzt.

So verzuckert diß dein Leid

Gott mit einer Süßigkeit.

Kleiner Sohn, was schadets doch,

daß die, so dir gab das Leben,

dir nicht das Geleit' hilft geben

bis hin an dein enges Loch? I

Ihrer Liebe Gegenwart

wird doch mit dir eingescharrt.

Schlafe wol! Wir Armen, wir

bleiben, was wir Anfangs waren,

jung von Weisheit, alt von Jahren,

unverständig für und für,

stumm am Mund', an Augen blind,

Kinder, wie wir kommen sind.

 

 

STERB=LIED

 

ES ist genug! mein matter sinn

sähnt' sich dahin /

wo meine Vätter schlaffen.

Ich hab es endlich guten fug /

Es ist genug!

ich muß mir rast verschaffen.

 

2. Ich bin ermüdt / ich hab geführt

die Tages bürd:

es muß einst Abend werden.

Erlös mich / HErr / spann aus den Pflug /

Es ist genug!

nim von mir die Beschwerden.

 

3. Die grosse Last hat mich gedrückt /

ja schier erstickt /

so viele lange Jahre.

Ach laß mich finden / was ich such.

Es ist genug!

mit solcher Creutzes-waare.

 

4. Nun gute Nacht / ihr meine Freund' /

ihr meine Feind' /

ihr Guten und ihr Bösen!

Euch folg die Treu / euch folg der Trug.

Es ist genug!

Mein GOtt wil mich auflösen.

 

5. So nim nun / HErr! hin meine Seel /

die ich befehl

in deine Händ' und Pflege.

Schreib sie ein / in dein Lebens-buch.

Es ist genug!

daß ich mich schlaffen lege.

 

Nicht besser soll es mir ergehn /

als wie geschehn

den Vättern / die erworben

durch ihren Tod des Lebens Ruch.

Es ist genug!

Es sey also gestorben!

 

Eine der eigentümlichsten Figuren des Barock ist Quirinus Kuhlmann, 1651 geboren, 1689 in Moskau verbrannt, ein Mystiker und Rebell, der in seiner Sammlung „Kühlpsalter" (1684-1686) persönlichen Weg und Heilsgeschichte zu verbinden suchte. Das folgende Sonett (von 1671) will die Paradoxie des Gottestodes erfassen.

Friedrich von Spees Gedicht (1649), das sich anschließt, geht dagegen volksliedhaft und mit stiller Melancholie auf diese Vorstellung ein.

 

 

ÜBER DEN THRÄNEN=WÜRDIGEN TOD DES SOHNES GOTTES / JESUS

 

Reiß Erde! reiß entzwei! der Printzen printz65 erblaßt!

Der uns erschaffen hat / ist gantz zerritzt mit streichen!

GOtt / welcher ewig ist / wird nun zu einer Leichen!

Es kleidet Purpur an des Leibes Alabast!

Den nichts umschlüssen mag / den hat ein Holtz umfaßt!

Der Berg und Hügel wigt / der wil am Kreutz erbleichen!

Dem Erd und Himmel weicht / der wil dem Kreiß entweichen!

Des Vaters Lust / GOtt selbst wird Salem66 eine Last.

Di Sonne fleucht vor uns! der Erden=Marmor zittert!

Di Himmels=Burg erstart! di Felsen stehn zersplittert!

Di Nacht verjagt den Tag! di Lufft zürnt ob der Welt!

Der Schwefel=gelbe Blitz entstekket si mit Flammen!

Daß der am Kreutze hängt / der disen Rund67 erhält /

Zeigt Sonn / Erd / Himmel / Felß / Nacht / Lufft und Blitz zusammen!

 

 

TRAWR-GESANG VON DER NOTH CHRISTI AM OELBERG68 IN DEM GARTEN

 

1.

Bey stiller Nacht / zur ersten wacht

Ein stimm sich gund69 zu klagen.

Jch nam in acht / waß die doch sagt;

That hin mitt augen schlagen.

2.

Ein junges blut  von sitten gut

Alleinig ohn geferdten /

Jn grosser noth fast halber todt

Jm Garten lag auff Erden.

3.

Es wahr der liebe Gottes=Sohn

Sein haupt er hat in armen,

Viel weiß- vnd bleicher dan der Mon70

Ein stein es möcht erbarmen.

4.

Ach Vatter, liebster Vatter mein

Vnd muß den Kelch ich trincken?

Vnd mags dan ja nitt anders sein?

Mein Seel nit laß versincken.

5.

Ach liebes kind / trinck auß geschwind;

Dirs laß in trewen sagen:

Sey wol gesinnt / bald vberwind /

Den handel mustu wagen.

6.

Ach Vatter mein, /vnd kans nit sein?

Vnd muß ichs je dan wagen?

Wil trincken rein / den Kelch allein

Kan dirs ia nitt versagen.

7.

Doch  sinn / vnd muth  erschrecken thut,

Sol Jch mein leben lassen?

O bitter Tod! Mein angst /  vnd noth

Jst vber alle massen.

8.

Maria zart / Jungfräwlich art,

Soltu mein schmertzen wissen;

Mein leiden hart zu dieser fahrt,

Dein hertz wär schon gerissen.

9.

Ach Mutter mein / bin ja kein stein;

Daß hertz mir dörfft zerspringen:

Sehr grosse pein / muß nehmen ein,

Mitt todt / vnd marter ringen.

10.

Adè / adè zu guter nacht,

Maria mutter mildtte.!

Jst niemand der dan mitt mir wacht /

Jn diser wüsten wilde?

11.

Ein Creutz mir für  den augen schwebt /

O wee der pein / vnd schmertzen!

Dran soll ich morgen wem erhebt /

Das greiffet mir zum hertzen.

12.

Viel  Ruthen / Geissel / Scorpion71

Jn meinen ohren sausen:

Auch kombt mir vor ein dörnen Cron,

O Gott / wem wolt nitt grausen!

13.

Zu Gott  ich hab geruffen zwar

Auß tieffen todtes banden:

Dennoch ich bleib verlassen gar.

Jst hilff noch trost vorhanden.

14.

Der schöne Mon / wil vndergohn /

Für leyd nitt mehr mag scheinen:

Die sternen lan jhr glitzen stahn /

Mitt mir sie wollen weinen.

15.

Kein vogel-sang  / noch frewden-klang

Man höret in den Lufften /

Die wilden thier /  trawrn auch mit mir,

Jn steinen / vnd  in klufften.

 

Am Ende des Barockkapitels steht noch einmal ein Sonett (1662) von Catharina Regina  von Greiffenberg, in dem mit paradoxen Metaphern, Häufungen, bestimmten Epitheta die Wirkung des Heiligen Geistes als der Figur des in die Zeit und ihre Vergänglichkeit einfallenden Ewigen evoziert wird. Darin wird besonders deutlich, wie eine schwierige theologische Vorstellung gerade in diesem lyrischen Sprechen erfahrbar wird.

 

ÜBER  DAS UNAUSSPRECHLICHE  HEILIGE GEISTES=EINGEBEN!

 

DU ungeseh'ner Blitz / du dunkel=helles Liecht /

du Herzerfüllte Krafft / doch unbegreifflichs Wesen

Es ist was Göttliches in meinem Geist gewesen

daß mich bewegt und regt: Ich spür ein seltnes Liecht

Die Seel ist von sich selbst nicht also löblich liecht.

Es ist ein Wunder=Wind / ein Geist / ein webend Wesen /

die ewig' Athem=Krafft / das Erz=seyn selbst gewesen /

das ihm72 in mir entzünd diß Himmel=flammend Liecht.

Du Farben=Spiegel=Blick / du wunderbundtes Glänzen!

du schimmerst hin und her / bist unbegreiflich klar

die Geistes Taubenflüg' in Wahrheits=Sonne glänzen.

Der GOtt=bewegte Teich / ist auch getrübet klar!

es will erst gegen ihr die Geistes=Sonn73 beglänzen

den Mond / dann dreht er sich / wird Erden=ab auch klar.

 

 

Anmerkungen:

 

43.durch die Wüsten::  Zug der Israeliten durch die Wüste(2.Mose 15 – 16)

44.Canaan: das gelobte Land der Israeliten

45.Egyptens Dienst=Haus:  die Versklavung der Israeliten durch die Ägypter (2.Mose 1,13)

46. Thabor: Berg in der Nordostecke der Ebene Jesreel östlich von Nazareth. Dort versammelt Jesus nach

der Auferstehung seine elf Jünger (nach Matt. 28,16)

47.Oelberg: Bergkette, die Jerusalem im Nordosten und Osten umgibt. Anspielung z.B. auf das AT,

2. Sam. 15,30: David flüchtet vor Absalom zuerst auf den Ölberg und ruft Gott in seiner Verzweiflung

an. Spielt im NT im Zusammenhang mit der Leidensgeschichte Jesu eine wichtige Rolle: Jesus hält

seinen letzten Einzug in Jerusalem über den Ölberg (Matt. 21); er sagt am Ölberg  seinen Jüngern,

daß sie ihn verleugnen werden (Matt.26,30 f)

48.Jacob: einer der Erzväter Israels, Sohn Isaaks und Rebekkas, wird zum Feind seines älteren

Zwillingsbruders Esau, indem er sich den seinem Bruder zugedachten väterlichen Segen erschleicht

49. Esau: Zwillingsbruder Jakobs

50. Wenn der Felsen ist durchbohrt: Mose wirkt auf dem Zug der Israeliten das Wunder, aus einem Felsen

lebensrettendes Wasser springen zu lassen (2.Mose 17)

51. Endlich wird aus Waßer Wein: Jesus verwandelt auf der Hochzeit in Kana Wasser in Wein (Joh. 2, 1-11)

52. den gefangnen Joseph: Joseph: der Sohn Jakobs und Rahels, wurde in Ägypten aufgrund von

Verleumdungen gefangen gehalten

53. Herodes: 37 – 4 v.Chr. König von Judäa; er versuchte nach dem Evangelium Matthäus (2,16 – 18) Jesus

zu töten, indem er nach dessen Geburt alle Neugeborenenen umbringen ließ

54. Davids Hirtenkleid: David wird als Schafhirt vom Propheten Samuel zum König gesalbt

55. Saul: erster König Israels (um 1000 v.Chr.) und Gegner Davids, seines Nachfolgers

56. vierzig Jahr: nach dem Fluch Gottes müssen die Israeliten 40 Jahre in der Wüste umherziehen, bevor sie

ins gelobte Land gelangen

57. Aloë: hier Symbol für das lang Erwartete: „Einige unter denen, so von natürlichen Dingen geschrieben,

haben gemeldet, daß dieses Gewächs alle hundert Jahre nur einmal blühete…“ (Zedlers Universal-Lexikon 1732)

