Zur Lage der Nation
Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und
zu den Medien in Deutschland
Herausgegeben von Helmut Arntzen

Nummer 27 (März 2011)




INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert – Klassik, 3. Teil (Goethe, Hölderlin) – Fundstücke aus dem 17. Jahrhundert: Grimmelshausen, Gryphius, Lohenstein – VON DER GEGENWART: Schnipsel zum Journalismus: Nachrichten – Journalisten über Stellvertreter – Berichtigung – Von Korrektoren zur Presseschau – Leitartikel – Es bildeten sich Gruppen / Der Verkehr. – Postalisches: Ein Briefwechsel - Abgesang


VON DER LITERATUR:


Deutsche Lyrik, kommentiert
Klassik 3.Teil (Goethe, Hölderlin)


Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts arbeitet Goethe an „Pandora" und den „Wahlverwandtschaften", dann an „Dichtung und Wahrheit". 1814 findet er mit den ersten Gedichten des „West-östlichen Divan" ganz zur Lyrik zurück. Der eigentümliche Gedanke einer atmosphärisch homogenen Gedicht-Sammlung nicht nur, sondern einer Gedichtsammlung, die sich ganz unter die Ägide östlicher, d.h. persischer Lyriktradition, insbesondere der des Hafis, stellt - dieser Gedanke ist gleichzeitig einer der wichtigsten Hinweise auf eine 'innere Literaturgeschichte', die nicht auf Biographisches, sondern auf den Zusammenhang von Literatur mit Literatur abhebt: Der „West-östliche Divan" ist in Bücher aufgeteilt, die nicht auf Lebenssphären so sehr denn auf Möglichkeiten lyrischen Sprechens bezogen sind.
Es folgen fünf Gedichte aus dem „West-östlichen Divan": Ein Liebes- und Rollengedicht aus dem „Buch Suleika" mit jener Aussparung des zu erwartenden Reims „Goethe" in der dritten Strophe: „Locken, haltet mich umfangen" (1815 entstanden), zwei Gedichte aus dem „Buch des Sängers" „Phänomen" (1814 entstanden) und das vielleicht größte der Sammlung „Selige Sehnsucht" (ebenfalls von 1814). Dazwischen wird das Gedicht „Unbegrenzt" (entstanden wohl 1815) aus dem „Buch Hafis" stehen. Und schließlich aus dem „Buch des Paradieses" „Höheres und Höchstes" (entstanden 1818). Goethe unternimmt es in den Gedichten des „West-östlichen Divan" das Einfachste und das Schwierigste in einem lyrischen Sprechen zu verbinden, das oft fast beiläufig und plaudernd erscheint. Er verläßt hier ganz den erhabenen Ton und Versschritt Klopstocks, aber er verfremdet allein schon durch die Namen den gewählten Volksliedton. Wir haben in der deutschen Lyrik nichts Vergleichbares.


HATEM

Locken, haltet mich gefangen
In dem Kreise des Gesichts!
Euch geliebten, braunen Schlangen
Zu erwidern hab ich nichts.

Nur dies Herz, es ist von Dauer,
Schwillt in jugendlichstem Flor;
Unter Schnee und Nebelschauer
Rast ein Ätna dir hervor.

Du beschämst wie Morgenröte
Jener Gipfel ernste Wand,
Und noch einmal fühlet Hatem
Frühlingshauch und Sommerbrand.

Schenke her! Noch eine Flasche!
Diesen Becher bring ich ihr!
Findet sie ein Häufchen Asche,
sagt sie: Der verbrannte mir.


PHÄNOMEN

Wenn zu der Regenwand
Phöbus sich gattet,
Gleich steht ein Bogenrand
Farbig beschattet.

Im Nebel gleichen Kreis
Seh ich gezogen;
Zwar ist der Bogen weiß,
Doch Himmelsbogen.

So sollst du, muntrer Greis,
Dich nicht betrüben;
Sind gleich die Haare weiß,
Doch wirst du lieben.


UNBEGRENZT

Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß,
Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe,
Und was die Mitte bringt, ist offenbar
Das, was zu Ende bleibt und anfangs war.

Du bist der Freuden echte Dichterquelle,
Und ungezählt entfließt dir Well auf Welle.
Zum Küssen stets bereiter Mund,
Ein Brustgesang, der lieblich fließet,
Zum Trinken stets gereizter Schlund,
Ein gutes Herz, das sich ergießet.

Und mag die ganze Welt versinken,
Hafis, mit dir, mit dir allein
Will ich wetteifern! Lust und Pein
Sei uns, den Zwillingen, gemein!
Wie du zu lieben und zu trinken,
Das soll mein Stolz, mein Leben sein.

Nun töne, Lied, mit eignem Feuer!
Denn du bist älter, du bist neuer.


SELIGE SEHNSUCHT

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebendge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du, Schmetterling, verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.


HÖHERES UND HÖCHSTES

Daß wir solche Dinge lehren,
Möge man uns nicht bestrafen:
Wie das alles zu erklären,
Dürft ihr euer Tiefstes fragen.

Und so werdet ihr vernehmen:
Daß der Mensch, mit sich zufrieden,
Gern sein Ich gerettet sähe,
So dadroben wie hienieden.

Und mein liebes Ich bedürfte
Mancherlei Bequemlichkeiten;
Freuden, wie ich hier sie schlürfte,
Wünscht ich auch für ewge Zeiten.

So gefallen schöne Gärten,
Blum und Frucht und hübsche Kinder,
Die uns allen hier gefielen,
Auch verjüngtem Geist nicht minder.

Und so möcht ich alle Freunde,
Jung und alt, in eins versammeln,
Gar zu gern in deutscher Sprache
Paradieses-Worte stammeln.

Doch man horcht nun Dialekten,
Wie sich Mensch und Engel kosen,
Der Grammatik, der versteckten,
Deklinierend Mohn und Rosen.

Mag man ferner auch in Blicken
Sich rhetorisch gern ergehen
Und zu himmlischem Entzücken
Ohne Klang und Ton erhöhen.

Ton und Klang jedoch entwindet
Sich dem Worte selbstverständlich,
Und entschiedener empfindet
Der Verklärte sich unendlich.

Ist somit dem Fünf der Sinne
Vorgesehn im Paradiese,
Sicher ist es, ich gewinne
Einen Sinn für alle diese.

Und nun dring ich allerorten
Leichter durch die ewgen Kreise,
Die durchdrungen sind vom Worte
Gottes rein-lebendger Weise.

Ungehemmt mit heißem Triebe
Läßt sich da kein Ende finden,
Bis im Anschaun ewger Liebe
Wir verschweben, wir verschwinden.

