Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 24 (März 2010)

 

 

 

INHALT: VON DER GEGENWART: „Schief ist alles“ (Shakespeare, Timon von Athen IV,3) – Matussek, „Der Spiegel“ und Karl Kraus. VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert: 18. Jahrhundert (1720 – 1790), 2. Teil – Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten, Teil III. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1982 (Ägypten und anderes).

 

 

VON DER GEGENWART

 

„Schief ist alles“

(Shakespeare, Timon von Athen, IV,3)

 

Noch beim Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert glaubte man, es werde jeden Tag ein wenig besser, denn dafür sorgten Fortschritt und Aufklärung. Und man stand doch am Anfang eines Jahrhunderts, ja einer Zeit, die schlimmer wurde als alles Vorherige. Doch war sie gleichzeitig mit Wasserspülung und Autombilen versehen, so daß man sich vor allem daran hielt und trotz des gängigen Klagens gar nicht merkte, wie der erste Weltkrieg, die Inflationszeit, die Weltwirtschaftskrise, die Hitler-Zeit, der zweite Weltkrieg mit Bombenflugzeugen, der Holocaust, die Atombombe, die Hungersnöte, die Trennung der Deutschen, der Kalte Krieg, der Koreakrieg, der Vietnamkrieg, der Irakkrieg, der Afghanistankrieg und tausenderlei dergleichen wirklich waren.

Kaum hatten sich aber die Deutschen von den Schrecken des Krieges ein bißchen erholt, fuhren und flogen sie nach Italien, nach Spanien, an die Algarve, auf den Balkan, nach Amerika, nach Ägypten, auf die Malediven und überall sonst, wo es nicht gerade bumste und man nicht gerade massakriert wurde. Denn das war die Freiheit, die man meinte. Und wenn dann doch mal irgendwo die Wasser über den Dortigen zusammenschlugen oder Tsunamis sich zusammenbrauten oder gar Erdbeben, spendete man bei einer Gala und verband so das Nützliche mit dem Angenehmen.

So hatte man den historischen Sonderweg verlassen und bekam Zustimmung von führenden Historikern wie Wehler und Winkler. So imitierte man die alten Demokratien, was dazu half, das Vergangene zu vergessen. So ereichte man erneut die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, die man doch schon mit dem ‚Entschluß’ nach dem Krieg, immer mehr Autos und Zahnstocher zu produzieren, gewählt hatte. Nun wollte man, nachdem Hitler und die Kriege sich als falsche Wahl herausgestellt hatten, vor allem ‚dick vadienen’ und ging rüstig auf die Globalisierung zu. Dabei traf der Glaubenssatz, daß man es inskünftig im Westen mit dem Westen, im Osten aber mit dem Osten zu halten habe, aufs glücklichste mit der Überzeugung zusammen, daß es einzig um freie oder kollektive Wirtschaft gehe, welche Überzeugung sich ja auch in jeder Fahrt mit dem Volkswagen nach Italien oder mit dem Trabant in irgendeines der Bruderländer bewährte. Vor allem bewährte sie sich darin, daß nun endlich in West und Ost ausgemacht war, es komme allein auf die Mehrzahl, also die Mittelmäßigen und Durchschnittlichen an, die zunächst noch den alten Fleiß zeigten, schließlich aber zu der Wohlständigkeit und dem Tralala abstiegen, die wir im Fernsehen auf das genaueste reproduziert finden.

Auf diese Weise überlebte der Führer aus dem Wiener Männerheim, der schon früh die Stammtischrunde als Volksseele erkannt hatte und dem man nur darum nicht weiter huldigen wollte, weil man nun endlich richtig, nämlich den freien Westen oder die „Volksdemokratie“ gewählt hatte.

Im Gegensatz zu den öffentlichen Behauptungen hat es natürlich nie eine wahrhafte Auseinandersetzung mit der braunen Vergangenheit gegeben, vor der man im Osten schon dadurch geschützt war, daß man sie mit einer roten Gegenwart ausgetauscht hatte, die nun mehr und mehr auch im Westen akzeptiert wird, was bis 1989 den Intellektuellen vom Schlage Lafontaines vorbehalten war.

Der Führer aus dem Männerheim aber, von dem man über Jahrzehnte hin behauptet hat, er sei der Abhub des deutschen Idealismus und der Romantik gewesen, war in Wahrheit, wie man wissen konnte, der Erbe Darwins und des Evolutionsgedankens, den er in der behaupteten völkischen Überlegenheit der Deutschen vom Schlage Eichmanns realisiert sah.

Sind wir nicht gegenwärtig intellektuell ganz und gar eingetaucht in die evolutionistischen Auffassungen, die auch diejenigen Hitlers waren? Und ist die ökonomische Globalisierung, durch die die Finanz- und Wirtschaftskrise erst so gefährlich wurde, etwas anderes als Darwinismus im Felde der Wirtschaft? Auf sie reagieren die Regierungen, insbesondere die deutsche, mittels Pragmatismus, einer Vokabel für Ideenlosigkeit als Bezeugung von Mittelmaß und Durchschnittlichkeit. Man hangelt sich von Tag zu Tag, ob es sich nun um Klimaschutz, neue Energien, Gesundheitsreform, die Bildungsproblematik. den Arbeitsmarkt, den Steuerbetrug, die Migrantenflut, die Sicherheitsprobleme, den Terrorismus, den Islamismus und alle anderen Gefahren und Fragen handelt. Zwei Tage vor der jeweiligen Konferenz hat man sich dann auf irgendetwas Vorläufiges geeinigt, das bis zum Tag nach der Konferenz vorhält.

Doch sind nicht die außenpolitischen Probleme größer geworden, seit wir die UNO, amerikanische Großmachtpolitik, Europäische Union, Chinas Wirtschaftsaufschwung und jenen Rattenschwanz von internationalen Organisationen haben? Der Nahe Osten kommt nie zur Ruhe, der Irak ist Saddam Hussein los, aber nicht dessen mörderische Probleme,.in Afghanistan geht es nicht voran, der iranische Gottesstaat wird mehr und mehr zur Bedrohung. Und die sogenannte Staatengemeinschaft verabschiedet sich halbjährlich von einem Staat, der unregierbar geworden ist: Somalia, Kongo, Liberia, Sudan, Jemen, Haiti e tutti quanti. Wie steht es außerdem  mit dem Tschad, mit Pakistan, mit Nigeria, mit dem Libanon und so weiter?

Die deutsche Regierung jedenfalls weiß nie etwas anderes als Geld zu geben, das sie gar nicht mehr hat, und pragmatisch, also ideenlos zu entscheiden, soweit sie überhaupt entscheidet.

Denn sie reagiert kaum noch auf die alltäglichen Probleme im eigenen Lande.Nehmen wir als Beispiel den Verkehr. Daß die Berliner S-Bahn nicht mehr fährt, geht die Regierung nichts an. Daß die gesamte Bahn, die ihr immer noch gehört, seit Jahren unfähig ist, pünktlich und sauber zu fahren, dafür aber ständig höhere Forderungen an ihre Kunden stellt, die längst ihre Sklaven geworden sind, interessiert sie nicht.(Und wenn die Bahn wegen des Schnees gar nicht mehr fährt, erklärt der Vorstand, das sei Schuld der Firmen, die die Bahn bauen. Aber das fällt dem Management erst auf, wenn es zu spät ist.) Daß es kein bißchen besser mit den Fluggesellschaften geht, deren Benutzung qualvoll ist, ist ihr egal. Daß die Autobahnen hauptsächlich aus Baustellen bestehen und daß, wenn einmal ein Stück Strecke fertig geworden ist, z.B. die dritte, eben gebaute Fahrspur ohne jede Erklärung gesperrt wird,beunruhigt den Verkehrsminister, der eben dies glücklich geworden ist, nicht weiter.(Oder beispielweise die Landesregierung von NRW, die rund um die Stadt M.kaum eine Straße betreibt, die in einem passablen Zustand ist. Sie läßt 50km-Schilder aufstellen und hat damit das Ihre getan.) Daß die deutsche Post auf allen Ebenen ein Hohn ist, kümmert die Regierung nicht im geringsten, sondern überläßt sie zur Bereinigung der Reklame, die mit unseren Mitteln bezahlt wird und in der sich die Post, an deren Spitze einst ein Steuerbetrüger stand, ihrer ausgezeichneten Leistungen berühmt. Die Postbank, die von einem ehemaligen Kreditsachbearbeiter geleitet wird, gibt, seit sie den Einfall hatte, neue Kontoauszüge vorzulegen, nicht einmal einigermaßen pünktlich Auskunft über den Kontostand ihrer Kunden und läßt Beschwerdebriefe von Gestalten beantworten, die sie „erledigen“.

In Bayern kauft man eine Bank, die nichts wert ist, in Schleswig-Holstein und Hamburg muß man wie anderwärts die Spiele eines Landesbankvorsitzenden bezahlen. In Brandenburg übt man sich in Versöhnung, indem man IM’s und andere bewährte Genossen in die Regierung holt. In NRW kommt es dank der Fähigkeiten der Justiz wiederholt zu Ausbrüchen aus Gefängnissen.

Über all das darf sich das Volk, das alles zu bezahlen hat, freuen. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, mit diesem Volk stünde es besser als mit dessen Regierung und den Großen der Wirtschaft. Es ist den pragmatischen Leitern seiner Angelegenheiten adäquat. Während diese im Fernsehen überzeugende Antworten auf überzeugende Fragen geben, sitzt das Volk als Kulisse da und klatscht. Es ist ihm völlig egal, was da verhandelt wird, es möchte klatschen und tut das auch so heftig, bis es nicht mehr kann.Solange man ihm seine Spiele gibt, vor allem den Fußball, und solange es McDonalds hat, wird es weiter klatschen.Seit durch Umfragen seine Meinung gar wirksam geworden ist, und zwar jenseits jeder Frage nach der Qualität der Argumente, reagieren die Mächtigen auf jene vor allem durch Nachgeben.