58. trägt der Palmbaum Früchte: mehrdeutig: der Palmbaum ist ein Symbol für Christus. Hier wohl ein Bild

für den Sieg des christlichen Glaubens. Vgl. auch „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum; er wird

wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon.“ (Psalmen 92,13)

59. Küchlein: Küken

60. heinte: heute

61. port: s. Greiffenberg: Auf meinen bestürmeten Lebens=Lauf

62. schitternden: schütternden, bewegten, funkelnden (im 17. Jahrhundert oft bei der Beschreibung von Metall

und Diamanten gebraucht)

63. Phöbe neue Hörner krieget: Mondgöttin: auch Luna, Diana, Artemis. Hier Zeitrechnung nach der Mondsichel

64. Wehmut: hier wohl „tiefere, innere, gleichmäszige trauer“ (Grimms Deutsches Wörterbuch)

65. Printzen printz: ein Prinz ist der Sohn eines Königs

66. Salem: alte Bez. für Jerusalem (1.Mose 14,18; Psalm 76,3)

67. Rund: Weltkreis

68. Oelberg: s. Schmolck: Das Letzte / Das Beste

69. sich gund 1.u.3. Person Sing. Ind. Prät. von ‚beginnen’

70. Mon: der Mond

71. vil Ruthen, Geissel, Scorpion: Folterwerkzeuge

72. ihm: Reflexivpronomen (sich)

73. erst gegen ihr die Geistes=Sonn:  ihr, der „Geistes=Sonn“ gegenüber

 

 

VON DER GEGENWART

 

 

Ein Leserbrief

(der  wohl mit Rücksicht auf wirtschaftliche Kreise nicht abgedruckt wurde)

 

3.November 2008

 

 

An die

Westfälischen Nachrichten

Redaktion

 

Münster

 

Was da in den WN vom 1.11.08 um ein Porträt herum, dessen entschlossener Hindenburg-Blick beeindruckt,in einem Interview erzählt wird, ist gerade, weil es von Herrn Lauk als dem Repräsentanten des Wirtschaftsrates der CDU kommt, z.T. unerträglich. Da hat zunächst „die freiheitliche Ordnung der sozialen Marktwirtschaft“ angesichts eines vollkommenen Desasters der Finanzmärkte „ihre Überlegenheit als Kompass nicht verloren“. Sie bleibe „das Erfolgsmodell für Wachstum, Wohlstand und soziale Sicherung“. Das werden die gern hören, die inskünftig unter dem ‚Erfolg’ dieses „Erfolgsmodells“ leiden werden. Aber da das Desaster nicht zu leugnen ist, guckt sich Lauk nach Schuldigen um. Die trifft er in Gestalt Amerikas an, das ja finanzwirtschaftlich vom auch in der deutschen Wirtschaft lange umjubelten Alan Greenspan als Notenbankchef angeführt wurde. „Natürlich“, sagt Lauk, dringlich darauf angesprochen, „wurde auch bei uns gegen“ „die Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns“ verstoßen. Das nennt er „natürlich“! Mit all den „natürlichen“ und glänzenden Wirtschaftsdirigenten von Esser über Ackermann, der 25 % Rendite für seine Bank vorhersagte, über Mehdorn, von Pierer, der mal als Bundespräsident vorgesehen war, Appel e tutti quanti. Wie Brutus ein „ehrenwerter Mann“ war, wie es bei Shakespeare heißt, so sind sie „alle, alle ehrenwert“. In der Tat: „der Staat ist nicht der bessere Banker.“ Aber die Banker sind offenbar die schlechteren Banker. Und diese Phalanx aus Bankern und Industriellen soll auch inskünftig das „Erfolgsmodell“ der freien Wirtschaft darstellen? Nein, wieder Shakespeare: „Schief ist alles.“ So wenig das sozialistische oder gar kommunistische Modell uns weiterhelfen wird, das sich auf die schlimmste Weise als unfähig erwiesen hat, das kapitalistische wird es auch nicht tun. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen, den uns zunächst und zuletzt unsere Wirtschaftsgrößen mit ihrem Anhang smarter Jungbanker hinterlassen haben.

Was Herr Lauk dahinplaudert, ist nicht dazu angetan, das Vertrauen in die Wirtschaft, sondern das Mißtrauen zu mehren.

 

 

 

 

Dialog mit einer Bundeskanzlerin

                                                                                                          19. November 2008

 

 

Frau

Bundeskanzlerin

Dr. Angela Merkel

Bundeskanzleramt

 

Willy-Brandt-Str. 1

 

10557   Berlin

 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

 

Sie sind wahrscheinlich gerade zurückgekommen vom Weltfinanzgipfel, wo Sie mit Ihren Kollegen die Finanzkrise haben beheben wollen. Daß Sie sich dabei um das Beste für unser Land bemüht haben, davon bin ich überzeugt. Aber können Sie überhaupt noch wissen, wie dieses Beste zu leisten sei? Sie haben sich z.B. mit Ihrem Finanzminister selbst so verhalten, daß der vor einigen Wochen noch erklären konnte, diesem Land könne nach der Zertrümmerung des amerikanischen Finanzsystems dennoch wenig geschehen, da es, so sagte er wahrscheinlich, gut „aufgestellt" sei. Nach einigen Wochen mußte er dann mit Ihnen ein Rettungspaket für Banken und Industrie schnüren.Heute redet alle Welt bereits von der schon eingetretenen Rezession. Der Chefredakteur des Capital-Magazins Klaus Schweinsberg schreibt u.a. im Editorial der letzten Ausgabe seiner Zeitschrift über die Lage(14):„Durch ein schier unfaßbares Maß an Unprofessionalität haben die Herren Bankvorstände die Weltwirtschaft in eine womöglich existentielle Krise geführt." Davon suchen diese und ihr industrieller Anhang nun ständig und mit einigem Erfolg abzulenken.

Doch so schwer wir unter dem Mittelmaß der führenden Finanzfachleute und ihrer smarten Jungs aus dem Investmentgeschäft zu leiden haben werden, so ist dies natürlich nur ein Teil des Elends.

Eben dessen Ausmaß, das sich längst auch im Alltag zeigt, scheinen Sie und Ihre Politikerkollegen gar nicht mehr zu realisieren. Dazu gehört bspw., daß es in meinem Wohnort keine geregelte Postzustellung mehr gibt, obwohl es sich dabei wahrhaft um ein Grundbedürfnis handelt. Die Postmanager erklären(als habe die Post gerade eben erst ihren Betrieb aufgenommen), es seien leider so viele ihrer Mitarbeiter krank. Diese Manager haben auch seit  längerem in kleineren Orten ihren Kundendienst an irgendwelche Einzelhändler delegiert. Wo den aber keiner machen will, gibt es alsbald überhaupt keinen Postdienst mehr. Dies z.B. verdanken wir dem geschäftlichen Eifer eines vermutlichen Steuerschwindlers. Oder wie steht es mit dem Betrieb der Deutschen Bundesbahn, die nicht nur alle ICE-Züge außer Dienst stellte, sondern, wie man soeben feststellt, auch viele andere Personenzüge wahrhaft „aus dem Verkehr" ziehen muß, weil sich bei jenen und bei diesen bedrohliche Schäden zeigen? Derweil ist der Bahnvorstand Mehdorn einzig am Börsengang „seines" Unternehmens interessiert, dessen Beantragung wiederum vorderhand zurückgezogen wurde. Er wird von einem Verkehrsminister kontrolliert, dem ob seiner offenkundigen Unfähigkeit nichts zuzutrauen ist außer weiteren Beweisen dieser Unfähigkeit; den Sie aber als SPD-Minister ebenso halten müssen wie den CSU-Minister Glos, der sich längst als Fehlbesetzung herausgestellt hat. Und so könnte man weiter erinnern an den Zustand der Bundesautobahnen, an die „Leistungsfähigkeit" vieler Luftlinien, an die Arbeit der Polizei, an die Universitäten, die Schulen, die Kommunen, die Telefonkonzerne, insbesondere die Telekom, die Krankenversorgung  und -Versicherung, die Medien, die öffentlichen Theater, kurz an nahezu alles, was das fundamentale Funktionieren unseres Gemeinwesens ausmachen sollte.

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht der normale Bürger unter den Dysfunktionen großer Öffentlichkeitsbereiche zu leiden hat. Und fast immer ist dieser Zustand begleitet von Nachrichten oder Vermutungen über die Indolenz, den Zynismus, ja die Unfähigkeit hochbezahlter Manager.

 

Sind Sie wirklich der Auffassung, Sie und die anderen Politiker im Bund und in den Ländern seien noch fähig, hier in absehbarer Zeit Remedur zu schaffen? Oder hat nicht längst ein Verfall begonnen, bei dessen Erwähnung wir bisher v.a. Afrika sowie Teile Asiens und Südamerikas assoziierten?

Die hektischen Aktivitäten der EU, der Vereinigten Staaten und der großen Nationalstaaten können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Globalisierungen des Rückschritts und des Verfalls gibt, die längst im Alltag auch angeblich wirtschaftsstarker Staaten sich auswirken.

Jedenfalls haben die Bürger vergleichbare Zustände - und zwar neben extremem Luxus - außer in den Zeiten der großen Kriege seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

 

 

Darauf  antwortete schon am  27. November  ein Herr  Bügler vom Bundeskanzleramt, Er sprach davon, daß die Bundeskanzlerin  leider nicht persönlich antworten könne, daß aber „den Meinungs- und Willensäußerungen der Bürger“ „große Aufmerksamkeit“ gewidmet werde. So würden „alle Briefe ausgewertet und in die politische Meinungsbildung eingebracht“. Da aber nicht auf alle Einzelfragen  eingegangen werden könne, wolle er,  und er hoffe auf meine Zustimmung, „das folgende Thema“ herausgreifen. Und nun handelt er über eine Seite von den „Maßnahmepaketen“ vom 13. Oktober und vom 5. November 2008 und daß die Bundesregierung überzeugt sei, daß „mit den getroffenen Maßnahmen gute Chancen für die deutsche Wirtschaft bestehen, nach Überwindung der gegenwärtigen Krise wieder auf einen langfristig positiven Entwicklungspfad zurückzukehren und Arbeitsplätze zu erhalten“.