Friedrich Hölderlin, der von 1770 bis 1843 lebte, aber schon seit 1802 als geistesgestört galt (was von etlichen Forschern heute bestritten wird) - Hölderlin kannte Goethe, aber seine Lyrik steht ihm fern. Während Goethe stärker in der Tradition des Liedes steht, wie es der „West-östliche Divan" zeigt, nimmt der ganz junge Hölderlin das lyrische Sprechen Schillers, der spätere das von Klopstocks Oden auf. In den späten Hymnen aber gibt es zwar gewisse Ähnlichkeiten mit den Sturm- und Drang-Hymnen Goethes, dennoch wird hier eine Weise des Lyrischen erreicht, die wie die von Goethes Divangedichten ohne Beispiel in der deutschen Lyrik ist. Die Hymnen Hölderlins sind erst eigentlich im vorigen Jahrhundert entdeckt worden. Sie sind die wohl größten Aufgaben für den Interpreten, der immer ihrer Fragmentarizität gerecht werden muß.
Zunächst seien zwei der sogenannten epigrammatischen Oden und das odenartige Schicksalslied Hyperions aus dem gleichnamigen Roman zitiert. Das erste und das dritte Gedicht sind spätestens 1799, das zweite 1800 entstanden. Allen dreien ist der Bezug zu den Göttern bzw. zum Göttlichen zentral, der für Hölderlin etwas ganz Konkretes und Erfahrenes war. Und in allen dreien ist dieser Bezug das, was das lyrische Ich zum Gezeichneten, zum Verwundeten macht.


AN DIE PARZEN

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
     Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
          Daß williger mein Herz, vom süßen
              Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
     Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
          Doch ist mir einst das Heiige, das am
              Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
     Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
          Mich nicht hinab geleitet; Einmal
              Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.


MENSCHENBEIFALL

Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll,
     Seit ich liebe? warum achtetet ihr mich mehr,
          Da ich stolzer und wilder,
              Wortereicher und leerer war?

Ach! der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt,
     Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen;
          An das Göttliche glauben
              Die allein, die es selber sind.


HYPERIONS SCHICKSALSLIED

Ihr wandelt droben im Licht
     Auf weichem Boden, selige Genien!
          Glänzende Götterlüfte
              Rühren euch leicht,
                   Wie die Finger der Künstlerin
                        Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
     Säugling, atmen die Himmlischen;
          Keusch bewahrt
              In bescheidener Knospe,
                   Blühet ewig
                        Ihnen der Geist,
                            Und die seeligen Augen
                                 Blicken in stiller
                                      Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
     Auf keiner Stätte zu ruhn,
          Es schwinden, es fallen
              Die leidenden Menschen
                   Blindlings von einer
                        Stunde zur andern,
                             Wie Wasser von Klippe
                                 Zu Klippe geworfen,
                                      Jahr lang ins Ungewisse hinab.


Bei der Ode „Heidelberg", wahrscheinlich von 1800, handelt es sich wie bei „Menschenbeifall" um die asklepiadeische Strophe („An die Parzen" ist in alkäischen Strophen geschrieben). Das weist noch einmal auf Klopstock hin. Aber wichtiger ist, daß in dieser Ode wie in den Kurzversen von „Hälfte des Lebens" (vor Dezember 1803 entstanden) Naturphänomene, Göttliches und das Schicksal des sprechenden Subjekts sich verbinden, sich entzweien.


HEIDELBERG

Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust,
     Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied,
          Du, der Vaterlandsstädte
              Ländlichschönste, so viel ich sah.

Wie der Vogel des Walds über die Gipfel fliegt,
     Schwingt sich über den Strom, wo er vorbei dir glänzt,
          Leicht und kräftig die Brücke,
              Die von Wagen und Menschen tönt.

Wie von Göttern gesandt, fesselt' ein Zauber einst
     Auf die Brücke mich an, da ich vorüber ging,
          Und herein in die Berge
              Mir die reizende Ferne schien,

Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog,
     Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön,
          Liebend unterzugehen,
              In die Fluten der Zeit sich wirft.

Quellen hattest du ihm, hattest dem Flüchtigen
     Kühle Schatten geschenkt, und die Gestade sahn
          All ihm nach, und es bebte
              Aus den Wellen ihr lieblich Bild.

Aber schwer in das Tal hing die gigantische,
     Schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund,
          Von den Wettern zerrissen;
              Doch die ewige Sonne goß

Ihr verjüngendes Licht über das alternde
     Riesenbild, und umher grünte lebendiger
          Efeu; freundliche Wälder
              Rauschten über die Burg herab.

Sträuche blühten herab, bis wo im heitern Tal,
     An den Hügel gelehnt, oder dem Ufer hold,
          Deine fröhlichen Gassen
              Unter duftenden Gärten ruhn.


HÄLFTE DES LEBENS

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Die alkäische Ode „Wenn aus der Ferne", ein Rollengedicht, in dem die tote Diotima, als die er Susette Gontard verewigte, spricht. Die Entstehungszeit ist umstritten. Als frühestmögliche wird die Zeit zwischen 1807 und 1811 angenommen. Jedenfalls ist das Gedicht aus der Zeit des angeblich geistig umnachteten Hölderlin. Aber nichts ist davon zu merken. Es gehört auch noch nicht zu den durchweg gereimten, sehr einfach erscheinenden Gedichten des ganz späten Hölderlin. Äußerlich schließt es sich an die Diotima-Oden an. Aber die Fragmentarizität stellt es in die Nähe der späten Hymnen. Und es ist eben in dieser Fragmentarizität ein vollständiges, ein vollkommenes Gedicht.


WENN AUS DER FERNE

Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind,
     Ich dir noch kennbar bin, die Vergangenheit,
          O du Teilhaber meiner Leiden!
               Einiges Gute bezeichnen dir kann,

So sage, wie erwartet die Freundin dich?
     In jenen Gärten, da nach entsetzlicher
          Und dunkler Zeit wir uns gefunden?
               Hier an den Strömen der heiligen Urwelt.

Das muß ich sagen, einiges Gutes war
     In deinen Blicken, als in den Fernen du
          Dich einmal fröhlich umgesehen,
               Immer verschlossener Mensch, mit finstrem

Aussehn. Wie flossen Stunden dahin, wie still
     War meine Seele über der Wahrheit, daß
          Ich so getrennt gewesen wäre?
               Ja! ich gestand es, ich war die deine.

Wahrhaftig! wie du alles Bekannte mir
     In mein Gedächtnis bringen und schreiben willst,
          Mit Briefen, so ergeht es mir auch,
               Daß ich Vergangenes alles sage.

Wars Frühling? war es Sommer? die Nachtigall
     Mit süßem Liede lebte mit Vögeln, die
          Nicht ferne waren im Gebüsche
               Und mit Gerüchen umgaben Bäum uns.

Die klaren Gänge, niedres Gesträuch und Sand,
     Auf dem wir traten, machten erfreulicher
          Und lieblicher die Hyazinthe
               Oder die Tulpe, Viole, Nelke.

Um Wänd und Mauern grünte der Efeu, grünt'
     Ein selig Dunkel hoher Alleen. Oft
          Des Abends, Morgens waren dort wir,
               Redeten manches und sahn uns froh an.

In meinen Armen lebte der Jüngling auf,
     Der, noch verlassen, aus den Gefilden kam,
          Die er mir wies, mit einer Schwermut,
               Aber die Namen der seltnen Orte

Und alles Schöne hatt er behalten, das
     An seligen Gestaden, auch mir sehr wert,
          Im heimatlichen Lande blühet
               Oder verborgen, aus hoher Aussicht,

Allwo das Meer auch einer beschauen kann,
     Doch keiner sein will. Nehme vorlieb, und denk
          An die, die noch vergnügt ist, darum,
               Weil der entzückende Tag uns anschien,

Der mit Geständnis oder der Hände Druck
     Anhub, der uns vereinet. Ach! wehe mir!
          Es waren schöne Tage. Aber
               Traurige Dämmerung folgte nachher.