Das Programm des Fernsehens ist größtenteils läppisch,ja das öffentlich-rechtliche, das so heißt, weil es weder das eine noch das andere ist, sondern eine Geldvernichtungsmaschine, ist es, die Privaten imitierend, in ganz besonderer Weise. Nichts ist in Kultur, Wirtschaft, Politik blöd genug, es wird als ‚modern’bezeichnet und als maßstabsetzend verkündet. Vielleicht ist es am deutlichsten in Schule und Universität. Schon seit Mitte der siebziger Jahre sanken die Standards bei den Abschlußprüfungen der Universität. Die Achtundsechziger hatten, selbst schwadronierend und z.T.faul, dafür gesorgt (und sei es durch Gewalt), daß noch die kümmerlichsten Produkte akzeptiert wurden. Sie fanden auch sofort Professoren, die ihnen ihre Dummheiten abnahmen.(Der Physiker Schollwöck schreibt dazu, die Durchschnittlichkeit sei auch „für das deutsche Forschungssystem“ „exzellent“, „dem international attestiert wird, viel Gutes, aber wenig Exzellentes hervorzubringen“.) Der nächste Schritt war, daß die aus solchen ‚Prüfungen’ hervorgehenden Lehrer im Laufe der Schuljahre und beim Abitur ebenfalls das Nichtige akzeptierten, was natürlich in den geisteswissenschaftlichen Fächern leichter war als in den naturwissenschaftlichen. Ein sehr nachdenklicher Gymnasiallehrer sprach angesichts dieses seit langem bestehenden Zustandes vom Zynismus seiner Kollegen wie der Dezernenten der Aufsichtsbehörden.

Die Kirchen sind einerseits nur noch Sozialvereine, andererseits Varianten der  Piusbruderschaft. Doch eine nennenswerte Theologie ist nicht zu erkennen.

Und die Kultur? Die zeigt sich am deutlichsten in einem subventionierten Theater, das nur noch dazu da ist, dilettantisches Rowdytum vorzuführen, das wie jeder Mumpitz von den Besuchern, die alle auf jeden Fall modern sind, beklatscht wird.

Sonst haben wir Denker vom Schlage Sloterdijks, dessen Reflexion gleichzeitig auf die Änderung des Lebens wie auf Steuerersparnis zielt. Ein Anzeichen jenes Feuilletonismus, der Denken wie Literatur durchdringt. Denn nicht deren Unabhängigkeit, sondern ihre Zugehörigkeit zum Medienapparat, ist das Problem. Sie sind den Redaktionen zugeteilt, deren Geschnatter sich um alles in der Welt zwischen Magath und Kant kümmert, vor allem aber um ein tägliches Geschehen, das mehr und mehr nur um ihretwillen noch geschieht. Allein die Aufgeplusterheit der Presseschaumitteilung, nun spreche die FAZ oder die Odernachrichten, verhindert, daß man wahrheitsgemäß erfährt, irgendein Hallodri, der oft genug das Studium abgebrochen hat, stehle uns mit seiner Viertelbildung, die nicht einmal den Unterschied zwischen einem Staatsoberhaupt und einem Regierungschef kennt, täglich die Zeit oder treibe sich in den Gängen der Regierungsgebäude einzig deswegen herum, weil er einen Staatssekretär nach der Schwangerschaft von dessen Freundin aushorchen will.

Diese Sippschaft, die die Sprache beherrscht und damit alle, die nach sogenannten Informationen gieren, bleibt die schlimmste und kann einzig durch das Internet, das sicher fragwürdig genug ist, an ihrem weiteren Wirken gehindert werden. Sie repräsentiert dieses entsetzliche Konglomerat aus Kommerz, Huscheligkeit, Verschwätztheit und Dummheit, in das zu geraten jeder, der noch einen Funken von Ehrlichkeit und Begabung hat, sich hüten muß.

Die Sprache, die einzig gewährleisten könnte, daß dieses Leben sich in ein lebbares verwandelte, ist der Verlumpung durch den Journalismus anheimgegeben. In ihr setzt sich Hitlers Gedanke fort, daß wir „früher einmal ein tatkräftiges Volk“ gewesen seien (das wir dank der Bild-Zeitung und verwandter Unternehmen wieder werden sollen) „und dann [leider]langsam zum Volk der Dichter und Denker“ wurden, was man uns seit langem wieder austreibt, indem wir ein „tatkräftiges Volk“ der Geschäftemacher, der Korrupten, der Mittelmäßigen, der Grölenden, der Journalisten werden, also der dummen Kerle.

 

 

Matussek, „Der Spiegel“ und Karl Kraus

 

In Nummer 4(2010) des „Spiegel“ führte Matthias Matussek ein Gespräch mit den amerikanischen Schriftstellern Jonathan Franzen und Adam Haslett. Matussek fragte Franzen gegen Ende des Gesprächs nach dessen Absichten, Karl Kraus zu übersetzen, und nannte diesen eine „Ein-Mann-Armee des Fin de Siècle gegen den Zeitgeist“. Nach Bemerkungen von Franzen zu Kraus und Adorno sagt und schreibt Matussek: „Sie übersetzen derzeit Kraus’ Essay ‚Heine und die Folgen’: Es ist wahrscheinlich der unfairste Artikel von Karl Kraus, er beklagt, daß Heine der deutschen Sprache ‚das Mieder gelockert hat’ – obwohl wahrscheinlich genau dies Heines größtes Verdienst war. Die deutsche Sprache war im Marmorhauch der Klassik erstarrt.“

Das letzte ist ein typisch journalistischer Satz, natürlich einer des gehobenen Journalismus. Weder in der Zeit, da Heine publizierte, also zwischen 1822 und seinem Todesjahr 1856, noch 1911, als der Text von Kraus in der „Fackel“ und etwas später als gesonderter Druck erschien, kann man in irgendeinem vernünftigen Sinn von der im „Marmorhauch der Klassik“ erstarrten deutschen Sprache reden. Es ist(im 19. Jahrhundert) die Zeit des späten Goethe,bei dem vom „Marmorhauch der Klassik“ nicht gesprochen werden kann, die Zeit Grillparzers, Eichendorffs, Büchners, Grabbes, Lenaus, Immermanns, Börnes, Hebbels, der Droste, Raimunds, Nestroys usw.Und um 1911 sind Namen wie G.Hauptmann, Hofmannsthal, Sternheim, Wedekind, Thomas Mann, Stramm und der vieler Expressionisten zu nennen. Die These ist absurd. Sie soll nur Eindruck machen und als Kontrast zu Kraus’ Bemerkung dienen, Heine habe der deutschen Sprache „das Mieder gelockert“.Die Behauptung von Matussek, das eben sei „wahrscheinlich“ „Heines größtes Verdienst“ ist nicht von ihm, sondern von Reich-Ranicki, und zwar wörtlich. Seine weitere Behauptung, „Heine und die Folgen“ sei „wahrscheinlich der unfairste Artikel von Karl Kraus“, tut so, als habe Matussek alle einschlägigen Artikel von Karl Kraus im Kopf und komme nach sorgfältiger Prüfung zu diesem Ergebnis.

Vor allem aber sind die Sätze Matusseks der wiederholte, ja gängige Versuch, sich als Journalist hinter Heine zu verstecken, der als Jude für diese Funktion besonders geeignet scheint. Daß es Kraus, dem Juden, nicht um die Verteidigung einer „erstarrten“ Sprache, sondern um einen Angriff auf das Heine’sche und das journalistische ironische Parlando geht, macht die Fortsetzung des Zitats vollkommen deutlich. Die spricht von den „Kommis“, die an den „Brüsten“ der deutschen Sprache „fingern können“, also von jenen ‚Handlungsgehilfen’, die wegen ihrer großartigen ‚Schreibe’ gewürdigt werden wollen. Deren Gräßlichkeit liege aber in der „Identität“ ihrer „Talente“, „die einander wie ein faules Ei dem andern gleichen“. Denn ihre großartige ‚Schreibe’ bestehe in nichts anderem als in sich ständig wiederholender Phraseologie. „Die impressionistischen Laufburschen melden heute keinen Beinbruch mehr ohne Stimmung und keine Feuersbrunst ohne die allen gemeinsame Note.“ Es geht also um die kritische Beschreibung eines Teils der journalistischen Fähigkeiten, insbesondere  der Feuilletonisten, die „Folgen“ von Heines Feuilletonismus sind.

Nicht die ‚Erlösung’ aus einer behaupteten Erstarrung der deutschen Sprache ist Heine zu danken, sondern das als Originalität geltende, aber sich ständig nur wiederholende Gerede der journalistischen Könner. Dabei ist dieses Moment der impressionistischen Phrase nur eines aus der Fülle journalistischen Sprachgebrauchs, der die menschliches Leben konstituierende Sprache auf ein sogenanntes Kommunikationsmittel reduziert hat.

Ich versuchte, dieses Monitum in einem Leserbrief an den „Spiegel“ anzudeuten. Man veröffentlichte ihn natürlich nicht.

 

 

VON DER LITERATUR

 

Deutsche Lyrik, kommentiert,

18. Jahrhundert (1720 – 1790), 2. Teil

 

Schon 1751 war Klopstocks „Zweyte Ode von der Fahrt auf der Zürcher See" in erster Fassung erschienen. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), dessen erste Gesänge des Epos „Der Messias" 1748 veröffentlicht wurden, verändert die deutsche Lyrik des 18. Jahrhunderts vollständig. Er besucht in Schulpforta das Gymnasium, studiert Theologie, arbeitet zunächst an den „Bremer Beiträgen" mit, dort erscheint der Anfang des „Messias", der eine Initialwirkung größter Art hat. Klopstock lebt als freier Schriftsteller, mäzenatisch unterstützt. Genauso wie der „Messias" haben seine Oden eine befreiende Wirkung. Klopstock begreift, daß Sprache etwas anderes sein kann als Information und Kommunikation. Er wählt schwere Worte, verläßt die Alltagssyntax, sucht antiken Rhythmus und antike Form für das Deutsche fruchtbar zu machen. In der asklepiadeischen Ode, die später einfach „Der Zürcher See" heißt, wird das Verhältnis von Natur, Subjektivität und Dichtung zum lyrischen Gegenstand. Und mitten in der Ode werden die Dichter der Anakreontik und der Empfindsamkeit aufgehoben in der Hymnik dieses Gedichts, das schließlich zur Apologie der Freundschaft und zur Beschwörung des irdischen Paradieses wird.

 

 

                         ZWEYTE ODE

VON DER FAHRT AUF DER ZÜRCHER SEE

 

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,

Auf die Fluren verstreut; schöner ein froh Gesichte

Das den großen Gedanken

Deiner Schöpfung noch einmal denkt.

 

Von der schimmernden See weinvollen Ufer her,

Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf,

Komm im rötenden Strahle,

Auf den Flügeln der Abendluft;

 

Komm, und lehre mein Lied jugendlich heiter sein,

Süße Freude, wie du! gleich dem aufwallenden

Vollen Jauchzen des Jüngelings!

Sanft, der fühlenden Fanny1 gleich.