 

Am 2. Dezember 2008 antwortete ich darauf Herrn Bügler:

 

Sehr geehrter Herr Bügler,

 

besten Dank für Ihre rasche Antwort auf meinen Brief an die Bundeskanzlerin vom 19.11. Sie ist dies allerdings nur in einem sehr formalen Sinne. Mein Interesse war, der Bundeskanzlerin mitzuteilen, daß die Finanzkrise, ausgelöst durch Mittelmaß und Unfähigkeit, keineswegs das einzige alltägliche und institutionelle Problem für uns Bürger ist.

Ich schrieb ihr also vor allem über die „Dysfunktionen großer Öffentlichkeitsbereiche“, die Rückschritt und Verfall bedeuten. Sie „antworten“ darauf mit Textbausteinen (höchst lästig!) zu den (längst bekannten) Reaktionen der Bundesregierung auf die Finanzkrise. Schade.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

 

 

 

Wie heißen die Ganoven, wie die dummen Kerle?

 

Mehr als die Inflation vor Ende 1923 und die Währungsreform 1948  hat sich die Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihre Folgen ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeprägt.  Nicht das sogenannte Versailler Diktat oder der Antisemitismus  haben ja Hitler und  die Seinen stark gemacht, sondern die Arbeitslosigkeit, die unmittelbar aus der Wirtschaftskrise hervorging, und deren Überwindung : „Deutsche Arbeiter ans Werk !“ Auch die persönliche Erinnerung ist an die Inflation und an die Währungsreform als an Kuriositäten gebunden wie (länger als ein Jahrzehnt danach)  an die Banknoten mit den ungeheuren Zahlen und  an den Wechsel vom Schwarzen Markt  zu den ‚normalen’ Handlungen und Märkten  mit vielerlei Angeboten. Die Legende von der Arbeitslosigkeit dagegen lastete düster auf uns, und zwar so, daß wir von unserer Wohnung, die über zwei Stockwerke ging, die oberen Räume vermieten mußten, vor allem aber, daß dem Vater monatlich gekündigt wurde, wobei diese Kündigung immer wieder für einen Monat ausgesetzt wurde. Ganz anders diesmal. Seit Wochen und Monaten gibt es eine Divergenz zwischen den mitgeteilten Monstrositäten in Finanzmarkt und Wirtschaft und den persönlichen Erfahrungen, die weiter aus einem gutgeölten Alltag stammen. Die Abwrackprämie wird nicht so sehr als  Förderung der  deutschen Automobilwirtschaft empfunden, sondern vielmehr als Sonderangebot, als Schnäppchen, das der Generosität der Bundesregierung zu verdanken ist. Vielleicht hat die darin sich zeigende Auffassung, es werde schon alles nicht so schlimm kommen, mit den seit fünf oder acht Jahren alltäglich gewordenen  Nachrichten über die persönlichen Verhaltensweisen in der deutschen Wirtschaft zu tun, die  etwa mit dem Vorstandsvorsitzenden Esser begannen, der für die Verscherbelung  von Mannesmann mit einem kräftigen Bonus belohnt wurde, was immerhin noch zu einer Gerichtsverhandlung führte. Dann ging es weiter mit der Herunterwirtschaftung der Telekom, die mit dem Namen Ron Sommer verbunden ist, mit dem als Bundespräsidenten vorgesehenen Herrn von Pierer, der für eine ganze ‚Korruptionskultur’ des deutschen Industriekomplexes Siemens  sich anbot bis hin zu eher traurigen Gestalten wie dem vom Staatsmann Schröder angeworbenen Herrn Hartz, der einerseits die Arbeitslosenhilfe in Ordnung bringen sollte, andererseits  für die Schmuddelgeschichten im VW-Konzern stand, und  dem Dr. Zumwinkel, der  dafür sorgte, daß es  mit der täglichen Post nicht mehr funktionierte, und sich für diese Leistung durch Steuerschwindeleien selbst zu belohnen suchte. Über allen diesen Namen stehen natürlich die des Deutsch-Bankers Ackermann, dessen Unternehmen ‚leidenschaftlich leistet’ und der zum ersten Mal dadurch auffiel, daß er im Esser-Prozeß  die Hand zum Viktoriazeichen erhob und seitdem keine Gelegenheit  ausläßt, um durch ähnliches zu glänzen. Und es steht darüber der Name des Herrn Mehdorn, den weder Bahnkunden noch Bahnangestellte kümmern und der gerade darum wohl unaustauschbar ist. Doch hatten ln diesen Jahren alle diese Leute noch einen Namen. Aber dies waren eher biedere Vorspiele.  Seit Monaten erläutert uns nun bspw. Der „Spiegel“, daß „Geiz und Gier…schon immer die zentralen Werte der Wall Street“ waren, die „nun aber“ „weltweit auch zum Maßstab für die Realwirtschaft“ geworden seien (Spiegel 40/2008).  Das nimmt uns natürlich wunder, da wir doch annahmen, die westliche Welt werde durch  vernünftige Freiheit, Demokratie und Verantwortung  geleitet, und Sätze wie der zitierte seien Propagandareden  aus dem Osten entnommen, die es freilich schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gibt, so daß auch dort, wo  noch Machthaber  kommunistischer Provenienz  regieren, diese längst unter Beibehaltung ihrer Posten umgeschwenkt sind. Nun aber hören wir plötzlich etwas von der Überflutung  der Wirtschaft mit Geld, von nicht gesicherten Hypothekendarlehen, von Hedgefonds, Private Equity und Pensionskassen, von all dem, von dem noch vor Monaten in günstigen Zusammenhängen gesprochen wurde, heute aber in höchst kritischen Kontexten, die bei dem Präsidenten Trichet u.a. so klingen: „Obskurität und Wechselwirkungen vieler Finanzinstrumente“. Wir hören auch von einzelnen Finanzunternehmen wie KfW mit IKB, von den Landesbanken Sachsen, Bayern; Baden-Württemberg, der Westdeustchen Landesbank und  der Helaba, ganz besonders aber  von der Hypo Real Estate, die Gewährleistungen von über 100 Milliarden bekommen hat. Sie alle hätten sich „total vergaloppiert“. Da meint nun der Bankpräsident Müller, man hätte sich dem „vielleicht stärker widersetzen sollen“, doch müsse „jeder…vor seiner Tür kehren“. Aber fragt der „Spiegel“ nicht mit Recht: „Wer sollte Managern zutrauen, eine Krise zu bewältigen, die sie selbst angezettelt haben?“ (Spiegel 47/2008). Und diese Manager nennt er in derselben Nummer eine „Clique von verträumten, inkompetenten, betrügerischen Geschäftemachern“.  Dabei gelingt ihm eine eigentümliche Verbindung  von „verträumt“ und „betrügerisch“, die uns bisher noch nicht so geläufig war. Wir lernen also, daß die Wirtschaft in der Hand von Gierigen und Ignoranten ist. Wie immer: erstaunlich bleibt, daß wir selten Namen hören. Man spricht von „Unfall“, von „Erdbeben“, so als sei das Ganze wie ein Tsunami über uns gekommen. Aber Müller, Schulz, Lehmann erscheinen kaum oder gar nicht. Wir wissen zwar von Wirtschaftsgelehrten wie Roubini und Samuelson, die  vieles von dem, was inzwischen geschehen ist, vorausgesagt haben. Aber wir kennen die Namen der Wirtschaftsweisen nicht, die den Wahsinn unterstützten oder zumindest hinnahmen.

Wir kennen vor allem die Namen der Manager nicht, der Vorstandsvorsitzenden und -mitglieder und der Aufsichtsräte, die doch allein dadurch, daß sie eben dies sind, als schlechthin kompetent und bonusangemessen  behauptet wurden,  nun aber zwischen Ganoventum und der Versammlung dummer Kerle anzusiedeln sind. Immerhin hat der „Spiegel“ versucht, wenigstens in einem Fall, dem der Hypo Real Estate darzutun, welches Bewußtsein diese Herrschaften ihr eigen nennen (Spiegel 6/2009). Was den  früheren Chef dieses Unternehmens, einen Herrn Funke angeht, so findet der, daß man ihm „bitteres Unrecht“ getan hat. Er kann nichts dafür, „die Umstände sind schuld, nicht er“. Er hat aber  seine Bank und „mit ihr die gesamte deutsche Finanzbranche an den Rand des Abgrunds bugsiert“. Dafür will er  jetzt 560 000 Euro Ruhegeld, die er beim Landgericht München einklagt. Seine Bank emittierte Pfandbriefe im Wert von rund 900 Milliarden Euro, Pfandbriefe, die „in Deutschland als das solideste Finanzprodukt überhaupt“ gelten. Inzwischen gebe es eine Task Force aus den „obersten Finanzkontrolleuren der Nation“, die „keine Zweifel“ aufkommen lasse, „wer für den Schlamassel verantwortlich ist:  der alte Hypo-Vorstand in München“.  2003 hatte sich die Mutterbank, die HypoVereinsbank „auf dem Immoblienmarkt verspekuliert“. Man gründete eine Bad Bank, die Hypo Real Estate. An die Spitze der Holding sei der „damals 48.jährige Georg Funke“ gekommen, der 1972 als Kaufmann bei der Westdeutschen Wohnhäuser A.G. begonnen habe. Ein Mann „aus der zweiten Reihe“. Der zog dann mit einer Konzerntochter  nach Dublin um, um Steuern zu sparen. Dort verkaufte er für knapp vier Milliarden Euro Ramschkredite an Finanzinvestoren. Ein Tochterunternehmen  brachte „rasant kletternde(n) Gewinne“. Funke finanzierte  die Geschäfte der Immobilieninvestoren. Für Risiken interessierte er sich nicht. Als Partner fand er in Dublin den Chef der Deutschen Pfandbriefbank (Depfa), Herrn Bruckermann. Die mußte alsbald dringend verkauft werden. Funke wollte sie haben. Er verstand, sagt der „Spiegel“, vielleicht  nicht, wie weit sich die Depfa von ihrem grundsoliden Geschäft entfernt hatte. Die stellte Staatsfinanzierungen  bereit, deren Milliarden nun innerhalb  von drei Monaten zurückgezahlt werden mußten. Der Vorsitzende Bruckermann wurde kaum kontrolliert. Die Depfa sackte ab. „Doch dann kam Funke.“ Aber der Aktienkurs der HRE fiel nach dem Kauf der Depfa unter 40 Euro. Funke sah  weiter keine Risiken. Auch war die HRE zu beschäftigt, um sich um die Depfa zu kümmern. Im August 2007 sagt Funke trotz einer erheblichen Krise, die Märkte würden sich schnell beruhigen. Aber eine größere Abschreibung bringt den ersten Knall. Funke erklärt, das Management der HRE habe sich keine Fehler vorzuwerfen. Dann kollabiert Lehmann Brothers. Die HRE steht am Abgrund, denn sie bekommt keine Liquidität mehr. Schließlich muß Funke gehen. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Untreue, des Verdachts der unrichtigen Darstellung und der Marktmanipulation.

