Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 22 (Juli 2009)

 

 

INHALT:  VON DER GESCHICHTE: Die Mittwochsgesellschaft 1933 – 1944. VON DER GEGENWART: Wir können’s nicht – Rechte Gewalt ? – Politische Narretei – Ein hoher Fernsehjournalist argumentiert - Urlaubsgrüße. VON DER LITERATUR. Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1976 – 1979.

 

 

VON DER GESCHICHTE

 

Die Mittwochsgesellschaft in Berlin zwischen 1933 und 1944. Eine Reminiszenz  zur Wissenschaft in der Diktatur (zur 50. Sitzung der Freitagsgesellschaft an der Universität Münster am 12. Mai 2000)

 

Unsere seit dem 13. Dezember 1991 bestehende Freitagsgesellschaft, deren erste Sitzung von Herrn Tölle und mir einberufen werden konnte, orientierte sich an einem ungleich größeren Vorbild, nämlich der in Berlin zwischen 1863 und 1944 tagenden Mittwochs-Gesellschaft, die es auf 1056 Sitzungen brachte. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der interdisziplinären deutschen Wissenschafts- und Geistesgeschichte des 19.und 20. Jahrhunderts und wurde gegründet als „freie Gesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung“. Ihr gehörten statutengemäß 16 Mitglieder an, unter den Gründungsmitgliedern waren so bekannte wie der Historiker Droysen, der Ägyptologe Lepsius, der Germanist Müllenhoff und der Philosoph Trendelenburg, aber noch keine Naturwissenschaftler. Später waren bedeutende unter ihren Mitgliedern. Von Anfang an zählten zu ihr aber auch Nichtwissenschaftler, nämlich Verwaltungsbeamte, Militärs, Männer der Wirtschaft und Regierungsmitglieder. Wenn es auch in den sechziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts noch selbstverständlicher war, daß sich unter dem geistigen Späteinfluß der Brüder Humboldt und der großen Philosophen der Berliner Universität  Persönlichkeiten aus vielen Disziplinen und Richtungen zum geistigen Austausch trafen, so beginnt doch damals schon eine Entwicklung, die zu der wissenschaftlich-intellektuellen Parzellierung geführt hat, wie wir sie heute beklagen müssen. Ihr ein wenig entgegenzuwirken war der Hauptgrund für unsere damalige Initiative, die sich immerhin bisher für über acht Jahre und 50 Sitzungen bewährt hat. Wahrscheinlich ist sie heute nach Entsprechungen in den fünfziger und sechziger Jahren in Münster die einzige Vereinigung, die sich um breite Interdisziplinarität bemüht. Wir haben jedenfalls Mitglieder aus Kern- und Geophysik, Chemie, Biologie, Anatomie, Psychiatrie, Nationalökonomie, Rechtswissenschaft, Historie, Pädagogik, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Theologie gewinnen können. Einzig für die universelle Disziplin schlechthin: die Philosophie ist es uns bis jetzt noch nicht gelungen.

Im folgenden möchte ich sehr skizzenhaft darzustellen suchen, wie sich der interdisziplinäre Versuch der Berliner Mittwochs-Gesellschaft während der kritischsten Jahre Deutschlands, nämlich zwischen 1933 und 1944, ausgenommen hat. Ich stütze mich hinsichtlich der Fakten dabei ganz auf das von Klaus Scholder 1982 herausgegebene Buch „Die Mittwochs-Gesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 bis 1944“. In dieser Zeit gehören ihr eine große Anzahl auch heute noch bekannter Wissenschaftler und anderer Angehöriger des öffentlichen Lebens an, insgesamt waren es 28, davon 18 Ordinarien der Universität, 17 Mitglieder der Preußischen Akademie, zwei Direktoren von Kaiser-Wilhelm-Instituten. Die Gesellschaft hatte einen Kanzler. Sie traf sich im Winter und im Frühjahr alle 14 Tage um 8 Uhr abends im Haus eines der Mitglieder, das auch für Speisen und Getränke zu sorgen hatte. Jeder Vortragende war verpflichtet, seine Darstellung in einem Protokollbuch festzuhalten. Die Protokollbände, insgesamt 20, wurden jeweils der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften übergeben. Vor dem ersten Weltkrieg  bis in die zwanziger Jahre galt nach dem Zeugnis mehrerer, daß es sich, auch wissenschaftlich, um eine eher konservative Vereinigung handelte, die sich aber, wie der jüdische Kunsthistoriker Werner Weisbach schrieb, durch „eine humane Gesinnung“ (15) auszeichnete und sich damit auch „unter dem Nationalsozialismus“ bewährte.

Man kann anhand der Mittwochs-Gesellschaft und ihrer Protokolle, aber natürlich auch der sonstigen Kenntnisse von Kontexten der Zeit bewusstseinsgeschichtlich etwas erkennen von den Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenspiels wissenschaftlichen Denkens und ‚humaner Gesinnung’ in pressierten historischen Situationen, aber darüber hinaus in der historischen Wirklichkeit überhaupt. Das Beispiel des Germanisten und Literaturwissenschaftlers Julius Petersen macht diese Möglichkeiten und Grenzen drastisch deutlich. Er wird 1920 als Nachfolger seines Lehrers Erich Schmidt nach Berlin berufen, macht sich einen Namen als Klassik- und Romantikforscher, als Literaturtheoretiker, wird Präsident der Goethe-Gesellschaft.

Als er 1941 starb, sagte der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger über ihn in einem Nachruf: „Die Güte war das Element seines Lebens [...]alles, was er tat und dachte, kam aus dieser edlen Grundsubstanz.“(19) Aber schon 1932 hatte Petersen in der Mittwochs-Gesellschaft über die Vorstellung des „dritten Reiches“ in der deutschen Dichtung gesprochen. Und der Herausgeber Klaus Scholder schreibt, dass er sich seit 1933 „als ungewöhnlich leichtgläubig und anpassungsfähig“ erwies (18).

