Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

 Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 23 (November 2009)

 

 

 

INHALT: VON DER LITERATURWISSENSCHAFT: Wilhelm Emrich. VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert: 18. Jahrhundert (1720 – 1790), 1. Teil.- Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten, Teil II . VON DER GEGENWART: Karrieren - Reiseeindrücke: Durch’s Baltikum. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1980 – 1981 (Privat durch die DDR)

 

 

 

VON DER LITERATURWISSENSCHAFT

 

Wilhelm Emrich

 

Am 29.November 1909, also vor hundert Jahren, wurde Wilhelm Emrich geboren. Er starb am 7. August 1998. Am 24. August war seine Beerdigung in Berlin, vor der ich auf Wunsch des Sohns sprach „nach einem kleinen morgendlichen Requiem. Bei der Beerdigung waren gar nicht sehr viele Menschen., ich schätze 50 bis 60. Namens des Fachbereichs  sprach Gerd Bauer[...] Er ist Prodekan. Der Dekan Mattenklott sprach aus anscheinend persönlichen Motiven nicht. Nach der Veranstaltung kam er zu mir und lobte sehr. Natürlich hätte zumindest der Universitätspräsident da sein müssen.“

 

Zu Wilhelm Emrichs Tod

 

Wenn ich gezögert habe, dem Wunsch Herrn Hinderk Emrichs, hier zu sprechen, nachzukommen, so hatte das persönliche Gründe, die nicht zu erörtern sind. Doch einer, vielleicht der wichtigste, muß genannt werden: Die persönliche Beziehung zwischen Wilhelm Emrich und mir war schwierig von Anfang an. Das hatte nicht das geringste damit zu tun, daß ich während meiner fast zehnjährigen Assistentenzeit je das Gefühl gehabt hätte, ungerechtfertigt belastet worden zu sein, im Gegenteil: dank Wilhelm Emrich habe ich nicht wie viele meiner Altersgenossen unter der sogenannten Ordinarienherrschaft gelitten. Auch hat er mir beigestanden, als es galt, den Angriff eines seiner Kollegen abzuwehren, und er hat sich sensibel in Zeiten der Krankheit gezeigt. Welcher akademische Lehrer schließlich schreibt seinem Schüler nach der Lektüre eines seiner Aufsätze, er sei bis zu Tränen gerührt gewesen. Wilhelm Emrich konnte sehr spontan sein. Nein, man muß sich damit bescheiden, die Schwierigkeit der persönlichen Beziehung in dem zu sehen, was landläufig die Verschiedenheit der Charaktere genannt wird, eine Verschiedenheit, die sich schon im Äußeren manifestierte.

Aber jene betraf nicht einen Augenblick das feste Wissen des Zweiundzwanzigjährigen, der auf Empfehlung Walter Müller-Seidels 1953 nach Köln gekommen war, daß Wilhelm Emrich sein akademischer Lehrer sein werde. Und es hat nie einen Augenblick gegeben, in der ich diese Auffassung auf irgendeinen anderen bezogen hätte. Die ersten Vorlesungen Emrichs, v.a. seine Antrittsvorlesung, natürlich über Kafka, bewirkten diese Gewißheit. Hier war ein Ton, hier war ein Ernst, wie ich sie weder zuvor noch seitdem erfahren habe. Der dominante und berühmte Historiker Theodor Schieder, dessen Schüler auf vielen Lehrstühlen Deutschlands sitzen, begann seine eigene Vorlesung gleich nach Emrichs Antrittsvorlesung mit Bemerkungen der Bewunderung für den eben etablierten Extraordinarius: ein völlig einzigartiger Vorgang.

Was geschah in Emrichs Vorlesungen ? Eine Aura des Ernstes und der Intensität war spürbar, die sonst unbekannt waren, nichts mit dem hohen Ton „mir zur Feier“, wie er damals akademisch noch Brauch war, zu tun hatte, alles aber mit dem nachdrücklichsten Respekt vor den literarischen Texten. Die waren nicht philologische Übungsgegenstände, nicht ideologische Beweismittel, schon gar nicht postmodernes Spielmaterial, sondern zunächst Irritationen eines historisierenden Bewußtseins, das alles als gleich gültig konsumierte und nichts begriff. Emrich veranstaltete Bohrungen in die Texte, die nicht ins Unterbewußte führten, sondern im Gegenteil das Erkennende der Literatur freilegten, das ganz anders beschaffen war als das der Philosophie und der Wissenschaften, aber dennoch höchste Verbindlichkeit hatte. Er war anstrengend, weil die Sache Anstrengung erforderte. Und gerade das machte seine Faszination und seinen Erfolg aus, denn es gab in den fünfziger und sechziger Jahren Studenten, die sich fordern ließen. Dies klingt heute wie der Bericht aus einer anderen Epoche, und es ist dies wohl auch. Es ist nicht zu verkennen, daß auch schon in dieser Zeit das Ressentiment sich gegenüber dem Anspruch der Emrichschen Reflexion erhob, verdruckst meist und unartikuliert, sich rettend in sogenannte wissenschaftliche Bedenken, die das eigene Unvermögen zum Maßstab setzten. Seit 1967 wurde dieses Ressentiment frohgemuter, zeigte sich auch bei manchen, die in Emrichs Veranstaltungen gesessen hatten. Denn nun war die Gewißheit gekommen, die man z.T. aus der ungenauen Rezeption Emrichs gewonnen hatte, daß, da alles auf möglichst krude Weise politisch und gesellschaftlich expliziert zu werden hatte, das Denken Emrichs als idealistisch, als geist-ideologisch zu stigmatisieren sei.

Es waren schlechte Hörer, schlechte Leser Emrichs, die mit solcherlei Einsichten nun über ihn in die prächtige Zukunft des vollendeten Marschs durch die Institutionen fortschritten. Emrich hatte den Weg in die Literatur als den Weg in ein Bewußtsein beschrieben, das von der Last der Erkenntnis geprägt war, menschliche Geschichte erscheine immer schon als Widerspruch und manifestiere ihn umso mehr, je mehr sich das erkennende Subjekt von seinen Traditionen emanzipiere. Im Faust-Buch, im Kafka-Buch, in vielen seiner Aufsätze hat er diesen prinzipiellen Widerspruch dargestellt als einen, von dem die bedeutenden Texte der Literatur leben. Darin stand er gleichzeitig im Grundwiderspruch zu den Artikulationen seiner germanistischen Zeitgenossen und Nachfolger. Hatten die es in den Nachkriegsjahren zunächst mit dem ins Schöne verpackten Humanen, so kamen sie später zur Auswertung der Texte für die hämmernden Kaderschmieden, um schließlich resigniert zum postmodernen Getändel überzugehen. Dies war Emrichs Weg nicht. In einem späten Aufsatz beschäftigt er sich mit Stefan George, der zu dieser Zeit wieder einmal dem Konventikel überlassen blieb. Und er hob eben nicht auf den Formkünstler ab, sondern auf die radikale Kulturkritik Georges, die sich gegen Schulen und Universitäten, ja gegen unser gesamtes Bildungssystem mit seinen „demokratischen Bildungsidealen“ richte. Aber er lehnte es ab, dieser Radikalität in gängiger Rede das Faschistoide zu unterstellen, sondern liest sie als ein „unserem alles relativierenden, pluralistischen Bewußtsein“ absolut Fremdes und Unfaßbares.

Wie atemraubend war es darum, als nach vorausgehenden Andeutungen im Herbst 1996 unübersehbar wurde, daß Emrichs lebenslange Unangepaßtheit sich in mindestens einem Akt totaler Anpassung hatte aufheben lassen. Mich belastete die Lektüre eines Aufsatzes von Emrich aus dem Jahr 1943 schwer, der überschrieben war „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“. Er enthielt offenkundig mehrere Einschübe, die nicht von ihm stammten, aber das Ganze war seinem Stil und seiner Struktur nach ein Text Emrichs. Wenn es zu dieser Zeit durch eine fiktionale Arbeit und durch die zeitliche Nähe der Untersuchungen zum Fall Schwerte-Schneider zu Presseangriffen auf ihn kam, so war das für mich nicht sehr wichtig gegenüber der Belastung wegen des erwähnten Textes. Ein Besuch bei Emrich aus diesem Anlaß konnte dieses Dokument zwar nicht beseitigen, aber das Gespräch bei dieser Gelegenheit und mir dann zugänglich gemachte Spruchkammerprotokolle und Zeugenaussagen von 1948 lassen vieles in einem anderen Licht als dem der Presseverlautbarungen erscheinen. Es ist sehr zu hoffen, daß diese Dokumente wie auch die eben wieder aufgetauchten Briefe Emrichs an Oskar Seidlin aus den Jahren 1947 und 1948 in geeigneter Form veröffentlicht werden. Auch der zitierte Zeitschriftenaufsatz muß in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Emrich hat mir dazu gesagt, daß er eine Art Wohlverhaltenstext für einen Nazifunktionär war, der mit Grund ihm gegenüber mißtrauisch geworden war. Er sei keinesfalls für die Veröffentlichung bestimmt gewesen. Das macht das Gravierende der Äußerung nicht schwinden, aber es ist ein Indiz für sehr differenziert zu sehende Zusammenhänge, die bis zur Etablierung einer Widerstandszelle im Propagandaministerium gehen, von der Wilhelm Emrich auf mein Fragen sprach und die offensichtlich in Beziehung stand zu der in den Dokumenten genannten Roten Kapelle Harro Schulze-Boysens.