Du seiest so allein in der schönen Welt,
     Behauptest du mir immer, Geliebter! das
          Weißt aber du nicht,

Wie schließt daran Goethes Gedicht „Wiederfinden" von 1815 an, das gleichzeitig ein Gedicht des Divan ist! Doch ließ es Goethe auch im Zyklus „Gott und Welt" seiner gesammelten Gedichte erscheinen. Von dem „allein" der Hölderlinschen Verse geht es aus und hebt sie in einem neuen Schöpfungsmythos auf.

WIEDERFINDEN

Ist es möglich! Stern der Sterne,
Drück ich wieder dich ans Herz!
Ach, was ist die Nacht der Ferne
Für ein Abgrund, für ein Schmerz!
Ja, du bist es, meiner Freuden
Süßer, lieber Widerpart;
Eingedenk vergangner Leiden,
Schaudr ich vor der Gegenwart.

Als die Welt im tiefsten Grunde
Lag an Gottes ewger Brust,
Ordnet' er die erste Stunde
Mit erhabner Schöpfungslust,
Und er sprach das Wort: Es werde!
Da erklang ein schmerzlich Ach!
Als das All mit Machtgebärde
In die Wirklichkeiten brach.

Auf tat sich das Licht: so trennte
Scheu sich Finsternis von ihm,
Und sogleich die Elemente
Scheidend auseinanderfliehn.
Rasch, in wilden, wüsten Träumen
Jedes nach der Weite rang,
Starr, in ungemeßnen Räumen,
Ohne Sehnsucht, ohne Klang.

Stumm war alles, still und öde,
Einsam Gott zum erstenmal!
Da erschuf er Morgenröte,
Die erbarmte sich der Qual;
Sie entwickelte dem Trüben
Ein erklingend Farbenspiel,
Und nun konnte wieder lieben,
Was erst auseinanderfiel.

Und mit eiligem Bestreben
Sucht sich, was sich angehört;
Und zu ungemeßnem Leben
Ist Gefühl und Blick gekehrt.
Sei's Ergreifen, sei es Raffen,
Wenn es nur sich faßt und hält!
Allah braucht nicht mehr zu schaffen,
Wir erschaffen seine Welt.

So, mit morgenroten Flügeln,
Riß es mich an deinen Mund,
Und die Nacht mit tausend Siegeln
Kräftigt sternenhell den Bund.
Beide sind wir auf der Erde
Musterhaft in Freud und Qual,
Und ein zweites Wort: Es werde!
Trennt uns nicht zum zweitenmal.

Ganz ins Kosmische und Universale wenden sich Goethes Altersgedichte „Eins und Alles", entstanden 1821, und „Vermächtnis" von 1829: dies ist das späteste unserer Auswahl. Das zweite mit sechszeiliger Strophe vom Reimschema a a b c c b, vierhebig und auftaktig wie das erste, antwortet und widerspricht diesem und ergänzt es. Dominiert zunächst das Ewige gegenüber dem Sein („Höheres und Höchstes" weiter dichtend), so hat dieses im zweiten als „Wesen" Teil an der Ewigkeit.

EINS UND ALLES

Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt lästgem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend höchste Meister
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sichs nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar stehts Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.


VERMÄCHTNIS

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebendgen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn.

Sofort nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen.
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle, sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.

Genieße mäßig Füll und Segen;
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.

Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr -
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.

Und wie von alters her, im stillen,
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.

In den beiden letzten Gedichten, zwei Abend- und Nachtgedichten, beide auftaktlos vierhebig, rückt das Phänomenale, das nicht beschrieben, sondern erschrieben, hervorgeschrieben wird durch das Gedicht noch einmal in den Vordergrund. In „Dämmrung senkte sich von oben...", entstanden 1827, und „Dem aufgehenden Vollmonde", entstanden 1828, ist der sehr alte, fast achtzigjährige Goethe, der den zweiten Teil des Faustdramas abschließt, auf dem Wege, das Phänomenale und das Bedeutende als Elemente alles Sprachlichen zu verbinden und zu versöhnen.

Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.

Nun im östlichen Bereiche
Ahn ich Mondenglanz und -Glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Lunas Zauberschein,
Und durchs Auge schleicht die Kühle
Sänftigend ins Herz hinein.


DEM AUFGEHENDEN VOLLMONDE

Willst du mich sogleich verlassen?
Warst im Augenblick so nah!
Dich umfinstern Wolkenmassen,
Und nun bist du gar nicht da.

Doch du fühlst, wie ich betrübt bin,
Blickt dein Rand herauf als Stern!
Zeugest mir, daß ich geliebt bin,
Sei das Liebchen noch so fern.

So hinan denn! hell und heller,
Reiner Bahn, in voller Pracht!
Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,
Überselig ist die Nacht.


Anmerkungen:
zu den Kapiteln 1- 3 von Deutsche Lyrik, kommentiert: Klassik in ZLdN 25, 26, 27