Nimmt man hinzu, daß der schweizer Germanist Jonas Fränkel in seinem Nachruf auf Petersen 1941 über dessen letztes Buch schrieb: „Auf einen noch tiefern Tiefpunkt  der Selbstaufgabe und Selbstverhöhnung als in diesem Buch konnte die deutsche Wissenschaft von der Dichtung nicht hinabsinken“(18), dann haben wir das ganze Dilemma des Geistes und der Reflexion im letzten Jahrhundert (und vielleicht nicht nur in diesem) vor uns. Die Güte als Grundsubstanz eines Lebens, das gleichzeitig durch Leichtgläubigkeit und Opportunismus gekennzeichnet war und zum Tiefpunkt einer ganzen Wissenschaft beitrug - diese Urteile stehen nebeneinander. Sind sie von unterschiedlichem Gewicht oder stellen sie sämtlich einen Zug dieses Gelehrtenlebens des zwanzigsten Jahrhunderts dar? Das ist die schwierige Polarität der Fragen bei Gelegenheit eines wissenschaftlichen Gesprächszirkels. In der Mittwochs-Gesellschaft kamen schon seit dem Ende des Jahres 1932 die gegenwärtigen und künftigen politischen Probleme zur Sprache. Man hatte sich offenbar gerade jetzt entschlossen, auch die bisher ausgeschlossene Tagespolitik zum Thema zu machen. Der letzte Innenminister der preußischen Monarchie Bill Drews sprach im November 1932  zu den Problemen, die die Weimarer Verfassung aufgrund ihrer raschen Entstehung aufwerfe. Im April 1933 sprach der preußische Finanzminister Popitz, das einzige Regierungsmitglied während der Nazizeit, das aktiv an der Widerstandsbewegung teilgenommen hat und deswegen noch im Februar 1945 hingerichtet wurde, „über die jüngste deutsche Entwicklung“(66). Er handelte kritisch sowohl über die ausschließlich „materialistische“ Haltung des Volkes (67) wie darüber, daß die Weimarer Verfassung es zugelassen habe, „mit 2/3 Mehrheit  auch das zu gestalten und durchzusetzen, was in vollem Gegensatz zur politischen Idee dieser Verfassung“ stehe (68). Ein Regierungsmitglied kann in der Mittwochs-Gesellschaft in dieser Zeit fragen, „welcher Spielraum“ angesichts der autoritären Strukturen des Staates „für Persönlichkeitswerte und Privatinitiative“ bleibe (69). Im Juni 1933 sprach der Mediziner und Anthropologe Eugen Fischer, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie und damals  Rektor der Berliner Universität, über „die Rassen der Juden“, eine durchaus zurückhaltende, völlig unpolemische Darstellung, die aber in ihrer Thematik natürlich charakteristisch für diese Zeit ist. Der evangelische Theologe und Kirchenhistoriker Hans Lietzmann hielt im Februar 1934 einen Vortrag über die evangelische Kirche vom März 1933 bis Februar 1934, und zwar mit deutlich kritischen Tönen gegen die sog. Deutschen Christen und ihre Repräsentanten. Der jüdische Kunsthistoriker Weisbach bestätigte, daß Lietzmann sich gegen den Antisemitismus gewandt habe, obwohl er anfänglich dafür eingetreten sei, daß sich die Kirche „einmütig hinter die Hitler-Regierung stellen solle“ (86f). Natürlich gab es in den folgenden Jahren auch eine ganze Fülle von Vorträgen, die sich mit  ganz unverfänglichen wissenschaftlichen Fragen beschäftigten, etwa über das Hochland Südamerikas vom Geographen Penck, über die Anfänge der europäischen Philosophie des Philosophen Heinrich Maier, über die künstliche Gewinnung von Pflanzenformen  des Botanikers Diels. Aber es finden sich auch immer wieder solche, die ohne ausdrücklichen Bezug sich auch auf die politische Gegenwart beziehen. Der Althistoriker Wilcken sprach z.B. über die staatsrechtlichen Formen der römischen Diktatur, Popitz handelte vom Problem der territorialen Reichsreform vom finanzwissenschaftlichen Standpunkt aus, Petersen sprach über Stefan George. Und im April 1935 fragte der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger mit deutlich kritischem Akzent danach, ob es eine „liberale“ Wissenschaft gebe. Er bezog sich dabei natürlich auf die Ablehnung der Wissenschaft als liberaler durch die Nazis. Spranger postulierte: Wer „politische [= politisierte] Wissenschaft“ wolle, wolle „im Grunde überhaupt nicht Wissenschaft“(113). 1933 hatte er allerdings in der Zeitschrift „Die Erziehung“ einen Aufsatz „März 1933“ veröffentlicht, in dem er für den Aufbau des Neuen „in einem wahrhaft deutschen Sinne“ plädierte, die Fülle „großer Erziehungsaufgaben“ aus den Kriegserlebnissen ableitete, sich für „Eugenik“ und „bodenständige Heimattreue“ einsetzte und an einen neuen Krieg dachte1. Die Postulate einer unpolitischen Wissenschaft und eines durchpolitisierten Lebens im nationalen Sinn sind argumentativ natürlich schwer zu vereinbaren. 1935 wurde der Historiker Hermann Oncken, der seit 1932 Mitglied der Mittwochs-Gesellschaft war, zwangsemeritiert. Werner Weisbach, der der Mittwochs-Gesellschaft bereits seit 1910 angehörte, wurde schon 1933 aus dem Amt entlassen und erhielt 1935 ein Veröffentlichungsverbot, so daß er nach Basel emigrieren mußte. Im Krieg wurde die Vortragstätigkeit der Mittwochs-Gesellschaft unverändert fortgesetzt, ja man feierte die 1000. Sitzung  im Juni 1940 mit einem Mahl in Schloß Brüningslinden, das mir durchaus noch vertraut ist, heute aber nicht mehr besteht. Hans Lietzmann ließ sich von dem Restaurateur Vorschläge für das Menu machen: gebratene Forelle oder Kalbsrücken oder Brathuhn, für die 10 gr Fettmarken oder 150 gr Fleischmarken aufzuwenden waren. Als Getränk waren Kalte Ente und Rotwein vorgesehen. Hermann Oncken hielt den Festvortrag  über die Geschichte der Mittwochs-Gesellchaft, der als Privatdruck erschien. Im Protokoll steht: „Bei schönstem Sommerwetter wurde diese Sitzung in Gesellschaft der Damen festlich begangen.“(248) Der Herausgeber Scholder hält für die Kriegsjahre eine ganze Anzahl von Vorträgen fest, deren Themen sich im engeren oder weiteren Umfeld der damaligen Zeitgeschichte bewegen: Oncken spach über Empire und Dominien, Lietzmann über Staat und Kirche, der Nationalökonom Jessen über Währungspolitik und Preispolitik, Popitz über den Begriff „Reich“. Spranger hielt einen Vortrag über „Volksmoral und ihre Sicherung“, in dem er vor der Gefahr des Nihilismus warnte: „Rücksichtslose Erfolgsgier, Brutalität gegenüber dem Leben, Verlogenheit als planvolle Methode, Verlust des Rechtssinnes (‘Recht ist, was dem Volke nützt’), Entlastung der Person von Verantwortungen, die ihr kein Mensch abnehmen kann, sind die konkreten Folgeerscheinungen“, heißt es darin mit erstaunlicher Deutlichkeit. Seit 1938 ist der Publizist Paul Fechter, der nach dem Krieg die Zeitschrift „Neue deutsche Hefte“ mitbegründete und leitete, Mitglied der Gesellschaft, und er reflektiert im Mai 1940 über den Journalismus. Den Journalisten betrachtete er als jemanden, der in einer „halb überpersönlichen, halb unpersönlichen Zwiespältigkeit“ stehe (240). Er sah in „Bewußtseinstragödien“ wie Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“ und Georg Kaisers „Flucht nach Venedig“ Journalistendramen: „Berufstragödien der schwächeren Erscheinungen“, während der ‘wirklich journalistische Mensch’ die „klare Einsicht in den Ablauf eines geistigen Prozesses“ habe, „dessen Wesen Gemeinsamkeit ist“, um die es bei „diesem seltsamen Mittlerberuf“ gehe (241 f) Vergleicht man diese und andere Formulierungen mit der Situation des Journalisten in jener Zeit, so tritt in ihrer Vagheit das Problem des Standes wie das der Epoche zutage, ein Problem, das weit über diese Zeit hinausreicht. Kurz vor ihm hatte der 1939 aufgenommene Generaloberst Beck gesprochen, der „Betrachtungen über den Krieg“ anstellte. Beck sprach u.a. vom „absoluten Krieg“, vom „Weltkrieg“ und vom „totalen Krieg“ als den beherrschenden Kriegsauffassungen des 20. Jahrhunderts. In beiden Vorträgen traten die zwei entscheidenden Phänomene des bisherigen und des künftigen zwanzigsten Jahrhunderts hervor, und zwar als universell organisierte Gewalt das eine, als universell organisierte Medialität das andere. Nach seiner Wahl in die Mittwochs-Gesellschaft 1942 sagte der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt zu seiner Frau: „Ich habe das Gefühl, da steht eine Widerstandsbewegung dahinter“(325). 1943 hielt Schadewaldt einen Vortrag über den homerischen Sänger. Und seine Frau erinnerte sich später, daß Sauerbruch und Heisenberg, die an diesem Abend länger als die anderen blieben, über Schipanski schimpften, unter welchem Decknamen Hitler apostrophiert wurde (326). Aber das war natürlich nur die ziemlich gängige Moquerie, der die Regimeergebenheit von Mitgliedern wie dem Anthropologen Fischer oder dem Kunsthistoriker Pinder kontrastierte. Wichtiger war natürlich, daß unter den sechzehn Mitgliedern der Mittwoch-Gesellschaft drei waren, die zum engsten Kreis des Widerstandes gehörten und dafür mit dem Leben bezahlen mußten: Beck, von Hassell und Popitz. Hassell hatte zuletzt im Dezember 1943, Beck noch im Mai, Popitz noch im Juni 1944 einen Vortrag gehalten, letzterer über den Begriff des Staates. Die drei Angehörigen der Widerstandsbewegung waren keine Wissenschaftler, aber es ehrt die Mittwochs-Gesellschaft, daß sie unter den kooptierten Persönlichkeiten aus der Öffentlichkeit drei hatte - es waren außer Fechter sämtliche Nichtwissenschaftler der Gesellschaft zu dieser Zeit -, die dem Nazismus nicht nur fern standen, sondern ihm widerstanden. Hinzu kam noch Jens Jessen, der nicht dem engsten Kreis der Widerstandsbewegung angehörte, dessen Nähe zu ihr  ihm aber ebenfalls den Tod brachte.

 