 

Schon lag hinter uns weit Uto2, an dessen Fuß

Zürich in ruhigem Tal freie Bewohner nährt;

Schon war manches Gebirge

Voll von Reben vorbei geflohn;

 

Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh;

Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender;

Schon verriet es beredter

Sich der schönen Begleiterin.

 

Hallers Doris3  sang uns selber des Liedes Wert

Hirzels4 Daphne5, den Kleist6 zärtlich, wie Gleimen7, liebt;

Und wir Jünglinge sangen

Und empfanden wie Hagedorn8.

 

Jetzt empfing uns die Au9 in die beschattenden

Kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt:

Da, da kamst du, o Freude!

Ganz in vollem Maß über uns

 

Göttin Freude! du selbst! dich, dich empfanden wir!

Ja du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,

Deiner Unschuld Gespielin,

Die sich über uns ganz ergoß!

 

Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch,

Wenn die Flur dir gebiert, wenn sich dein Odem10 sanft

In der Jünglinge Seufzer,

Und ins Herze der Mädchen gießt.

 

Durch dich wird das Gefühl jauchzender, durch dich steigt

Jede blühende Brust schöner und bebender,

Durch dich reden die Lippen

Der verstummenden Liebe laut!

 

Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen,

Wenn er sanftere Lust, wenn er Gedanken winkt,

Im sokratischen Becher11,

Von der tauenden Ros' umkränzt;

 

Wenn er an das Herz dringt, und zu Entschließungen,

Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken weckt,

Wenn er lehrt verachten,

Was des Weisen nicht würdig ist.

 

Reizend klinget des Ruhms lockender Silberton,

In das schlagende Herz, und die Unsterblichkeit,

Ist ein großer Gedanke,

Ist des Schweißes der Edlen wert.

 

Durch der Lieder Gewalt bei der Urenkelin

Sohn und Tochter noch sein; mit der Entzückung Ton,

Oft beim Namen genennet,

Oft gerufen vom Grabe her;

 

Da  ihr sanfteres Herz bilden, und, Liebe, dich,

Fromme Tugend, dich auch genießen ins sanfte Herz,

Ist, beim Himmel! nicht wenig!

Ist des Schweißes der Edlen wert.

 

Aber süßer ists noch, schöner, und reizender,

In dem Arme des Freunds wissen, ein Freund zu sein!

So das Leben genießen,

Nicht unwürdig der Ewigkeit!

 

Treuer Zärtlichkeit voll in den Umschattungen,

In den Lüften des Walds, und mit gesenkten Blick,

Auf die silbernen Wellen,

Tat mein Herz den frommen Wunsch:

 

Möchtet ihr auch hier sein, die ihr mich ferne liebt,

In des Vaterlands Schoß einsam von mir verstreut,

Die in seligen Stunden

Meine suchende Seele fand.

 

O! so wollten wir hier Hütten der Freundschaft baun,

Ewig wohnten wir hier, ewig! wir nennten dann

Jenen Schatten-Wald, Tempe12,

Diese Täler, Elysium13.

 

 

Ebenso endet die fast epigrammatische Ode „Das Rosenband" (entstanden 1753), die ein empfindsam-anakreotisches Motiv und Wort durch die variierende Wiederholung zweier Verse intensiviert, ja völlig verändert.

 

 

DAS ROSENBAND

 

Im Frühlingsschatten fand ich sie;

Da band ich sie mit Rosenbändern:

Sie fühlt' es nicht, und schlummerte.

 

Ich sah sie an; mein Leben hing

Mit diesem Blick an ihrem Leben:

Ich fühlt' es wohl, und wußt' es nicht.

 

Doch lispelt' ich ihr sprachlos zu,

Und rauschte mit den Rosenbändern:

Da wachte sie vom Schlummer auf.

 

Sie sah mich an; ihr Leben hing

Mit diesem Blick an meinem Leben,

Und um uns ward's Elysium.

 

 

Mehr als zehn Jahre (1764) später dichtet Klopstock „Die frühen Gräber", fern vom Gängigen der Empfindsamkeit die Todesthematik des Barock neu aufnehmend, nun in der Erinnerung an die verstorbenen Freunde.

 

 

DIE FRÜHEN GRÄBER

 

Willkommen, o silberner Mond,

Schöner, stiller Gefährt der Nacht!

Du entfliehst? Eile nicht, bleib, Gedankenfreund!

Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin.

 

Des Maies Erwachen ist nur

Schöner noch, wie die Sommernacht,

Wenn ihm Tau, hell wie Licht, aus der Locke träuft,

Und zu dem Hügel herauf rötlich er kömmt.

 

Ihr Edleren, ach es bewächst

Eure Male schon ernstes Moos!

O wie war glücklich ich, als ich noch mit euch

Sahe sich röten den Tag, schimmern die Nacht.

 

 

Der junge, der jüngste Goethe der Leipziger und der Frankfurter Zeit, den allein ich in diesem Zusammenhang behandle, steht, wenngleich selbst noch liedhaft anakreontisch und empfindsam schreibend, sicher auch unter dem Einfluß Klopstocks, dessen Name geradezu zum Schlüsselwort der Liebe zwischen Werther und Lotte wird. Aus der Handschrift „Annette" von 1767 stammt „An den Schlaf', aus der Handschrift „Lieder mit Melodien" von 1768 das Gedicht „Die Nacht" und aus der ersten gedruckten Sammlung von Goethe-Gedichten, den „Neuen Liedern" von 1769 „An den Mond". Sehr deutlich wird hier die zunehmende Hinwendung zu Klopstock, obwohl selbst noch im letzten Gedicht rokokohaft Anakreontisches hindurchtönt und alle drei nicht an der Odenform, sondern an der Liedform des Singspiels orientiert sind.

 

 

AN  DEN SCHLAF

 

Der du mit deinem Mohne

Selbst Götteraugen zwingst,

Und Bettler oft zum Throne,

Zum Mädchen Schäfer bringst,

Vernimm: Kein Traumgespinste

Verlang ich heut von dir,

Den größten deiner Dienste,

Geliebter, leiste mir.

 

An meines Mädchens Seite

Sitz ich, ihr Aug spricht Lust,

Und unter neidscher Seide

Steigt fühlbar ihre Brust;

Oft hatte meinen Küssen

Sie Amor zugebracht,

Dies Glück muß ich vermissen,

Die strenge Mutter wacht.

 

Am Abend triffst du wieder

Mich dort, o tritt herein,

Sprüh Mohn von dem Gefieder,

Da schlaf die Mutter ein:

Bei blassem Lichterscheinen

Von Lieb Annette warm

Sink, wie Mama in deinen,

 In meinen giergen Arm.

 

 

DIE  NACHT

 

Gern verlass' ich diese Hütte,

Meiner Schönen Aufenthalt,

Und durchstreich mit leisem Tritte

Diesen ausgestorbnen Wald.

Luna14 bricht die Nacht der Eichen,

Zephirs15 melden ihren Lauf,

Und die Birken streun mit Neigen

Ihr den süßten Weihrauch auf.

 

Schauer, der das Herze fühlen,

Der die Seele schmelzen macht,

Wandelt im Gebüsch im Kühlen.

Welche schöne, süße Nacht!

Freude! Wollust! Kaum zu fassen!

Und doch wollt' ich, Himmel, dir

Tausend deiner Nächte lassen,

Gäb' mein Mädchen eine mir.

 

 

AN  DEN MOND

 

Schwester von dem ersten Licht,

Bild der Zärtlichkeit in Trauer,

Nebel schwimmt mit Silberschauer

Um dein reizendes Gesicht.

Deines leisen Fußes Lauf

Weckt aus tagverschlossnen Höhlen

Traurig abgeschiedne Seelen,

Mich, und nächt'ge Vögel auf.

 

Forschend übersieht dein Blick

Eine großgemessne Weite.

Hebe mich an deine Seite,

Gib der Schwärmerei dies Glück!

Und in wollustvoller Ruh

Säh' der weitverschlagne Ritter

Durch das gläserne Gegitter

Seines Mädchens Nächten zu.

 

Dämmrung, wo die Wollust thront,

Schwimmt um ihre runden Glieder.

Trunken sinkt mein Blick hernieder–

Was verhüllt man wohl dem Mond!

Doch was das für Wünsche sind!

Voll Begierde zu genießen,

So da droben hängen müssen –

Ei, da schieltest du dich blind!

 

 

In den siebziger Jahren wird ein Lyriker bekannt, der neben Klopstock gestellt werden muß, obwohl er dessen lyrisches Sprechen nur selten aufnimmt: Matthias Claudius (1740 -1815), bis auf eine kurze Beamtenzeit freier Schriftsteller und Herausgeber der kleinen, aber wirkungsmächtigen Zeitschrift „Der Wandsbecker Bote". Goethe und Schiller waren ihm nicht freundlich gesonnen, sein naiver Ton schien ihnen nicht glaubhaft. Aber seine Lyrik, die in der Tradition des Liedes steht, beglaubigt diesen Ton. Ob Claudius zur Empfindsamkeit oder zum Göttinger Hain zu rechnen ist, ist eine müßige Frage angesichts einer Originalität, die nichts Forciertes hat, sondern aus dem Zusammenhang des Volksliedes kommt.

Die beiden folgenden Gedichte von 1775 und 1773 können dies deutlich machen. Wie in den „Frühen Gräbern" Klopstocks wird die Todesthematik aufgenommen, aber anders als in diesen ist es eben die des Volksliedes. Die Antwort des Todes im ersten Gedicht weist auf den „Erlkönig", im zweiten ist Wiederholung ein charakteristisches Mittel aus dem Volkslied. Aber welch eine Eigentümlichkeit, welch eine Selbständigkeit gleichzeitig, die beide Male aus der Sanftheit der Verse, der Worte, des Tons hervorgehen, einer Sanftheit, die nicht schwächlich ist, der vielmehr Leidenschaftlichkeit wie am Anfang des ersten Gedichts gegenüberstehen und aus der ein geradezu hymnischer Impuls wie der in der letzten Strophe des Grabgedichts hervorgehen kann.

 

 

DER TOD UND DAS MÄDCHEN

 

Das  Mädchen

Vorüber! Ach, vorüber!

Geh wilder Knochenmann!

Ich bin noch jung, geh Lieber!

Und rühre mich nicht an.

 

Der Tod

Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!

Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.

Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,

Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

 

 

BEI DEM GRABE MEINES VATERS

 

Friede sei um diesen Grabstein her!

Sanfter Friede Gottes! Ach, sie haben

Einen guten Mann begraben,

Und mir war er mehr;

 

Träufte mir von Segen, dieser Mann,

Wie ein milder Stern aus bessern Welten!