ZLdN 25:
keine Anmerkungen

ZLdN 26:
Tartarus: lichtloser Strafort für die Seelen der Verstorbenen, welche dort büßen sollen, was sie im Diesseits verbrochen haben; Gefängnis des Kronos und der anderen Titanen, die gegen die Götter gekämpft hatten.
nach des Cocytus Brücke: Cocytus, schlammiges Gewässer, in welchem Charon seinen Kahn hin und her trieb, um die Seelen der Verstorbenen in das Schattenreich überzusetzen, wohin der Fluß selbst auch fließt.
Saturns: Saturn, römischer Gott der Fruchtbarkeit, mit dem Titanen und 'Gott der Zeit' Kronos gleichgesetzt, der mit der Sichel seinen Vater Uranos entmannte, danach die Herrschaft antrat, von Zeus entthront und in den Tartarus geworfen wurde.
Sais: altägypt. Stadt im Nildelta mit dem Heiligtum der Pfeilgöttin Neith.
Hierophant: Priester.
Isis: zusammen mit Osiris wichtigste altägyptische Göttin; ursprünglich Personifikation der fruchtbaren Erde.
Homerus: Homer, altgriechischer Dichter, Verfasser von „ Ilias“ und „Odyssee“.
Hochgedicht: „Odyssee“.
Lock’: John Locke (1632 – 1704) engl. Philosoph, Begründer und einflußreichster Vertreter des Empirismus.
Descartes: René D. (1596 – 1650), frz. Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler.
Begründer der modernen Philosophie.
Pufendorf: Samuel von P. (1632 – 1694), Völkerrechtsgelehrter, Historiograph.
Feder: Johann Georg Heinrich F. (1740 – 1821), Philosoph. Seine „Grundlagen zur Kenntnis menschlichen Willens und der natürlichen Gesetze des Rechtsverhaltens“ (Göttimgen 1783) erschienen in mehreren Auflagen.
das zephirleichte Leben: Zephiros, Gott des Westwinds; der W. galt als der freundlichste und willkommenste aller Winde.
Auf der Stirn des hohen Uraniden: Uranos, Himmel und Himmelsgott, erster Sohn der Gaia (Erde), der aus dem Chaos geboren wurde. Urvater des ganzen griechischen Göttergeschlechts. Uranide: Abkömmling des U., hier Zeus.
Styx: Hauptfluß des Hades (des Aufenthaltsortes der Toten), bei dessen Namen die Götter ihre unverbrüchlichen Eide ablegen.
Ceres’ Tochter: C ., römische Göttin des Ackerbaus und Erdmutter, Mutter der Proserpina, die von Jupiter geraubt und zu Pluto in die Unterwelt verschleppt wird; in der Folge lebt sie zwei Drittel des Jahres bei ihrer Mutter und ein Drittel bei ihrem Gemahl Pluto in der Unterwelt.
Orkus: Unterwelt, Totenreich.
An dem stygschen Strome: s. Styx.
Sarkophage: ein Stein-, Prunksarg; hier Metapher für den Hades, in den Proserpina zu Pluto hinuntersteigt.
Hippodromes: Hippodrom, Bahn für Pferde- und Wagenrennen.
Aurora: die Morgenröte und die Göttin, die sie heraufführt.
Hesperus: Abendstern in der griech. Mythologie.
Laokoon: Priester in Troia, warnt bei dessen Belagerung vor der griechischen List, dem Troianischen Pferd, wird mit seinen Söhnen durch Schlangen getötet (s. die berühmte Marmorgruppe um 50 v. Chr.).
Iris: Regenbogen, Götterbotin, Dienerin der Hera (Gemahlin des Zeus und Beherrscherin des Himmels).
Alcid: Herakles, der Enkel des Alkus, der von der „unversöhnten Göttin“ Hera verfolgt wird.
Hydern: lernäische Hydra, vielköpfiges Ungeheuer, von Herakles getötet.
Leuen: nemeischer Löwe.
Freunde zu befreien[...] Totenschiffers: der Fährmann Charon, der die Schatten der Toten über den Styx in den Hades übersetzt. Im Zusammenhang mit der Aufgabe, den Höllenhund Kerberos aus der Unterwelt heraufzuholen, trifft Herakles dort Theseus und Peirithoos, die Persephone entführen wollten. Theseus kann von Herakles befreit werden, Peirithoos muß er zurücklassen.
der unversöhnten Göttin: die Göttin Hera , die Herakles mit ihrer Rache verfolgt, da er der Sohn ihres Gatten Zeus mit Alkmene, einer Sterblichen, ist.
Des Olympus Harmonien: Olymp, Wohnstätte der Götter; Harmonien: die Sphärenharmonien werden nach der Lehre der Pythagoreer von den Himmelskörpern erzeugt, die sich in Abständen , die denen der Töne der Tonleiter analog sind, um das Zentrum des Alls bewegen.
Kronions: Kronion, ein Hügel über dem heiligen Bezirk von Olympia, an dessen Fuß die ältesten Heiligtümer und Bauten lagen.
die Göttin mit den Rosenwangen: Hebe, die Göttin der Jugend und Anmut, die den Göttern Nektar einschenkt und die nach seinem Aufstieg zu den Göttern mit Herakles vermählt wird.
Bajadere: indische Tempeltänzerin.
Mahadöh: wörtlich „Der große Gott“, Beiname Sivas, eines der höchsten indischen Götter.
Zimbeln: kleine Becken, die entweder paarweise gegeneinander oder mit einem Schlegel einzeln angeschlagen werden.

ZLdN 27:
Hatem: der alternde Liebende im „ Buch Suleika“, der diesen Namen nach dem Araber Hatem Thai selbst wählt. Der war für seine Hochherzigkeit und Freigebigkeit berühmt, vermutlich als Reminiszenz an den arabischen Dichter Hassan Thogai. (Vgl. hierzu das dritte Gedicht des Buches Suleika: „Da du nun Suleika heißest[...]“)
Phöbus: „der Reine, Glänzende“, griech. Beiname des Apollo, früher auf die glänzende Schönheit des Gottes, später, nachdem Apollo als Sonnengott galt, auf den Glanz der Sonne bezogen.
Hafis: arab. Hüter, Bewahrer. Ehrentitel eines Mannes, der den Koran auswendig kennt. Name des größten Lyrikers Persiens (1326 – 1390).
Parzen: gr. Schicksalsgöttinnen, die den Ablauf der Ereignisse im menschlichen Leben bestimmen; auch Verkörperungen der Idee des unerbittlichen Schicksals, in vielen nachhomerischen Darstellungen spinnen sie den Lebensfaden, messen ihn und schneiden ihn ab.
Orkus: s. Schiller; Das Ideal und das Leben.
Luna: s. Goethe: Die Nacht.




Literarische Fundstücke
aus dem 17. Jahrhundert (Grimmelshausen, Gryphius, Lohenstein)

Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch
[Simplicius’ Jugend]
„Gleich wie nun aber meines Knans Haußwesen sehr Adelich vermerckt wird / also kan ein jeder Verständiger auch leichtlich schliessen / daß meine Aufferziehung derselben gemäß und ähnlich gewesen; und wer solches davor hält / findet sich auch nicht betrogen / dann in meinem zehen-jährigen Alter / hatte ich schon die principia in obgemeldten meines Knans Adelichen Exercitien begriffen / aber der Studien halber konte ich neben dem berühmten Amphistidi hin passiren / von welchem Suidas meldet / daß er nicht über fünffe zehlen konte; dann mein Knan hatte vielleicht einen viel zu hohen Geist / und folgte dahero dem gewöhnlichen Gebrauch jetziger Zeit / in welcher viel vornehme Leut mit studiren / oder wie sie es nennen / mit Schulpossen sich nicht viel bekümmern / weil sie ihre Leut haben / der Plackscheisserei abzuwarten: Sonst war ich ein trefflicher Musicus auff der Sackpfeiffen / mit deren ich schöne Jalemj-Gesäng machen konte: Aber die Theologiam anbelangend / laß ich mich nicht bereden / daß einer meines Alters damals in der gantzen Christenwelt gewest seye / der mir darinn hätte gleichen mögen / dann ich kennete weder Gott noch Menschen / weder Himmel noch Höll / weder Engel noch Teuffel / und wuste weder Gutes noch Böses zu unterscheiden: Dahero ohnschwer zu gedencken / daß ich vermittelst solcher Theologiae wie unsere erste Eltern im Paradis gelebt / die in ihrer Unschuld von Kranckheit / Todt und Sterben / weniger von der Aufferstehung nichts gewust / O edels leben ! (du mögst wol Eselsleben sagen) in welchem man sich auch nichts umb die medicin bekümmert. Eben auff diesen Schlag kann man mein Erfahrenheit in dem Studio legum und allen anderen Künsten und wissenschaften / so viel in der Welt seyn / auch verstehen; Ja ich war so perfect und vollkommen in der Unwissenheit / daß mir unmüglich war zu wissen / daß ich so gar nichts wuste. Ich sage noch einmal / O edles Leben / das ich damals führete! Aber mein Knan wollte mich solche Glückseeligkeit nicht länger geniessen lassen / sondern schätzte billich seyn / daß ich meiner Adelichen Geburt gemäß / auch Adelich thun und leben solte / derowegen fienge er an / mich zu höhern Dingen anzuziehen / und mir schwerere Lectiones auffzugeben.“