Wir stehen am Sarge eines Mannes, der gerade wegen seiner wissenschaftlichen, seiner denkerischen Entschiedenheit nicht unbetroffen sein konnte von den Verwirrungen  und Zerstörungen, die für dieses Jahrhundert wie für keines der geschichtlichen Zeit bestimmend waren. Wer könnte fordern, daß er sie ohne Brüche überstehen mußte? Aber insbesondere der Briefwechsel mit Oskar Seidlin, den ich dank Hinderk Emrich noch einsehen konnte, deutet darauf hin, daß er sie nicht verdrängt, daß er sie vielmehr bewußt erfahren und erlitten hat, daß für sein Leben nicht die Grundfigur der opportunistischen Anpassung, die heute gar als Menschenrecht eingeklagt wird, bestimmend war.

Die Wissenschaft von der deutschen Literatur, die deutsche Universität haben einen großen Mann dieses Jahrhunderts verloren, mit dessen Arbeiten, mit dessen Denken, mit dessen Leben sie sich noch lange werden auseinandersetzen müssen. Er war mein Lehrer. Wir werden nimmer seinesgleichen sehen.

 

 

VON DER LITERATUR

 

Deutsche Lyrik,  kommentiert

18. Jahrhundert (1720 – 1790), 1. Teil

 

Die Periode, der wir uns nun zuwenden, ist in sich zu uneinheitlich, als daß wir uns mit ihr ohne Rücksicht auf die historischen Abläufe beschäftigen könnten. Die Zeit von 1720 bis etwa 1790 umfaßt nach literaturwissenschaftlicher Terminologie die literarische Aufklärung, das literarische Rokoko, die Anakreontik, die Empfindsamkeit, den Sturm und Drang, den sogenannten Göttinger Hain. Lassen wir auch den Goethe des Sturm und Drang ausgegrenzt, so bleibt doch eine derartige Verschiedenheit des lyrischen Sprechens, daß wir die Gedichte anders vorstellen müssen, als das bei der Präsentation der Barock­lyrik geschehen ist, nämlich chronologisch.

Welch eine Veränderung nicht nur, nein, welche Verkümmerung des lyrischen Ausdrucks begegnet seit der Zeit um 1720, da doch eben noch Gedichte wie die Trostaria von Johann Christian Günther (1713) entstanden waren. Wir stehen vor einem Phänomen und einem Problem gleichzeitig, die sich mit ein paar geistesgeschichtlichen Kategorien, auch mit denen vom Paradigmenwechsel, nicht erklären lassen. Denn wenn man behauptet, die Vernunftkategorie werde nun auch für die Lyrik bestimmend, das aber bedeute, daß Prosa und rationaler Diskurs poetischem und metaphorischem Sprechen vorgezogen würden und sich daher auch die Lyrik der Prosa und der argumentativen Syntax annähere, so ist das zwar von eingängiger Plausibilität. Aber bedeutet das in einem, daß alle Autoren sich einem solchen Wechsel ohne weiteres unterwerfen oder daß lyrische Begabungen sich gar nicht mehr äußern?

Nein, hier scheint doch eher aus der Not eines evidenten Mangels poetischer Begabung die Tugend einer historischen Erklärung gemacht zu werden. Es ist ein Mangel, der sich immer wieder einmal zeigt (so auch heute), und es sind Erklärungen, zu denen unser Zeitalter eine besondere Neigung hat.

Statt zu erklären konstatieren wir, daß zwischen ca. 1720 und ca. 1750 die lyrische Produktion qualitativ stark absinkt, daß ab etwa 1750, seit dem Ereignis Klopstock, wir eine allmähliche Steigerung erkennen können, die in den Jahrzehnten zwischen 1770 und 1790 zu einem neuen Höhepunkt führt. Dies ist natürlich nicht mehr als ein Schema, an dem wir uns aber immerhin orientieren können.

In der ersten Phase der Aufklärung, die bis zum Anfang des Jahrhunderts zurückreicht, schreiben eine Reihe von Autoren Gedichte: so Canitz, Neukirch, Hunold, Brockes, ein bedeutender Mann wie Albrecht von Haller. Aber diese Produktionen sind fast ganz und gar historisch. Nur sehr wenige Gedichte sind es wert, sich ihrer außerhalb der histori­schen Aufmerksamkeit zu erinnern.

So schreibt der Hamburger Brockes eine lyrische Phänomenologie vor dem Hintergrund vernünftiger Theologie. Daneben aber erscheinen auch pietistische Tendenzen im evangelischen Kirchenlied, dann Geselligkeitslyrik und Anakreontik. Um die Mitte des Jahrhunderts nähern Versfabel und Verserzählung die Lyrik dem Epischen und Didak­tischen an.

Erst Klopstocks Oden und die frühen Lieder des jungen Goethe führen die Lyrik wieder zur gesanghaften Intensität. Ihnen folgen die einen in mehr antikisierender Form, die anderen in mehr volksliedhafter. -

Barthold Hinrich Brockes (1680 -1747) gibt zwischen 1721 und 1748 in neun Teilen seine Sammlung „Irdisches Vergnügen in Gott" heraus. Er ist einerseits ein Beispiel, wie nun auch in der Lyrik das Descartessche Prinzip des clare et distincte, des Deutlichen, Eindeutigen, der Begriffssprache sich durchsetzen will. Im Attribut des „Irdischen" aus Brockes' Titel ist dieses Prinzip noch herauszuhören, denn nicht mehr das Paradoxe, Gegensätzliche, der Widerstreit zwischen Himmlischem und Irdischem, Gegenwärtigem und Zukünftigem ist wichtig, sondern das umwelthaft Jetzige, das Faßbare, das Nützliche. Brockes führt es z.T. so in seine Lyrik ein, wie es einzig für Lyrik sinnvoll ist: als das Phänomenale, wir könnten auch sagen als Worte, die das Sichtbare und Greifbare sagen. Aber in den frühesten Gedichten ist auch noch etwas vom barocken Pathos, wie sich das noch sehr deutlich im ersten Gedicht hörbar macht, und es paßt dazu, daß es (noch) im Alexandriner erscheint. Das zweite, ganz phänomenorientierte hingegen zeigt sich in einem zwischen Vier-, Fünf- und Sechshebigkeit wechselnden Vers von latenter Prosahaftigkeit, wie er dann später bei Geliert und auch bei Wieland sich ähnlich in den Verser­zählungen wiederfindet.

Beide Gedichte zielen aber noch auf jenes „in Gott" des Sammlungstitels, als suchten sie die energische Wendung zum Alltäglichen, Nützlichen, auch Eindeutigen  mit  der metaphysischen Tradition zu versöhnen. Das erste Gedicht ist von 1721, das zweite von 1727.

 

 

DAS FIRMAMENT

 

Sir. XLIII. 1.

Man siehet Seine Herrlichkeit an der mächtigen grossen Höhe, an dem hellen Firmament, an dem schönen Himmel.1

 

Als jüngst mein Auge sich in die Saphirne Tiefe /

Die weder Grund / noch Strand / noch Ziel / noch End' umschrenkt

Ins unerforschte Meer des holen Luft-Raums / senkt' /

Und mein verschlungner Blick bald hie- bald dahin lieffe /

Doch immer tieffer sank: entsatzte sich mein Geist /

Es schwindelte mein Aug' / es stockte meine Sele

Ob der unendlichen unmässig-tieffen Höle /

Die / wol mit Recht / ein Bild der Ewigkeiten heisst /

So nur aus GOtt allein / ohn End' und Anfang / stammen,

Es schlug des Abgrunds Raum / wie eine dicke Flut

Des Boden-losen Meers auf sinkend Eisen thut /

In einem Augenblick / auf meinen Geist zusammen.

Die ungeheure Gruft des tieffen dunkeln Lichts /

Der lichten Dunkelheit / ohn' Anfang / ohne Schranken /

Verschlang so gar die Welt / begrub selbst die Gedanken;

Mein ganzes Wesen ward ein Staub / ein Punct / ein Nichts /

Und ich verlor mich selbst. Dieß schlug mich plötzlich nieder:

Verzweiflung drohete der ganz verwirrten Brust.

Allein / o heylsams Nichts! glückseliger Verlust!

Allgegenwärt'ger gott / in Dir fand ich mich wieder.

 

 

KIRSCH – BLÜHTE  BEY  DER NACHT

 

Ich sahe mit betrachtendem Gemüte

Jüngst einen Kirsch-Baum, welcher blüh'te,

In küler Nacht beym Monden-Schein;

Ich glaubt', es könne nichts von gröss'rer Weisse seyn.

Es schien, ob wär' ein Schnee gefallen.

Ein jeder, auch der klein'ste, Ast

Trug gleichsam eine rechte Last

Von zierlich-weissen runden Ballen.