Und ich kann's ihm nicht vergelten,

          Was er mir getan.

 

Er entschlief; sie gruben ihn hier ein.

Leiser, süßer Trost, von Gott gegeben,

Und ein Ahnden von dem ew'gen Leben

Düft um sein Gebein!

 

Bis ihn Jesus Christus, groß und hehr!

Freundlich wird erwecken - ach, sie haben

Einen guten Mann begraben,

Und mir war er mehr.

 

 

Und was wäre volksliedhafter als das „Abendlied" (1779), in dem überdies die Tradition des aus dem evangelischen Kirchenlied herstammenden Abendlieds gipfelt, wie es seit Paul Gerhardts „Abendgesang" sich zeigt. Aber es ist gleichzeitig ein ganz einzigartiges Gedicht, eines unserer größten. Und es ist das, weil es ihm gelingt, Prosasätze zu Versen, gängige Epitheta und formelhafte Wendungen wieder bedeutend zu machen. So ist die letzte Strophe leicht als die Schlußstrophe eines kirchlich geprägten volkstümlichen Liedes erkennbar, das von der Bewußtseins- und Lyriksituation seiner Zeit modifiziert ist. Aber der dritte Vers dieser Strophe, äußerlich nicht mehr als eine Feststellung, durchzieht das etwas schematisch Tröstliche der Überlieferung mit einer plötzlichen Spracherfahrung, die unendlich mehr ist als eine Feststellung und durch die das Ganze der Strophe sich bewährt: „Kalt ist der Abendhauch".

 

 

ABENDLIED

 

Der Mond ist aufgegangen

Die goldnen Sternlein prangen

Am Himmel hell und klar;

Der Wald steht schwarz und schweiget,

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.

 

Wie ist die Welt so stille,

Und in der Dämmrung Hülle

So traulich und so hold!

Als eine stille Kammer,

Wo  ihr des Tages Jammer

Verschlafen und vergessen sollt.

 

Seht ihr den Mond dort stehen? –

Er ist nur halb zu sehen,

Und ist doch rund und schön!

So sind wohl manche Sachen,

Die wir getrost belachen,

Weil unsre Augen sie nicht sehn.

 

Wir stolze Menschenkinder

Sind eitel arme Sünder,

Und wissen gar nicht viel;

Wir spinnen Luftgespinste,

Und suchen viele Künste,

Und kommen weiter von dem Ziel.

 

Gott, laß uns dein Heil schauen,

Auf nichts Vergänglichs trauen,

Nicht Eitelkeit uns freun!

Laß uns einfältig werden,

Und vor dir hier auf Erden

Wie  Kinder fromm und fröhlich sein!

 

Wollst endlich sonder Grämen

Aus dieser Welt uns nehmen

Durch einen sanften Tod!

Und, wenn du uns genommen,

Laß uns in Himmel kommen,

Du unser Herr und unser Gott!

 

So legt euch denn, ihr Brüder,

In Gottes Namen nieder;

Kalt ist der Abendhauch.

Verschon uns, Gott! mit Strafen,

Und laß uns ruhig schlafen!

Und unsern kranken Nachbar auch!

 

 

Die nächste Trias von Gedichten ist von sehr unterschiedlichen Autoren. Sie berühren sich aber, indem sie das alte Thema von der Hinfälligkeit, der Eitelkeit des Lebens aufnehmen. Von Jacob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), dem Freund Goethes, dem Dramatiker des Sturm und Drang, einem schwer Leidenden, ist das Gedicht „An das Herz" (1777 im Göttinger Musenalmanach veröffentlicht). Eine liedhafte Klage, die in eine ironische Pointe mündet. Im gleichen Jahr veröffentlicht, ebenfalls im Göttinger Musenalmanach, ist das „Totengräberlied" (1777) von Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-1776). Hölty gehörte dem Göttinger Hain an, er hat sehr bekannte volkstümliche Lieder geschrieben („Üb immer Treu und Redlichkeit", „Die Luft ist blau, das Tal ist grün"). Sein Lied ist ein Rollengedicht, das die Totengräberszene aus dem „Hamlet" aufnimmt. Schließlich Claudius' „Kriegslied" von 1779 (hier in der Fassung von 1783), dessen „leider" in der ersten Strophe Karl Kraus als stärkste Steigerung deutscher Sprache verstanden hat. Auch hier ist in den „Geistern der Erschlagenen" eine Reminiszenz an Shakespeare, nämlich an „Macbeth" zu lesen. Aber auch hier ist wieder, jenseits der Tradition, ja jenseits der Subjektivität, ein ganz eigentümliches Sprechen lyrischer Klage erkennbar.

 

 

AN DAS HERZ

 

Kleines Ding, um uns zu quälen,

Hier in diese Brust gelegt!

Ach wers vorsäh, was er trägt,

Würde wünschen, tätst ihm fehlen!

 

Deine Schläge, wie so selten

Mischt sich Lust in sie hinein!

Und wie Augenblicks vergelten

Sie ihm jede Lust mit Pein!

 

Ach! und weder Lust noch Qualen

Sind ihm schrecklicher, als das:

Kalt und fühllos! O ihr Strahlen,

Schmelzt es lieber mir zu Glas!

 

Lieben, hassen, fürchten, zittern,

Hoffen, zagen bis ins Mark,

Kann das Leben zwar verbittern;

Aber ohne sie wärs Quark!

 

 

TOTENGRÄBERLIED

 

Grabe, Spaden, grabe,

Alles, was ich habe,

Dank ich, Spaden, dir!

Reich' und arme Leute

Werden meine Beute,

Kommen einst zu mir!

 

Weiland groß und edel,

Nickte dieser Schädel

Keinem Gruße Dank!

Dieses Beingerippe,

Ohne Wang und Lippe,

Hatte Gold und Rang!

 

Jener Kopf mit Haaren

War vor wenig Jahren

Schön, wie Engel sind!

Tausend junge Fäntchen16

Leckten ihm das Händchen,

Gafften sich halb blind!

 

Grabe, Spaden, grabe,

Alles, was ich habe,

Dank  ich, Spaden, dir!

Reich' und arme Leute

Werden meine Beute,

Kommen einst zu mir!

 

 

KRIEGSLIED

 

's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,

Und rede du darein!

's ist leider Krieg - und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

 

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen

Und blutig, bleich und blaß,

Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,

Und vor mir weinten, was?

 

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,

Verstümmelt und halb tot

Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten

In ihrer Todesnot?

 

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,

So glücklich vor dem Krieg,

Nun alle elend, alle arme Leute,

Wehklagten über mich?

 

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten

Freund, Freund und Feind ins Grab

Versammleten, und mir zu Ehren krähten

Von einer Leich herab?

 

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?

Die könnten mich nicht freun!

's ist leider Krieg - und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

 

 

In welchem Maße sich das Naturgedicht gegenüber dem Barock verwandelt hat, dafür möchte ich zwei Zeugnisse zitieren.

Das eine ist das „Lied auf dem Wasser zu singen" von Friedrich Leopold Grafen Stolberg (1750-1819), 1782 im Hamburger Musenalmanach veröffentlicht. Stolberg gehörte mit seinem Bruder Christian zum Göttinger Hain, war Diplomat und konvertierte spät zum Katholizismus. Sein Gedicht ist mit den sogenannten identischen Reimen seiner sechszeiligen Strophen einzigartig in der deutschen Lyrik und hat mit seinem wiegenden Rhythmus einen fast impressionistischen Charakter, dem auch die Semantik des Schlusses nicht widerspricht.

„Als der erste Schnee fiel" heißt ein Gedicht von Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (1748-1828), in der vorliegenden Fassung 1779 publiziert. Auch Goeckingk stand dem Göttinger Hain nah. Sein Gedicht beginnt mit einem Vergleich, der noch an das Barock erinnert, aber dann geht es ganz in einen sprachlichen Duktus über, in dem sich Subjektivität und gleitende Bewegung verbinden.

 

 

LIED AUF DEM WASSER ZU SINGEN, FÜR MEINE AGNES

 

Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen

Gleitet wie Schwäne der wankende Kahn;

Ach, auf der Freude sanftschimmernden Wellen

Gleitet die Seele dahin wie der Kahn;

Denn von dem Himmel herab auf die Wellen

Tanzet das Abendrot rund um den Kahn.

 

Über den Wipfeln des westlichen Haines

Winket uns freundlich der rötliche Schein;

Unter den Zweigen des östlichen Haines

Säuselt der Kalmus17 im rötlichen Schein;

Freude des Himmels und Ruhe des Haines

Atmet die Seel im errötenden Schein.

 

Ach es entschwindet mit tauigem Flügel

Mir auf den wiegenden Wellen die Zeit.

Morgen entschwinde mit schimmerndem Flügel

Wieder wie gestern und heute die Zeit,

Bis ich auf höherem strahlenden Flügel

Selber entschwinde der wechselnden Zeit.

 

 

ALS DER ERSTE SCHNEE FIEL

 

Gleich einem König, der in seine Staaten

Zurück als Sieger kehrt, empfängt ein Jubel dich!

Der Knabe balgt um deine Flocken sich,

Wie bei der Krönung um Dukaten.

 

Selbst mir, obschon ein Mädchen, und der Rute

Lang' nicht mehr unterthan, bist du ein lieber Gast;

Denn siehst du nicht, seit du die Erde hast

So weich belegt, wie ich mich spute?

 

Zu fahren, ohne Segel, ohne Räder,

Auf einer Muschel, hin durch deinen weißen Flor,

So sanft, und doch so leicht, so schnell, wie vor

Dem Westwind' eine Flaumenfeder18.

 

Aus allen Fenstern, und aus allen Türen,

Sieht mir der bleiche Neid aus hohlen Augen nach,

Selbst die Matrone wird ein leises Ach!

Und einen Wunsch um mich verlieren.

 

Denn der, um den wir Mädchen oft uns stritten,

Wird hinter mir, so schlank wie eine Tanne, stehn,

Und sonst auf nichts mit seinen Augen sehn,

Als auf das Mädchen in dem Schlitten.

 

 

Gaudenz von Salis-Seewis (1762-1834) schrieb 1782 sein „Herbstlied". Er war schweizerischer Offizier, stand Klopstocks und Höltys Lyrik nahe. Hier werden die Phänomene und das Liedhafte verbunden, eine Erinnerung ans Anakreotische findet sich ebenso wie eine Vorausahnung an Klänge der Romantik. 1786 erscheint die erweiterte Fassung:

 

 

HERBSTLIED

 

Bunt sind schon die Wälder,

Gelb die Stoppelfelder;

Und der Herbst beginnt!