 Am 12. Juli 1944 sprach Heisenberg über die Frage „Was sind die Sterne?“ Er suchte den Ursprung der Energie der Fixsterne als einen Atomkernprozeß zu bestimmen, „um die Verwandlung des Elementes Wasserstoff in das Element Helium“. 14 Tage später fand turnusgemäß die nächste Sitzung der Gesellschaft statt, und zwar im Hause Fechter. Es war sechs Tage nach dem 20. Juli, dem Datum des Attentats auf Hitler. Beck starb noch im Laufe dieses Tages. Popitz wurde am 21. Juli verhaftet, am 3. Oktober zum Tode verurteilt, aber erst am 2.Februar 1945 hingerichtet. Am 28. Juli wurde von Hassell verhaftet, am 8. September wurde er zum Tode verurteilt, am gleichen Tage noch hingerichtet. Am 11. November erhielt Jessen das Todesurteil, am 30.November wurde er hingerichtet. Vier Mitglieder der Mittwochs-Gesellschaft also wurden im Zusammenhang mit dem 20. Juli getötet. Spranger verhaftete man, ließ ihn aber nach sieben Wochen wieder frei. Sauerbruch wurde von Kaltenbrunner vernommen, doch konnte er sich  salvieren. Zu der letzten, der 1056. Sitzung im Hause Fechter bemerkt dieser vag im Protokoll, er habe  ein „literarisches Thema“ behandelt,  Ludwig Diels schrieb in seinen Tagebüchern genauer, Fechter habe „über die Sprache in ihrer Gewalt auf Schriftsteller und Dichter“ gesprochen, aber „wenig“ „überzeugt“(354). Das war wohl angesichts der Situation nicht verwunderlich, aber das Thema bleibt als das letzte dieses Kreises bemerkenswert. Anwesend waren nur noch fünf Mitglieder: außer Fechter und Diels der Altphilologe Stroux, Spranger und von Hassell, der zwei Tage später verhaftet wurde. Fechter bemerkt in seinen Erinnerungen: „Es war ein makabrer Abschied von rund 80 Jahren lebendigen geistigen Wirkens.“ (355) In einem Gestapo-Bericht vom 23. August hieß es: „Tatsächlich stellt sich die Mittwochs-Gesellschaft immer mehr als ein Kristallisationspunkt dar, in dem sich Persönlichkeiten defaitistischer  und dem Nationalsozialismus feindlicher Haltung zusammenfanden und sich gegenseitig in ihrer Haltung bestärkten.“(43). Außer den Getöteten gehörten der Gesellschaft zuletzt an: der mediaevistische Historiker Friedrich Baethgen, der nach dem Krieg Präsident der Monumenta Germaniae Historica  und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war, er starb 1972;  der Botaniker Ludwig Diels, der schon 1945 starb; der Literaturkritiker Paul Fechter, der  bis 1958 lebte; der Physiker Werner Heisenberg, der 1976 starb; der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder, gestorben 1947; der Chirurg Ferdinand Sauerbruch, gestorben 1951; der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt, gestorben 1974; der Orientalist Hans Heinrich Schaeder, der 1957 starb; der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger, erster Nachkriegsrektor der Berliner Universität, er starb 1963, und der Altphilologe Johannes Stroux, Nachfolger Sprangers als Rektor in Berlin, gestorben 1954. Zuletzt hatte die Mittwochs-Gesellschaft also noch 14 Mitglieder. Mit Werner Heisenberg, starb 1976 der letzte, der ihr angehört hatte. Unter welche Perspektive kann eine Erinnerung an dieses Unternehmen gestellt werden angesichts einer bescheidenen Renaissance des Versuchs, den „freien Ausdruck wissenschaftlicher Gedanken“ zu pflegen, wie es bei der Gründung der Mittwochs-Gesellschaft  1863 hieß? Einmal, denke ich, ist die Fragilität solcher Versuche klar zu sehen, die seit dem 20. Jahrhundert durch eine Fülle gesellschaftlicher Situationen bedroht werden können. Hätten wir uns z.B. um 1970 bemüht, diesen Zirkel zu gründen, wären externe und interne Schwierigkeiten zu gewärtigen gewesen. Zum anderen ist zu erkennen, wie rasch der „freie Ausdruck“ von wissenschaftlichen Gedanken nicht nur, sondern von Gedanken überhaupt bedroht sein kann. Und schließlich macht die Geschichte der Mittwochs-Gesellschaft klar, daß im Augenblick einer solchen Bedrohung sich sehr rasch eine Scheidung ergeben kann zwischen jenen, die entweder gezwungen werden oder die sich entschließen zur Gegnerschaft der herrschenden politischen oder sozialen Kräfte und jenen, die versuchen, sich von diesen Kräften fernzuhalten, aber auch jenen, die ihnen zuneigen. Und es ist sogar zu sehen, wie diese Scheidungen und Gegensätze manchmal in der einzelnen Persönlichkeit sich ereignen. So sehr die ‚humane Gesinnung’ als ein Erbe des 19. Jahrhunderts sich nach dem Zeugnis eines üdischen Mitglieds damals bewährte, so sehr scheint die Gefahr des gespaltenen Bewußtseins als Erbe des 20. Jahrhunderts immer wieder auf, aber manchmal auch der Verzicht auf die hiesige Existenz als Überwindung dieser Spaltung.

 

1 S.dazu W. Golisch, „Wie man’s macht , ist es recht.“ Eduard Spranger als Pädagoge der Dreißiger Jahre:In: H.A.,Ursprung der Gegenwart. Zur Bewußtseinsgeschichte der Dreißiger Jahre in Deutschland. S. 208 – 241, insbes.S. 231 – 235.

 

VON DER GEGENWART

 

Wir können’s nicht

 

Sie sagten: Die Krise sei eine der Banken, die Banker seien schuld, die Investmentbanker vor allem. Dann sagten sie, die staatlichen Regulatoren hätten geschlafen. Jetzt heißt es, die Manager hätten sich durch Mißmanagement ausgezeichnet. Alles wird richtig sein, obwohl es ja erstaunlich ist. Denn nicht nur waren alle Genannten natürlich verantwortlich Handelnde, die genau wußten, was zu tun sei, sondern es waren auch alle hervorragend Ausgebildete, die das Ganze und das Einzelne überblickten. Nun stellt sich heraus, daß sie alle nichts wußten, und wenn sie etwas wußten, nichts taten, und wenn sie etwas taten, so taten sie das Falsche. Und so wird es weitergehen. Nein, die Evolutionstheorie zeigt gerade bei dem, der sie hervorgebracht hat, dass sich nichts vom Niedrigen zum Höheren entwickelt, sondern allenfalls alles zu dem Tohu und Bohu zurückgeht, aus dem es entstand. Das wird natürlich lebhaft bestritten mit Hinweisen wie denen, daß das Mittelalter noch kein Telefon und keine Warmwaserheizung hatte Aber daß innerhalb eines Systems etwas Neues entsteht, sagt natürlich nichts darüber, daß es sich als Teil eines fortschreitenden Ganzen erweist oder gar als Teil einer gänzlichen Dysfunktion. Und wie die Kriege einst furchtbarer und furchtbarer wurden, so haben wir anstelle des endgültigen und letzten nun Wirtschaft und Finanz als Form latenter Zerstörung qua Produktivität, die wir Markt nennen. Sie geben uns das Gefühl, dass sich alles global nach vorne bewegt, während es in Wahrheit zu immer neuen Desastern kommt. Doch wir lernen aus den Desastern, sagen wir uns und verschweigen, daß wir nur lernen, immer größere Desaster zu produzieren, die einfach in der Konsequenz dessen liegen, daß wir weitermachen wie bisher, indem wir das bisherige Stystem nicht verlassen, sondern es nur mit sogenannten größeren Sicherheiten ausstatten. Etwas anderes zu tun ist uns unmöglich, da wir den eingeschlagenen Weg für den besten halten: also beispielsweise die Produktion und den Verkauf von Autos für das Sinnvollste menschlichen Verkehrs, wenn es sich auch längst als das Sinnloseste herausgestellt hat. So werden wir für Opel alles tun, damit dort weiter produziert werden kann. Gleichzeitig können wir nicht einmal mehr 20 Kilometer weit fahren, ohne aufgehalten, angehalten, umgeleitet, über Stock und Steine geführt zu werden. Das geht allerdings nur, weil zu unserer Art von Evolution die ständige Selbstbeschwindlung gehört, die uns behaupten läßt, es gehe uns gut, ja sehr gut, obwohl wir doch die Wartezimmer der Ärzte und die Kliniken überfließen lassen. ‚Gut gehen’ identifizieren wir mit dem Untertauchen im Betrieb, mit der Teilnahme am öffentlichen Geschwätz, mit der ständigen Kommunikation via Handy und all den anderen Sinnlosigkeiten, durch die wir uns in die Figuren der Reklame verwandeln, der wir unseren Status verdanken. Wie sollten wir in diesem Betrieb, der uns ganz fordert, noch lesen, denken, sinnvoll sprechen können? Vor allem drängt uns nichts dazu, den Betrieb zu verlassen, zumal uns dies nur in Gestalt des Asozialen gelänge, da wir doch die bestehende Gesellschaft als das menschliche Leben selbst betrachten. Die Reflexion des Betriebs als Leben geschieht durch die Medien, die ihre eigene Verfaßtheit, nämlich den Unsinn als Sinn zu behaupten, zu der des Lebens gemacht haben. Nur was die Form der Nachricht annimmt, gilt den Medien als Wirklichkeit. Jeder Satz behauptet sich darum als tatsachenförmig, also als Nachricht , obwohl er an sich selbst sprachlich ist, was aber durch sein Faktizitätsgebaren bestritten wird. Was nicht faktisch ist, ist bloß Meinung, also das Subjektive als das Beliebige, insofern ihm das sprachlich Eigene durch die gängige Phraseologie ausgetrieben ist. Es wäre Nonsens zu behaupten, aus dem Betrieb und dessen Medienreflexion könne sich irgendetwas entwickeln, das den Anspruch auf menschliche Geschichte erfüllte.

Die ist nur zu erfahren in den Zeugnissen bedeutender Kunst, wie sie bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts produziert worden sind. Das Allermeiste, was seitdem unter diesem Namen erscheint, ist jedoch mediengesteuert und ein Amalgam aus Freizeitspaß und Kapitalanlage. Mag von Zeit zu Zeit, soweit sie sich noch begibt, jemand kommen, der „Yes, we can“ tönt, so geht aus allen Erscheinungen mit Deutlichkeit hervor, daß einzig gilt: „Wir können’s nicht, wir können’s nicht.“

 

Rechte Gewalt?