Es ist kein Schwan so weiß, da nemlich jedes Blat,

Indem daselbst des Mondes sanftes Licht

Selbst durch die zarten Blätter bricht,

So gar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.

Unmöglich, dacht' ich, kann auf Erden

Was weissers ausgefunden werden.

Indem ich nun bald hin bald her

Im Schatten dieses Baumes gehe:

Sah' ich von ungefehr

Durch alle Bluhmen in die Höhe

Und ward noch einen weissern Schein,

Der tausend  mal so weiß, der tausend mal so klar,

Fast halb darob erstaunt, gewahr.

Der Blühte Schnee schien schwarz zu seyn

Bey diesem weissen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht

Von einem hellen Stern ein weisses Licht,

Das mir recht in die Sele stral'te.

Wie sehr ich mich an GOtt im Irdischen ergetze,

Dacht' ich, hat Er dennoch weit grös're Schätze.

Die gröste Schönheit dieser Erden

Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.

 

Eine gewisse Querstellung gegen die Tendenzen der frühen Aufklärung, des Rationalis­mus, zeigen, man könnte sagen, natürlicherweise die evangelischen Kirchenliederdichter, bei denen eine eigene und eigentümliche Kontinuität vom 16. bis ins 19. Jahrhundert erkennbar wird. Doch gibt es selbstverständlich auch ganz nachdrücklich aufklärerische Liederdichter. Dazu gehören aber Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf  (1700-1760) und Gerhard Tersteegen (1697-1769) nicht. Der erste, der Begründer der Herrnhuter Brüder­gemeine, ist durch seinen Pietistismus, der zweite, Kaufmann, Weber, dann Wanderpredi­ger am Niederrhein, ist durch seine Mystik vom Rationalismus getrennt. Die beiden Stücke dieser zwei Autoren sind Abendgedichte (1735 und 1745), sie stehen damit in einer thematischen Kirchenliedtradition (zu erinnern ist an Paul Gerhardts zitiertes „NUn ruhen alle wälder"), die sich im 18. Jahrhundert bald säkularisieren und einen Höhepunkt in Claudius' „Abendlied" finden wird. Beide sprechen ganz und gar nicht von einem „irdischen Vergnügen" im Sinne der Zufriedenheit im diesseitigen Leben. Beide erwähnen dieses Leben nur als fragwürdigen und als flüchtigen Moment, der im göttlich Ewigen aufgehoben werden soll und muß. Das ist eine barocke Perspektive, ja diese wird noch verändert zu einer Perspektive, in der das Irdische ganz und gar kein wesentliches, aber auch nicht (wie im Barock) ein gegensätzliches Element, sondern nichts als eine vordergründige Störung ist, die sofort auf das eigentliche Leben verweist.

 

ABEND-GEDANKEN

 

Du Vater aller Geister,

Du Strahl der Ewigkeit,

Du wunderbarer Meister,

Du Innbegriff der Zeit,

Du hast der Menschen Seelen

In deine Hand geprägt:

Wem kans an Ruhe fehlen,

Der hie sich schlafen legt.

 

Es ziehn der Sonnen Blicke,

Mit ihrem hellen Strich

Sich nach und nach zurücke,

Die Lufft verfinstert sich,

Der dunckle Mond erleuchtet

Uns mit erborgtem Schein,

Der Thau, der alles feuchtet,

Dringt in die Erden ein.

 

Das Wild in wüsten Wäldern

Geht hungrig auf den Raub;

Das Vieh in stillen Feldern

Sucht Ruh in Busch und Laub;

Der Mensch von schweren Lasten

Der Arbeit unterdrückt,

Begehret auszurasten,

Steht schläffrig und gebückt.

 

Der Winde Ungeheuer

Stürmt auf die Häuser an,

Wo ein verschloßnes Feuer

Sich kaum erhalten kann:

Wenn sich die Nebel sencken,

Verliehrt man alle Spuhr,

Die Regen Ströhm' erträncken

Der flachen Felder Fluhr.

 

Da fällt man billig nieder

Vor GOttes Majestät,

Und übergibt ihm wieder,

Was man von ihm empfäht:

Die gantze Kraft der Sinnen

Senckt sich in den hinein,

Durch welchen sie beginnen,

Und dem sie eigen seyn.

 

Das heist den Tag vollenden,

Das heist sich wohl gelegt:

Man ruht in dessen Händen,

Der alles hebt und trägt.

Die Himmel mögen zittern,

Daß unsre Veste kracht,

Die Elemente wittern;

So sind wir wohl bewacht.

 

Das Lied Tersteegens wird hier in der stark gekürzten Fassung zitiert, in der es Eingang gefunden hat in die Gesangbücher der späteren Zeit.

 

Aus: MORGEN UND ABENDOPFER

 

Mel.: Nun ruhen alle Wälder ...

[...]

 

6. Nun sich der Tag geendet,

Mein Herz zu dir sich wendet

Und danket inniglich.

Dein holdes Angesichte

Zum Segen auf mich richte,

Erleuchte und entzünde mich!

 

7. Ich schließe mich aufs neue

In deine Vatertreue

Und Schutz und Herze ein.

Die fleischlichen Geschäfte

Und alle fmstern Kräfte

Vertreibe durch dein Nahesein!

 

8. Daß du mich stets umgibest,

Daß du mich herzlich liebest

Und rufst zu dir hinein,

Daß du vergnügst alleine,

So wesentlich, so reine,

Laß früh und spät mir wichtig sein!

 

9. Ein Tag, der sagt dem andern,

Mein Leben sei ein Wandern

Zur großen Ewigkeit;

O Ewigkeit, so schöne,

Mein Herz an dich gewöhne,

Mein Heim ist nicht in dieser Zeit!

 

Nur über das Medium des Liedes sind diese Verse mit den folgenden von Friedrich Hagedorn (1708-1754) zu verbinden. Hagedorn war Hamburger Kaufmann, der nur in seinen „Nebenstunden", wie er sagte, dichtete, und zwar Lieder, Fabeln, Verserzählungen und Epigramme. Er ist für die Lyrik der dreißiger und vierziger Jahre vorbildhaft gewesen. Bei ihm finden wir eine heitere Zugewandtheit zum Irdischen, das Phänomenale ist nun Erscheinung vernünftiger und humaner Welt. Leicht und ganz melodisch schwingen Verse und Strophen dahin, neben oder nach denen von Brockes Zeugnis für die Möglichkeit lyrischen Sprechens aus aufklärerischem Geist. Der folgende Text wurde 1744 erstveröffentlicht.

 

 

DER MORGEN

 

[Melodie]

 

Uns lockt die Morgenröthe

In Busch und Wald,

Wo schon der Hirten Flöte

Ins Land erschallt.

Die Lerche steigt und schwirret,

Von Lust erregt:

Die Taube lacht und girret:

Die Wachtel schlägt.

 

Die Hügel und die Weide

Stehn aufgehellt,

Und Fruchtbarkeit und Freude

Beblümt das Feld.

Der Schmelz der grünen Flächen

Glänzt voller Pracht,

Und von den klaren Bächen

Entweicht die Nacht.

 

Der Hügel weisse Bürde,

Der Schafe Zucht

Drängt sich aus Stall und Hürde

Mit froher Flucht.

Seht wie der Mann der Herde

Den Morgen fühlt

Und auf der frischen Erde

Den Buhler spielt.

 

Der Jäger macht schon rege

Und hetzt das Reh

Durch blutbetriefte Wege,

Durch Busch und Klee.

Sein Hifthorn2 gibt das Zeichen;

Man eilt herbey:

Gleich schallt aus allen Sträuchen

Das Jagd-Geschrey.

 

Doch Phyllis3 Hertz erbebet

Bey dieser Lust:

Nur Zärtlichkeit belebet

Die sanfte Brust.

Laß uns die Täler suchen,

Geliebtes Kind!

Wo wir von Berg und Buchen

Umschlossen sind.

 

Erkenne dich im Bilde

Von jener Flur:

Sey stets, wie dieß Gefilde,

Schön durch Natur.

Erwünschter als der Morgen,

Hold wie sein Stral,

So freiy von Stolz und Sorgen

Wie dieses Thal.

 

Natur ist schön, weil sie vernünftig ist, und noch das Schreckliche der Jagd wird zum Liedvers und damit schön und vernünftig. Die Möglichkeiten dieses Sprechens schließen immer auch seine Problematik ein.

Von der Lyrik  in der Aufklärung sprechend müssen wir wenigstens andeutend auch etwas von der Art von Gedichten mitteilen, die besonders bezeichnend für die Zeit sind: Verserzählung und Versfabel. Beide kommen der Tendenz der Zeit zur Didaxe als der Hinführung des Menschen zur Vernunft durch prosaischen, argumentativen Diskurs entgegen. Nicht der breite Prosaroman, wohl aber die kurze, prägnante Erzählung, die anstelle des begrifflichen Diskurses „dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild" sagt (wie Gellert es am Ende einer Fabel postuliert), ist dafür geeignet. Und der Vers? Der ist gerade, wenn er sich denn der Prosa nähert, für diese Art von Didaxe besonders geeignet. Er kann besser als eine schwierige hypotaktische Prosa den intendierten Zweck pointierend und als Merkvers formulieren.