Dies ist, aufs äußerste verkürzt, nach dem „Spiegel“ die Geschichte eines Bankers, der offenbar  seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Wie kam er überhaupt zu ihr? Auf einem Foto wirkt er wie ein Konfirmand, der sich auf seine erste Tätigkeit, etwa das Einsammeln der Gesangbücher, innerlich vorbereitet.Das also sind unsere Fachleute, von denen es doch tausende gegeben  hat. Und auf die sollen wir nun wieder setzen? In Nummer 41/2008 des „Spiegel“ ändert Dirk Kurbjuweit die realistische Situation in einem Airbus der Luftwaffe mit Regenten, Konzernchefs und Journalisten in die Vorstellung: Spieltische im Airbus, „Poker vorn bei den Politikern, Roulette in der Mitte bei den Wirtschaftsleuten, Blackjack hinten bei den Journalisten.“ Niemand wolle landen, „sie spielen bis zum Absturz“. Das ist ungemütlich.Denn es ist die Vorstellung, daß zu den Spielern neben den „Wirtschaftsleuten“ auch die Politiker und das eigene Geschlecht der Journalisten, die natürlich Namen kennen, aber sie verschweigen, zu rechnen sind. Immerhin  wirkte diese Gruppe von Spielern als solche bisher geradezu bedeutend. In Wahrheit sind es aber wohl in der Überzahl dumme Kerle, die uns in eine Lage gebracht haben, die wir  gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, weil gegen Dummheit kein Kraut gewachsen ist. Doch sie werden uns schon dank Bonizahlungen, die der einzige Bereich sind, in dem sie immerhin Pfiffigkeit bewährten, auf Ewigkeit erhalten bleiben.

 

 

P.S. In der Nummer 8 vom 16.2.09 nennt der „Spiegel“ nun weitere Namen amerikanischer, englischer, schweizerischer und deutscher Provenienz, die verantwortlich sind für  einen Anteil an der Finanzkrise. Wir wollen uns die deutschen Namen merken. Sie heißen: Stefan Jentzsch, Stefan Ortseifen, Joachim Neupel,  Baoz Weinstein und natürlich Georg Funke, der auf dem beigegebenen Foto die Hände nicht mehr meditativ vor sich hinhält, sondern sie nun geöffnet hat, um damit entweder anzuzeigen, daß er seine Aufgabe als Konfirmand, nämlich Gesangbücher einzusammeln, erfüllt hat  oder aber, daß er bereit ist, Boni entgegenzunehmen. In einem der „Spiegel“-Geschichte folgenden Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Münchener Rück, Nikolaus von Bomhard, sagt der u.a., daß nicht die schwindelerregenden Boni „Hauptursache der Finanzkrise“ seien, sondern „die oft völlig unzureichende Qualität  des Risikomanagements“, also die ungeheure Zahl dummer Kerle, und  „die noch selten vorhandene Bereitschaft vieler Top-Manager, nicht alles mitzumachen, was gerade schnellen Gewinn verspricht“, also abermals das Handeln einer ungeheuren Zahl dummer Kerle, von denen wir nun als deutsche (incl. Funke ) fünf näher kennen.

 

 

Bundesbahn und Mehdorn

 

Hat man gerade noch  die besten Erfahrungen mit den Schweizerischen Bundesbahnen gemacht, die pünktlich, sauber, leise, sicher und bequem sind, so weiß man angesichts der Meldung, daß sämtliche Automaten der DB an einem Tag versagten, warum man jede Annäherung an dieses Unternehmen vermeidet. Es ist weder pünktlich noch sauber noch sicher, wird aber von einem Manne geleitet, der das Versagen in Person ist, aber sich selbst wie auch seine Bahn für einen Gipfel europäischer Kultur hält.

Es bleibt die Frage, warum sich die Mehrzahl der Kunden dieses Unternehmens nicht längst massiv gegen die schon sprichwörtlichen Unverschämtheiten dieses Mannes und (wie der Herr, so’s Gescherr) gegen die seiner Mannen gewandt hat, warum  es einen Verkehrsminister gibt, der dank seiner Unselbständigkeit gegenüber dem Vorsitzenden Mehdorn längst zum Gespött geworden ist, warum man nicht längst diesen Aberwitz eines schlecht geführten, schlecht sich präsentierenden Unternehmens aufgegeben hat.

Jedenfalls ist noch zu keiner Zeit außer der, die unmittelbar an den Krieg anschloß – denn schon im Herbst 1948 konnte man wieder in Zügen nicht nur ordentlich sitzen, sondern auch in ordentlichen Speisewagen essen –, die deutsche Bahn in einem Zustand gewesen, wie er dank der Künste des Herrn Mehdorn nun schon jahrelang alltäglich geworden ist.

 

 

Zürich zum Beispiel

 

I

Im Flughafen Kloten geht es einfach und schnell. Dann Fahrt mit einem der vielen Züge Richtung Hauptbahnhof Zürich. Man  ist dort innerhalb einer Viertelstunde. Das Taxi zum Hotel fährt allerdings umständlich, sein Fahrer begründet das mit zahlreichen vorgeschriebenen Umwegen. Das Taxi kostet. Alles, was nun folgt, wird kosten. Man weiß nun, daß man bei den Zürcher Gnomen ist, denen es auf’s Geld nicht ankommt. Das Hotel liegt im Zentrum rechts der Limmat. Die Rezeption ist eng und klein, die Lobby hat vielleicht acht qm, unmittelbar daran schließt sich der spartanisch wirkende Frühstücksraum an. Das Zimmer erweist sich als ordentlich und zweckmäßig, aber eine Nachttischlampe ist defekt, der Heber des Stöpsels in der Wanne funktioniert nicht. Ganz in der  Nähe des Hotels ist ein Italiener, bei dem wir Einfachstes essen. Obwohl wir dank des Hotels einen zehnprozentigen Rabatt bekommen, müssen wir zu zweit ca 30 € zahlen. Wie wir am nächsten Tag bei einer Stadtbesichtigung merken, ist Zürich  zwinglianisch organisiert, so im Groß- und im Fraumünster, aber auch im Alltäglichsten, auch im Kulturhaus, in der Oper, auch auf der Bahnhofstraße. Es kostet.

 

II

Das Opernhaus ist von Fellner und Hellmer wie die Wiener Staatsoper, wie das Opernhaus in Odessa und zahlreiche andere.  Die Bürgerschaft geht in die Oper, sei es „Semele“ von Händel, sei es „Tristan und  Isolde“. Beide stimmen darin überein, daß man eine Opernmoderne stilisiert hat, so etwa die zwanziger Jahre, die einmal für den Mythos, das andere Mal für Wesendonck stehen soll. Der Mythos, von Herrn Carsen inszeniert, wird, wo immer es sich machen läßt, durch Späßchen ironisiert. Ino, die Schwester Semeles, kommt im Himmel mit einem Köfferchen an; Semele wirft mit Kopfkissen um sich. Aber das Ganze ist die höchst ernsthafte Darstellung einer menschlichen Übertretung. Semele, von Cecilia Bartoli wunderbar gesungen, will sich vergöttlichen lassen. Warum das alles ‚modern’ inszeniert werden  muß, weiß man nicht.- Man weiß es erst recht nicht bei „Tristan und Isolde“, von Herrn Guth inszeniert. Die Kritik ist bezaubert, weil Herr Guth „die Handlung“ in den ersten beiden Aufzügen als „Wesendonck“ darstellt, worauf bis heute noch niemand gekommen ist. D.h. es ist nicht „Wesendonck“, sondern ein Schlafzimmer und eine Villa, die wie in den zwanziger Jahren ausgestattet sind. Aber singt in den Szenen des ersten Aufzuges ein Schiffer vom Schiff, so sieht man immer nur ein bürgerliches Schlafzimmer. Und wenn schon bürgerliches Schlafzimmer, warum kommt dann Kurwenal in der Kleidung eines Chauffeurs der zwanziger  Jahre dort hereingepoltert, als sei das s e i n Schlafzimmer? Solche und ähnliche Fragen stellen sich dem, der nicht von vornherein Herrn Guth zustimmt. Die Isolde der Nina Stemme leistet stimmlich und darstellerisch Beträchtliches. Trotz des dritten Aufzugs, trotz Ingo Metzmachers Dirigat ist man aber nicht unablässig davon überzeugt, daß in diesem opus die abendländische Musikgeschichte kulminiert und daß „gliss“ ein überzeugendes Imperfekt ist. Das  alles ist jedoch Kritik wie Publikum gleichgültig, die gleichermaßen hingerissen sind. Das Kunsthaus ist eine bedeutende Einrichtung, die sonntags von vielen Bürgern besucht wird. Sie hat vom Mittelalter bis zu den Impressionisten und den Malern des 20. Jahrhunderts vieles und Gutes zu zeigen, auch von den Schweizern: Füssli, Böcklin, Hodler, die in ihrer Eigenart bemerkenswert sind. Und schließlich mit Aeschylos’ „Persern“ das Schauspielhaus, keineswegs opulent, aber ausreichend. Die Inszenierung ist von Stefan Pucher, ohne allzu massive Modernismen das älteste überlieferte europäische Drama.  All das kostet allerdings sehr viel.