 

Kommentare zur rechten Gewalt treffen nicht den Kern des Problems. Der liegt in der Gewalt schlechthin, die in dieser Gesellschaft herrscht. Sie ist alltäglich und beginnt mit der Gewalt gegen Sachen: Häuserbeschmierung, Vandalismus, setzt sich im Mobbing in Beruf und Familie, in der Jugendgewalt in und außerhalb der Schule, in der Gewalt auf und am Rande der Fußballfelder, in der Gewaltkriminalität fort und wird immer wieder neu belebt durch die Gewaltdarstellungen der Medien, insbesondere der Filme und des Fernsehens. Die dienen allein dem Kommerz, werden aber aus der Diskussion fast ganz ausgespart, ja, sie sind ein Teil der Spaßgesellschaft, auf die sich diese Gesellschaft aus Verdienern und lautstark Amüsierenden verkürzt hat. Da will man sich über rechte Gewalt wundern und meint, man könne sie isoliert sehen und bekämpfen? Nein, man muß nach den Ursprüngen der Gewalt fragen, muß z.B. an die Jahre der Achtundsechziger denken, die erst Gewalt gegen Sachen, dann gegen Personen in „klammheimlicher Freude“ befürworteten, zumindest hinnahmen. Nun geht diese Saat in der unerwünschtesten Form auf und stört eine Gesellschaft, die ihre Ruhe zwischen Mallorca und Karneval haben möchte, obwohl auch dort die Gewalt längst eingezogen ist.

 

Politische Narretei

 

Gegen 1 Uhr mittags sind wir zu den Europawahlen im Wahllokal. Drei Herren, die den Wahlvorstand bilden, freuen sich, daß jemand kommt. Der Wahlzettel ist sehr lang und enthält u.a. die Partei bibeltreuer Christen und die Piraten. Unter den Wahlvorschlägen stehen Namen. Von denen kenne ich unter den Christlichen nur Elmar Brook, der sich mir als dicker Mensch in Erinnerung bringt und als Journalist firmiert. Von den Sozialdemokraten kenne ich nur Martin Schulz, der sich als Buchhändler aus Aachen bezeichnet. Als wir unseren Wahlzettel einwerfen, frage ichdie Herren, wieviel Prozent bis jetzt gewählt haben. Antwort: 15 %. Also werden es am Abend ca 30% werden. Wozu dieses Theater, das nach meinem Friseur, der auch einem Wahlvorstand angehört, keine Sau interessiert? Damit man von der demokratischen Legitimation des Ganzen und der einzelnen Abgeordneten sprechen kann, die doch vor allen Dingen an ihren passablen Diäten interessiert sind. Aber alles bleibt natürlich eine Lächerlichkeit, die wir zu bezahlen haben. Denn dieses Parlament teilt mit dem Ministerrat und z.T. sogar mit der Kommission das Legislativrecht. Kann man sich Alberneres vorstellen? Seit Montesquieu haben wir den Gedanken der Gewaltenteilung, der v.a. sagt, wer die Gesetze ausführe, dürfe sie nicht gleichzeitig machen. Darauf beruht das demokratische System. Hier aber liegt die Legislative zunächst bei den Repräsentanten der Exekutive, ursprünglich sogar allein bei diesen. Erst im Laufe der Zeit hat sich das Parlament das Zustimmungsrecht für legislative Akte ‚erkämpft’. Wir haben also etwa den Zustand, den wir seit 1933 in der Nazidiktatur hatten, insofern der Reichstag sich selbst entmachtete und im Ermächtigungsgesetz der Reichsregierung, also der Exekutive, die Gesetzgebung abtrat. Daß wir nun immerhin die Mitwirkung des Parlaments bei der Gesetzgebung haben, bedeutet im Vergleich mit den damaligen Zuständen in Deutschland nur, daß das Ermächtigungsgesetz  auch auf das Parlament ausgeweitet wird, dessen Schande damit aber nicht verschwindet. Jahrzehnte lang hat das auch schon damals so genannte Europäische Parlament vielmehr hingenommen, daß es keine legislative Macht hatte. Einem solchen Parlament sollen wir vertrauen? Hat die ursprüngliche Regelung, bei der v.a. der Ministerrat legislative Vollmachten hatte, nicht gezeigt, daß diese Europäische Union jedes demokratischen Bewußtseins entbehrt? Es ist der kümmerliche Versuch einer Nasführung der Bürger Europas, die der SPD-Vorsitzende Müntefering „Menschen“ nennt.

 

Ein hoher Fernsehjournalist argumentiert

 

Es wird darüber Beschwerde geführt, daß bestimmte Fernsehjournalisten durch Nebentätigkeiten Geld verdienen Im Internet liest man dazu  u.a. „NDR-Fernsehdirektor Frank Beckmann betonte im Radiosender NDR Info am Freitagabend, die Nebentätigkeiten seien genehmigt oder mit den Vorgesetzten abgesprochen worden. Es gebe sehr viele Journalisten, die Nebentätigkeiten haben, und das ist auch völlig in Ordnung. Sie schreiben Bücher, sie halten Vorträge, sie moderieren vor einem Plenum. Und dafür wird man bezahlt, und das ist normal.“ Also, was nun: genehmigt oder abgesprochen? Das ist, denke ich, für jedermann ein Riesenunterschied.Ob dem Fernsehdirektor ein Antrag vorgelegt wird oder ob irgendein vorgesetzter Jupp dem Fritz sagt: „Natürlich kannste das machen. Ich mach es auch so“. Es ist schon ein starkes Stück, daß zwischen Genehmigung und Absprache keinerlei Unterschied gesehen wird. Und daß das ein Fernsehdirektor, also ein hoher Funktionär, erklärt.Und daß es nach ihm völlig in Ordnung ist, dass „sehr viele Journalisten“ „Nebentätigkeiten haben“. Wir denken natürlich, wir zahlten unsere Gebühren u.a. dafür, daß Journalisten für uns arbeiten, und zwar aufgrund eines Gehalts, das ihnen dank unserer Gebühren zufließt. (Es gibt übrigens nur eine ganz  kleine Gruppe von Tätigen, die durch oder ohne Genehmigung [niemals durch Absprache] für sogenannte Nebentätigkeiten extra bezahlt werden.) Aber  das Schönste kommt erst. Denn nun erklärt der Fernsehdirektor:„Entscheidend sei, daß die Moderatoren unabhängig blieben: ‚Jeden Abend wird klar, daß Tom Buhrow und auch Caren Miosga großartige Journalisten sind’. Er könne sich nicht vorstellen, daß sie irgendeine Frage nicht stellen würden, weil sie irgendwann einen Vortrag gehalten hätten. „Das würde jeder sofort merken, und wir würden es auch sofort diskutieren." Erstens sagt dieser Fernsehdirektor, ein hoher Funktionär, es sei entscheidend, dass die Moderatoren unabhängig blieben. Was der nicht sagt! Man macht also für irgendeinen kommerziellen Hinz oder Kunz Nebentätigkeiten und sagt dem: Entscheidend ist, daß ich unabhängig bleibe. Worauf Hinz oder Kunz betont: Natürlich, Sie müssen ja nur sagen, daß dies die leckersten Kekse der Welt sind. Zweitens ist das Allerschönste der Aus- und Einlassungen des Fernsehdirektors, dass er verrät, woraus man schließen kann, daß Nebentätige unabhängig bleiben. Nämlich daraus, daß Sie „großartige Journalisten sind“. Was heißt das? Es heißt entweder, Journalisten seien so eine Art Opernsänger. Das sind sie wahrscheinlich auch, wenngleich auf einem sehr bescheidenen Level, denn ihr bißchen Gerede lässt sich nur schwer mit dem Gesang eines Opernstars vergleichen. Doch ob sie es nicht sind oder doch sind, hat den Teufel etwas mit ihrer Unabhängigkeit zu tun. Und daß sich Herr Beckmann etwas nicht vorstellen kann, liegt an seinem beschränkten Horizont, dank dessen er wahrscheinlich Fernsehdirektor wurde. Wenn es auch jeder sofort merkt, daß, sagen wir, Buhrow nicht unabhängig ist, so bedeutet das noch gar nichts. Wichtig ist erst, daß „wir“ – wer ist das? – es sofort diskutieren. Hat man Töne! Also man würde in Fernsehkreisen sofort diskutieren, ob der ‚großartige Journalist’ Buhrow z.B. „unabhängig“ geblieben ist, wenn er eine Frage nicht gestellt hat.

So argumentiert ein Journalist, wenn es um Journalisten geht, die „Nebentätigkeiten haben“.

 

Urlaubsgrüße

 

Erst wenn man sich, sagen wir im Urlaub, auf eine Bank setzt und sich umschaut, bemerkt man , daß man umgeben ist von häßlichen Menschen mit Schwabbelbäuchen, krummen Beinen, rot angelaufenen Gesichtern, die einen das Fürchten lehren, wenn man es nicht schon längst könnte. Diese demonstrative Häßlichkeit kommt aber erst zur vollen Gestalt durch das, was man früher Kleidung genannt hätte. Heute ist es die Kopie kleinkindlicher Verhüllungen, etwa bis zum Knie gehender Hosen, unter denen weiße Beine staksen, oder Ringelhemden oder aufgequollene Latschen, die alle ausdrücken sollen, daß man jung und sorgenfrei sei, obwohl es sich durchweg um eine Mischung von Geschlagenen und solchen handelt, die an der Hand ihrer Mutter die ersten Gehversuche machen.