Ich nenne zwei Beispiele. Die über lange Zeit sehr beliebte Verserzählung „Die Ge­schichte von dem Hute" (1746), geschrieben von dem populärsten und wirkungsreichsten aller deutschen Aufklärungsdichter, von Christian Fürchtegott Gellert (1715 - 1769), und die Versfabel „Die Katze und der Hausherr" (1748) von Magnus Gottfried Lichtwer (1719 -1783), der unter Gellerts Einfluß schrieb. In beiden Gedichten geht es natürlich um eine Moral, ein Epimythion, das am Ende, wie es Geliert auch ausdrücklich behauptet, den Sinn des Ganzen resümiert, auf den Begriff bringt. Aber in beiden Fällen ist das fraglich. „Die Geschichte vom Hute" ist keineswegs nur als die Geschichte der Philosophie auszulegen und ihr Reiz liegt in den Versen, die in leichter Variation die Weitergabe des Hutes von Generation zu Generation fassen. Und Lichtwers Fabel hat, was das Katzenfest des Anfangs angeht, überhaupt nichts mit der Schlußsentenz zu tun. Nicht worauf die Fabel über sich hinaus verweist, ist wichtig, sondern die Vermittlung von Geselligkeit in einem Lied, das etwa so von Katzen spricht, wie Goethes „Hochzeitlied" von den Ratten.

 

DIE GESCHICHTE VON DEM HUTE

           

Das erste Buch

 

 

Der erste, der mit kluger Hand

Der Männer Schmuck, den Hut, erfand,

Trug seinen Hut unaufgeschlagen;

Die Krempen hingen flach herab;

Und dennoch wußt’  er ihn zu tragen

Daß ihm der Hut ein Ansehn gab.

 

Er starb, und ließ bei seinem Sterben

Den runden Hut dem nächsten Erben.

 

Der Erbe weiß den runden Hut

Nicht recht gemächlich anzugreifen;

Er sinnt, und wagt es kurz und gut,

Er wagt's, zwo Krempen aufzusteifen.

Drauf läßt er sich dem Volke sehn;

Das Volk bleibt vor Verwundrung stehn

Und schreit: „Nun läßt der Hut erst schön!"

 

Er starb, und ließ bei seinem Sterben

Den aufgesteiften Hut dem Erben.

 

Der Erbe nimmt den Hut und schmält.

„Ich", spricht er, „sehe wohl, was fehlt."

Er setzt darauf mit weisem Mute

Die dritte Krempe zu dem Hute.

„O!" rief das Volk, „der hat Verstand!

Seht, was ein Sterblicher erfand!

Er, er erhöht sein Vaterland!"

 

Er starb, und ließ bei seinem Sterben

Den dreifach spitzen Hut dem Erben.

 

Der Hut war freilich nicht mehr rein;

Doch sagt, wie konnt' es anders sein?

Er ging schon durch die vierten Hände.

Der Erbe färbt ihn schwarz, damit er was erfände.

„Beglückter Einfall!" rief die Stadt,

„So weit sah keiner noch, als der gesehen hat.

Ein weißer Hut ließ lächerlich;

Schwarz, Brüder, schwarz! so schickt es sich."

 

Er starb, und ließ bei seinem Sterben

Den schwarzen Hut dem nächsten Erben.

 

Der Erbe trägt ihn in sein Haus,

Und sieht, er ist sehr abgetragen;

Er sinnt, und sinnt das Kunststück aus,

Ihn über einen Stock zu schlagen.

Durch heiße Bürsten wird er rein;

Er faßt ihn gar mit Schnüren ein.

Nun geht er aus, und alle schreien:

„Was sehn wir? Sind es Zaubereien?

Ein neuer Hut! O glücklich Land,

Wo Wahn und Finsternis verschwinden!

Mehr kann kein Sterblicher erfinden,

Als dieser große Geist erfand."

 

Er starb, und ließ bei seinem Sterben

Den umgewandten Hut dem Erben.

 

Erfindung macht die Künstler groß

Und bei der Nachwelt unvergessen;

Der Erbe reißt die Schnüre los,

Umzieht den Hut mit goldnen Tressen,

Verherrlicht ihn durch einen Knopf

Und drückt ihn seitwärts auf den Kopf.

Ihn sieht das Volk und taumelt vor Vergnügen.

Nun ist die Kunst erst hoch gestiegen!

„Ihm", schrie es, „ihm allein ist  Witz und Geist verliehn!

Nichts sind die andern gegen ihn!"

 

Er starb, und ließ bei seinem Sterben

Den eingefaßten Hut dem Erben.

Und jedesmal ward die erfundne Tracht

Im ganzen Lande nachgemacht.

Ende des ersten Buchs

 

 

Was mit dem Hute sich noch ferner zugetragen,

Will ich im zweiten Buche sagen.

Der Erbe ließ ihm nie die vorige Gestalt.

Das Außenwerk war neu; er selbst, der Hut, blieb alt.

Und, daß ich's kurz zusammen zieh',

Es ging dem Hute fast wie der Philosophie.

 

 

DIE KATZEN UND DER HAUSHERR

 

Murner, eine Cyper-Katze

Gab unlängst den Gülde-Schmauß4,

Und ersahe sich zum Platze,

Eines Bürgers Wohnung aus.

 

Mensch und Thiere schliefen feste

Selbst der Hauß-Prophete5 schwieg,

Als ein Schwarm geschwäntzter Gäste

Von den nächsten Dächern stieg.

 

Murner kömmt, sie zu begrüssen

Führt sie drauf in einen Saal,

Und setzt jeden auf ein Küssen

Von dem feinsten Katzen-Zahl.6

 

Sechzig feiste Mäuse-Zimmel 7

 Machten die Versammlung satt,

Ob gespickt? das weiß der Himmel,

Jeder giebt, so gut ers hat.

 

Von der Mahlzeit gings zum Tantze,

Wo der Wirth sich hören ließ,

Und auf einem Ratten-Schwantze,

Manch verliebtes Stückgen blies.

 

Hintz, des ersten Schwieger-Vater,

Sang darein erbärmlich schön,

Und zween abgelebte Kater,

Quälten sich, ihm beyzustehn.

 

Jetzo tantzen alle Katzen,

Poltern, lermen, daß es kracht,

Zischen, heulen, sprudeln, kratzen,

Bis der Herr im Haus erwacht.

 

Dieser springt mit einem Stecken,

In den finstern Saal hinein,

Schlägt um sich, sie zu erschrecken,

Schmeisset einen Spiegel ein.

 

Stolpert über einge Späne,

Stürtzt im Fallen auf die Uhr,

Und zerbricht zwo Reihen Zähne,

Blinder Eyfer schadet nur.

 

Schon in Hagedorns Morgen-Gedicht gab es einen anakreontischen Ton: die Geliebte und ihr antiker Name Phyllis, die Landschaft als idyllisch abgeschlossene. Die deutsche Anakreontik beruft sich auf den griechischen Lyriker des 6. Jahrhunderts v. Chr. Anakreon von Teos, unter dessen Namen ein lyrisches Schreiben mit bestimmten Themen und Topoi zusammengefaßt wird. Es ist v.a. das Thema des carpe diem, des den Tag Genießens, es sind v. a. die Topoi von Wein und Liebe, von Freundschaft, Schäferleben und idyllischen Räumen. Die Gruppe der Anakreontiker mit Gleim, Hagedorn, Uz, zeitweise mit Klopstock, Claudius und dem jungen Goethe läßt sich recht gut bestimmen. Auch haben ihre Themen und Motive bis ins 19. Jahrhundert weitergewirkt. Es ist aus diesen und anderen Gründen sicher eine literaturgeschichtlich interessante Gruppe. Aber das von ihr Überlebende reduziert sich auf einige Verszeilen vielleicht. Es zeigt sich, daß bedeutende Lyrik nicht aufgrund thematischer Eingrenzungen und metrischer Konventionen entsteht.

„Der Schäfer" (1755), ein Gedicht von Johann Peter Uz (1720-1796), hat bereits einen ganz anakreontischen Titel und geht von dem alten Stadt-Land-Gegensatz aus.

 

 

DER SCHÄFER

            

Arkadien!8 sei mir gegrüßt!

Du Land beglückter Hirten,

Wo unter unentweihten Myrthen

Ein zärtlich Herz allein noch rühmlich ist!

 

Ich will mit sanftem Hirtenstab

Hier meine Schafe weiden.

Hier, Liebe! schenke mir die Freuden,

Die mir die Stadt, die stolze Stadt nicht gab.

 

Wie schäfermässig, wie getreu

Will ich Climenen9 lieben,

Bis meinen ehrfurchtvollen Trieben

Ihr Mund erlaubt, daß ich ihr Schäfer sei!

 

Welch süßem Traume geb ich Raum,

Der mich zum Schäfer machet!

Die traurige Vernunft erwachet:

Das Herz träumt fort und liebet seinen Traum.

 

 

Anmerkungen:

1  Sir.XLIII.1.: Zitat aus dem biblischen Buch Jesus Sirach, 43,1.

2  Hifthorn: das Jägerhom, mit dem der "Riff“, d.i. ein Signalton bei der Hirschjagd, geblasen wird.

3  Phyllis: Figur der gr. Mythologie; thrak. Königstochter, wird nach ihrem Tod in einen

    Baum verwandelt; beliebter Name in der Hirten- und Schäferdichtung.