[Der Eremit zu Simplicius]
„... folge an statt deines unnützen Geschreys meinen letzten Worten / welche seynd / daß du dich je länger je mehr selbst erkennen sollest / und wenn du gleich so alt als Mathusalem würdest / so laß solche Ubung nicht auß dem Hertzen / dann daß die meiste Menschen verdammt werden / ist die Ursach / daß sie nicht gewust haben / was sie gewesen / und was sie werden können / oder werden müssen. Weiters riethe er mir getreulich / ich solte mich jederzeit vor böser Gesellschaft hüten / dann derselben Schädlichkeit wäre unaußsprechlich: Er gab mir dessen ein Exempel / und sagte / wann du einen Tropffen Malvasier in ein Geschirr voll Essig schüttest / so wird es alsobald zu Essig; wirstu aber so viel Essig in Malvasier giessen / so wird er auch unter dem Malvasier hingehen: Liebster Sohn / sagte er / vor allen Dingen bleibe standhafftig / dann wer verharret biß ans End / der wird seelig / geschihet aber wider mein verhoffen / daß du auß menschlicher Schwachheit fällst / so stehe durch eine rechtschaffene Buß geschwind wieder auff.. Dieser sorgfältige fromme Mann hielte mir allein diß wenige vor / nicht zwar / als hätte er nichts mehrers gewust / sondern darumb / dieweil ich ihn erstlich meiner Jugend wegen / nicht fähig genug zu seyn bedunckte / ein mehrers in solchem Zustand zu fassen / und dann weil wenig Wort besser / als ein langes Geplauder / im Gedächtnus zu behalten seynd / und wann sie anders Safft und Nachtruck haben / durch das Nachdencken grössern Nutzen schaffen / als eine lange Sermon, die man außtrücklich verstanden hat / und bald wieder zu vergessen pflegt.
Diese drey Stück / sich selbst erkennen / böse Gesellschaft meiden / und beständig verbleiben / hat dieser fromme Mann ohne Zweiffel deßwegen vor gut und nötig geachtet / weil er solches selbsten practicirt/ und daß es ihme darbey nicht mißlungen ist; denn nachdem er sich selbst erkant / hat er nicht allein böse Gesellschafften / sondern auch die gantze Welt geflohen / ist auch in solchem Vorsatz biß an das Ende verharret / an welchem ohn Zweiffel die Seeligkeit hängt / welcher gestalt aber / folgt hernach.“

[Simplicius als der Jäger von Soest]
„Im übrigen dünckte ich mich viel zu gut darzu seyn / daß ich die Arme bestelen / oder Hüner fangen / und andere geringe Sachen hätte mausen sollen. Darbey fieng ich an / nach und nach mit Fressen und Sauffen ein Epicurisch Leben zu führen / weil ich meines Einsidlers lehr vergessen und niemand hatte / der meine Jugend regierte / oder auff den ich sehen dorffte / dann meine Officier machten selbst mit / wann sie bei mir schmarotzten / und die mich hätten straffen und abmahnen sollen / reitzten mich vielmehr zu allen Lastern / darvon wurde ich endlich so gottloß und verrucht / daß mir kein Schelmstück / solches zu begehen / zu groß war. Zuletzt wurde ich auch heimlich geneidet / zumal von meinen Cameraden / daß ich eine glücklichere Hand zu stelen hatte / als ein anderer; von meinen Officiern aber / daß ich mich so doll hielte / glücklich auf Parteyen handelte / und mir ein grössern Nahmen und Ansehen machte/ als sie selbst hatten.“

[Simplicius’ Abschied von der Welt]
„Adjeu O Welt / O schnöde arge Welt / O stinckendes elendes Fleisch/ dann von deinetwegen und um daß man dir gefolget / gedienet und gehorsamet hat / so wird der gottloß unbußfertig zur ewigen Verdamnus verurtheilt / in welcher in Ewigkeit anders nichts zu gewarten / als an statt der verbrachten Freud / Leid ohne Trost / anstatt des zechens / Durst ohne Labung / an statt deß fressens / Hunger ohne fülle / an statt der Herrligeit und Prachts / Finsternuß ohne Liecht; an statt der Wollüste/ Schmertzen ohne Linderung / an statt deß dominirens und triumphirens / heulen/ weinen und weheklagen ohne auffhören / Hitz ohne Kühlung / Feuer ohne Leschung / Kält ohne Maß / und Elend ohne End.
Behüt dich Gott O Welt / dann an statt deiner verheissenen Freud und Wollüste / werden die böse Geister an die unbußfertige verdampte Seel Hand anlegen / und sie in einem Augenblick in Abgrund der Höllen reissen / daselbst wird sie anders nichts sehen und hören / als lauter erschröckliche Gestalten der Teuffel und Verdampten / eitele Finsternuß und Dampff / Feuer ohne Glantz / schreyen / heulen / Zähnklappern und Gotteslästern; Alsdann ist alle Hoffnung der Gnad und Milterung auß / kein Ansehen der Person ist verhanden / je höher einer gestigen / und je schwerer einer gesündiget / je tieffer er wird gestürtzt / und je härtere Pein er muß leiden ; dem viel geben ist / von dem wird viel gefordert / und je mehr einer sich bey dir/ O arge schnöde Welt! hat herrlich gemacht/ je mehr schenckt man ihm Qual und Leiden ein/ denn also erforderts die göttliche Gerechtigkeit.“

Aus: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Editio princeps (1669). Halle/S.: Niemeyer 1959. S. 11 f, 36 f, 215, 488 f

Gryphius, Leo Armenius
[Ende der „Ersten Abhandelung“]

„Reyen der Höflinge

Satz
Das Wunder der Natur / das überweise Thier
Hat nichts das seiner zungen sey zugleichen
Ein wildes Vieh’ entdeckt mit stummen zeichen
Deß innern hertzens sinn; mit worten herrschen wir!
Der Türme Last / vnd was das Land beschwert.
Der Schiffe baw’ / und was die See durchfährt /
Der Sternen grosse krafft /
Was Lufft vnd flamme schafft /
Was Chloris läst in jhren gärtten schawen /
Was das gesetzte Recht von allen Völckern wil.
Was Gott der welt lies von sich selbst vertrawen;
Was in der blütte steht was durch die zeit verfiel
Wird durch diß werckzeug nur entdecket.
Freundschafft / die tod vnd ende schrecket /
Die Macht / die wildes Volck zu sitten hat gezwungen /
Deß Menschen leben selbst; beruht auf seiner zungen.

Gegensatz.
Doch / nichts ist das so scharff / als eine zunge sey!
Nichts das so tief vns arme stürtzen könne.
O daß der Himmel stumm zu werden gönne!
Dem / der mit worten frech; mit reden / viel zu frey;
Der städte grauß / das leichen volle feldt /
Der schiffe brandt / das Meer durch blutt verstellt.
Die Schwartze Zauberkunst /
Der eiteln Lehre dunst /
Die macht durch gifft / den Parcen vorzukommen;
Der Völcker grimmer haß / der ungehewre Krieg.
Der zanck der Kirch’ vnd Seelen eingenommen /
Der Tugend vntergang / der grimmen Laster sieg /
Ist durch der zungen macht gebohren:
Durch welche Lieb vnd trew verlohren.
Wie manchen hat die Zung’ in seine grufft gedrungen!
Deß Menschen Todt beruht auf jedes Menschen zungen.