Es ist natürlich eine Beleidigung der Augen, aber wohin man die auch wendet, findet man ähnliche Bilder. Allesamt zeigen sie die gleichen dicken Babies, an einer Eisportion lutschend, die sich schon in süße Rinnsale auflöst und an ihnen herabtropft.

 

Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten

 

Der erste Satz am Morgen, den man aus dem Radio oder dem Fernsehen hörte, war eine Phrase und der letzte war es auch. Die Zeitungen schrieben Phrasen. Auf den Lirtfaßsäulen und in den Anzeigen standen Phrasen. Die Politiker und die Funktionäre und die Kirchenleute redeten in Phrasen. Nur die Mörder und die alten Nazis und die jungen Punker redeten nicht in Phrasen, sondern schlugen zu.

So bestand das Land aus Geschwätz und Gewalt.

Da kam eines Tages jemand und sagte: „.Früher hat es vernünftige Sätze gegeben.“

„Toll“, sagten und schrieben da die Leute, „gut der Mann, der ist trendy Vernünftige Sätze. Hochaktuell. Daraus machen wir einen Renner. Alles klar.“

Und sie fingen an, vernünftige Sätze zu produzieren. In allen Modefarben.

Formschön. Zum Aktionspreis.

 

 

Ein Phrasendrescher und ein Mähdrescher droschen: jener Phrasen, dieser leeres Stroh.

Nach einer Weile klagte der Mähdrescher: „Es ist so traurig, nur leeres Stroh zu dreschen.

Gib mir von den vollen Phrasen.“

„Oh nein“, sagte der Phrasendrescher, „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.

„Ja, von dieser Sorte bitte“, bat der Mähdrescher.

So droschen sie denn gemeinsam: schöne, volle Phrasen.

 

 

„Alles paletti?“

„Alles klar!“

„Na dann. Und empfehlen Sie mich bitte Ihrer Frau Gemahlin.“

 

 

„Echt cool.“

„Und so.“

„Super.“

„Und so.“

„Geil.“

„Genau. Und so.“

„Scheiße.“

„Wieso ? Ach so.“

 

 

„Haben wir schon unsere Hausaufgaben gemacht?“ rief Friedhelm F. beschwingt von der anderen Seite der Straße Gottlieb G. zu.

„Ach du liebe Güte“, sagte der zu sich wie ertappt und eilte nach Hause.

Rasch holte er seinen alten Schulranzen hervor, schlug ein liniertes Heft auf, tunkte

die Feder in die Tinte und begann.

Da kam sein Sohn Mike herein: „Was machst du denn?“ fragte er.

„Hausaufgaben“, sagte der Vater.

„Du bist doch gar nicht mehr in der Schule. Aber cool, Du kannst meine machen, ich

hab’ noch ‘ne Rave-Party.“

Seufzend machte sich Gottlieb G. an die Hausaufgaben des Sohnes.

„Na, Hausaufgaben gemacht?“  rief am nächsten Morgen Friedhelm F. Gottlieb G.

auf der anderen Seite der Straße wieder zu.

Gottlieb G. nickte.

„Sehen Sie, nur so kommen wir weiter“, sagte Friedhelm F. ermunternd und ging,

beschwingter Studienrat, durchs Portal des Städtischen Gymnasiums in Z.

 

 

„Das  Ende der Fahnenstange ist erreicht“, rief  der junge  Heinz H.

fröhlich seinem Vater vom Ende der Fahnenstange aus zu.

„Gut, mein Junge“, rief der Vater zurück, „dann darfst du oben bleiben.“

 

 

„Ich denke positiv.“

„Wie zeigt sich das?“

„Ich halte z.B. den Satz: ‚Moderne Telekommunikation macht das Leben

 leichter’ für eine Information.“

„Und wenn Sie negativ dächten ?“

„Dann hielte ich ihn für Schwachsinn.“

 

 

VOM (EINSTIGEN) LEBEN

 

Vom (einstigen) Leben: 1976 – 1979

 

Nach der Rückkehr aus den USA ist es zunächst ruhig. Wir fahren an den Luganer See. Der PEN tagt, die Studienreformkommission muß versehen werden, Emrich kommt zu einem Gastvortrag, dann Herr Magris aus Triest. Mit dem Kritiker J.P. Wallmann gründe ich einen Literaturkreis, der es bis heute, also 33 Jahre, miteinander aushält und die unterschiedlichsten Literaten zu Lesungen einlädt. Im Institut berichtet Frau Ritter-Santini als geschäftsführende Direktorin den Direktoren davon, daß die Akademischen Räte sich weigern, bibliothekarische Arbeiten  und Proseminaranmeldungen zu übernehmen. Wenn es dabei bleibt, sollen sie einen Brief mit dienstlicher Anweisung bekommen. Im Ferienkurs halte ich einen Vortrag  über Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Dann reisen wir nach Dänemark, besuchen auf der Hinfahrt die Familie Mannack. Er war früher Oberassistent in Berlin und ist jetzt Ordinarius in Kiel.In Dänemark redigiere ich eine Spiegel-Analyse, an der ich mit fünf Studenten vier Jahre gesessen habe. Nach der Rückkehr in M. einer der typischen Universitätskonflikte. Ich soll das Dekanat übernehmen, für das ich mir vorher in einer Abstimmung im Kollegenkreise die Zustimmung gesichert habe. Aber aus irgendwelchen Gründen will mein Vorgänger mir den Anfang schwer machen, verheddert sich jedoch, so daß die ganze Angelegenheit possenhafte Züge annimmt. Dann gibt es Querelen wegen der Einladung von Liller Kollegen, wegen eines Gesprächs mit einem Prorektor über einen sogenannten Notzuschlag auf Zeit  für die Lehre in bestimmten Fächern, zu denen wir als Massenfach natürlich gehören. Dann Streit über die Reduzierung von Lehrverpflichtungen wegen meiner Arbeit in der Studienreformkommission, an dem auch der Rektor teilnimmt, weiterer Streit mit den Räten. Aber immerhin gelingt es mir auch, die lange Auseinandersetzung über den Finanzschlüssel für den Fachbereich beizulegen. Daneben Angelegenheiten des Lehrstuhls, Gespräche, Briefe, Direktorenbesprechungen, Senatssitzungen, schließlich auch Vorlesungen, Seminare, die Vorbereitungen für ein Seminar in unserem Landheim in Rothenberge und  eine Habilitation, die Gutachten erfordert und diese zu einem Gesamtgutachten verbinden soll. Die Kandidatin fand ich in M. vor. Sie legte eine interessante Studie über die Redeform barocker Trauerspiele vor. Wegen ihres Vortrags und der Diskussion danach wird sie nicht akzeptiert, bekommt aber die Möglichkeit der Wiederholung, die sie nicht wahrnimmt. In der Studienreformkommission gibt es den üblichen Ärger mit Ministerien und stundenlanges Palaver über Themenbereichskataloge, die schon dreimal durchgehechelt wurden, zweimal davon in drei Durchgängen.

Alles mögliche Somatische stellt sich bald ein.

So sehen (resumiert) die jahrelangen Überforderungen aus, die das Ministerium allenfalls achselzuckend registriert, wahrscheinlich aber erfreut, da es dadurch davor bewahrt bleibt, selbst molestiert zu werden. Zu Vorträgen nach München und Wien. In München mit Rasch, Jenaczek, Fink gesprochen, in Wien mit Hans Weigel, G.Anders  und Eduard  Hartl, der mir vom Kraus-Nachlaß erzählt und einiges zeigt. Er spricht sehr gut über Helene Kann, die schöner und bedeutender als Sidonie von Nadherny gewesen sei und sich 25 Jahre Kraus gewidmet habe. Sie habe ihm, Hartl, das Manuskript der letzten „Fackel“ anvertraut, und zwar nach dem Einmarsch der Deutschen. Das sei mit Diplomatengepäck ins Ausland gegangen, aber verschollen. Er habe aber noch und wolle mir übergeben alle 20 Fassungen von „Wichtiges  von Wichten“(Die Fackel Nr. 917 - 922). Das geschieht aber nicht. Essen mit G:Anders, der völlig von der Atomfrage eingenommen ist, er wache mit den Worten „Hiroshima, Vietnam“ auf, sei wieder tätig geworden im Zusammenhang mit den Reaktorkontroversen. Er erzählt von seinen Anfängen, seiner Promotion bei Husserl, der Hegel gar nicht gelesen habe, dem späteren Versuch, sich bei Tillich zu habilitieren. Er spricht von Benjamin, der Brecht nie etwas von seinen kabbalistischen Interessen mitgeteilt habe. Nachmittags bei dem Burgschauspieler und Kraus-Bibliographen Otto Kerry.

Klassentreffen 25 Jahre nach dem Abitur: 23 von 29 erscheinen, heute dickliche und halbkahle Männer, zwei sind tot, einer wird als drogen- und alkoholabhängig genannt. Ich halte eine kleine ‚bestellte’ Rede, bei deren Konzeption mir erst klar wird: uns war die Schule trotz oder wegen unserer Überalterung nicht so wichtig, wie sie heute genommen wird. Die Paradoxie daraus: trotz der Lehrer-Schüler-Kameraderie gibt es heute viel mehr Streß.