4  Gülde-Schmauß: das bei Gilde- und Zunftversammlungen eingenommene Mahl.

5  Haus-Prophete: der Haushahn.

6  Katzen-Zahl: mundartl. Entstellung aus Katzenzagel (Kannenkraut); Art des

   Schachtelhalms, im Haushalt oft als Scheuermittel verwendet.

7 Mäuse-Zimmel: Mäuseschwanz, Mäuserücken (hier auch in Analogie zu

   Rehrücken).

8  Arkadien: Landschaft auf dem Peleponnes; mythisches Idealbild einer durch

   unberührte Natur und Ungezwungenheit ausgezeichneten Landschaft.

9  Climenen: Climene, gattungstypischer Name der Schäferpoesie seit der

   Renaissance.

 

 

Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten, Teil II

 

„Darf ich Sie zur Kasse bitten“, sagte ein Dunkler zu Herrn Flachsmann.

„Warum?“

„Das ist mein Text“, sagte der Dunkle.

„Ach so“, sagte Herr Flachsmann und wollte sich entfernen.

„Bleib hier“, rief der Dunkle, „und gib Cash auf Kralle!“

„Was?“ fragte Herr Flachsmann ziemlich verwirrt.

Da traf ihn ein harter Schlag.

„Sprachen lernen“, murmelte der Dunkle.

 

Der Regen hatte die Straßen in reißende Flüsse verwandelt.

Hugo trat ans Fenster.

„Der Regen verwandelt die Straßen in reißende Flüsse“, rief er seiner Frau zu.

„Wer verwandelt?“ sagte seine Frau schlaftrunken.

„Der Regen die Straßen.“

„In was verwandelt er sie denn?“  fragte sie und kam näher geschlurft.

„In reißende Flüsse, du siehst es doch, herrje“, sagte er laut und ungeduldig.

„Es regnet viel“, sagte sie, „die Straße steht unter Wasser. Hoffentlich kommt es nicht in unseren Keller. Man muß abwarten. Komm ins Bett.“

„In reißende Flüsse“, summte er, bevor er  in schwere Träume  hinüberglitt.

 

 

„Es  wird schwierig werden“, sagte der Bürgermeister am Anfang der Ratssitzung.

„Die Entfernung vom Fluß. Die Berglage der Stadt. Die Trockenheit seit langen Monaten. Aber wir werden alle Kräfte sammeln. Wir werden Sponsoren gewinnen.

Und wenn wir wirklich alle die Ärmel aufkrempeln, werden wir eines Tages das große Ziel erreicht haben: Unser Jahrhunderthochwasser !“

Alle klatschten.

 

Der  Schamverletzer Franz F. machte sich morgens auf den Weg, um wie gewohnt die Scham zu verletzen.

Da begegnete ihm der Hauptwachtmeister Z., hielt ihn an, zückte sein Meldungsbuch und sagte: „Ich nehme an, Sie sind der Schamverletzer F. - oder ?“

„Leider“, antwortete Franz F., „aber  was soll ich sonst machen ?“

„Es geht nicht anders, ich muß Sie wegen Schamverletzung fest- und mitnehmen, aber Sie sollten sich doch einmal überlegen,ob Sie nicht etwas anderes tun könnten ?“

„Wozu raten Sie mir denn?“ fragte Franz  F. ängstlich.

„Vielleicht versuchen Sie es einmal als Frührentner“, sagte Hauptwachtmeister Z., „Sie werden sehen, es ist gar nicht so schwer.“

Franz F. atmete auf. Sein  Leben hatte eine neue Perspektive bekommen.

 

Hans H.. saß mit seiner Familie am Frühstückstisch.

„Es ist mir nicht ganz klar...“, fing Hans H. an.

„Alles klar“, sagten seine Söhne.

„Na dann“, seufzte Hans H.

Seine kleine Tochter kam gelaufen. Sie bat ihn, ihr eine Rechenaufgabe zu erklären.

„Ist es dir nun klar“, fragte Hans H. nach einer Viertelstunde.

„Alles klar“, sagte seine Tochter.

Hans H. nahm seine Zeitung zur Hand.

„Na“, sagte seine Frau, die mit dem Staubsauger kam, „alles klar?“

„Ach nein, vieles bleibt unklar.“

„Alles klar“, rief seine Frau fröhlich und ließ den Staubsauger laufen.

Hans H. ging in seine Eckkneipe. Er bestellte wie immer ein Bier und

einen Klaren.

„Alles klar“, sagte der Wirt aufgeräumt.

„Wieso ?“ fragte Hans H. „Und alles ?“

„Dein Bier, dein Klarer, alles klar“, rief der Wirt.

„Gib mir mal deinen Revolver“, sagte Hans H.

„Gern“, sagte der Wirt, „alles klar.“

 

„Guten Rutsch ins neue Jahr“, hatte man Fritz Freitag gewünscht, auch: „Kommen Sie gut ‘rüber“ und „Guten Start“.

Fritz Freitag mühte sich seit Stunden. Aber jeder Rutsch mißlang, er kam nicht ‘rüber, Versuche zu guten Starts gingen immer daneben.

Abends war er erschöpft. Um 12 Uhr schlief er fest. Er mußte, schlimm, schlimm, im alten Jahr bleiben.

 

„Haben Sie wegen der Risiken und Nebenwirkungen schon mit Ihrem Arzt oder Apotheker gesprochen ?“

„Nur wegen der Risiken.“

„Und nicht wegen der Nebenwirkungen ?“

„Nein. Ist das schlimm ?“

„Sie müssen das sofort am Montag nachholen.“

„Wen soll ich denn fragen: meinen Arzt oder meinen Apotheker ?“

„Fragen Sie Herrn Kaiser, den netten Versicherungsberater, oder noch besser: fragen Sie Pastor Fliege.“

„Aber den gibt es doch nur im Fernsehen.“

„Eben. Wie die Nebenwirkungen.“

 

 

 

VON DER GEGENWART

 

Karrieren

 

An einem Donnerstagmorgen im Deutschlandfunk gibt es ein Interview mit einem Herrn Dieter Weirich, der überdies noch Professor ist und Journalist und bei der CDU-Bundestagsabgeordneter war und jetzt Kommunikationsdirektor bei Fraport ist. Es schwindelt einem, wenn man es nur hört. Das sei der Mann, hat sich offenbar der Mann vom Deutschlandfunk gedacht, der einem sagen kann, wie man in der Öffentlichkeit zu reden hat.

Er sagt es v.a. geläufig: z.B. seien Diplomaten sprachliche Überflieger, die zu sprachlichen Kompromissen neigten etc, Journalisten begriffen sich als Ersatzpolitiker, Politiker sollten mehr Farbe bekennen. Ist das nicht alles sehr wahr?

Dann: Journalisten sollten mitteilen, was eigentlich passiert sei. Und eine „einfache und verständliche Sprache“ sollten sie sprechen, sich „klar und deutlich  ausdrücken“. Nichts auf Kosten der Glaubwürdigkeit verlauten lassen. Wunderschön und gut.

Schließlich  kommen die beiden Sprecher auf Herrn Sarrazin, der doch sicher zu sagen meint, was eigentlich passiert ist, und dies in „einfacher und verständlicher Sprache“ „klar und deutlich“ ausdrücken will. Nun hat der aber etwas über die Türken gesagt, das nicht, sagt man, in die ‚kommunikative Landschaft’ paßt. Da würde nun Herr Weirich abraten, derlei überhaupt zu sagen, und er hätte die Empfehlung gegeben, die Klappe zu halten.

Also, kurz und gut: jederzeit soll man sich kompromißlos klar und deutlich ausdrücken. Aber wo kämen wir hin, wenn jeder sich kompromißlos klar und deutlch ausdrückte, statt die Klappe zu halten.

So muß man sprechen, um Kommunikationsdirektor zu werden.

 

 

Reiseeindrücke: Durch’s Balikum

 

 

Das deutsche Straßennetz, insbesondere das der Autobahnen, ist in einem deplorablen Zustand. Man kann nicht 10 km ungestört fahren.

Aber das kümmert weder die Regierung noch  die Opfer. Man wüßte zu gern, ob sich Frau Merkel, die offenbar vor allem an der Erhaltung ihrer Position interessiert ist, darüber je einen Gedanken gemacht hat.

Im Bus rollt man über all die Baustellen und sonstigen Blockaden einigermaßen überlegen hinweg, aber zwischen Bremen und Hamburg fühlt auch der Indolenteste einen Schmerz.

 

 

In Kiel ist es wie am Sonntag, obwohl es ein Dienstag ist.

Keine Menschen zu sehen. Am Ostuferhafen wartet die litauische Fähre, die uns nach Klaipeda (Memel) bringen wird. Es ist eine höchst angenehme und sonnige Fahrt.