Zusatz.
Lernt / die jhr lebt / den zaum in ewre Lippen legen!
In welchen heil und schaden wohnet /
Vnd was verdammt / vnd was belohnet.
Wer nutz durch worte such’t / sol jedes wort erwegen.
Die Zung ist dieses Schwerdt
So schützet vnd verletzt.
Die flamme so verzehrt
Vnd eben wol ergetzt.
Ein Hammer welcher bawt vnd bricht /
Ein Rosenzweig / der reucht vnd sticht /
Ein strom der träncket und erträncket:
Die Artzney welch’ erquickt und kräncket.
Die bahn: auf der es offt gefehlet vnd gelungen.
Dein Leben / Mensch / vnd todt hält stäts auf deiner Zungen.“

[ Ende der „Dritten Abhandelung]

„Reyen der HoffeJunckern.

Satz.
          Fallen wir der meynung bey
Daß die verhängnis  vnß vor vnsern zufall schrecke!
Daß ein Gespänst’/ ein traum / ein zeichen offt entdecke
          Was zu erwarten sey?
Oder ists nur Phantansey / die den müden Geist betrübet
Welcher / weil er in dem Cörper: seinen eignen kummer liebet?

Gegensatz.
          Sol die Seel auch selber sehn
Alßbald der süsse schlaff den leib hat vberwunden:
(In welchem wie man lehrt sie gleichfals als gebunden)
          Was zu hoffen / was geschehn?
Die der seuchen Pest außzehrt! / die der nahe tod vmbfasset
Haben freylich offt verkündet / was sich fand wenn sie erblasset.

Zusatz.
Wir/ die alles vns zu wissen
Von der ersten zeit / beflissen:
Können gleichwol nicht ergründen:
Was wir täglich vor uns finden.
Die der Himmel warn’t durch zeichen:
Können kaum / ja nicht / entweichen
Auch viel/ in dem sie sich  den tod bemüht zufliehen
Siht man dem tod’ entgegen ziehen.“

Aus: Andreas Gryphius, Leo Armenius. Trauerspiel (1652).Stuttgart: Reclam 1971. S. 29 f, 72.

Gryphius, Carolus Stuardus
[Ende der „Ersten Abhandelung“]

„Chor der ermordeten Engelländischen Könige.

I.Chor.
Die heisse Pest die Kirch und Herd /
Vnd gantze Reich in nichts verkehrt /
Auffrühr / das ebenbild der Hellen /
Daß die mit Blutt gefärbten Wellen /
Mit tausend Leichen überdeckt
Vnd das verderbte Land befleckt /
Will nach den Bürgerlichen Krigen /
Auff Stuards trübem Mord-Platz sigen.

I. Gegen-Chor.
Was hat dich Albion erhitzt?
O Land mit Königs Blutt durchspritzt?
Machst du mit einem tollen Streiche
Dich selbst zu einer todten Leiche?
Das Beil daß du auff Carlen wetzt
Wird deiner Ruh’ an Hals gesetzt.
Habt ihr wol je nach unsern Wunden
Ihr Königs Mörder Ruh gefunden?

I. Abgesang.
Herr der du Fürsten selbst an deine stat gesetzet
Wie lange sihst du zu?
Wird  nicht durch unsern Fall dein heilig Recht verletzet?
Wie lange schlummerst du?

II. Chor.
Wahr ists! Ein Fürst der frevelt dir
Vnd du hast Mittel da und hir /
Dein Recht, das ewig Recht muß zihren /
Durch Menschen Vnrecht außzuführen.
Wird aber das verkehrte Reich /
Erquickt durch seines Königs Leich?
Vnd steht es frey den Mord zu wagen
Vnd die gesalbten außzutagen?

II. Gegen-Chor.
Zu tagen vor ein blindes Recht!
Da über Herren spricht ein Knecht!
Da  was der Vnterthan verbrochen /
Wird durch des Fürsten Mord gerochen.
Des Fürsten/ dessen höchste Schuld
Kein ander / als zu vil geduld!
Wird diß mit Wolthun noch beschönet?
Heißt das nicht Recht und Gott verhönet!

II. Abgesang.
Meer / Himmel / Lufft und Erd’ hat sich auff dich verschworen /
Verblendet Brittenland!
Die Straffen brechen ein! Du hast dein Haubt verloren
Und taumelst in den Sand!

III. Chor.
Ach! Insel rauher denn dein Meer!
Die jederzeit der Mörder Heer
Auff deine Printzen außgeschicket /
Die du Meyneydig  hast verstricket.
Wer fil nicht hir nach herbem Hohn
Durch Schwerdt / durch Pfeil / durch Gifft vom Thron.
Nur diß ist new: mit tollen Händen
Der heil’gen Themis Richt-Axt schänden.

III. Gegen-Chor.
Auff neue Laster zeucht auch ein
Der unerhörten Straffen Pein!
Krig / Erdfall / Seuchen / faule Lüffte
Gehn noch nicht gleiche deinem Giffte.
Was eines jeden der gekrönt
Vnd durch dich hinfil/ Mord außsöhnt;
Wird wider dich zu Felde zihen.
Wer kann des Höchsten Faust entflihen?“


[Aus der „Andern Abhandelung“]

„Geist Mariae Stuardae
[...]
Sie rasen [die Independenten] mit Vernunfft / sie setzen Richter ein
Es muß ihr Doppelmord durch Recht beschönet seyn.
[...]

I. Abgesang beyder Chöre.
Wie? oder stellt des Höchsten Macht
Ein uerhörtes ändern an?
Hat sich sein Geist auff was bedacht
Das kein Gemütt ersinnen kan?“
[...]

[Aus der „Dritten Abhandelung“]

„[Franciscus] Hack[er] [(aufständischer) Oberst]
Recht so! doch das man auch das Recht nicht unrecht handel;
Vnd auff gewisser Bahn / nicht ausser Gräntzen wandel;
Trägt dir[Hewlett, „Obrister und Mörder des Königs“] / Krafft diser Schrifft / der Rath die Vollmacht auff
Vnd gönnt so vil an Ihm dem Vrtheil seinen Lauff.
[Hugo]Pet.[er. „Ein Geistlicher. Der Vrheber der ungebundenen oder freyen Geister Independenten
genant / und zugleich Krigs-Obrister“] Diß ist des HErren Wort! hir / hir ist Gottes Finger!
Er strafft nach heilgem Recht den Recht- und Land-bezwinger /“

Aus: Andreas Gryphius; Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien.,
Trauerspiel (1663). Stuttgart: Reclam 1972: S.25, 35,47, 51

Gryphius, Papinian
[Aus  der „Dritten Abhandelung“]