Die alte KWV trifft sich bei W.H. in M.: die meisten habe ich 15 Jahre nicht gesehen. J.T., Bibliotheksdirektor in Ludwigshafen, emsig und mit Details operierend, H.H., Physikprofessor in Bochum, sehr still, mit plötzlichem skurrilen Einfall, K.R., an einem Zigarillo saugend, ansprechbar v.a. auf seine Grafik, A.N. vom ZDF, mit allerhand Kinkerlitzchen, aber glänzendem Gedächtnis, G.V., etwas streng, wohnt und arbeitet in R., mit drei Kindern und ihrem Mann, einem psychologischen Ordinarius, L.K. hat sich gut bewahrt, ich sehe sicher viel älter aus, H.S., der als Single und ohne Abschluß in B. lebt, schließlich W.H. als Gastgeber (mit seiner Frau) und Studiendirektor.

Im Hochsommer sind wir für ein paar Tage in Budapest von Berlin aus. Aberwitzige  Bürokratie, für ein Visum, das auf der Strecke von West-Berlin bis zum Flughafen Schönefeld gilt, sind längere Anträge und zwei Paßbilder erforderlich, an der ‚Grenze’ wird der Autobus gestoppt, ein Volksarmeeoffizier kommt mit ‚Bauchladen’ und kontrolliert usw. usw. In Budapest ist von all dem wenig zu spüren. Die Stadt zeigt sich als die eines ‚westlichen’ Balkans: sehr lebhaft, mit großem Verkehr, wohlversorgt mit Lebensmitteln. Wir wohnen im Gellert mit vorzüglichem Service, ordentlichem Restaurant, ganz und gar bürgerlich, im wesentlichen von westlichen Ausländern besucht, die so herumlaufen wie überall und den Verfall jedes Kleidungscomments für salopp halten. Erstaunlich, wie schön die Stadt ist, obwohl zum überwiegenden Teil aus dem 19. Jahrhundert. Das Warenangebot in Konfektion, Schuhen etc ist aber erbärmlich. Ein Facharbeiter verdiene, hören wir, zwischen 3000 und 4000 Forint (= 225 – 300 DM). Nach der Rückkehr  gleich heftige Sitzung in der Studienreformkommission, deren Auseinandersetzungen schon vor den Ferien begonnen haben. Ich mache ein Sondervotum, weil plötzlich alles Bisherige hinsichtlich der Literaturobligatorik über den Haufen geworfen wurde. Nun solle Mittelalter wieder für alle SII – Lehrer verbindlich sein. Außer der Sache moniere ich auch die Entscheidungsform, da einzig die Hälfte der Stimmen ‚ja’ zu dieser Regelung sagt und sich nur eine Mehrheit ergibt durch die Zweitstimme des Vorsitzenden. Außerdem wird die Entscheidung hauptsächlich durch Nichtgermanisten getragen. Unter dem Druck der ‚kompakten Majorität’, die die Atmosphäre in der Kommission beschwört, ziehe ich einige Passagen des Sondervotums zurück, was lebhaft beklatscht wird.  Auf der Rückfahrt höre ich im Radio von der Entführung  des Arbeitgebervorsitzenden Schleyer und dem Tod von vier Begleitern. Wieder einmal das Gefühl,  als krieche Unabwendbares heran, aber an den nächsten Tagen etabliert sich das Nebeneinander  von Schreckenszeichen und automatisiertem Alltag. Konflikt mit einer Assistentin, die mir empfohlen wurde, aber nach fast vier Jahren kein Konzept für eine Habilitation vorlegen kann, das mehrfach angefordert wurde. Das Jahr des Dekanats ist um. Manchmal ist es so, als stehe die Welt Kopf: die Entführung Schleyers, dann die der Lufthansamaschine, die Rettung der Geiseln, der Selbstmord der Baader-Meinhof-Gefangenen, die Ermordung Schleyers. So viel Gewalt, so viel Blut  Im Oktober ’77 Kleists 200. Geburtstag: so schrecklich wie richtig ist dieser Zusammenhang. Ende November spreche ich im M’r Rathaus über Kleist, kurz darauf in Berlin. Reiner Kunze kommt in den Literaturkreis, bald darauf gewinnen wir Ernst Meister.

Vorträge in Straßburg und Paris über Heinrich Mann, Besuch bei der Familie Schmidt-Henkel, die ich aus Berlin kenne; er ist Ordinarius in Saarbrücken. Nach einer infamen Spiegel-Glosse herrscht öffentlich absolute Stille über das Spiegel-Buch. Es ist immer das gleiche. Der kritische „Spiegel“ ist immer empfindlich, wenn es um ihn geht. Im März 1978 Flug nach Ibiza, zur Urbanization „La Siesta“: schönes Frühlingswetter, noch kein Touristenboom. Ich lese M. Walsers neues Buch „Ein fliehendes Pferd“, die Erzählung von zwei Scheiternden, nur die beiden Frauen sind jenseits des Lebens als Schein und Untergang. Irgendwann im Frühjahr erzählt mir meine alte Patentante G, die sich den Oberschenkel gebrochen hat, aus ihrer Kindheit ganz am Anfang des Jahrhunderts. Sie habe eines Abends gehört, wie ihres Vaters Pfeife heruntergefallen sei und er laut und stark geweint habe. Er hatte für 90 000 Mark ein neues Geschäftshaus auf dem Sonnenwall in D. gekauft, konnte die Wohnungen und das Ladenlokal aber nicht vermieten (der S. war noch keine Geschäftsstraße), stand vor dem Bankrott. Sein sehr reicher Schwager, der Bauunternehmer G., half ihm nicht, hielt ihn für hochmütig und luxurierend, weil er einmal im Jahr eine kleine Reise mit dem Fahrrad machte.

Wenige Tage später stirbt sie, über 90 Jahre alt. Ein Schüler, der eine interessante Dissertation geschrieben hat, die meine wohl fortsetzen und steigern soll, erklärt „Gleichgültigkeit“ als bestimmendes Gefühl. Im Frühjahr 1979 Beginn des Hausbaus in S. Um ihn kümmert sich vor allem R.,  für die es manchmal  zu viel wird. Das Richtfest  findet an einem vollkommenen Regentag statt. Herr Böschenstein aus Genf, den ich als Assistenten von Killy aus Berlin kenne, trägt vor, außerdem Hinderer aus den USA, David aus Paris, Ueberschlag aus Lille, Cases aus Italien. Ich spreche in Paderborn. Ernst Meister stirbt: 67 Jahre: ein schwerer Mann mit schwerer Zunge, anders als das zeitgenössische Geschlecht. Mitte des Jahres  werden wir zum Kanzlerfest in Bonn eingeladen, weil in Adenauers erstem Arbeitszimmer im Museum König Martin Held u.a. Fabeln von mir liest. Als er hört, daß wir in Berlin waren, fragt er, ob wir fleißig ins Theater gegangen seien. Das meiste des Fests ist ödeste Provinz, Schützenfest, wo die Hauptleute Genscher und Apel heißen. Im Gärtchen hockt Herr Wapnewski vor dem alten Carlo Schmid auf dem Rasen, Scheel hat sich die Marke einer Wurstfirma angesteckt. E.Sch. schickt zwei Rezensionen über das Spiegel-Buch, er fällt v.a. über N’s Beiträge her, als sei jemand auf einer Untat ertappt worden. Sch. hat jahrelang mit mir korrespondiert, will mir nun sein politisches Mißtrauen aussprechen, weil ich in Salazars Portugal war. Berichte aus dem Kambodscha Pol Pots.Nun nach dem Ende des Schlachtens gibt es eine riesige Hungersnot unter dem vietnamabhängigen Regime. Keine Regierung kümmert sich darum, kein Volk. Ich schreibe verzweifelt an einige ‚Größen’, so an Helmut Schmidt, Carter, Waldheim, sogar an den Papst, länger auch an Genscher wegen der völlig wahnsinnigen Abstimmung in der UNO, dabei natürlich  das Gefühl vollkommener Absurdität.In den Nachrichten heißt es, der Papst habe vor der UNO auf Auschwitz hingewiesen und von Konzentrationslagern in vielen Ländern gesprochen.