Die Verpflegung allerdings ist eher arm. Wir steigen am nächsten Nachmittag in Memel aus. Das hat ein riesiges Hotel, dessen Rezeption in einem entlegeneren Haus ist. Man steht vor den Aufzügen als dem einzigen, das auf Humanes hindeutet. Hier soll man auf die Geschoßanzeige drücken, die man wünscht. Zuerst wird angezeigt, in welchen Lift man einsteigen soll. Im neunten Stock, wo wir wohnen, wird auf einem Plättchen avisiert, was man zu tun hat, wenn man weiter hinauf will. Kein Wort zum „abwärts“. Es ist ein wahrhaft moderner Aufzug. Es geht immer nur aufwärts.

Wir werden von einer Lettin, die gut deutsch spricht, durch das derangiert wirkende Memel geführt. Am hübschesten ist ein klassizistisches Palaischen, zweistöckig, in dem 1807/ 1808 Friedrich Wilhelm III. und Luise wohnten, am äußersten Rand ihres Königreichs. Das neue Ännchen von Tharau, von Memelanern gestiftet, steht wie das alte vor dem Rathaus. Im ganzen schimmert überall in der Stadt noch der sozialistische Charme durch. Die Russen, die für die Zeit 1945 bis 1990 verantwortlich sind, betrachten Städte wie Landschaften: sie wuchern.

 

Am nächsten Tag Besuch der Kurischen Nehrung, die nur eine Autostraße kennt, an die 100 km lang. Vom Kiefernwald ist vor ein paar Jahren viel abgebrannt. Das Thomas-Mann-Haus zeigt sich  in einem sehr ordentlichen Zustand und liegt schön auf einem Hügel, von dem aus man auf das Meer blickt. Ein junger  Mann namens Kohtz hat seit 1954 für Exponate gesorgt: nichts Überragendes, aber Familiäres. In Nidden geht es erst auf den Friedhof und werden später gefüllte Kartoffelklöße gegessen. Nidden und auch Schwarzort zeigen sich in ihren älteren Teilen blau und weiß.

 

Donnerstags ins litauische Land, auf der Autobahn kaum Verkehr. Irgendwo wird man von einem dicken Polizisten angehalten, der herausfindet, daß unser türkischer Fahrer vor Wochen in Italien(!) etwas falsch gemacht hat. Wir lassen uns von unserer lettischen Reiseführerin erklären, daß die Polizisten um ihre Stelle fürchten und mit derartigen Anzeigen ihre Unentbehrlichkeit demonstrieren.

Der sog. Berg der Kreuze liegt in einer stillen Gegend bei Schaulen und zeugt für Volksfrömmigkeit im 20. und 21. Jahrhundert. Aber gleichzeitig auch für die Verbindung des Frommen mit dem Säkularisierten. Auf einem Kreuz ist in deutsch eingetragen: „Erfolg, Gesundheit und alles Gute für Alex.“ Die wußten, worauf es allein ankommt und daß ein lieber Gott sich danach zu richten hat.

Die Landschaft ändert sich kaum, als wir über die lettische Grenze fahren. Jetzt sind wir in Kurland und fahren an dessen früherer Hauptstadt Mitau vorbei, die heute eine etwas langweilige Industriestadt ist. Bald sind wir in Riga.

Das Hotel wirkt asketisch. Am Abend gibt die amerikanische Botschafterin dort einen Empfang. Wir müssen darum in einem Konferenzsälchen essen. Ein alter theologischer Privatdozent aus Dortmund kann sich nicht genug tun mit der unfreiwilligen Komik der Achtundsechziger. Ich sage, uns seien die seinerzeit nicht komisch vorgekommen. Sie wirken halt immer noch nach: vierzig Jahre danach im Baltikum. Joschka wird das freuen.

 

Ich stelle fest, daß ich die Stadt vor acht Jahren besucht hatte: es ging um ein halbes Jahr an der Rigaer Universität. Da das aber im Winter gelegen hätte, wäre es doch unangenehm geworden. Ich sagte ab und ein pensionierter Mann aus Gießen  wurde gewählt. U.a. – so klein ist das Land – sprach man mit dem jungen Vizeaußenminister. Wir finden das damalige Hotel –„Konventhof“ - wieder und in dessen Komplex ein Haus namens Kampenhausen. Das ist mir damals gar nicht aufgefallen. Herr von C., ein Freund von M.W. und früherer Präsident der Hannoverschen Klosterkammer, Sohn des Heidelberger Kirchengeschichtlers, schrieb in dem Balticums-Merian, der uns zur Verfügung gestellt wurde.

Auch die Markthallen, in den Zwanzigern Zeppelinhallen, sehe  ich wieder, wo ein üppiges Angebot winkt, obwohl die Letten, heißt es, seit der Wirtschaftskrise kaum etwas zu beißen haben. Ich erinnere mich  jener Letten, die 1918 führende Kader der Bolschewisten waren. Und Asja Lacis, Benjamins Begehrte, war auch Lettin.

Sehr schön nach wie vor die Viertel, die man hier und wahrscheinlich freundlicherweise für die Deutschen „Jugendstil“ nennt, mit dem aber wenig zu tun haben. Es sind Häuser mit Art-Nouveau-Fassaden, üppig wie renaissancistische Bühnendekorationen und vielfach von dem Vater von Sergej Eisenstein entworfen. Kurz vor dem Verlassen des Viertels präsentiert sich ein delikates Gebäude, das ich aber, so macht ein lettischer Wachmann überdeutlich, nicht filmen darf: es ist die russische Botschaft, und der Befehl könnte unmittelbar von Putin kommen, dem in der Wolle gefärbten Demokraten Gerhard Schröders. Das wagen sie doch nur gegenüber einem Kleinstaat wie Lettland.Unter den Linden z.B. kann jeder natürlich den Klotz der russischen Botschaft filmen.

 

Am Sonntag die Rigaer Bucht entlang (wir waren damals noch in Jurmala, dem Rigaer Bad) und bis über die lettisch-estnische Grenze nach Pärnu, das gerade in den Winterschlaf zu sinken beginnt, im Sommer aber die estnische Mittelschicht beherbergen soll: im Ganzen sind’s ja nur 1,4 Millionen Einwohner, davon ein Drittel Russen. Wie sähe es aus, wenn es bei uns im Lande ähnlich wäre. In Pärnu gibt es ein Café Grand, das wie ein französisches Grand Café wirkt, aber ganz still ist.

 

Wir fahren weiter nach Tallinn, das wir Älteren bis 1945 nur als Reval kannten. Es wurden z.B. Zigaretten danach genannt. Die Stadt ist auch am Sonntag emsig. Wir werden ins Meriton Conference gebracht, das umfänglich ist. Einen Hauch von der baltischen Gesangs-Demokratie bekommen wir im Sängerfest-Stadion mit. Ein ungeheurer Bronze-Mann sitzt vor dem Halbrund. Er ist der estnische Gesangsmeister. Man denkt an die Bemühungen Herders zurück, Volkslieder zu sammeln, was dann Krisjanis Barons, ein Jahrhundert weiter, perfekter gelang. Aber v.a.denkt man daran, daß diese kleinen Völker, die sich nicht besonders mochten und mögen, 1989/90 sich zu 300 000 an die Hände faßten und singend den Koloß besiegten.

Gerade weil sie nicht ein Herz und eine Seele waren, was schon sprachlich auch gar nicht ginge, ist es bewundernswert, daß nach den schrecklichen Pressionen der Russen und der Deutschen sich die authentischen Einwohner der drei Staaten ein Herz faßten und ihre Freiheit ernst nahmen. Insgesamt sind es nicht einmal so viele, wie in Niedersachsen wohnen.

 

Aus Deutschland hört man, z.T. undeutlich, Wahlergebnisse. Bis auf FDP und Linke haben alle verloren oder stagnieren. Frau Merkel, obwohl sie wieder alles falsch gemacht hat, zeigt sich mit ihrem schönsten Lächeln und haucht, sie sei glücklich.

Und der bisher alberne Westerwelle kehrt den Staatsmann heraus.

 

Die Gruppe fährt in die Dom- und Altstadt, was uns jetzt zu beschwerlich ist. Aber am nächsten Morgen regnet es  schüttend, als wir auf dem Domberg angekommen sind. Dennoch sehen wir den Dom (von außen), stellen uns gegenüber am Konsistorium unter, huschen zum Schloß, wo das Parlament tagt, gehen in die Alexander-Newski-Kirche, wo russische Gläubige sich so verhalten, wie unsere Gleichzeitigen es gar nicht mehr kennen. In der Heiliggeistkirche der Altstadt und am Schlössle, einem zurückhaltenden, aber bedeutenden Hotel vorbei, wo uns ein Taxi aufgabelt und ins Trockene fährt.

Nachmittags mit einem Fährschiff nach Helsinki, wo wir nach zwei Stunden sind: eine kleine Schutzmacht, von der der Marschall Mannerheim auf dem Denkmal-Sockel kündet. Wir sind in der Granit-Kirche, modern, aber wie aus einem Mythos. Ringsherum vielstöckige Stadthäuser ohne einen Hauch von Schmiererei. In Europa. Erinnerung an Gänge vor ca fünf Jahren über die dezent-vornehme Esplanade, auf dem Senatsplatz mit der weißen Kathedrale. Abends muß der Fahrer den neuen Hafen suchen, von dem aus die Rückreise nach Rostock geht.