 

 

VOM (EINSTIGEN) LEBEN

 

Fortgang in M. und Reisen 1972 – 76

 

Man hat Nierenkoliken. Die Bronchien und die Nebenhöhlen rebellieren. Man muß kuren. Man zieht hinaus aufs Land in ein gemietetes Häuschen. Man denkt über das Ausscheiden nach. Aber mit 41 Jahren? Also geht die Quälerei weiter. Ärmliche Kompromisse bei Habilitationen, bei Berufungen. Der bedeutende Kollege O. wird  von Leuten vom Kommunistischen Studentenverband körperlich attackiert, weil er ihnen abgeschlagen hatte, was sie längst getan hatten: nämlich Wandzeitungen  in der Älteren Abteilung zu kleben. Dann wird er in seinem Hauptseminar „aufgesucht“, dann in der Vorlesung gestört. Aufforderung der studentischen Funktionäre, mein Hauptseminar und meine Sprechstunde zwecks „Befragung“ des Satzungskonventsmitgliedes zu besuchen. Ich gebe  eine Erklärung ab, in der ich  die „Befragung“ als Inquisition, Pression und Störung bezeichne. Das wird natürlich plakatiert. Einsicht in die Ohnmacht und Isolierung. Die staatlichen Stellen tun natürlich gar nichts. Sie benutzen uns als Mauer. Die Universitätsspitze reagiert mit der bewährten Taktik. Der Versuch, die Lehrenden zu solidarisieren, ist schwierig und kaum durchzuhalten. Der geradezu existentiell opportunistische Mitttelbau redet stundenlang hin und her. Die Hochschullehrer raffen sich einmal  zu einem eintägigen Vorlesungsstreik auf, dann werden sie vorsichtig. Sie finden den Hinweis eines Prorektors auf mögliche beamtenrechtliche Konsequenzen beeindruckend. Die Fachbereichskonferenz tritt brav an und läßt sich von Eindringlingen zweimal wieder nach Hause schicken. Als ich - bei angekündigter Störung - unseren Dekan frage, warum wir uns überhaupt versammeln, sagt er, damit er handeln könne. Einmal in der Woche laufe ich in den Satzungskonvent, weil die beiden Juristen, die sich um die Satzung kümmern, meine Stimme brauchen. Von den Studenten und vom Mittelbau wird man als bloßer Fingerheber beschimpft. Bei ihnen geht es genau so. Man sitzt vier Stunden ab und fährt dann erschöpft nach Hause. Denn natürlich gehen Lehre, Prüfungen, Sitzungen aller Art, Sprechstunden weiter. Mit Verwunderung erlebt man die plötzlichen Politisierungen  von Angehörigen des Mittelbaus. Einer  macht nach Aussagen von Seminarteilnehmern völlig politisierte Seminare und agitiert. Ich höre von ihm einen Gottfried-Keller-Vortrag, sein Dissertationsthema, in dem er Zitate willkürlich manipuliert.  Ich schreibe ihm darüber Kritisches, erhalte aber keinerlei Antwort. Ein anderer wird von dem, der ihn  einstellte, bei dessen Wegberufung am Ort zurückgelassen. Ein Kollege muß ihn übernehmen und  sagt, daß er als Assistent nichts arbeite, praktisch nur faulenze.Auch er betätigt sich v.a. als Agitator. Was er als solcher vorträgt, ist dummes Zeug. Da er sich offensichtlich nicht vorbereitet, ist es überdies unkonzentriert und zufällig. Er läßt sich in alle möglichen Gremien wählen. Nach sechsjähriger Assistenz soll er entlassen werden, weil nicht einmal das Konzept einer Habil.-Schrift  vorliegt. Nun entwickelt sich eine Farce, in die Direktor, Habilitationsauschuß, zentrale Verwaltung und Verwaltungsgericht verwickelt sind. Der Betroffene weiß, daß  es nur auf seine Insistenz ankommt,  um in dieser Farce zu reussieren. – 1974 gehe ich in den Senat der Universität: erst als stellvertretendes Mitglied, das aber durchaus schon gefordert wird, dann als amtierendes. Ende 1975  stelle ich mich für die  Studienreformkommissionen  des Landes Nordrhein-Westfalen zur Verfügung, und zwar natürlich für die neusprachliche. Was erfährt man in beiden Institutionen? Ihre mehr oder minder große Überflüssigkeit. Der  Senat ist eine uralte, die Reformkommission eine neue Institution. Aber es ist die gleiche Chose, in der die ‚reussieren’, die sich in solchen Überflüssigkeiten wohlfühlen. Die Reformkommissionen waren sicher von einem Ministerialrat erfunden worden, der  darin auch die schöne Möglichkeit sah, Unerfreuliches vom Ministerium fernzuhalten. Alle paar Monate erscheint dann ein Ministerialrat in der Kommission und macht deren Mitgliedern klar, daß natürlich alles vom Ministerium entschieden werde. Was gibt es zu verhandeln? Beispielsweise die Frage, ob nun die ältere Germanistik, die sich hauptsächlich mit Literaturhistorie beschäftigt, oder die neue Linguistik  das Sagen haben solle. Während es erst nach einer Dominanz der Linguistik aussieht, so daß ich glaube gegensteuern zu sollen, kehren sich bald  die Fronten um. Der Vertreter der älteren Germanistik hat wahrscheinlich mit seinen Kollegen vereinbart, die Linguistik wieder zu marginalisieren. Und wieder sehe ich mich aufgefordert, dem zu steuern. Am Ende steht man jedoch als der Außenseiter da, der man ist, während sich  das Ganze in Privatgesprächen ausgleicht. Im übrigen wird viel bedrucktes Papier produziert. –  Ein Wunder, daß man interessierte und tüchtige Mitarbeiter gewinnt. Von den Assistenten dieser Zeit nenne ich Anita Baus und Winfried Nolting, der sich als wirkliche Begabung erweist und mit dem ich viele wichtige und belebende Gespräche führen kann. Für die  wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräfte nenne ich Rosemarie Weyermann, Wolfgang Golisch, Theo Welling, dann Ludwig Rohden, Dorothee Glück, Jeanette Hugues, Barbara Müller. Wir bringen 1973, ’74 und ’75 Tagungen  zu Fragen der Literarizität und der Interpretation von Literatur in  dem Haus der Universität in Rothenberge bei Wettringen  zustande, beginnen auch  mit Forschungsseminaren  über den „Spiegel“. Die  führen 1977 zu einem Band, dessen kritische Intention der „Spiegel“ natürlich gut journalistisch verfolgt, eine absurde Verfolgung, die er heute noch in seinem Lexikon ausstellt. Eine ihm übersandte  Gegendarstellung druckt er natürlich nicht. Er weiß, welche Kosten uns erwachsen würden, wenn wir versuchten, deren Druck zu erzwingen. 1973 wird zum ersten Mal intensiv in dem längeren Beitrag zu einem einführenden Buch  „Die Literatur“ über „Grundfragen der Literatur“ als Fragen von Literatur und Sprache wie von Literatur und Presse  gehandelt, später dann(1975) in dem Festschriftbeitrag für Emrich  noch einmal unter dem Titel „Information oder Literatur“.

Zu den Internationalen Ferienkursen in M. werden 1973 und 1975 Vorträge beigetragen. Im Juli 1973 kommt Elias Canetti, den ich eingeladen habe, zum Ferienkurs. Ich kenne ihn aus Berlin. In M. liest er ein Kapitel aus der „Blendung“ und einen Text über sein Kraus-Erlebnis. Hinterher erzählt er eine Musil-Anekdote. Nach dem Erscheinen der „Blendung“, die  er Musil, aber auch Thomas Mann geschickt hatte, trifft er Musil, der ihn zu einer eben erschienenen positiven Rezension beglückwünscht. C. sagt  „wie im Rausch“ strahlend zu Musil, er habe auch einen Brief von Thomas Mann mit Lob bekommen. Darauf verabschiedet sich M. eiligst und hat seitdem nicht mehr mit C. gesprochen. – Jahre später spricht Wotruba Musil in der Schweiz auf C. an. M. sagt, er schätze Canettis Arbeit, aber der habe einmal zufrieden über ein Lob Thomas Manns gesprochen. Wer eine solche Zustimmung akzeptiere, habe keinen Charakter. C., klein, buschig, grau, dicklich, ist ganz unprätentiös, beobachtet, hört zu, räumt ein. Er erzählt von seinem Deutschunterricht, den er als Junge von der Mutter bekam, nachdem er von den elterlichen Gesprächen  in Deutsch fasziniert gewesen sei. Die Eltern hatten das alte Burgtheater Sonnenthals noch erlebt und waren daran orientiert.  Das Gespräch kommt auf Celan. Dessen  Paranoia. Rasch berichtet, wie wenig man Celan über die wirkliche Situation noch habe aufklären können. C. sagt, er habe es ähnlich erlebt.  (Sehr viele Jahre später besuche ich Rousse, die Geburtsstadt Canettis.)

 

Im Herbst 1973 erleben wir sehr unmittelbar, wie dünn die Decke ist, auf der wir politisch scheinbar in Sicherheit sind.  Die Ägypter hatten Amerikaner und Russen aufgefordert, zur Überwachung des Waffenstillstandes Truppen zu entsenden. Die Amerikaner lehnen das wegen der Gefahr einer Konfontation ab, die Russen akzeptieren. Es gibt Anzeichen dafür, daß russische Truppen in Marsch gesetzt werden. Darauf Alarmierung von amerikanischen Einheiten in etlichen Teilen der Welt. Kissinger, der Außenminister, warnt auf einer Pressekonferenz vor einer katastrophalen Entwicklung. Wir halten es für das Wichtigste, gleich am nächsten Morgen nach Norderney zu fahren, wo unsere 3 ½ jährige Tochter im Kinderkrankenhaus ist, und sie dort abzuholen. Eine Stunde nach den ersten Meldungen heißt es im Fernsehen, der Sicherheitsrat habe beschlossen, eine UNO-Truppe ohne die Großmächte zu entsenden, was unter Zustimmung Amerikas und Rußlands geschieht. Aufatmen. Dennoch entwickeln sich die politischen Dinge nicht gut. Das Hauptthema ist der Ölboykott und die Energiekrise. Noch wird darüber mit angenehmem Gruseln geredet, aber man merkt, daß sich etwas verändert hat, zum ersten Mal beim Sonntagsfahrverbot  im November. Wir machen einen Besuch bei den H’s  und sind 1 ½  Stunden für eine Strecke unterwegs, die uns sonst  kaum eine  ½ Stunde kostet.

 

Ohne besonderes Engagement Bewerbung in Wien und Würzburg. Wien wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit  nicht klappen, aber da der Kraus-  wie der Musil-Nachlaß dort sind, ist die Bewerbung sachlich jedenfalls gerechtfertigt In Würzburg dagegen werde ich gehandelt, u.a.  zu einem Vortrag eingeladen. Auch höre ich von günstigen Entwicklungen. Aber nach dem Vortrag kommen die dortigen Assistenten zu mir und wollen meine Zusage dafür,  daß ich sie behalte. Das kann ich natürlich schon mit Rücksicht auf meine Münsteraner Mitarbeiter nicht versprechen. So kommen die Würzburger Fakultät und das Münchner Ministerium zu dem Beschluß, einen Privatdozenten zu berufen, da der noch keine Mitarbeiter hat. Es ist die bis dahin krasseste  Erfahrung mit den neuen Verhältnissen nach 1968, die ich mache. Danach will ich im Frühjahr 1974, als ich in Wien bin, meine Berufung zurückziehen, aber der dortige Dekan will mir die Zurückweisung nicht ersparen. Nun weiß ich, dass inskünftig jede Bewebung zu unterbleiben hat. Über einen Freund höre ich, daß sich Emrich sehr lobend über mich ausgesprochen habe.