Rote Blätter fallen;

Graue Nebel wallen;

Kühler weht der Wind!

 

Wie die volle Traube,

Aus dem Rebenlaube,

Purpurfarbig strahlt!

Am Geländer reifen

Pfirsiche, mit Streifen,

Rot und weiß, bemalt!

 

Dort, im grünen Baume

Hängt die blaue Pflaume,

Am gebognen Ast.

Gelbe Birnen winken,

Daß die Zweige sinken

Unter ihrer Last.

 

Welch ein Apfelregen

Rauscht vom Baum! Es legen

In ihr Körbchen sie

Mädchen, leicht geschürzet,

Und ihr Röckchen kürzet

Sich bis an das Knie.

 

Winzer, füllt die Fässer!

Eimer, krumme Messer,

Butten sind bereit!

Lohn für Müh' und Plage

Sind die frohen Tage

In der Lesezeit!

 

Unsre Mädchen singen,

Und die Träger springen;

Alles ist so froh:

Bunte Bänder schweben,

Zwischen hohen Reben,

Auf dem Hut von Stroh.

 

Geige tönt und Flöte,

Bei der Abendröte,

Und bei Mondenglanz:

Schöne Winzerinnen

Winken und beginnen

Deutschen Ringeltanz!

 

 

Zum Abschluß dieses Kapitels  zwei Gedichte: das eine von Gottfried August Bürger (1747-1794), das andere noch einmal von Matthias Claudius. Bürger gehörte dem Göttinger Hain an und ist vor allem durch Balladen, insbesondere durch die „Lenore", bekanntgeworden. Sein Gedicht „An den Traumgott" (entstanden 1770) schreibt sich noch aus dem Geist des Rokoko her, dem auch der Vers nahesteht. Doch auch hier findet sich die Verbindung mit anderen, sehr viel dunkleren Tönen.

Claudius' Gedicht „Die Sternseherin Lise" (1803) bewährt noch einmal in Metaphorik, Rhythmus und Reim das sehr Einfache als lyrische Möglichkeit, das in der letzten Strophe sich auf eine unerhörte Weise weitet, so daß die subjektive Sehnsucht zu einer Unendlichkeitsvorstellung wird (und das nur mittels einer Steigerung durch die wiederholte Kopula „und").

 

 

AN DEN TRAUMGOTT

 

Du Schwärmer um die Ruhebetten

Von Moos und Flaum,

O Brüderchen der Amoretten19,

Geliebter Traum!

Wo fandest du, sie nachzubilden,

Den Stoff so fein? -

In überirdischen Gefilden

Gewiß allein!

 

Zu freundlich nur für Adelinen20

War dies ihr Bild.

Wann wäre sie mir selbst erschienen

So sanft, so mild? -

Verkündigst du wohl noch mir Armen

Barmherzigkeit? -

Nein! Nein! sie fühlet kein Erbarmen

In Ewigkeit!

 

O Traumgott, ist es ja dein Wille,

Mir wohlzutun,

So wandle deine schöne Hülle,

Und kleide nun

Dich in ein Wesen, wie das meine.

Von Gram verzehrt,

Und wie ein Leidender erscheine,

Der Trost begehrt.

 

Den Schatten laß mein Bildnis gleichen,

Die still bei Nacht

Durch Hallen und um Gräber schleichen.

In Trauertracht,

Mit hagrer Wang' und einer Miene,

Die Gnade fleht,

Tritt hin zu dieser Adeline,

Die mich verschmäht;

 

Und neige dich mit leisen Tönen

Bis an ihr Ohr;

Zähl' ihr die Seufzer und die Tränen

Der Liebe vor;

Und bring' in Aufruhr ihr Gewissen!

Ihr Schlaf entflieh'!

Und schluchzend unter Zährengüssen

Erwache sie!

 

 

DIE STERNSEHERIN LISE

 

Ich sehe oft um Mitternacht,

Wenn ich mein Werk getan

Und niemand mehr im Hause wacht,

Die Stern am Himmel an.

 

Sie gehn da, hin und her zerstreut

Als Lämmer auf der Flur;

In Rudeln auch, und aufgereiht

Wie  Perlen an der Schnur;

 

Und funkeln alle weit und breit,

Und funkeln rein und schön;

Ich seh die große Herrlichkeit,

Und kann mich satt nicht sehn..

 

Dann saget, unterm Himmelszelt,

Mein Herz mir in der Brust::

„Es gibt was Bessers in der Welt

Als all ihr Schmerz und Lust."

 

Ich werf mich auf mein Lager hin,

Und liege lange wach,

Und suche es in meinem Sinn,

Und sehne mich darnach.

 

Anmerkungen:

1 Sch-inn: entweder Klopstocks Kusine Marie Sophie Schmidt (Schmidtinn) oder die Schwester von Johann Heinrich Schinz (Schinzinn).

2 Uto: der Ütliberg bei Zürich.

3 Hallers Doris: Albrecht Haller (1708 – 1777), betrachtend-philosophischer Lehrdichter der Aufklärungszeit; Doris: das Gedicht „Doris“ von H. (1730 veröffentlicht), das seiner Braut Mariane Wyß galt, war zu jener Zeit sehr populär.

4 Hirzels: Hans Caspar Hirzel (1725 – 1803), schweizer Arzt und Schriftsteller, Freund Klopstocks.

5 Daphne: Johanna Maria Hirzel; Gattin Hans Caspar H’s. Der Name wurde von den Anakreontikern oft gebraucht.

6 Kleist, Ewald Christian (1715 -1759), philos. Naturdichter der Aufklärung, Freund Klopstocks.

7 Gleimen: Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 1803), Lyriker der Aufklärung, führender Vertreter  der Anakreontik, ein Freund Klopstocks.

8 Hagedorn: Friedrich H. (1708 – 1754), anakreontischer Lyriker und Fabeldichter.

9 Au: Insel im Zürichsee.

10 Odem: Atem

11 im sokratischen Becher: Anspielung auf Xenophon, Gastmahl 2, 36 (Symbol für weises Maßhalten).

12 Tempe: Tal in Thessalien, am Fuß des Olymps. In der Antike als paradiesischer Ort gerühmt.

13 Elysium: in der griech. Mythologie das Land der Seligen in der Unterwelt.

14 Luna. lat Mond.

15 Zephirs: Zephiros, Gott des Westwindes; der Westwind galt als der freundlichste aller Winde.

16 Fäntchen: „knabe, bub, gern mit dem nebensinn eines leichtfertigen menschen, schalks und gecken“ (Grimms Deutsches Wörterbuch)

17 Kalmus: Aronstabgewächs, wächst an Teich-, See- und Flußufern.

18 Flaumenfeder: Flaumfeder.

19 Amoretten: geflügelte Liebesgötter, meist in Kindergestalt.

20 Adelinen: Adeline, traditioneller Mädchenname der Anakreontik.

 

 

 

Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten. Teil III

 

„ Wir müssen Denkanstöße geben“, rief der Redner leidenschaftlich in den Saal.

Alsbald erhoben sich etliche Zuhörer, liefen hinaus, hüpften und tanzten über Straßen und Plätze, riefen begeistert „Denkanstöße, Denkanstöße“ und stießen dem und jenem  an den Kopf, daß er purzelte und kugelte.

Der eine oder andere nahm sich jemanden vor, fragte, ob er schon einen Denkanstoß bekommen habe, und wenn der sich ängstlich an den Kopf faßte, packte er ihn, gab ihm eine Kopfnuß und lief  dann weiter.

„Denkanstöße, Denkanstöße“, hallte es durch die Stadt, Denkanstöße wurden erregt, immer wieder stießen zwei oder drei aufs Denken an, mancher nahm  auch mal einen Denkanstoß. Und als der Tag verging, sah man überall  Männer, Frauen und Kinder, die, einmal vom Denken angestoßen, nun unablässig, manchmal sogar im Chor  dachten und dachten und dachten. 

 

 

„Wenn Sie offene Türen einrennen, bringen Sie das Faß zum überlaufen.“

„Durch Einrennen ?“

„Ja natürlich, bedenken Sie doch: ein offenes Faß.“

„Und was machen wir mit der Tür ?“

„Die läuft ins Faß über.“

„Und rennt dort immer weiter ein ?“

„Nein, sie läuft immer weiter über.“

„Als Tür ?“

„Als Faß und als Tür !“

 

 

Im Dickicht  suchte der Journalist Q. nach einer guten Meldung. Da tat sich vor ihm plötzlich das Sommerloch auf, und er versank in ihm.

Sein letzter Gedanke war: „Vielleicht ist es das schwarze Loch,vielleicht falle ich durch und komme auf der anderen Seite wieder heraus. Dann habe ich eine  tolle Meldung.“

                          

„Sie müssen frischer schreiben, flotter, farbiger“, ermahnte der Chefredakteur

seine Redaktion.

?

„Und vor allen Dingen: die Tatsachen, die facts, nicht wahr.“

!

„Und vergessen Sie niemals die Linie des Blatts !“

!!

„Verprellen Sie aber nicht unsere Anzeigenkunden.“

?

„Natürlich nichts gegen Minderheiten, gegen die Frauen, gegen

Greenpeace, gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung.“

!!!

„Und immer dran denken: kurze Sätze, keine Fremdwörter, pfiffiger Aufhänger.“

Klar, Chef.

„Sehen Sie, so macht man eine gute Zeitung. So wird man gelesen.“

 

„Was gibt es, bittschön, im Fernsehen?“

„Im Fernsehen gibt es einen sympathischen Kinderfilm, eine

durchgeknallte Western-Parodie, einen gefälligen Familienfilm

und einen Dauerbrenner.“

„Und dann?“

„Dann gibt es ein Musikereignis mit Tradition, ein Klassik-Highlight mit

gern gesehenen Gästen, dem Star-Geiger und dem Ausnahme-

Pianisten, die das Weltklasse-Ensemble abrunden.“

„Und dann?“

„Dann gibt es die größte Silvesterparty Deutschlands, ein Mega-

Silvester-Event, ein Highlight.“

„Und was gibt es sonst noch?“

„Dann gibt es noch den sympathischen, durchgeknallten,

gefälligen, gerngesehenen, größten Ausnahme-Weltklasse-

Wetterbericht mit Tradition, einen Highlight-Dauerbrenner.“

„Der wird sicher präsentiert von meinem Arzt oder Apotheker.“

                      

„Ich habe ein Patentrezept“, rief Herr K. über den Platz.

„Ein Patentrezept ?“  fragten die Leute.