Ende Januar 1980 Einzug in das neue Haus, der uns natürlich wochenlang in Atem hält. Vor zwei Jahren Gezeichnetes hat sich in Stein, Putz, Raum umgesetzt. Das Politische, das allen allmählich als universelle Veränderung in die Knochen steigt, legt sich auf alle freundlicheren Gefühle. Als Geschäftsführender Direktor habe ich  seit längerem das Vergnügen mit dem Lehrbeauftragten Dr. Scheibe, der ein Seminar über P.P. Zahl halten will, einem zeitgenössischen Schriftsteller, der nur gewählt wurde, weil er im Gefängnis sitzt. Ich untersage das als alleiniges Thema, weil Z. zu unbedeutend sei, biete Herrn Scheibe aber an, ihn im Zusammenhang eines Seminars über deutsche Lyrik nach ’45 zu behandeln. Darauf gibt es die üblichen inszenierten Proteste, eine ASTA-Großveranstaltung und einen fahrlässigen und dummen Artikel von Fritzchen Raddatz, der mich als einen „n a m e n losen Professor n a m e n s A.“ bezeichnet, um seine Dummheit  auch ganz deutlich zu machen.  Das war der Höhepunkt einer Affäre, die sich für meinen Amtsvorgänger und mich seit 1978 hinzog. Auf der Großveranstaltung  spricht u.a. der Germanist Leo Kreutzer, dem ich  einen Offenen Brief schicke, in dem ich zunächst breit die ganze Affäre darstelle, zum Schluß aber auf das Exemplarische des Casus und der Kreutzerschen Beiträge zu ihm hinweise. Da  dies ein spätes Zeugnis einer über elfjährigen Auseinandersetzung  in der Universität ist, das die Germanistik dieser Jahre charakterisiert, sei es hier ausführlicher zitiert:

 

Sie dekretieren zunächst, wie ein Satz zu lesen sei. Nämlich der Satz: „Eine Begründung für die Erteilung eines Lehrauftrages war also unter literaturwissenschaftlichen und propädeutischen Gesichtspunkten nicht möglich.“ Der heißt nach Ihrer „aufmerksamen“ Lektüre plötzlich so; „[… ]  eine Begründung für ein Proseminar über Peter Paul Zahl [war] […] auch deshalb nicht  möglich[…], weil dieser Autor zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden [ist]“. Nun steht aber für jedermann, der nicht nur seine Vorurteile bestätigt wissen will, lesbar da: als einziger Gegenstand eines literaturwissenschaftlichen Proseminars, das Einführungsfunktion hat, ist das (bisherige) Werk von P.P. Zahl nicht geeignet, weil es literarisch und propädeutisch nicht relevant genug ist; die von Herrn Dr. Scheibe in seiner Ankündigung ausdrücklich erwähnte „Inhaftierung“ von Zahl hat mit seinen literarischen Arbeiten, wie die Formulierung „inhaftierter Schriftsteller“ vermuten lassen könnte, nichts zu tun; sein Fall ist also z.B. nicht exemplarisch für Zensur; daher können weder Werk noch Inhaftierung für die Begründung eines Antrages herangezogen werden. Die Lesart: weil Zahl im Gefängnis sitzt, kann kein Lehrauftrag beantragt werden, ist schon bei einer immanenten Interpretation der von Ihnen zitierten Sätze unmöglich, abgesehen davon, daß sich eine solche von Ihnen erschlichene Lesart ausschließlich und völlig unlogisch auf einen der zwei genannten Gründe  für die Unmöglichkeit, einen Lehrauftrag zu beantragen, bezieht.

 

Aber hier geht es nicht nur um eine willkürliche und widersinnige Interpretation, sondern um eine bewußte Unterschlagung. Denn der von mir zusätzlich  zitierte Satz, der sich unmittelbar an das von Ihnen Zitierte anschließt und den Sie doch genau gelesen zu haben behaupten, hätte selbst Ihre Interpretationskünste zunichte gemacht. In diesem Satz wird ja völlig eindeutig gesagt (was im übrigen auch längst bekannt war), daß Arbeiten Zahls selbstverständlich in einem Seminar in Münster  behandelt werden können, abgesehen davon, daß sie zu der Zeit, als Sie Ihre infame Behauptung aufstellten, von Herrn Scheibe in „akademischer Lehre“  behandelt wurden […]Die ganze Entrüstung, die Sie dem bewußt verkürzten und so willkürlich wie unlogisch interpretierten Zitat nachschicken, ist mithin nichts als Applaus- und Erfolgssucht. Sie, Hochschullehrer der Germanistik, hatten nicht einmal Erich Frieds [der ebenfalls sprach] ehrliches Vorurteil, das immerhin noch den von Ihnen unterschlagenen und Ihre insubstantiellen Argumente zerschlagenden Satz erwähnt, wenn natürlich auch so, daß er sein Vorurteil bis zuletzt durchhalten konnte. Sie aber sind dafür alsbald bei den erstaunlichsten Perspektiven: Sie lesen – wider besseres Wissen und Gewissen -, Zahl dürfe in Münster nicht in „akademischer Lehre“ behandelt werden, weil er im Gefängnis sitze; Sie folgern aus Ihrem Schwindel, damit betrachte sich die „Leitung eines Hochschulinstituts“ „in ihren wissenschaftlichen Entscheidungen in aller Offenheit als nachgeordnetes Organ staatlicher Instanzen“; Sie bescheinigen sich dann noch rasch selbst, Sie neigten nicht „zur Hysterie“, finden aber etwas, das Sie fingieren, ‚äußerst alarmierend’; gleich darauf ist diese Fiktion Ihnen schon ein Beleg für die Fortsetzung der „bedenklichen politischen Vergangenheit“ und der „schlimmen Traditionen“ des Faches Germanistik. So sieht die „rationale Auseinandersetzung“ eines Hochschullehrers der Germanistik aus, der „genau gelesen“ hat! Sie könnten sich selbst und Ihresgleichen gar nicht besser deuten denn durch die Sätze: „Ich gehöre einer Generation von Germanisten an, die in der Werkimmanenz der 50er und frühen 60er Jahre wissenschaftlich sozialisiert  worden ist. Die bedenkliche politische Vergangenheit, der wir uns verschrieben hatten, stand nicht zur Debatte. Uns hatten, als wir darangingen, spät, uns mit dieser Vergangenheit zu befassen, eine Menge Schuppen von den Augen zu fallen.“ (Hervorhebungen von mir, H.A.)

 

Das ist wirklich ausgezeichnet gesagt. Zum ersten: Ihre  „wissenschaftliche Sozialisierung“ (denn diese kleine Variante müssen Sie mir schon gestatten) macht den Vorgang als zeitgenössischen und exemplarischen deutlicher, als wenn man von Sozialisation spräche, was ja nur ein Euphemismus für „Anpassung“ ist. Die Werkimmanenz hat Sie also wissenschaftlich sozialisiert! Wie hat sie das nur gemacht? Da mußte sich doch wohl jemand sozialisieren lassen. Und das muß in der Tat, zweitens, immer jemand sein, der sich „verschrieben“ hat: schlechthin und weniger einer als der Disziplin. Gestern wie heute. Natürlich war es gleich eine ganze „Generation Germanisten“, für die Sie, sehr geehrter Kollege, sprechen; und schließlich fielen Ihnen die Schuppen von den Augen.

 

Ja, in der Tat, von diesen wissenschaftlich Sozialisierten, die sich verschrieben hatten und denen dann – exakt zu der Zeit, als es in den Universitäten laut wurde - die Schuppen von den Augen fielen, kenne ich eine ganze Reihe: Ich sehe sie alle vor mir, diese schnell Gewandelten, immer neu Sozialisierten, die sich unablässig wieder verschreiben und verschreiben werden: mit jeder Handbewegung und jedem Satz. Aber trotzdem darf man sich nicht gleich in einer ganzen Generation verstecken. So weit liegen unsere Geburtsjahre  ja nicht auseinander, daß ich mich nicht an die Zeit, in der Sie sozialisiert wurden und sich verschrieben hatten, genau erinnern könnte. Nein, niemand wurde damals wissenschaftlich sozialisiert, außer dem, der es wollte; niemand mußte sich einer Disziplin verschreiben, es sei denn, er tats von sich aus; niemand mußte mit Schuppen vor den Augen herumlaufen, es sei denn, er habe sie sich selbst aufgeklebt. Sicher konnten – gestern wie heute – die Unsozialisierten Unannehmlichkeiten haben, aber das muß man - stellen Sie sich vor – in Kauf nehmen, wenn man die Freiheit beansprucht, mit dem eigenen Kopf zu denken. Man kann dann weder in der Zeit noch bei der „Zeit“ etwas werden, das ist richtig – aber wollen Sie das partout?

 

Und wem außer den sozialisierten Zeitgenossen und „Zeit“-Genossen können Sie denn einreden, daß Ihnen die Schuppen von den Augen gefallen seien, und gleichzeitig verschweigen, daß sie dafür Bretter eingetauscht haben? Denn wie anders wäre es erklärbar, daß Sie diese Schwindelrhetorik Ihrer Analysen für ernsthaft halten, daß Sie eine völlig blödsinnige „Empfehlung“, in welcher Sprache und Literatur als „Anwendungsgebiete“ für linguistische bzw. literaturwissenchaftliche Methoden gelten, als etwas ausgeben, das ausgerechnet in meinem Denken irgendeinen Platz hätte?

 

Und wie anders wäre es schließlich erklärbar, daß Sie eine Äußerung Zahls, die psychologisch verstehbar sein mag, als „höchst bedenkenswert“ einstufen, nämlich „Knast [sei] auf einer anderen Ebene eine Metapher für die Bundesrepublik Deutschland“.