 

Ansonsten ist man froh,  dann und wann flüchten zu können. Einmal Reisen mit der Familie. Aber auch kurze und längere Wissenschaftsreisen wie z.B. zum Musil-Symposion in Saarbrücken und  zu einem sich anschließenden Vortrag in Stuttgart. Im  Frühjahr 1974  reise ich auf Einladung des Goethe-Instituts nach Portugal, wo ich in Lissabon, Porto und Coimbra Vorträge halte. Der Leiter des Instituts, der Schriftsteller und Übersetzer Meyer-Clason nimmt mich in Empfang und leitet  mich liebenswürdig durch die Tage. Zunächst werde ich aber weiter verfrachtet nach Porto, wo  mich der deutsche Konsul, Herr v. Sch., am Flughafen abholt. Er erzählt mir, daß mich nachmittags ein Herr Gustav Adolf Himmel führen werde. Es ist, wie sich herausstellt, ein früherer Mitschüler, was sage ich, eine damals imposante Größe. Er machte längst vor mir als Kriegsheimkehrer Abitur  und hatte in unserer Spielgemeinschaft führende Rollen. Jahrelang, so stellt sich heraus, hat er  an der Algarve als Schriftsteller und Übersetzer gelebt. Da die Stelle des Leiters  am hiesigen deutschen Kulturinstitut frei wird, kann ich ihm helfen, auf sie zu kommen.

 

In der Universität spreche ich über den deutschen Roman nach 1945 und bin erstaunt,  auf ein zahlreiches und gut zuhörendes Publikum zu treffen. Am nächsten Morgen fahre ich nach Coimbra weiter, Portugals alter Universitätsstadt. Sehr beeindruckend sind die drei hohen, nicht allzu großen Teilsäle der Bibliothek, alle mit goldfarbenen Ornamenten und Chinoiserien geziert. Der Vortrag „Satire und Massenmedien im 20.Jahrhundert“ findet vor ca 70 aufmerksamen Zuhörern statt. Nachts um 12 Uhr sind wir wieder in Lissabon.  Dort wird mir alles Wichtige von Herrn M.-C. gezeigt. Vor dem dortigen Vortrag erscheint der  Ordinarius, der  kleine, zarte Herr  Caeiro. Ich muß mich ins goldene Buch eintragen. Der viel zu große Saal ist schlecht besetzt. Ich spreche über „Witz und Poesie in der Aufklärung“. Etliche wandern ab, neue kommen. Eine karge Konversation mit Caeiro schließt sich an. Am nächsten Tag der zweite Teil: ein Seminar über „Satire und Satiretheorie des 18. Jahrhunderts“ in einem kleineren Auditorium. Die Zuhörer sind wacher  als die gestrigen M.-C. kritisiert die hiesigen Verhältnisse, Tenor: man döst. Am nächsten Tag noch einmal ein Vortrag,  wieder wie in Coimbra  über „Satire und Massenmedien“. Caeiro widmet mir sein Platen-Buch. Telefonisch lasse ich mich in Sesimbra einmieten, wo ich noch ein paar Tage bleibe und an dem Kraus-Vortrag für Wien schreibe. Aus Deutschland höre ich, hier seien Unruhen gewesen. Als ich noch einmal in Lissabon bin und mit M.-C. in einer pastelleria sitze, fragt er: „Sie fühlen sich auf aussichtslosem Posten? Das ist, finde ich, eine gute Position. Mir geht es auch so.“

 

Ende April 1974 fahre ich mit R. anläßlich des 100. Geburtstages zur Karl-Kraus-Woche nach Wien, wo man mich zum Hauptreferat eingeladen hat. Dann sprechen aber neben mir auch Frau Mitscherlich, Erich Heller und Friedrich Torberg. Beim ersten Gang durch Wien finden wir nichts über die Kraus-Veranstaltung, auch nicht am Palais Palffy, wo die Vorträge stattfinden sollen. Aber Herr Urbach versichert uns am nächsten Morgen, es werde ein gutbesuchter Abend werden.

Ich lerne den liebenswürdigen Wolfgang Kraus kennen, den Leiter der Literaturgesellschaft, die  die Woche veranstaltet, den altösterreichisch höflichen, aber auch manchmal grantigen Edwin Hartl, Otto Kerry, einen sehr hilfsbereiten Burgschauspieler, Hans Weigel , der mit Vorsicht beobachtet und ein bisschen ängstlich wirkt. Abends ist es wirklich gut besetzt. Der Vortrag ist viel zu lang, so daß ich nur zwei Teile daraus – Anfang und Schluß – vortragen kann, immer noch 90 Minuten. Viele loben über das übliche Maß hinaus. Besonders freut mich, daß am nächsten Abend ein alter Herr auf mich zutritt, mir ein großes Kompliment macht und sagt, er sei Günter Anders. Mit der Wut der Journalisten war zu rechnen. Am nächsten Tag gibt es ein noch größeres Auditorium mit einem Geplauder von Torberg. Am Mittwoch kurze Referate von Matejka, Hartl und Jenaczek, abends ein absurd unreflektierter Vortrag von Frau Mitscherlich. Fazit: dem Manne fehlte leider das Verständnis. Der Tonfilm mit K.K. in einer miserablen Kopie. Die gängige Kritik hinterher: altes Burgtheater, das kein heutiger Kritiker ja kannte. Vor „Zum ewigen Frieden“ liest K. das Motto eher beiläufig und ganz rasch. Dann „Nie las“ wirklich ’auftaktig’, mit allem Nachdruck. Die Frage ist wohl nicht, ob das heute noch unmittelbar wirkt, sondern was es zu bedeuten hat. Am Donnerstag ein etwas wolkiger Vortrag von Heller. Ein paar dieser überflüssigen Empfänge, auf denen ich die unangenehme Bekanntschaft mit Reich-Ranicki mache, der mir Lob spendet, obwohl er gar nicht da war, und Mitarbeit bei der FAZ anbietet. Ich bin sehr schroff und sage, es gebe für diesen Zweck so viele Professoren. Gottseidank, denn was er sich dann am Freitag leistet, rechtfertigt das ganz und gar. Ich gehe an diesem Abend trotz eines Infekts zu der Podiumsdiskussion im Schwarzenberg-Palais, die  vor ca 800 Leuten stattfimdet. Beteiligt sind neben mir Georg Knepler, Klavierbegleiter von K.K., jetzt Musik- Emeritus in Ost-Berlin, Ross vom Goethe-Institut und Reich-Ranicki. Der erklärt, K. habe sich nur mit der Bild-Zeitung seiner Zeit beschäftigt, er habe die Sprache überschätzt, sei verantwortungslos gewesen, habe sich von der Zeit abgewendet. Diese totale Ignoranz hinsichtlich der Krausschen Schriften wurde würdig ergänzt: Im Künstlerzimmer distanziert sich  R.-R. von der Teilnahme des Publikums an Diskussionen. Ich wollte v.a. auf Frau Mitscherlich antworten, muß dann aber doch R.-R. seine Ignoranz bescheinigen, was ihn natürlich böse macht. Im Publikum bewährt sich Jens Malte Fischer. Am Sonntag besuchen wir K.K.’ Grab. Der Friedhofswärter hat keine Ahnung. Hartl, den ich anrufe, sagt, er liege bei den „Konfessionslosen“. Kerry weiß die genaue Lagebezeichnung, aber nicht, wo das Grab wirklich zu finden ist. Ich entdecke es schließlich, ganz in Natur zurückgenommen, darauf ein Kranz aus vertrocknetem Flieder von der Gemeinde Wien. An diesem 28.April sind wir wahrscheinlich die einzigen, die das Grab aufsuchen. Anschließend noch zu einem Vortrag in München. Unterwegs können wir schon etwas von den journalistischen Ausdünstungen über die Woche und den hundertsten Geburtstag lesen.

 

Anderhalb Monate später wieder in Wien zur Gründung der Musil-Gesellschaft. Einiger Pomp, da Bruno Kreisky sich als Musilianer annonciert. Riesige Plakate, Zimmer im Bristol, Finanzierung durch die Sparkasse. Vor der Eröffnung der Musil-Ausstellung in der Nationalbibliothek treffe ich Canetti, der mit Wotruba kommt. Auch lerne ich Ledig-Rowohlt kennen. Wir fahren im Bus zur Sparkasse, wo ein völlig übetriebenes Buffet aufgebaut ist. Ich werde zur Teilnahme an einer Diskussion im Auditorium Maximum aufgefordert. Dabei redet Jan Aler aus Amsterdam sehr lang. Kürzer machen es die anderen: F.Heer, Rasch, Strelka, A. Aber es flattert natürlich alles auseinander. Am nächsten Morgen Hals über Kopf die Gründungs-Versammlung vor der Versammlung: Satzung, Vorstand, Kuratorium, Ehrenmitglieder. Dann im Palais Lobkowitz die festliche Gründung. Abends empfängt  Kreisky, der  mich mit „aha“ begrüßt. Ich hatte ihm zwischen K.K. und Musil die Zurückziehung meiner Bewerbung um den Lehrstuhl in Wien mitgeteilt.  Am Mittwochvormittag mein Vortrag im Burgtheater, das dank eines Aufgebots von Schülern gut besetzt ist. Ich komme aus Unkenntnis ziemlich spät und werde von  einem Funktionär mit der Frage empfangen: „Sind Sie der Vortragende?“, dann durch Gänge gezogen, des Mantels entledigt, auf die Bühne geschickt, wo es sofort heißt „Mikrofon !“. Aber der Vortrag  über „Sprache und Sprechen im ‚Mann ohne Eigenschaften’“ geht gut und wird gut aufgenommen. Heer zitiert hinterher seine 17jährige Tochter: „Soetwas habe ich  noch nie gehört“. .Bei einer Jause in der Literaturgesellschaft lerne ich Heinz Politzer kennen, der im Gespräch gescheit wirkt. Ich höre, daß die ganze Geschichte 700 000 Schilling kosten solle; man aber Schwierigkeiten habe, eine dritte Nacht zu bezahlen. Dr. Kraus von der Literaturgesellschaft sagt, K.K.habe ein Zehntel gekostet.