„Papinian.
Wer vor die Warheit stirbt, pocht aller Zeiten Noth
Cleander.[einer von den „Kayserlichen Bedineten“]
Wie hitzig wird der Fürst den rauen Abschlag hören!
Papinian.
Ich muß das heil’ge Recht  vor tausend Fürsten ehren.
Cleander.
Wo bleibt sein Stand? Sein Gut? Und was er hoffen kann?
Papinian.
Diß leere Kinder-werck geht schlechte Geister an!
Cleander.
Wil Er deß Kaisers Grimm ein einig Kind vorwerffen?
Papinian.
Der Kayser kan ein Schwerdt auff Fleisch / nicht Seelen / schärffen.
[...]
Cleander.
Wil er sein gantzes Haus mit sich zu grunde stürtzen?
Papinian.
Vil lieber / denn das Recht auch umb ein Haar abkürtzen?
Cleander.
Der Recht und Satzung gibt / hebt offt die Satzung auff.
Papinian,
Nicht die der Vöcker Schluß erhält in stetem Lauff.
[...]
Cleander.
Es wird / wie  was nur ist / in seine Nacht vergehn.
Papinian.
Es wird / wenn alles hin / in den Gewissen stehn.
Cleander.
Es ist der Völcker Recht, das einen heist gebitten.
Papinian.
Der Völcker Recht verbeut auff nächstes Blut zu wütten.
[...]
Papinian.
Ein herrlich Tod ist süss’ / ein schimpfflich Leben bitter.
Cleander.
Ja wenn man durch den Tod das Vaterland erhält.
Papinian.
Mehr wenn das Recht dadurch erhalten in der Welt.

[Ende de „Fünfften Abhandelung“]

Reyen der Frauen.
Wir folgen doch nicht dir O Held zu deiner Grufft
Nicht dir den Ewigkeit in ihre festen rufft!
Wir folgen grosser Mann höchst klagend und gedencken
Das Recht mit deiner Leich  und Sohn ins Grab zu sencken.“

Aus: Andreas Gryphius, Großmütiger Rechtsgelehrter oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus,
Trauerspiel (1659). Stuttgart: Reclam 1983. S. 67 f, 116.

Lohenstein, Sophonisbe
[Aus der „fünften Abhandlung“]

„Micipsa.
Mißt Rom der Königin mit Fug zu frembde Schuld?
Sophon.[isbe]
Das Recht liegt / wo man siegt / und schaft nur Ungeduld.
Sätzt mir nicht ferner zu / macht meinen Geist nicht irre /
Es muß gestorben sein. [...]“

Aus: Daniel Casper von Lohenstein, Sophonisbe, Trauerspiel (1680). [Reinbek b. Hamburg:]
Rowohlt 1968. S. 192


VON DER GEGENWART

Schnipsel zum Journalismus

Nachrichten

Die katastrophischen Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehnachrichten haben nicht eine größere Empathie mit den Betroffenen hervorgebracht, sondern eine allgemeine Gleichgültigkeit.
Nicht das „reale“ Geschehen kann dadurch erfaßt werden, sondern eben nur die strukturell immer gleichlautende Nachricht, wie schlimm das Geschehene auch sei. Was so einzig mitgeteilt wird, ist eben wie alles nur eine Mitteilung, die alsbald durch eine andere, gleiche abgelöst wird.
Erst wenn immer wieder wie bei der September-Katastrophe 2001 in New York darauf hingewiesen wird, scheint sich die Rezeption zu verändern. In Wahrheit wird aber nur eine andere Seite der Nachricht wahrgenommen: die Sensation.

Journalisten über Stellvertreter

In einer Sendung des Deutschlandradios wurde Frau Schmid, die mal Büroleiterin des deutschen Außenministers Joschka Fischer war, noch richtig als stellvertretende Generalsekretärin in der Dienststelle von Frau Ashton vorgestellt. In den folgenden Nachrichten figurierte sie schon als Stellvertreterin von Frau Ashton. Man war, wie so oft, zu faul gewesen, wenigstens im Internet nachzugucken. Dort werden drei stellvertretende Generalsekretäre genannt. Dann ein Generalsekretär, der aber als solcher natürlich auch nicht Stellvertreter der Außenbeauftragten ist, sondern allenfalls deren höchster Beamter.
Aber davon weiß ein guter Journalist nichts, der für Whisky und das Nachrichtenbedürfnis der „Menschen“, also nicht der Affen, zuständig ist, und zwar in dieser Reihenfolge.

Berichtigung

Wo sie überhaupt stattfindet, lenkt sie von den nicht berichtigten Fehlern ab.
Da sie, was grammatische, informatorische und viele weitere Fehler angeht, sehr zahlreich sind, so daß die nächste Nummer mit der Darstellung der Fehler aus der vorigen gefüllt werden könnte, wird es nur wie beim „Spiegel“ als Ausnahme stattfinden.
Im übrigen schert es keinen, denn, wie schon frühe Kritiker wußten, nichts ist älter als die Zeitung von gestern.

Von Korrektoren zur Presseschau

Früher hatten die Journalisten wenigstens Korrektoren, die den schlimmsten grammatischen Unsinn löschten. Nun machen das die Journalisten selbst, d.h. da sie die einfachsten Regeln oft nicht kennen, machen sie es nicht, also bleibt es falsch.
Dafür schreiben und sprechen sie noch schneller. Doch werden sie in der sogenannten „Presseschau“ als FAZ, Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung bezeichnet, die als solche fordern, feststellen und wissen, obwohl es doch die Herren und Damen Müller und Schulz sind, dumme und arme Figuren, die darum so schnell falsch schreiben und sprechen, weil sie Angst haben, man werde ihnen hinter ihren Schwindel kommen.
Keine Angst, meine Damen und Herren, die Leser sind so dumm wie Sie, also von Ihnen im Namen der Aufklärung dumm gemacht.

Leitartikel

Diese ehrwürdige Einrichtung kennt nur, nur noch die Zeitung. Da er weder auf die beruhigende Nachricht noch auf die (kurz) aufregende Sensation aus ist, liest ihn keiner außer denen, die auch einen schreiben. Hier gibt es nun so etwas wie eine interne Konkurrenz. Gesiegt hat der, dessen ‚glänzende Schreibe’ mehr sensationiert als die der anderen, obwohl er nur das schreibt, was die anderen auch schreiben, aber nicht so platt, sondern etwas rhetorischer.

Es bildeten sich Gruppen –

tönte es aus dem Fernsehen vor ein paar Tagen.
Es ist eines der Hauptbeispiele von Karl Kraus für journalistische Redensarten schon in den „Letzten Tagen der Menschheit“, also immerhin vor über 90 Jahren.
Gibt es ein besseres Beispiel dafür, daß der Journalistenjargon nichts sagt, sich vielmehr nur auf das bezieht, was strukturell oder wörtlich schon immer geredet wird ? Sprache ist für ihn die Gelegenheit, weiter zu reden.