 

Wer so redet, Hochschullehrer der Germanistik, Beamter des Landes Niedersachsen, der Monat für Monat sich von der „Knastdirektion“ sein C3- oder C4-Gehalt auszahlen läßt, wer so dahinredet, d.h. Sätze über die Lippen bringt, die bei jeder Vorstellung von Auschwitz, soweit sie nicht zu der Formel „Faschismus“ degeneriert ist, voll Scham in den Sprecher zurückkriechen müßten, Sätze, die nur sich selbst durchstreichen könnten bei Namen wie Haiti und Äthiopien, Persien (gestern und heute) und Uganda, Zentralafrika und vor allem anderen Kambodscha (wo die KZ-Aufseher der einen Kommunisten ihre Gefangenen – nämlich große Teile der Bevölkerung – mit der Hacke totschlagen, während das die anderen mittels geplanten Hungers erledigen), wer trotzdem in solchen Sätzen unbeeindruckt weiterredet, dem ist vor keinem Urteil, keiner Begründung, keiner Interpretation bange und er wird es zweifellos weit bringen, ob nun als führender Kritiker oder als kritische Führungskraft. Denn nicht der biedere bürgerliche Opportunismus genügt ja heute für den, der an der tête des Fortschritts marschieren will, sondern hier ist der ganze Mann mit Haut und Haar und Herz und Hand gefordert, der den benötigten Schwindel, noch bevor seine Zustimmung von ihm verlangt wird, als Aufklärung begrüßt und als gesellschaftliche Wahrheit verkündet, ob nun in „improvisierten“ und sofort gedruckten „statements“ oder „in der Weise rationaler Auseinandersetzung“.

 

Natürlich antwortete der Angesprochene nicht, wohl aber Erich Fried, der eine Kopie des Offenen Briefs bekommen hatte. Ich muß zu einem Vortrag nach Lille, fahre dann nach Brüssel, um Mme Roth, die Vorsitzende der Musil-Gesellschaft, zu besuchen, und will anschließend nach D. fahren. Ab Mönchen-Gladbach ein Gefühl der Heimfahrt, linker Niederrhein, den ich hier kaum kenne. In D. im Bundesbahnhotel, Gang über die Königstraße, den Sonnenwall, in die „Laterne“, wo ich esse. Kurz bevor ich aufbreche, sehe ich an einem Nebentisch W.H. Am nächsten Morgen entdecke ich Zusammenhänge aus der Kindheitsumgebung Ecke Hansastr. und Mülheimer  Str., sehe den Papierwarenladen von L., in dem Mutter schon als Kind ihre Hefte gekauft hat, jetzt ist eine Änderungsschneiderei darin, doch die Eingangstür mit diagonal befestigtem Messinggriff ist noch da, und ich höre die Ladenglocke. Dann Königsberger Allee, früher Nürenweg, Martinstr., wo ich zum Kindergarten ging. An der Lutherkirche wird gebaut, schräg gegenüber die Gründerjahrvilla, in der nach ’45 der Gottesdienst stattfand, durch die Moltkestr.zur Duissernstr.: die katholische Elisabethkirche, schräg gegenüber noch das Ladenlokal, in dem ich als Volksschüler Griffel, Hefte, Schreibfedern kaufte. Ich  gehe nach 40 Jahren über den Hof der beiden (konfessionellen) Volksschulen. Am Hindenburg-, jetzt Duissernplatz nur noch Häuserreihen nach Nordwesten, als einziges Geschäft der Friseur H. Begucke in der Hansastr. den Asphalt, auf dem wir Roller fuhren, hier ging’s besser als auf dem letzten Teil der Hansastr., nach der Schreiberstr., der noch Kopfsteinpflaster hatte. Rechts um die Ecke der Autohof, aber die Wiese auf der anderen Seite  ist seit den fünfziger Jahren bebaut Ich  komme an den kleinen Platz Butlerstr./Wallensteinstr.: die Häuser noch immer ganz schön und gepflegt. Die Unterführung an der Aakerfährstr:dahinter lag das Gartengelände, wo der Kindheitsgarten war, das Gartenhäuschen mit dem umrankten Eßplatz davor. Ich erinnere Augustdüfte, rote Blumen und Johannisbeeren, suche den Luftschutzbunker, den sog. Zuckerhut, hinter den Häusern an der Falkstr, er ist abgerissen, die alte nach Urin riechende Unterführung auch. Ecke Falk- und Hansastr. das Hanseschiff an der Wand wie beim Bau der Häuser 1925/26. Die Haustüren, grün mit Messingbeschlägen, die Messingtürschildchen. An der Ecke Schreiberstr. gibt es kein Geschäft mehr, hier verkaufte Herr Nonn. In der Schreiberstr.aber ist auf der Seite unseres Blocks noch alles wie früher, der „Hof“, die Rasenfläche mit den alten Birnbäumen hinter unseren Häusern, eine Einfahrt zu einem Garagenhof, auf dem eine handbetriebene Benzinpumpe stand. Als kleinen Jungen hat man mich dort hochgehoben, damit ich über die Mauer sehen konnte und in der Ferne unser Haus mit dem Balkon. Jetzt muß ich mich ein bißchen recken und habe nach 45 Jahren wieder diesen Blick: für mich ohne allen Vergleich, für jeden anderen nichtssagend. Im Mai ist in Wien das Musil-Symposion, entschieden  weniger glänzend als  die Kraus-Tage vor sechs Jahren. Ich spreche über den Theaterkritiker Musil.Schöne Begegnung mit J.P. Stern aus London, nach der Tagung Treffen mit G.Anders. Er leidet schlimm unter Gelenkrheumatismus und Angina pectoris, hat aber ganz junge und lebendige Augen. Er erzählt vom letzten Abend mit Benjamin in Paris: es gab ein Stück Baguette und ein Ei. Am Tag des Staatsvertragsjubiläums essen wir im „Regina“, fast neben uns ißt mit seiner Frau der Bundespräsident Kirchschläger. Nach der Rückkehr schreibe ich mit Mühe an dem Aufsatz über Kleists „Homburg“, im April ist der erste Band des Musil-Kommentars erschienen. Im August fahre ich mit R. zum Germanistenkongreß in Basel, der am Sonntag beginnt. Schon am Montag habe ich vor etwa 120 Zuhörern mein Referat über „Literatur und Sprache“, das ganz gut läuft. Hinterher ein Gespräch mit dem Schweizer Anderegg, der sich  mit ähnlichem abgibt. Man spricht mit den Mannacks, den Böschenseins, später mit Frau Hoverland, Herrn Seeba, Herrn Maher aus Kairo, Herrn Wenzel von de Gruyter, den ich länger nicht gesehen habe.- Wir fahren nach Dornach, treffen im „Sanktuarium“ des Goetheanums Wenzel. Abends eine erfreuliche Gesellschaft bei Pestalozzis. Am Donnerstag gibt es einen wichtigen, etwas narzißtischen Vortrag von Frau Graham über Faust. Freitags mein Sektionsvorsitz  mit bescheidenen Referaten. Albrecht Schöne wird Präsident der IVG. Im Oktober bin ich zur Kur in Bad Ems: große, helle, warme Herbsttage, aber auch Nachrichten vom Terroranschlag in München und vom Iran-Irak-Krieg. R. hat sich mit den Folgen  der Auffahrt eines Autos herumzuschlagen. Musil-Vorträge sind in Berlin, Münster und Stuttgart zu halten.

 

 

NEUERSCHEINUNG:H.A., Sprache, Literatur und Literaturwissenschaft, Medien. Beiträge zum Sprachdenken und zur Sprachkritik. Frankfurt/M., Berlin etc: Lang 2009. (Literatur als Sprache. Hrsg. v. H.A., Band 16.) 241 S. Inhalt: Einleitung (Abstracts der Beiträge) – Objektiv/subjektiv. Ein Grundproblem der Wissenschaften und die Sprache – Sprache: Sprachlichkeit. Vorüberlegungen zum Sprachbegriff – Metaphernbasis – Sprachkritik – Sprachdenken. Die Stellung der Sprache in Philosophie, Literatur, Medien – Deutsche Sprachdenker vom 18 bis zum 20. Jahrhundert (Hamann und Herder, Humboldt, Romantik, Nietzsche, F.M. Müller, Benjamin, Heidegger) – Jürgen Trabant, Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens [Rez.] – Das Verhältnis von Tatsache und Sprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Das Ende deutscher Sprache und die Genese deutscher Rede. Ein Fragment – Öffentliche Rede: Sprachdenken /politische Rede/ Mediensprache. Literatur und Literaturwissenschaft: Sprachgemeinschaft. Die Aufgabe der Literatur in der Gegenwart – Literatur, Literaturwissenschaft und Universität – Die Sprache der Literaturwissenschaft als Anpassungsversuch – Literaturkritik? Annotationen zu einem Buch von Marcel Reich-Ranicki – Literaturwissenschaft und die Lage. Medien: Der Typus des Journalisten und seine Bewußtseinscharakteristika – Faktum, Nachricht / Meinung - Metaphorik und Mediensprache – Sprachbeherrschung (Aus: „Der Spiegel“ 28/1972) – Medienkritik und sprachkritische Ethik – Karl Kraus: Medienkritik von der Sprache her. Über die Notwendigkeit der Interpretation. (Bestellungen direkt beim Verlag)

 

Nummer 21 (März 2009) s. Archiv

INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Dritter Teil und Schluß). – VON DER GEGENWART: Ein Leserbrief – Dialog mit einer Bundeskanzlerin – Wie heißen die Ganoven, wie die dummen Kerle? – Bundesbahn und Mehdorn  -- Zürich zum Beispiel. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Fortgang in M. und Reisen 1973 – 1976.

 

Die Nummern 1 – 21 s. Archiv

 

s. Register der Nummern 1 – 20 „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen

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