„Ja, ein Patentrezept“, wiederholte Herr K.

„Wunderbar“, sagten die Leute, „er hat ein Patentrezept!“

Ein Bedächtiger näherte sich der Menge.

„Aber es gibt doch kein Patentrezept“, sagte er.

„Es gibt keines ?“ fragten die Leute in der Menge.

„Nein“, sagte der Bedächtige, „es gibt natürlich kein Patentrezept“.

„Ach so“, sagten sie, „na dann“, und sie verkrümelten sich.

                      

„Sind Sie Sonnenanbeter?“

„Leider nicht. Ich bin Morgenmuffel.“

„Und was wollen Sie werden?“

„Computerfreak.“

„Kann man denn davon leben?“

„Das nicht, aber es schafft Verbindungen.“

„Mit wem ?“

„Mit Sonnenanbetern.“

                       

„Tschüß!

„Wie bitte?“

„Also Tschüß!“

„Was heißt das?

„Tschüß dann!“

„Sprich bitte Deutsch, ich bin Ausländer.“

 

 

VOM (EINSTIGEN) LEBEN

 

1982 (Ägypten und anderes)

 

Viel Wut über die Lage der Hochschule, der Schule, des Landes. Vorherrschend ist der Eindruck: Die dummen Kerle regieren. Ich lese das gerade erschienene Buch über die Hochschulreform („Hochschulreform  - und was nun?), das H.A. Glaser herausgegeben hat und in dem ich auch vertreten bin, mit Zustimmung.Unter der Überschrift „Wir Reformierten“ schreibe ich von der politischen Reform, der Reform der Ideologen und der Reform der Macher. U.a. heißt es dort:

     

Was die ideologische Reform in diesem Fach [der Germanistik] geleistet hat, ist unübersehbar. Die Germanistik ist nicht homogener, sondern disparater geworden. Trotz der ungewöhnlichen Zunahme wissenschaftlicher Stellen in den letzten Jahren, deren Inhaber vielfach freudig die Vokabeln aufschnappten und weiterkauten, die ihnen zugeworfen wurden, ist das Mittelmaß wissenschaftlicher Leistungen dominierend geworden.

Aus den durchdidaktisierten Schulen aber, deren Oberstufe sich als Vor-Universität versteht, tönt einerseits unisono die Klage vom Streß und werden andererseits Abiturienten entlassen, die nicht einmal mehr das Minimum der Informationen mitbringen, die für ein erstes Universitätssemester unerläßlich sind. So setzt sich der Schulstreß als Frustration durch das Studium fort, ganz gleich, ob man nichts versteht oder ob das, was man versteht, der ideologische Jargon, einem notwendig nach drei oder vier Semestern zum Halse heraushängt.

Aber unverdrossen, in sozusagen frohgemuter Sorgenzerfurchtheit taucht sicher schon morgen auf irgendeinem Bildschirm einer der Bildungsideologen oder der ihnen nachplappernden Bildungspolitiker auf und weiß es immer wieder, immer noch ganz genau. Denn natürlich, so beweisen sie uns, hat nicht ihr falsches Denken die Zustände noch miserabler gemacht, als sie waren, sondern die Zustände haben sich immer noch nicht vollkommen ihrem Denken angepaßt. Und da geschieht es der Wirklichkeit nur recht, daß sie trostlos ist

 

Wieder einmal die geschäftsführende Direktion des Instituts, der sich  ein Wust alltäglichen Krams präsentiert: sogenannte Besprechungen, Diktate von Briefen, Prüfung von Rechnungen, Ankäufe, Durchsicht von Antiquariatskatalogen, Bibliotheksfragen, Einstellung von Bibliothekarinnen, Begehungen von Räumen und Gebäuden, deren Schmutz und Hinfälligkeit auffällt, Probleme der wissenschaftlichen Mitarbeiter, Nachfolgeeinstellungen für Ausscheidende, Einwirkungen auf die Fachschaft, Verhandlungen mit der Verwaltung etc, etc. Und das alles,.ohne daß einem ein Pfennig mehr gezahlt würde.

 

Nach längerem Hin und Her werde ich im März auf eine Gastprofessur in Kairo-Heliopolis berufen. Dort empfängt mich der Kollege M. und seine Frau, dessen Haus an einem kleinen Platz liegt und zwischen den später gebauten Hochhäusern fast verschwindet. Frau M. ist Deutsche, er ein bißchen levantinisch, aber liebenswürdig und hilfsbereit. Schon am ersten Morgen in einem Hotel werde ich von dem Germanistik-Studenten Hisham abgeholt. Das wird zur gut funktionierenden Übung in der nächsten Zeit.Wir fahren nach Kairo, das etwa 15 km weit entfernt liegt. Man fährt ohne Regel und ständig hupend. Wir suchen das DAAD-Büro in Zamalek auf, wo uns der Leiter Dr. W. empfängt. Danach geht es zum deutschen Kulturattaché Dr. G., der vor zwei Jahren aus Japan gekommen ist. Auffällig ist die Unauffälligkeit dieser Repräsentanten deutscher Kultur. Danach der Versuch, Reiseschecks in Devisen umzutauschen. Das gelingt erst bei der dritten Bank. Auch in dieser ‚besseren Gegend’ geht man auf der Straße, denn die Bürgersteige sind nur festgeklopfter Boden oder defekt oder mit Sand und Schutt blockiert. Dann das erste Mittagessen: Kebab und Kofta. Die Sensationen um den Tahrirplatz: Gewimmel, hupendes Autochaos. Nachmittags kehren wir in Prof.M’s Haus zurück.

Am nächsten Tag kommt der höfliche Hamid, groß und breit, und der kleine, quirlige Mohammed, der den Mercedes seines Vaters fahren darf. Wir fahren an den Mamelucken-Gräbern vorbei zur Zitadelle, die aber nicht betreten werden kann, weil dort angeblich politische Gefangene einsitzen. Vorher ein kritisches Gespräch über Sadat, dessen außenpolitische Bedeutung Hamid sieht, den er aber innenpolitisch als Übel betrachtet. Anschließend sind wir in der beträchtlichen Er-Rifai-Moschee, in der v.a. das Kenotaph des als Heiliger verehrten Scheichs Ali Er-Rifai beeindruckt. Doch zeigt uns der Moscheewächter auch stolz die Kenotaphe der Könige Fuad und Faruk und das Grab des letzten Schahs.Sehr viel wichtiger aber ist die Sultan-Hassan-Moschee: alles gut proportioniert, aber im Grunde sehr schlicht und ein bißchen dem Verfall entgegensehend. Schließlich die Blaue Moschee, dann zurück durch das Wirrsal der Gassen: Handwerker, Kinder, Autos, Mülleute, Gerüche, Fliegen. Nachmittags holt mich Herr M. ab, und wir fahren in die Sprachenabteilung, die in ganz primitiven Räumen einer alten Grundschule untergebracht ist. Der Verwaltungschef sitzt in einem schlichten Büro, ebenso der Abteilungsdekan. Die Studenten des vierten Studienjahres warten in einem relativ kleinen, spartanisch möblierten Raum. Von draußen Eselsgeschrei. Wir sprechen über den Literaturbegriff und Kants Auffassung vom Schönen. Obwohl das ziemlich schwierig ist, sind die ca 25 -30 Studenten ganz bei der Sache. Das Ganze dauert ca drei Stunden.

Am nächsten Tag holen mich Tarek und Mohammed Saad ab, der erste groß und schlank, ein bißchen englisch wirkend, der zweite klein, dunkel, aufmerksam. In der Abteilung bekommen wir von Herrn M. ein Empfehlungsschreiben für das Antiquitätenamt. Dort sollen wir einen Ausweis zum freien Eintritt für die ägyptischen Altertümer erhalten. Wir werden in den siebenten Stock gewiesen, dann in den dritten, schließlich in den ersten geschickt. Überall sitzen Beamte, meist mehrere in einem Zimmer, und blättern in Aktenfaszikeln. Der Chairman, der allein den Ausweis unterschreiben darf, ist nicht anwesend, wir müssen am Sonntag wiederkommen. Ich sage: Kafka, und die beiden lachen. (Herr M. übersetzt K. und hat damit spontanen Erfolg.) Dann fahren wir nach Gizeh und zu den Pyramiden. Man kommt durch freundliche Anlagen, die sich deutlich von dem Kairoer Chaos unterscheiden, vorbei am alten Mena House Hotel. Vor uns die Cheops-Pyramide, dahinter die Chephrens und die Mykerinos-Pyramide. Mit welch einer ungeheuren Tat beginnt die Geschichte. Und immer noch, kaum veränderbar, dahinter die Wüste. Man ist fünf Minuten von der Endhaltestelle der Busse fern allem Zivilisationsbrei. Später der Weg zur Sphinx, Repräsentantin des Immerwährenden.

Zurück in der Stadt, gehen wir auf der Insel Roda spazieren. Das Nilufer ist eher traurig und schmutzig durcheinander als erfreulich. Tarek gibt dafür eine eigentümliche Erklärung: er spricht von einer Art Negativharmonie. Der Arme, ohne Hoffnung, möchte nicht durch Helles, Heiles, Schönes provoziert werden. Sadat ist auch für ihn eine Gestalt beginnender Tyrannei gewesen, „der sterben mußte“. M. hebt ihn dagegen deutlich und positiv von seinem Vorgänger Nasser ab.

Am Freitag ist muslimischer Feiertag. Habib hilft mir beim Umzug in ein anderes Hotel. Wir suchen virgin’s tree, den aber kaum ein Einheimischer kennt. Schließlich finden wir ihn in einem ummauerten Gärtchen. Fahrt auf die Mokattamberge, die braun und kahl hinter der Zitadelle aufragen und von deren Höhe man das riesige, in Dunst liegende Kairo sieht. Das Restaurant Andrea ist eines für die Reichen. Es gibt Vorspeisen und holzkohlengegrilltes Hähnchen. Habib bezahlt für uns drei 15 ägypt. Pfund und findet das recht preiswert. (Das Pfund wird 1982 mit 2,80 DM bewertet.) Er erzählt von der Anmietung einer Wohnung, die nur durch Zahlung eines Schlüsselgeldes von 3000 Pfund gelang. Er verdient als Assistent 70 Pfund, als Übersetzer über 300 Pfund. Seine Frau ist als Deutschlehrerin tätig und bekommt vielleicht 100 Pfund. Sie haben einen kleinen Sohn, wollen nicht mehr Kinder, und sprechen von der Geburtenfrage als der entscheidenden Ägyptens. Viele Scheichs lehrten aber noch, man müsse so viele Kinder haben, wie Allah schicke.