Das Schiff ist großzügig, aber in den Eß-und Aufenthaltsräumen ziemlich kühl. Schlimmer ist das laute Gequater unserer Landsleute, das Eingreifen fordert und sofortiges Duzen inmitten von Putzfrauenjargon zur Folge hat. Fast in der Nacht sind wir in Rostock, werden zum Radisson gefahren. Dort bekommen wir Schlüsselkarten für unsere Zimmer, die aber alle nicht funktionieren. Im Kühlschrank hat ein Gast eine Bierflasche mit Wasser gefüllt und wieder verschlossen. Das Management merkt auch das nicht.

Die Rückfahrt ist passabel. In M. erwartet uns das Taxi aus S. 

 

 

VOM (EINSTIGEN) LEBEN

 

1980 - 1981 (Privat in der DDR)

 

Der letzte Bericht lief, wie leicht zu erkennen ist, nicht nur bis 1979, sondern bis Oktober 1980.

Ich ging im Herbst 1980 nach Bad Ems, das bei schönem Wetter wunderbar, aber bei näherer Betrachtung mühsam konserviert wirkte; wohnte auf dem Berg im Dorf Kemmenau und schrieb eifrig an dem Manuskript über den Literaturbegriff. Die Mosel nahe der Mündung wurde beguckt. Besuch bei A.N. auf dem Johannisberg; vorher in Winkel das „Graue Haus“, es gilt als das älteste Wohnhaus Deutschlands.

Zu Anfang des Jahres 1981 „großer Empfang“ im neuen Haus zum Fünfzigsten: so viele Leute wie nie vorher und nie nachher. Sollte man es nicht besser lassen, wie es manche aus meiner näheren Umgebung machen? Aber man hat gerade, wenn man den vielen ausweichen will, eine gewisse Verpflichtung bei solchen Anlässen und steht jenen vielleicht für eine Sekunde näher. Die Familienfeier folgte, dann noch die KWV.

In Berlin ein Abend mit W. und E. Es ging um Alfred Baeumler und Thomas Mann. Von dem erzählte E. eine vielleicht apokryphe, aber dennoch nicht ganz unwahrscheinliche Geschichte. Seine verstorbene Frau sei als junges Mädchen bei den Goebbels zu Gast gewesen. Sie habe G. nach der Bücherverbrennung und nach Th.M. gefragt. Den habe er ohne weiteres haben können, habe G. gesagt, wenn er die Summe gezahlt hätte, die Th.M. erwartet habe. Schwiegervater Pringsheim habe Th.M. zurückgepfiffen. E. spricht davon, daß er sich in der Nazizeit zynisch verhalten habe, will das aber auch ständig begreiflich machen und kommt immer wieder auf die deplorable wirtschaftliche Lage zu sprechen.Als ich ihn frage, wie er sich erkläre, daß ein Mann wie Baeumler sich mit Haut und Haar habe schlucken lassen, obwohl ihm doch sicher die Differenz zwischen Hegel und Streicher bewußt gewesen sei, spricht er zunächst nur von den anderen „anständigen Nazis“(z.B. Baldur von Schirach!)

Gegen Ende kommt es zum Thema „Sprache“, bei dem E. sich mir attachiert, W. fast erregt  eine Position wie die meine als schieren Rationalismus ablehnt.

Im Mai wird ein Attentat auf den Papst verübt. Vorträge in Italien (Florenz, Genua, Padua). Die kleine und hübsche Übersetzerin in Padua sagt zu mir: „Die Italiener machen viele Worte, aber sagen nicht so viel“.

Im Juni mit den Mitarbeitern Frau S. und Herrn P. eine Musil-Reise nach Wien. Es geht um die wenigstens quantitative Darstellung des Nachlasses für den zweiten Kommentar-Band. Die gerühmte Schwärmer-Aufführung im Akademie-Theater durchweg faszinierend, aber die Lektüre ist faszinierender. Danach eine schlechte Bernhardi-Aufführung. Ich wohnte bei O. Kerry, sprach telefonisch mit G. Anders und E. Hartl, kurz mit Weigel.

 Im August fahren R. und ich ganz privat in die DDR. Sechs Wochen vorher muß man sich anmelden, einen Tag nach dem 13.8.geht es los, Erinnerung an den Mauerbau vor zwanzig Jahren, über Herleshausen.Schon die letzten Kilometer vor der Grenze bringen das Gefühl leichter Spannung. Gegen 2 Uhr passieren wir die Grenze. Vorher der DDR-Zollfunktionär pedantisch und schikanös, obwohl wir doch als Touristen kommen. Wir müssen die Koffer öffnen, Taschen, Portemonnaies, die Motorhaube, das Handschuhfach, die Rückbank soll hochgehoben werden. Der Dialog beschränkt sich auf Halbbefehle von der anderen Seite und unsere Reaktion darauf. Zum Schluß hält mir der Funktionär nach der Frage, ob ich „Druckerzeugnisse“ mitführe, und ich die Frage verneine, einen Prospekt der DDR-Touristik entgegen: Was denn das sei? – Die Autobahn und die Staatsstraßen sind gut, doch ein Kfz-Mechaniker, den wir konsultieren, sagt, das werde östlich des Hermsdorfer Kreuzes anders, doch die Straßen, über die wir fahren, sind auch dort passabel. Viel schlimmer sind sie innerhalb der Orte, v.a. in größeren Städten, wo auch Straßenbahnen fahren. Da muß man sehr aufpassen, nicht in den Schienenbereich zu kommen. Der Autoverkehr ist recht lebhaft, in den Städten Staus an den Ampeln. In den Wohnbezirken von Erfurt stehen hintereinander und dicht bei dicht parkende „Trabant“ und „Wartburg“ der Anwohner. Außerdem sieht man häufiger auch Lizenzbauten von Fiat und Renault, seltener den „Moskowitsch“, ein einziges Mal einen „Volvo“ mit DDR-Kennzeichen, den Wagen der Funktionäre. Da ziemlich viele westdeutsche Autos fahren, ist das eigene Auto keine solche Sensation mehr wie in den sechziger Jahren. Als Garage wird uns eine sog. Box angeboten, ein Abstellplatz, der durch Pfosten und Kette abgetrennt ist. Wir wohnen zunächst im „Erfurter Hof“, dem alten Kossenhaschen, in dem auch Willy Brandt untergebracht wurde. Ein Mittelklassehotel mit Marmor in der Rezeption, viel Eingebautem im Zimmer. Der Fernseher ist auf die östlichen Sender reduziert. An Kleinigkeiten ist z. B. im Bad gedacht. Ganz in Ordnung ist freilich nichts: die Badewanne hat einen Rand, der Abfluß des Waschbeckenns ist leicht vestopft. Dafür bezahlt man pro Person und Nacht 78,-- Mk, 8,-- Mk davon gelten für „gastronomische Leistungen“ im Haus. Jeder Teil des Frühstücks hat einen speziellen Preis: eine Scheibe Brot kostet 0,03 Mk. Das Dresdener Hotel „Lilienstein“ ist eine Stufe billiger und schlechter als das Erfurter Haus. Wir sind darin die einzigen Westdeutschen. Wahrscheinlich wurden wir  wegen einer Sitzung des Ökumenischen Rates der Kirchen hierhin umgesiedelt. Das Zimmer kostet pro Person 58,--Mk und hat den Charme einer Hospiz-Kammer. Die „gastronomischen Leistungen“ sind für uns als Touristen das größte Problem, am besten ist das Frühstück. Die Versorgung am Abend muß schon morgens geregelt werden. Als wir in Erfurt ein anderes Haus kennenlernen wollen, macht das Schwierigkeiten. Wir kehren wieder in unser Hotel zurück, müssen aber nun auf Abruf in unserem Zimmer warten. Die Kellner im Restaurant tragen dunkelrote Smokingjacken. Das Angebot: schnitzelartiges Fleisch, mit Verschiedenem belegt (sog. Würzfleisch), Hähnchen, Entenbraten, in Erfurt auch Rehhaxe Meist fehlt mindestens eine der verzeichneten Speisen. Man merkt, wie groß der Mangel selbst hier ist. In Dresden sind die Restaurantprobleme noch schwieriger, das Hotelrestaurant ist kümmerlich, das Essen entspricht dem einer schlechten Kantine. Wir melden uns am nächsten Morgen für den Meißner Weinkeller an, bekommen nachmittags Reservierungskärtchen, müssen aber abends am Eingang warten. Das Restaurant gilt als bestes Speiselokal Dresdens, ein warmer Gang kostet hier ab 11,--Mk, flambierte Ananas 9,--Mk. Wir trinken einen herb angenehmen Traminer Elbwein aus dem Jahr 1978. Sonst gibt es nichtssagende Kreszenzen aus den Bruderländern oder Bier, z.B. Pilsner Urquell. Einen Platz zu kriegen ist sehr schwierig. Nur einmal, als wir in Pillnitz dem Hinweis auf ein versteckt liegendes Ausflugslokal folgen, finden wir ein gut ausgestattetes, hübsch gelegenes Haus mit ordentlichem Kuchen, der Kaffee ist allerdings überall gleich dünn.