 

Im Sommer 1975 fahre ich zum Germanistentag in Cambridge. Wissenschaftlich lohnt es sich kaum, aber man möchte nicht gern  ganz aus der Welt sein. In Cambridge ist alles Universität, College neben College. Beim Gang durch die Stadt treffe ich auf von Bormann, Rasch, V. Lange und Pestalozzi. Nach einem Vortrag von J.P. Stern an einem der nächsten Tage tritt in der Diskussion Herr Henel, der gerade in Münster war, gegen mich auf. Was das soll, ist unerfindlich. Wir fahren nach Coventry und nach Stratford.  Das enttäuscht. Es ist ein Oberammergau.  Im Theater aber eine gegen Schluß großartige Aufführung der „Lustigen Weiber“. Freitagabend  beim „Festessen“ im King’s College ein bißchen vom englischen Brauch, mit dem Toast: „The Queen!“. Im Oktober kommt endlich mein kleines Kraus-Buch heraus. Es ist mir deutlich, wie wenig es  geeignet ist, öffentliche Zustimmung zu finden.  Ich spreche  zu dieser Zeit vor Germanisten, also Lehrern,  über Literatur und Deutschunterricht. Das wird von den Älteren akzeptiert, die meine Thesen wohl  für eine Rechtfertigung der immanenten Interpretation halten.

 

Ende Dezember 1975 fliege ich zu Vorträgen in die USA. Wir müssen wegen des Wetters in New York übernachten. Am nächsten Morgen geht es bei strahlendem Wetter  weiter nach San Francisco. Ich soll beim MLA-Kongreß einen Musil-Vortrag halten. Kennenlernen einer Romanistin aus Südafrika, Polin, die in Paris studiert hat. In S.F. sehr müde und sehr erschöpft. Herr Freese, der mich eingeladen hat, ist nicht zu sehen, später meldet er sich Er hatte mich für überfällig gehalten. Bis zum Beginn des Vortrags sind es noch 30 Minuten. Danach mit F., Menges und einer Dame aus S. Diego gegessen. Lohnt die Anstrengung? Am nächsten Morgen wieder Frühstück mit den beiden Herren, die über die Situation  an. amerikanischen Universitäten berichten: Kontaktlosigkeit, die amerikanischen Kollegen sprächen kaum über wissenschaftliche Fragen, nur small talk, niedriges Niveau der Prüfungen, Anpassungszwang. Es drängt sie offenbar sehr nach Deutschland zurück. Bei einem Bummel treffe ich Frau Emmel. Sie erzählt von ihren amerikanischen Erfahrungen, v.a. von der Enge der Universitätsverhältnisse, der hierarchischen Gliederung. Doch kann sie kaum Englisch und will es auch nicht lernen. Sie hat nur einen einzigen Kurs in der Woche, empfindet ihre soziale Lage  als duchaus angenehm. Auf einer Party Gespräche mit V..Lange und Politzer. Am nächsten Morgen mit F. und M. Gespräch über die amerikanischen Medien. M. kehrt den Verteidiger hervor. Dann aber auch wieder heftige Kritik. Treffen mit Walter H.Sokel, einem angenehmen Österreicher, der mich nach Virginia eingeladen hat. Abends Essen mit Lindberg, auch einem Österreicher, der in Las Vegas sitzt. Er erzählt von seinen editorischen Tätigkeiten und rühmt Christian Weise als besonders wichtigen Autor. Am nächsten Morgen durch Chinatown: Garküchen, Restaurants. Ein Schild fällt auf: „The Toastmasters of China“. Sehr empfohlen wird der Besuch  im Alcatraz-Gefängnis auf  einer Insel, die man vom Hafen aus gut sehen kann. Unter Glas sind wie historische Helden die Konterfeis der Verbrecher, die dort einsaßen, ausgestellt. Fisherman’s Wharf besteht v.a. aus Restaurants, vor denen große und größte Krebse angeboten werden. Zurück fahre ich hügelauf, hügelab mit der cable car. Am Abend noch um den Union Square herum: Blick auf einen tiefer gelegenen Platz: eine große, junge Schwarze stolpert  auf die Rolltreppe zu, fällt zweimal, offenbar betrunken oder high, ein jüngerer Mann hilft ihr. Mit Frau E. in einem indonesischen Restaurant gegessen. Gespräche über die Studenten und die politische Perspektive. Sie erzählt von ihren Schwierigkeiten in Greifswald, aber auch davon, daß sie vieles recht gut gefunden habe. Sie ist lebhaft, interessiert, durchaus Germanistin. An einem der nächsten Tage warte ich vergeblich auf die Herren F. und M., fahre schließlich nach Berkeley, wo mir seit wenigen Tagen die Herren Seeba und Hillen bekannt sind. F. und M. hatten inzwischen angerufen, sie hätten  am Abend vorher  mitteilen lassen, daß sie zwei Stunden  später kämen. Ein junger Mann bietet sich  als Führer durch Berkeley an. Er weist mich auf die Physiklaboratorien hin, in denen die Atomspaltungsversuche  gemacht wurden. Berkeley ist, von oben betrachtet, sehr hübsch. Wir kehren zu Seebas Haus zurück, der selbst erscheint und als angenehmer, unkomplizierter Mann  aus Norddeutschland wirkt. Zur folgenden Geburtstags- und Festschriftparty  bei Politzer werde ich eingeladen. Er ist hier mit 65 der große alte Mann. Seeba memoriert noch an seiner Rede in Englisch. P. residiert in einem etwas spanisch  aufgemachten Haus. Er spricht  über den hinteren Teil des Hauptraums als von einer Don-Giovanni-Bühne. Über meinen Besuch scheint er sich wirklich zu freuen und betrachtet ihn als freundliche Vermittlung zwischen ihm und Emrich. Ich soll die „Ernste Komödie“ signieren. Ich lerne seinen Kollegen Jaszi, einen liebenswürdigen Ungarn, und Frau Bonnwill kennen, eine Jüdin aus Duisburg, die noch ganz im Tonfall der Duisburgerin spricht. Eine lange Stehpary, die müde macht, aber vom Jubilar mit vielen Küßchen und Walzern gut bestanden wird. Er will mich von Werfel überzeugen. Ich führe natürlich Kraus ins Feld. Er fragt. „Wer ist K.? Ein Primaner… ein Stinktier.“ Zwei Sätze später: „Natürlich eine überragende Erscheinung:“ Zum Schluß zeigt er mir einige Autographen: einen Kafka-Umschlag, eine Hofmannsthal-Dedikation, einen von Hesse, einen von Doderer, der ein erweiterter Musil sei. „Nein, ein verengter“, sage ich.“ Da sei ich aber sehr im Irrtum. Am Tag darauf zeigt mir Herr Hillen den Campus: völlig anders als die ihn umgebende Stadt, vieles  fast luxuriös. Alles in sehr gutem Zustand. An einem Sonntag mit Menges und seiner Frau . Auf Umwegen nach Point Reyes. Von einem Felsen aus ein großes Bild des Meers. Spaziergang durch den Sand von Drake’s Beach, dem angeblichen Landeplatz des Seeräubers. Noch viele weitere Besichtigungen. Dann mit Herrn Menges  in 1 ½ stündiger Fahrt nach Davis, das ebenfalls zur University of California gehört. Dort halte ich einen Vortrag über den deutschen .Roman der Nachkriegszeit. Gespräch mit dem Chairman Bernd, einem Amerikaner. Nach einem Abendessen bei ihm gibt mir ein Österreicher  seine Immensee-Arbeit. Menges holt mich zu einer Fahrt in die kalifornischen Berge ab. Erst die Prärie, dann allmählich Mittelgebirge. Im Grass Valley nach Nevada City, einer Goldgräberstadt. Weiterfahrt nach Squaw  Valley ins Skigelände und zum Lake Tahoe. Man begreift nicht recht, daß unten am Ufer die Mafia die Spielsäle regiert, wie mir M. sagt.  200 km zurück in überhöhterm Tempo zum Flughafen von Sacramento. In einer Stunde ist man 400 km südlich in Los Angeles. Zu Herrn Daviau, Germanist in Riverside, das auch zur University of California gehört. Mittags lerne ich D’s Kollegen, Herrn Rimbach, kennen, der vor über 20 Jahren auswanderte. Wieder ein Vortrag. Eine etwas hagere Blondine, die intensiv zuzuhören scheint, zeigt sich hinterher als Amerikanerin, die nur ihren Mann begleitete. Eifrig fragt Herr Nagel, ehedem apl. Professor in Heidelberg und Mediaevist. Ich versuche Kontakt mit Herrn Bäuml in Los Angeles zu bekommen, den ich wegen des Kraus-Registers seines Vaters besuchen will, der aber dank einer unglücklichen Initiative von Herrn F. anzunehmen scheint, ich wolle auch dort einen Vortrag halten. Das Mißverständnis klärt sich auf. In einer kleinen Propellermaschine fliege ich von Ontario nach Los Angeles. Bäuml, Mediaevist, ist zum Flugzeug gekommen. Er erzählt von seinem Vater. Ein ganz liberaler Jude in Wien, der erst seiner Schwiegertochter erzählt hat, er habe an Bar Mizwah teilgenommen. Entschieden und ohne Kompromisse in seinem Leben. Bäuml selbst muß mit 13 Abschied von den Eltern nehmen, geht nach England. Die Eltern emigrieren bald darauf (1939) nach Amerika. 1942 sind sie wieder zusammen. Das, sehr lebhaft und eindringlich erzählt, wirkt sehr stark. Bei einem kleinen Ausflug zur Santa Monica Beach sehe ich auf einem Rasen Gruppen älterer Leute, sehr viele davon deutsch sprechend: Emigranten, Juden. Auf dem Hotelzimmer höre ich  im Fernsehen ein paar Sonntagspredigten. Eine angejahrte, aber kosmetisch konservierte Blondine  mit erstarrtem Grinsen flüstert beschwörend auf ihr Publikum ein und interviewt einen ehemaligen Filmproduzenten, der sich selbst als Bekehrten und  Pfarrer vorführt. Die beiden sitzen fromm in einer Kunstlandschaft, am Ende senkt sich ein Kristalleuchter auf sie herab und geistliche Schlager ertönen. Am nächsten Vormittag eine Stunde Flug nach Las Vegas. Lindberg holt mich ab. Die ersten Spielautomaten schon am Flughafen. Monumentale Hotels in die Wüste gesetzt. Ich versuche, von meinem Hotel aus ein Stück zu  gehen. Man dringt bis zum Tropicana vor, das am Strip liegt. Jedes Hotel ist autark. Überall die Glücksmaschinen. Die Vergnügungsarbeit  geht sehr ruhig vonstatten. Mittags essen wir im Dunes, Lindbergs Stammlokal. Gleich am Nebentisch Deutsche. Lindberg wirbt sofort um eine junge Frau, die hier in L.V. ansässig ist, als Germanistikstudentin. L. ist 1936 aus Österreich ausgewandert, auch nach England, dann nach Argentinien, wo er Vizepräsident eines Fleischkonzerns wurde. Er hält Stalin für bedeutend schlimmer  als Hitler. Abends kommt noch das Ehepaar Köster: er aus Wuppertal, aber seit 1949 in den USA; sie: eine aparte, etwas kühle Engländerin, die ein Bluebell Girl war. Am 13. abends Besuch einer Show mit Lindberg: im Dunes das Casino de Paris. Erst Ägyptisches, dann bicentennial Amerikanisches, u.a. die Signierung der Unabhängigkeitserklärung mit Damen und Herren à la Louis seize. Dazwischen ein paar Varieténummern. Alles sehr flott, im ganzen zwei Stunden. Show und Essen kosten zusammen etwas mehr als 30 DM. Am nächsten Tag Flug über den Grand Canyon nach Chicago. Das Hotel in Evanston, obwohl groß, ist das erste, das ein bißchen individuell wirkt. Erich Heller holt mich zum Essen ab. Er ist etwas schwerhörig, sehr liebenswürdig, angenehm im Gespräch, kannte und kennt alle Welt: „mein Freund Auden“. In seinem Appartement erscheinen die Holthusens. Er: die Physiognomie eines alternden Schauspielers, wässrige Blauaugen, eine Portion Pfiffigkeit. Es wird lebhaft geredet. Plötzlich kommen wir auf Duisburg und auf Helmut de Haas zu sprechen, einen Feuilletonisten, den Ho. gekannt hat. Es fallen Namen wie Koloniestraße. Heller erzählt bei Tisch von seiner ersten Begegnung mit Karl Kraus. Der Publzist Emil Franzel  vom Prager „Sozialdemokraten“ hatte eine Ansprache des sehr jungen Heller angehört, in  der das Konfuzius-Zitat von der Sprache vorgekommen war. K.K. hatte es in der „Fackel“ abgedruckt. Bei einem Besuch in Prag (1930)  wird Heller nach einer Lesung von K.K. an dessen Tisch gebeten. Am nächsten Tag zeigt mir ein Assistant Professor, Herr Strasser, den Campus der Northwestern University.  Der liegt sehr schön, fast unmittelbar am Michigan See. In der Bibliothek vier Millionen Bände, später heißt es zwei. Ein Computersystem im Aufbau, das den Katalog ablösen soll. Der Vortrag geht gut. Sehr freundliche Einführung von Heller: „Mein Freund“. Hinterher Fragen, v.a. von den Kollegen. Der junge, deftige, pfälzische chairman Dürr lädt danach zu der obligaten Cocktail-Party in seine Wohnung ein. Es wird lebhaft geredet. Ein paar amerikanische Studenten versammeln sich um mich. Es geht um Sprache. Heller lädt zum Essen in ein schönes Restaurant ein. Dann noch zum Wein bei ihm. Holthusen beschwert  sich über seine Situation in Deutschland: Wer hört auf ihn? Er meint, Celan sei nicht so bedeutend gewesen, wie man ihn heute einschätze. Er habe ihm den Hut nachgetragen.