Nachmittags ist bei M. die Familie Dr. A. eingeladen: er ist Ägypter, sie DDR-Bürgerin, jetzt aber mit westdeutschem Paß, dazu die Schwiegermutter aus der Gegend von Magdeburg. Die schimpft sehr auf die DDR-Verhältnisse, während sich die Tochter ganz zurückhält.

In der Nacht hole ich mit M’s Hilfe die Familie vom Flugplatz ab. Seine Hilfbereitschaft ist reizend. Am nächsten Morgen Schritte durch Heliopolis, wo man nur schwer laufen kann. Das gilt selbst für die Gegend um den Präsidentensitz, wenige hundert Meter vom Hotel. Stehenbleiben darf man nicht.

Hisham holt uns am nächsten Tag zu einem Besuch des Ägyptischen Museums ab. Der Direktor empfängt uns freundlich und entläßt uns in eine, so sagt er, Baustelle. Es ist atemraubend, mit welcher Selbstverständlichkeit  die Museumsbestände unübersehbaren Renovierungsarbeiten überlassen werden. Die Fülle ist so ungeheuer, daß es offenbar auf diesen oder jenen Verlust, die eine oder andere Beschädigung nicht ankommt. Selbst die außerordentliche Hathor-Kuh ist gerade mal in eine Folie eingeschlagen. Für mich sind die Zeugnisse des Alten Reichs vor allem interessant: die ganz schlichten, sehr schönen Sarkophage, der sog. Dorfschulze, das Paar Rahotep und Nofret, der Zwerg und seine Familie, die ganz exakt dargestellten Gänse. Sehr überlagert werden diese Eindrücke durch das Tut-ench-amun-Grab. Außerordentlich die Textilien und Ledersachen; überwältigend die großen Gegenstände aus dem Grab: die Schreine, die beiden Särge, die Thronsessel, die Betten. In dem danebenliegenden Raum altägyptische Juwelierskunst, ganz stark wirkt ein goldener Horusfalkenkopf. Nach drei Stunden sind wir müde von so vielem Fremdschönen.

Am nächsten Tag kommt der kluge Tarek. Wir fahren zunächst in die Abteilung, wo ich wiederholt dem vierten Jahr etwas über die Anfänge Musils und über Buddenbrooks erzähle. Sie hören aufmerksam zu, wirken allerdings manchmal, obwohl ich bis zur Trivialität vereinfache, etwas überanstrengt und tuscheln dann miteinander. Anschließend Besuch der Ibn-Tulun-Moschee, die sich als eindrucksvolles Geviert um den Hof mit den Reinigungsbrunnen legt. Wir klettern aufs Minarett. Dann zum Gayer-Anderson-Museum, zwei älteren Kairoer Häusern, die ein britischer Arzt in allen Tendenzen des Orients etabliert hat. Man bekommt einen guten Eindruck früherer Wohnkultur. Außerdem ist jeder derartige Besuch eine kleine Rettung auf eine Insel in einem Meer von Autoverkehr, Menschengewimmel, Schmutz und Staub.

Am nächsten Morgen fahren wir nach Süden, aus Gizeh heraus über eine einigermaßen passable Straße, an der sich bald schon hochwachsende Palmenwälder ausbreiten, und kommen nach Sakkara. Vor uns die älteste Pyramide,Djosers Stufenpyramide. Wir lassen uns zuerst zur Mastaba des Mereruka bringen, zunächst ein verwirrendes Grab- oder Haussystem, aber nach exaktem Plan mit Wohnteilen für diesen Oberbeamten der 6. Dynastie. In der großen pfeilerbestandenen Opferkammer geht uns Mereruka in voller Größe entgegen, in der Haltung von Ruhe und Würde. Zum ersten Mal begegnet uns die Fülle detaillierter und sich immer wiederholender Darstellungen aus dem Leben des Toten. Diese Fülle sieht man auch im Grab des Ti, eines Beamten der 5. Dynastie. Hier gibt es auf den Streifenbildern der Grabkapelle Darstellungen zu vielen Themen des täglichen Lebens bis hin zur Bauernprügelei, zum Dreschen des Korns, zum Bootsbau.

Als wir im Bezirk der Djoser-Pyramide sind, müssen wir uns in den Kolonnaden vor dem plötzlich aufgepeitschten Sand schützen und die Besichtigung vorzeitig abbrechen Auf der Rückfahrt noch ein Halt bei der Alabastersphinx und der kolossalen Ramsesstatue, dem Gegenstück zu der auf dem Bahnhofsplatz in Kairo.

Abends holt uns Dr. E., ein hiesiger Lektor und früherer Kulturinstitutsleiter in Alexandria, zu einem Abendessen in seine Wohnung in Maadi. Er ist mit einer Ägypterin verheiratet. Ein ganz ägyptisches Essen und interessante Gespräche über die Lage des Landes. Die beiden E’s erzählen von dessen Schwierigkeiten, dem Verfall, der Bevölkerungsexplosion, der großen Problematik des Assuan-Staudamms. Obwohl E. schon so lange im Lande ist, sind seine Eindrücke ähnlich den unseren: ständige Faszination und erhebliche Irritation.

Am nächsten Morgen lädt uns Herr M. zu einem Basar-Besuch ein. Kein tumultuöses Ereignis, sondern angenehmes Schlendern  durch eine unendliche, freilich sich wiederholende Fülle von Lederwaren, Silber und Messing, Einlegearbeiten, Juwelen, Papyri. Bei einem Schulfreund von M. fallen uns die changierenden Alexandrettesteine auf. Anschließend kommen wir zur Kalaûn-Moschee, die eindrucksvoll, aber verfallen sich zeigt. Dort sehen wir das Mausoleum dieses Sultans. M. führt uns immer tiefer in das Labyrinth dieser Gegend. Wir stehen vor dem alten Wohnhaus des Rektors von Al Azhar. Beim Ausparken erhält ein Bettler von M. eine Münze von fünf Piastern, die ihm aber mit Ausdrücken des Unmuts zurückgeworfen wird.

Gegen Abend Empfang im Goethe-Haus zu dessen Todestag. Zwei ägyptische Opernsänger tragen Schubert, Schumann und Wolf vor, zumeist Lieder auf Texte G’s. Die Vertreter der deutschen Kulturpolitik zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich mit sich selbst beschäftigen.

Am nächsten Morgen schaffen wir unsere Sachen zu M., da wir am Abend den Schlafwagenzug nach Luxor nehmen wollen. Danach Gänge durch Heliopolis. Hisham bringt uns abends zum Bahnhof: Gewimmel wie überall. Der Zug ist noch sehr neu und ganz gepflegt. Er fährt langsam durch eine biblische Landschaft ins Niltal mit Palmen, Feldern, Eseln und bäuerlichen Reitern, mit Wasserbüffeln, manchmal einem Kamel. Die Schienen sind ziemlich schlecht, und wir können kaum schlafen. Der Zug kommt pünktlich in Luxor an. Wir werden alsbald in eine calèche verladen, eine hübsch aufgezäumte Pferdekutsche, und fahren zum Mina Palace, der aber ausgebucht ist. Zwar hatte uns mein Schüler Abo H. dort an seinen Onkel, den Hotelbesitzer, gewiesen, aber der ist gar nicht da, der Empfang ist eher abweisend. So fahren wir weiter zum Hotel Philippe, wo wir freundlichst empfangen werden.Die drei Tage in Luxor lehren uns das Staunen neu. Einen Blick haben wir schon auf den Luxor-Tempel geworfen, jetzt besuchen wir ihn als erstes der Theben-Denkmale. Wir haben den Eindruck eines Pylons, einer Mauer gegen die Welt, eines Tors in die andere. Davor die beiden Ramses-Figuren, den Obelisk, dessen Pendant auf dem Concorde-Platz in Paris steht. Dann die ungeheuren Säulen, gesteigert noch im Karnak-Tempel, aber hier schon das Gefühl einer absolut sicheren Monumentalität vermittelnd. Der zweite sehr starke Eindruck: die Unendlichkeit der Bildbeschriftung. Alle Monumentalität dient als Fläche für Bedeutung, für endgültig zu Sagendes, und als Drittes das Prinzip der Wiederholung. Es bleibt aber auch die Eigentümlichkeit der relativen Bescheidenheit des Tempelziels, des Heiligtums und des Allerheiligsten, so, als habe sich das Monumentale am Beginn schon erschöpft. Am nächsten Abend sehen wir den Tempel noch einmal: beleuchtet. Nun treten die einzelnen Teile noch stärker hervor, von einem Himmel tiefsten Dunkelblaus überwölbt. Am frühen Nachmittag lassen wir uns nach Karnak bringen, fahren durch arme Dörfer, an Tier-und Menschengruppen vorbei und stehen vor dem Ungeheuren, dem Reichstempel. Noch monumentaler der erste Pylon, noch weiter der große Hof mit den Widdersphingen. Aber den Atem nimmt der große Saal mit den weit über hundert Säulen, in den Himmel gestemmt, Zeugnis immer noch: Wir sind hier gewesen, wir haben uns überliefert. Ein Mächtiges und ein Geordnetes zugleich wie nirgendwo sonst.Es bleibt der Gesamteindruck aus Pylonen, Statuen, Obelisken, zu dem auch die Eingriffe späterer Könige wie die Selbstverherrlichung ihrer Vorgänger gehören. Von einer Tribüne aus über dem heiligen See überblicken wir die ganze Anlage und die Umgegend. Den großen Skarabäus, glatt und für ewig, sehen wir im Weggehen. Wir gehen zum Nil hinunter und auf Luxor zu: ein leichter blütenreicher Spätnachmittag an diesem großen Fluß.