In Erfurt fahren wir erst durch gepflegte Vororte, um den Bahnhof ist es ziemlich still, Am Anger der Eindruck,daß alles, was hier steht, angenehm und passend restauriert ist. Sehr bezaubernd die Krämerbrücke mit kleinen Häusern, der Domberg mit Doppeldom und Severikirche, dann Straßen mit schönen alten, aber mehr und mehr verfallenden Häusern Die Stadt könnte perfekt sein, inmitten des mehr oder minder raschen Verfalls inselhaft die Ausstellungsstücke der „Projekte“. In Weimar ist es ganz ähnlich, für das Jakobsviertel wird kaum etwas getan, aber das Gauforum, ein komplettes Nazi-Ensemble, ist unverändert, am Frauenplan, an der Schillerstra0e und am Markt sind „Projekte“ restauriert, Teile des Schlosses sind noch in armseligem Zustand. In Gotha, Arnstadt und Pirna wird sehr viel weniger für die Restaurierung getan, nur einzelne Bauwerke werden wiederhergestellt. Sehr adrett wirkt Ilmenau, ein kleines Zentrum für Fremdenverkehr. Einen Schock versetzt Dresden. Man fährt erst lange durch Vorstädte und Industrieviertel und steht plötzlich an der Elbe, neben sich Hofkirche und Schloß, beide schwarz patiniert. Von der Prager Straße aus geht der Weg auf das alte Bauensemble an der Elbe zu, riesige Rasenfläche am Altmarkt, von dessen Bauwerken nur die Kreuzkirche einigermaßen erhalten ist, innen wirkt sie roh. Als Abschluß des Platzes ein Kulturpalast, dann eine Bautenlandschaft wie aus dem Ende der vierziger Jahre, sonst überall Ruinen, Halbruinen. Ansatzweiser Aufbau wie aus der ersten Phase nach dem Krieg, dieser Eindruck am stärksten am Schloß, wo so gut wie nichts restauriert worden ist, aus den Regenrinnen wachsen Bäumchen , durch die Fensteröffnungen erscheint der Himmel An der Semperoper wird gebaut. Eleganz und Heiterkeit der Hofkirche sind vom schwarzen Stein geschluckt, innen ist alles bis auf Altar und Orgelprospekt ganz weiß, der Zwinger wirkt so, als sei er nie zerstört gewesen: sehr grau mit grünen Dächern, innen ganz luftig und offen. Nicht ganz unähnlich Pillnitz, das reizend an die Elbe gebaut ist, mit niedrigen Trakten und blumenbunter Gartenanlage. Der Ort P. zieht sich den Berg hoch, eine kleinere Villengegend, das oberste Haus am Hang etwa von 1938. Man glaubt im Deutschland der dreißiger Jahre zu sein. Ganz besonders intensiv ist diese Erfahrung im Thüringer Wald, bei der Fahrt von Gotha nach Ilmenau und zurück, die Orte liegen schön umrissen in den Tälern, dazwischen nur mal eine Bahnstrecke, anmutige Berglein mit sehr grünen Wäldern, ein unbeschreibliches Heimatgefühl. Ganz ähnlich noch einmal, als wir von der Straße Pirna - Bad Schandau abbiegen und über eine Nebenstraße Richtung Stadt Wehlen fahren. Das ist eine Sommerfrische der dreißiger Jahre, eingebettet in Spielalpen der Sächsischen Schweiz. Solche Landschaft ist bei uns nicht mehr erinnerlich.Dann die Dampferfahrt von Dresden nach Pillnitz mit schnaubendem Raddampfer, der ganz langsam an den Elbufern vorbeizieht.

Längere  Gespräche mit Herrn H. und seiner Frau in Weimar. Ihn habe ich seit 1961 oder 62 nicht mehr gesehen. Er ist Direktor der Goetheschen Sammlungen innerhalb der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten. Unser Gespräch ging von nachmittags 4 Uhr bis ca 7 Uhr und bestand bis auf einen Exkurs zu Goethes Farbenlehre ausschließlich aus Mitteilungen zum Leben in der DDR. Zwischen die durchweg höchst kritischen Berichte streuten  beide und der 16jährige Sohn politische Witze. Tenor war die ganz tiefe Unzufriedenheit mit der dortigen Situation, die Erbärmlichkeit des Alltags. Man stelle sich an jeder Schlange an, sagt H., in der vorigen Woche bei einem Juwelier, obwohl er gar nichts kaufen wollte. Auf meine törichte Frage, wie es mit Heizöl stehe, hieß es, niemand in der DDR heize mit Öl, Hauptheizmittel sei sogenannter Abrieb, also Braunkohlengrus, davon bekomme jeder 32 Zentner vor die Tür gekippt. Viele ließen diesen Abrieb dort liegen, bedienten sich eimerweise. Die Arbeitsmoral sei miserabel, es herrsche tiefe Resignation, da alle Anstrengung doch nichts gebracht habe. Man mache sich auch falsche Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit der Nationalen Volksarmee, jeder Soldat wolle die Uniform so schnell als möglich ausziehen. Wer in Uniform heirate, bekomme eine Prämie. Der Haß auf die Funktionäre sei so massiv wie eh und je. Honecker werde auf seiner Fahrt in den Staatsrat durch Straßen geleitet, deren Parterre einzig restauriert sei. Die einfachen Sowjetsoldaten lebten ausschließlich in Kasernen, aber auch diese Soldaten seien Elitetruppen, da die DDR als Westen gelte. Sie erzählen den Fall eines Architekten, des Vaters eines Mitschülers ihres Sohns, der an Honecker einen Brief mit Kritik über die DDR-Architektenausbildung geschrieben habe mit Verbesserungsvorschlägen. Der sei verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Seine Frau, Schauspielerin, habe kein Engagement mehr bekommen. Der Sohn mußte die Schule verlassen. Bei Hausdurchsuchungen habe man Ausschnitte aus DDR-Zeitungen gefunden, sie zu sammeln sei verboten. Der Sohn erzählt am nächsten Tag aus der Schule, wo es ständig um schizoides Verhalten gehe. R. führt ein kurzes Gespräch mit einem Ehepaar aus Frankfurt/Oder: beide seien aufs Geratewohl losgefahren und im Hotel Lilienstein in Dresden untergekommen. Das sei aber reiner Zufall, klappe es nicht, müsse man wieder nach Hause fahren.

In den Warenhäusern sei alles, sagt R., die viel skeptischer ist als ich, qualitativ sehr schlecht, im großen Dresdner Warenhaus gibt es reichlich und vielfältige Kleidung , kümmerlich ist dagegen das Angebot an Geschenkartikeln und an Spielsachen. In den Buchhandlungen hat man zunächst den Eindruck einer gewissen Fülle, aber in Erfurt ist schon ein Stadtführer nicht zu haben, dafür aber gibt es zahlreiche Exemplare eines Stadtführers für Karl-Marx-Stadt. Beachtlicher Ersatz war ein kleiner Architekturführer durch den Bezirk Erfurt, der auch neueste Zweckbauten dokumentiert. Die größte Buchhandlung Dresdens war an drei Tagen durch eine Schlange blockiert, die Frage, was es gebe, konnte nicht beantwortet werden. Am letzten Tag in der Allspartenbuchhandlung  „Heinrich Mannn“. Hier gab es neben Kinderbüchern, Belletristik, Fachliteratur auch Philosophie, allerdings neben Marx, Engels, Lenin nur Feuerbach, etwa 15 Reclamtitel, darunter, wohl gerade herausgekommen, die musikalischen Schriften Telemanns in ca 80 Exemplaren. Am Lager waren  höchstens 600 verschiedene Titel.

Von Verwandten in Berlin hören wir, sie hätten große Besorgnisse wegen hiesiger Terroristen. Einer der Verwandten ist beim Staatsschutz. Bei den letzten Unruhen wurde allein ihnen die Heckscheibe des Autos mit einem Stein zertrümmert. Sie erzählen weiter: einer von ihnen trifft in Westberlin einen jungen Mann, der ihnen aus Ostberlin bekannt ist. Auf die Frage, wie er nach Westberlin komme, habe er aufgeregt gesagt, sie sollten bloß nicht erzählen, daß sie ihn gesehen haben. Er kriege von drüben 700,-- DM dafür, daß er hier sei. Ein agent provocateur für die Berliner Szene?

In M.gutes Seminar mit Goethes „An den Mond“. Eine Studentin bestätigt meine Interpretation, ein anderer Student bittet um die Duchsicht der Arbeit einer Freundin, die meine Position in einem Hamburger Seminar verteidigt. So erfährt man, daß es Menschen gibt, die sich für Literatur interessieren.

 

Nummer 22 (Juli 2009) s. Archiv

INHALT: VON DER GESCHICHTE: Die Mittwochsgesellschaft 1933 – 1944.

VON DER GEGENWART: Wir können’s nicht – Rechte Gewalt ? – Politische Narretei – Ein hoher Fernsehjournalist argumentiert - Urlaubsgrüße. VON DER LITERATUR. Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1976 – 1979.

 

Die Nummern 1 – 22 s. Archiv

 

s. Register der Nummern 1 – 20 „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen

 

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