Nachts Rumor auf meinem Gang im Hotel. „Sorry, police investigations“, wird mir am Empfang gesagt. Morgens  Spaziergang mit Heller, der Anekdoten über Max Brod als Kafka-Freund und über den jungen Werner Kraft erzählt. In der Ferne die Chicagoer Türme.

Herr Schaum von Notre Dame in South Bend holt mich um 2 Uhr mittags ab. Ich muß noch einige Flüge buchen, was unendlich lange dauert. So fahren wir erst gegen 5 Uhr los, geraten in die rush hour und 25 Meilen vor South Bend in einen Schneesturm. Wir verpassen den Vortragsbeginn.  Es gibt aber ein Gespräch über den Vortragsgegenstand – „Der deutsche Roman nach 1945“ -  mit Schaums Kollegen. Am nächsten Morgen zeigt mir Schaum, ein ruhiger Schlesier, Böckmann-Schüler, die katholische Notre Dame Universität. Brüder vom heiligen Kreuz haben sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Wildnis gesetzt. Im Department weist mir Sch. Bewerbungsunterlagen vor. Für eine Stelle als Assistant Professor in klassischer Philologie haben sich 120 Bewerber gemeldet. Abends ins Morris Inn, das der Universität gehört. Der nette Sch. ist ganz entzückt, als ihn der Universitätspräsident, ein „father“, begrüßt und mit dem Vornamen anredet. Am nächsten Morgen über Cleveland und Washington nach Charlottesville in  Virginia, wo mich Frau Hoverland, eine junge Assistant Professorin, abholt. Wir  fahren zu ihrem kleinen Haus und sprechen nach den üblichen Universitätsgesprächen länger und lebhafter über Kleist, insbesondere über „Amphitryon“. Sie schreibt ein Kleistbuch.  Abends Essen mit dem liebenswürdigen Sokel: über die Sprache und  über die Möglichkeit vorsprachlichen Denkens. Ich werde im ältesten Haus der Universität untergebracht: der Grundstein wurde von Jefferson, Monroe, Madison gelegt. Am nächsten Morgen holt mich die chairperson (wie es hier korrekt heißt) ab: Frau  Angress (= Ruth  Klüger). Ich sehe, daß sie eine tätowierte Zahl auf dem Arm trägt. Ich höre, daß sie als Kind und junges Mädchen in Theresienstadt und Auschwitz war. Große, dunkle, traurige Augen. Sie erzählt von ihren politischen Schwierigkeiten an der konservativen Universität.  Darum will sie nach Kalifornien gehen. Sie stellt sich auch als Feministin vor, wirkt aber nicht aggressiv, eher abwesend, etwas verstört. Im Department lerne ich Herrn Little kennen, den Herausgeber von German Quarterly, einen typisch amerikanischen Germanisten. Er zeigt mir die Bibliothek, die eleganten clubartigen rare-book-rooms. Die ganze Universität wirkt sehr geschlossen und distinguiert. Vor allem der engere Campus, an dessen einer Seite Jefferson’s Rotunde  liegt. Mit Sokel zum Lunch und dann nach Monticello hinauf, Jefferson’s Residenz. Wir bekommen  eine Privatführung von einer entzückenden, bebrillten kleinen Lehrerin, die nur von Mr Jefferson spricht. Das Haus, gar nicht allzu groß, ist überaus geschmackvoll. Fahrt zu Sokels Haus im Wald, hübsch weiß, ansehnlich  und groß.  Ein vollständiges Essen wird serviert. Prof Ryder mit Frau sind eingeladen, ein sehr englischer Mann, der von seinen Erfahrungen in Australien erzählt. Nach dem Essen Einladung zur üblichen Party bei Frau Angress. Zum Lunch am nächsten Tag treffe ich mich  mit einigen jüngeren Kollegen, die nach Deutschland fragen, v.a. nach dem Urteil der Deutschen über die Amerikaner.  Ein junger Mann erzählt mir von seiner Musil-Arbeit: er wolle dessen Dingbegriff unter dem Aspekt Husserls untersuchen. Dann in ein Seminar von Herrn Miles. Abends der Vortrag  „Kraus als Kritiker des finde siècle“. Lebhafte  Diskussion mit den üblichen Mißverständnissen über Kraus und die Satire. Wirkung?  Kraus habe keine großen Gegenstände.

Mit dem Flugzeug weiter nach New York, wo ich in einem klappernden Taxi nach Columbia gefahren werde.. Dort Lunch mit Ludwig Kahn, dem Vorsichtigen, Feinen. Abendessen  mit ihm, Alfred Anger und Bauke sowie einem jungen Mann von Wallstreet. Anger erzählt sofort von den Folgen eines Unfalls  vor einem Jahr. Zum Vortrag („Satire und Presse“) kommen trotz des heftigen Schneefalls immerhin 25 Zuhörer. Am nächsten Morgen muß ich mir auf der Straße ein Taxi aufgabeln. Verspäteter Flug nach Boston. Wohnen im Hotel Lennox, dem hübschesten, das ich in Amerika gefunden habe. Anruf vom Goethe-Institut: Dr. Staedtler, der Leiter, muß zu Fulbright-Auswahlen nach Harvard. Stattdessen wird ein junger Rätoromane angekündigt, der hier ein Forschungsstipendium hat. Er versteht sehr rasch mein Thema „Literatur und Presse“. Im Hotel warte ich dann auf Herrn Staedtler, der sich als leicht verschlampter und  banaler Kulturfunktionär herausstellt, der nur mitzuteilen hat, daß er schon mit 31 Institutsleiter geworden sei. Auch ins Goethehaus kommen trotz der sehr winterlichen Witterung ca 15 Durchgefrorene., darunter Herr Dyck von MIT und Zohn von Brandeis. Danach noch  Gespräch mit Zohn über einige Kraus- Dinge, v.a. darüber, daß Sameks [Kraus’ Rechtsanwalt] Nachlaß in Brandeis liegt, darunter das Manuskript der „Unüberwindlichen“. Am nächsten Morgen werde ich von zwei Schülern von Frau Emmel nach Storrs abgeholt.Ich treffe sie auf dem Campus der University of Connecticut. Es gibt ausführliche Gespräche mit ihr, die sich fast ausschließlich  mit dem amerikanischen Leben als Alptraum beschäftigen. In der Universitätsbibliothek sagt sie plötzlich: „Ich hatte vor einiger Zeit einen Mörder  im Bett“. Der sei nachts in ihr Haus eingestiegen, habe sich mit ihrem Küchenmesser und einer Schnur bewaffnet und sie im Bett attackiert. Sie habe gewußt, das sei ihr Henker, habe ihn aber schließlich, bereits von Messerstichen verletzt, abdrängen können. Schreiend sei sie ihm nachgelaufen. Der Nachbar, ein älterer amerikanischer Oberst, habe sich gar nicht gerührt. Später  Ermordung der Frau des Besitzers  der Apartmentanlage, in der sie wohne, durch den Verrückten. Wir fahren in die kleine Stadt Willimantic, essen einen Hummer, und ich höre ihr zu. Weitere Gespräche am nächsten Vormittag, auch über Bachmanns Malina-Roman. Sie hat ein ungeheures Bedürfnis zu sprechen. Immer wieder kreisen wir um das, was man Ausdrucksunfähigkeit der Amerikaner nennen könnte. So reise ich ab.

 

 

Nummer 20 (September 2008) s. Archiv

 

INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Zweiter Teil). VON DER GEGENWART: Einigkeit und Recht und Freiheit. Vom deutschen Vaterland. Einfache Sprüche. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Die Anfänge in M. 1968–1972.

 

Die Nummern 1 – 20 s. Archiv

 

s. Register der Nummern 1 – 20 „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen

 


 

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