Am nächsten Morgen geht es auf die Westseite des Nils, begleitet von einem eifrigen Eselführer, der das Taxi des Bruders empfiehlt. Auf der Fähre Einwohner in Galabijas und Turbanen, drüben des Bruders Taxi weit hinten. Nach vielem Hin und Her fahren wir für den ausgehandelten Preis von 9 Pfund mit einem anderen Taxi los, durch Qurna, ein trauriges Dorf, zum Tal der Könige hinauf, zum Totentempel Sethors I., zu den Königsgräbern Ramses’ IX., Meremptahs und Ramses’ VI. Der erste Eindruck ist immer der von der Tiefe der Anlage, der zweite der von der Überfülle farbiger Bilder. Das Grab Tut-ench-amuns ist erstaunlich klein, erstaunlich angesichts der Fülle von Grabschätzen, bewegend ist, daß hier noch die Mumie des Königs liegt. Das Grab Sethors I. dagegen ist sehr groß mit einer eminenten Fülle von Bildern. Man steigt immer tiefer, wird hineingezogen in eine andere Welt, in der alles versammelt ist, was für diese Menschen Bedeutung war. Es ist auf tiefe Weise anstrengend. Nach drei Stunden wieder zur Fähre zurück. Nachmittags in dem kleinen, aber gut arrangierten Luxor-Museum. Am Sonntagmorgen noch einmal Überfahrt nach Theben–West. Zum festen Preis von 10 Pfund fährt uns ein freundlich-unaufdringlicher Taxifahrer mehrere Stunden herum: zum Tempel der Hatschepsut, leicht und ganz gegenwärtig, nichts von der Monumentalität von Karnak, Weiterfahrt zum Ramesseum, wo das Stärkste nicht der Tempel, sondern die von Kambyses vor 2500 Jahren gestürzte Statue Ramses II. ist, Einheit von Dauer und Fall. Der Totentempel Ramses III.: das letzte Monumentale. Zum Schluß noch die Ptolemäer-Tempel in Dir el – Medina: ganz ägyptisch, aber wesentlich zierlicher. Auf dem Rückweg noch einmal die Findlinge der Memnonkolosse. Nachmittags das koloniale Luxor und der Basar.

Der Zug fährt erst nach 10 Uhr. Tarik holt uns am nächsten Morgen am Bahnhof in Kairo ab. Wir fahren an den Pyramiden von Medum,Lischt und Sakkara vorbei, ziehen wieder in unser Hotel.

Am Dienstag erzähle ich der vierten Klasse etwas über Musils „Törleß“. Dr. E. lädt zur Fahrt ins Koptische Viertel ein, wir werfen einen Blick in die Amr-Moschee, die älteste Kairos. Danach beginnt das Koptische Viertel, in dem alles sehr alt und ganz geschlossen wirkt. In der Sergius-Kirche, die eher bescheiden ist, fällt bei genauerem Hinsehen Schönes auf: z.B. Schnitzereien an der Kapellenwand. Ganz ähnlich in S. Barbara, anders ist es mit der hängenden Kirche, die Sitz des Patriarchen war. In allen Kirchen die monolithischen und doch sehr gegliedert wirkenden Kanzeln. Das Koptische Museum liegt hübsch, ist ein Ort der Erquickung im chaotischen Kairo: mit sehr alten Stoffen, frühen Manuskripten, der Kanzel aus dem Jeremiaskloster, die wie ein islamischer Minbar wirkt, eine völlig eigene, stille Welt meldet sich, das missing link zwischen Antike und Mittelalter. Kurzer Besuch in der Synagoge, in der uns ein alter Wächter auf sehr alte Thora-Rollen hinweist.

An einem weiteren Tag Fahrt zum Zoo, einer der wenigen Oasen in der Kairoer Verkehrswüste. Anschließend in Mohammed Alis Manial-Palast mit prächtiger Moschee und gut gehaltenem Park. Im Palast, einer europäischen Gründerjahrvilla „im osmanischen Stil“, wohnten Roosevelt und Churchill. Dann ein äußerlich unscheinbarer Langbau, der eigentlich nur den Thronsaal enthält.Nachmittags wieder bei den Postgraduierten: der Literaturbegriff. Im Merryland-Park, auf der Insel Gezira, noch einmal im Ägyptischen Museum, auch im Islamischen, in dem man gut Aufgestelltes findet: der Islam setzt Koptisches fort. Anschließend in Al Azhar mit lichtduchglühtem Binnenhof und dämmrigem Moscheeraum.

Der Assistent Mahmud fährt uns ein paar Tage später in die Oase Fayum. Nach der Wüstenroute sind wir auf einmal inmitten von grünem, fruchtbarem Gartenland, sind dann in Medinet Fayum, der Hauptstadt. Auf der Rückfahrt werden wir in M’s väterliches Haus „der Düfte aus 1001 Nacht“geführt, einen Essenzhandel. M. wird alsbald zum Geschäftsmann.

Ein Besuch in Ismailia: Fahrt durch die arabische Wüste nordostwärts. I. ist, mit Kairo verglichen, eine wohlgeordnete, sehr ruhige Stadt.Wir sehen im Suezkanal die Durchfahrt eines Konvois.

Dann die letzte Vorlesung für das vierte Studienjahr. Eine Nilfahrt, danach Einkehr in die klimatisierte Hotelstadt des neuen Hilton. Mit Mohammed Ridda  schließlich im Wunderland der ägyptischen Bürokratie: Wir müssen im Hochschulministerium den Honorarscheck abholen. Die zuständige Dame ist aber nicht da. Stattdessen ein Direktor, der den unterzeichnungsberechtigten Kollegen alsbald sucht und nach 1 ¼ Stunde erschöpft, aber glücklich mit dem Scheck wiederkommt. Wir müssen noch zum Generaldirektor, der Komplimente macht, Tee anbietet, Anekdoten erzählt, dann zu der Bank, die allein den Scheck auszahlt. Dort reihen wir uns ein in eine Schlange von Gehaltsempfängern und bekommen das Honorar schließlich in neuen ein Pfund-Noten. Nachts fliegt die Familie pünktlich ab. Nach einem nochmaligen Besuch in Sakkara und einem Dankbesuch bei den M’s holt mich Dr. E. zum Frühstück im El Salam ab, dem großen Hotel für Staatsbesuche, und führt mich dann zu den versteinerten Wäldern der arabischen Wüste, zu einer alten koptischen Kirche „Mariä Überfahrt“. Nach weiteren Stationen werde ich von Herrn M. nachts zum Flugzeug gebracht.

 

In S. nach den Wochen in Ägypten lebhafte Arbeit an dem zweiten Band des Musil-Kommentars, der dann endlich an den Verlag abgeht.

Aus der Studienreformkommission des Landes, der ich neun Jahre angehört habe, trete ich aus, weil ich deren Arbeit inwischen als völlig unsinnig ansehe.

Mit den Kollegen einige ich mich auf zwei(Halbtags-)Kandidatinnen für eine Bibliothekarinnen-Stelle. Es gibt aber danach Bedenken gegen eine der beiden. Darum soll die zweite Halbtagsstelle erneut ausgeschrieben werden. Nach einem Monat wird eine weitere Kandidatin für diese Halbtagsstelle gefunden. Vom Personalrat der Universität wird diejenige, die von Anfang an für die Direktoren feststand, nicht akzeptiert.

Die Institutssekretärin teilt mir mit, die Erstgenannte sei von der von den Direktoren Abgelehnten angerufen worden: sie solle noch nicht so fest mit der Stelle rechnen. Auch kenne sie die Briefe, die ich an den Personalrat geschrieben habe. Ich rufe den Verantwortlichen in der Verwaltung an und sage ihm, ich sei nicht mehr bereit, mit dem Personalrat über diese Angelegenheit zu verhandeln. Herr A. sagt mir, auch der zweiten Kandidatin habe der Personalrat noch nicht zugestimmt.

Nach einer weiteren Woche teilt mir Herr A. mit, daß ihn eine Begründung für die Ablehnung der ersten Kandidatin seitens des Personalrats bis heute nicht erreicht habe. Der Personalrat habe aber von gesetzeswegen 14 Tage Zeit, seine begründete Ablehnung mitzuteilen. Im allgemeinen werde aber von dieser Frist kein Gebrauch gemacht. Im Fall der zweiten Kandidatin habe der Personalrat zum zweiten Mal seine Entscheidung vertagt. Ich sage zu Herrn A., die Direktoren seien gezwungen, noch heute eine Entscheidung zu treffen, die wirksam werde, wenn wir nicht bis morgen die Zusage hätten, daß die Bibliothekarinnen am Montag mit ihrer Arbeit beginnen könnten.

Die Direktoren beschließen, den Rektor sofort um ein Gespräch zu bitten. Wir beschließen ferner, falls uns nicht unverzüglich die beiden Stellen zugesprochen werden: 1. keine neuen Bücher der Institutsöffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, 2. keine Bestellungen mehr aufzugeben, 3. das Institut um 18,30 h zu schließen, damit die Aufsichtführenden die Bibliothek in Ordnung bringen können, da die bibliothekar. Hilfskräfte für den Notdienst in der Bibliothek erforderlich seien. Dies solle instituts- und universitätsöffentlich gemacht werden.

Am nächsten Tag findet ein Gespräch beim Rektor statt, der volles Verständnis zeigt. Herr A., hinzugebeten, teilt mit, daß die Verwaltung entschlossen sei, die Erstgenannte zum kommenden Mittwoch einzustellen, entweder mit vollem Arbeitsvertrag oder, wenn der Personalrat die Schiedsstelle anrufen sollte, vorläufig. Das Verfahren könne dann bis zu einem Jahr dauern. Er zeigt mir die Begründung für die Nichtzustimmung zu der Erstgenannten. Sie enthält keinen Satz zu dieser, sondern nur Beschwerden über die Nichteinstellung der zunächst Zweitgenannten. Weiter teilt Herr A. mit, daß die neuerdings Zweitgenannte zum Mittwoch ebenfalls eingestellt werde, wenn der Personalrat nicht bis Montagabend Einspruch erhebe. Andernfalls müsse mit der Arbeitsaufnahme der jetzt Zweitgenannten noch vierzehn Tage gewartet werden.

Ich sage zu, dem Rektor unverzüglich einen Brief mit der Substantiierung unserer Beschwerden zukommen zu lassen. Vier Tage später kommt ein Anruf von Herrn B. von der Verwaltung: der Personalrat habe beiden Einstellungen zugestimmt.

 

Nummer 23 (November 2009) s. Archiv

INHALT: VON DER LITERATURWISSENSCHAFT: Wilhelm Emrich. VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert: 18. Jahrhundert (1720 – 1790), 1. Teil.

- Aus dem Phrasenlande. Schöne Geschichten, Teil II . VON DER GEGENWART:

Karrieren -  Reiseeindrücke: Durch’s Baltikum. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1980 –

1981 (Privat durch die DDR)

 

Die Nummern 1 – 23 s. Archiv

 

s. Register der Nummern 1 – 20 „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen

 

NEU: Satirische Gastmahle. Die Liebesmahl-Szene in Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ mit Seitenblicken auf Platon, Petronius Arbiter, Shakespeare und Nestroy. In: Mythos im Alltag – Alltag im Mythos. Die Banalität  des Alltags in unterschiedlichen Verwendungskontexten. Hrsg. v. Christine Schmitz.  München: Fink 2010. S.249 – 259.

 

 

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