Der Verkehr

Die Bundesrepublik Deutschland, brav wie sie ist, zahlt für alles außer für das Wichtige, also z.B. für einzelne, hilflose Einwohner. Oder auch für die Mängel des Verkehrs, die ja riesenhaft sind, aber außer den unmittelbar Beteiligten niemanden etwas angehen.
Züge fahren, wenn überhaupt, nur verspätet ab, weil sie schon verspätet ankommen. Das ist kein plötzlich auftretender Fehler, sondern schon seit ca eineinhalb Jahrzehnten so, da Herr Mehdorn, der übrigens von einigen „ihm nahestehenden“ Zeitungen als toller Hecht gelobt wurde, als man ihn endlich rausschmiß, vor allem zur Börse wollte und Kunden als strammstehende Gruppe betrachtete. Aber sein Nachfolger, der offenbar so dumm ist wie die meisten Politiker und Wirtschaftler, steht ihm in Kundenunfreundlichkeit nicht nach, wenn er sich auch bemüht, freundlich zu sprechen.
Ungefähr gilt das gleiche für den Flugverkehr, der sofort zusammenbricht, wenn z.B. in Island sich ein Vulkan entschließt, Wolken auszustoßen. Dann legen sich die sogenannten Fahrgäste in der Halle der jeweiligen Flughäfen auf eine Bank oder auf den Boden und freuen sich, wenn sie irgendwann einmal abgeholt werden.
So hat alles seine Ordnung, vor allem der Autoverkehr, der Morgen für Morgen als „Stau“ erscheint., und zwar nicht auf ein paar hundert Meter und auf, sagen wir, drei Minuten, sondern auf viele, viele Kilometer und auf Wartezeiten, die als Kindergeschrei berechnet und auf einen Punkt der „Warteschleife“ konzentriert, eine Intensität hätten, gegen die das Geschrei aus einem Fußballstadion ein Gesäusel wäre. Doch spricht die Mama zum Kinde: ‚Bald, in zwei Stunden wird unser Vati weiterfahren können, und zwar so schnell, daß du nicht mitlaufen kannst’.
All das wird nur sehr nebenbei in einer Nachricht gewürdigt und führt einzig dazu, daß die Betroffenen noch braver als die Bundesrepublik Deutschland abwarten , sei es in einem ungeheizten Zugabteil, sei es auf dem Boden eines Flughafens, sei es im Fond eines Kraftfahrzeuges, und mit dem ADAC-Präsidenten sagen: „So geht es nicht weiter“ Wenn das auch sogar richtig ist, hält es niemanden davon ab, sich diese wunderbar schnellen Autos zu kaufen, in denen man zwar bald wohnen, aber nur wenig fahren kann.


Postalisches
Ein Briefwechsel

An info@deutschepost.de

12.2.11


Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist im Grunde ganz zwecklos, Ihnen zu schreiben, aber dann und wann fühlt man sich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, welch miserables Unternehmen Sie sind.
In diesen Tagen kam ein Dankbrief an einen ehemaligen Schüler zurück mit dem Vermerk „Anschrift überprüft durch Deutsche Post. Zurück. Empfänger nicht zu ermitteln".
Sie erinnern damit an die große Zeit der Reichspost und der Bundespost, als man u.a. davon sprach, daß die Post noch jeden Empfänger finde.
In diesem Fall haben Sie weder die Anschrift überprüft noch versucht, den Empfänger zu ermitteln.
Die Anschrift lautete: [folgt Namen, Straße, Hausnummer, Postleitzahl* ,Ort , handschriftlich]
Sie hatten auf jeden Fall den Namen des Empfängers, die Postleitzahl, den Ort, wenn Sie denn die Straße nicht lesen konnten. Das nützte aber gar nichts.
Der Empfänger,Herr Dr. L., teilte mir mit, daß er seit 30 Jahren an der angegebenen Stelle wohne.
Sie waren unfähig, ihn aufzufinden.
Der Wechsel ist überdeutlich: Sie können nichts mehr, haben überteuerte Gebühren, aber der frühere Vorsitzende Ihres Vorstandes ist ein Steuerbetrüger.
Prächtig.

Mit freundlichen Grüßen: Univ.-Prof. Dr. Helmut Arntzen


* Alles ist richtig, aber, wie mir erst später klar wird, in der Postleitzahl ist ein Dreher, statt „53“ steht dort „35“.

Die Post antwortet:


Sehr geehrter Herr Professor Arntzen

vielen Dank für Ihre Nachricht.
Natürlich verstehen wir, dass Sie sich über die Rücksendung Ihres Briefes ärgern. Warum wir jedoch in Ihrem Fall nicht anders verfahren konnten, möchten wir Ihnen gerne erläutern.
Die uns anvertrauten Sendungen stellen wir grundsätzlich unter der vom Absender angegebenen Anschrift zu. Ist dies nicht möglich, weil beispielsweise - wie bei Ihrem Brief - die Postleitzahl ( 46359 B. ) falsch ist, werden die Sendungen an den Absender zurückgeschickt.
Informationen zu deutschen Postleitzahlen finden Sie auf unserer Homepage im Internet unter www.deutschepost.de/plz.
Wir bedauern die Ihnen entstandenen Unannehmlichkeiten und bitten Sie für diese Verfahrensweise um Verständnis.

Mit freundlichen Grüßen

Silvia Eller
Kundenservice BRIEF
Deutsche Post AG
Kundenservice BRIEF
53247 Bonn
Deutschland


Ich schreibe der Post neuerlich:

14.2.11


Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie lesen nicht einmal die Beschwerden gründlich. Natürlich habe ich nicht geschrieben [folgt PLZ und als Ort B.], sondern, wie in meinem Brief deutlich steht [folgt die verdrehte PLZ und der richtige Ort. *(s.o.)].
Es ist kein Wunder, daß Sie so miserabel sind.
Mit freundlichem Gruß: Univ.-Prof. Dr. Helmut Arntzen


Die Post antwortet wieder:

Sehr geehrter Herr Professor Arntzen,

vielen Dank für Ihre erneute E-Mail.
Wir bedauern, dass Sie mit unserer Antwort nicht zufrieden sind.
Anbei Ihre Originalmail: [wird mit allem noch einmal abgedruckt]

=================================================

Wie bereits geschrieben handelt es sich bei der von Ihnen angegebenen Postleitzahl [folgt die Postleitzahl mit dem Dreher, nun als Postleitzahl der Stadt H.. Zunächst hatte die Post nämlich geschrieben, die PLZ mit Dreher sei die Postleitzahl der Stadt B.]
Die von Ihnen genannte Anschrift muss lauten: [folgt die ganze Adresse mit der PLZ ohne Dreher]

Sie haben Ihre Sendung an eine falsche Postleitzahl gesandt.

Mit freundlichen Grüßen

Silvia Eller
Kundenservice BRIEF

Deutsche Post AG
Kundenservice BRIEF
53247 Bonn
Deutschland

www.deutschepost.de

Deutsche Post DHL - The Mail & Logistics Group

Deutsche Post AG; Sitz Bonn; Registergericht Bonn; HRB 6792
Vorsitzender des Aufsichtsrates: Prof. Dr. Wulf von Schimmelmann
Vorstand: Dr. Frank Appel, Vorsitzender; Ken Allen, Bruce Edwards, Jürgen Gerdes, Lawrence Rosen, Walter Scheurle, Hermann Ude

Dies ist eine Nachricht der Deutschen Post AG und kann vertrauliche, firmeninterne Informationen enthalten. Sie ist ausschließlich für die oben adressierten Empfänger bestimmt. Sind Sie nicht der beabsichtigte Empfänger, bitten wir Sie, den Sender zu informieren und die Nachricht sowie deren Anhänge zu löschen. Unzulässige Veröffentlichungen, Verwendungen, Verbreitung, Weiterleitung sowie das Drucken oder Kopieren dieser E-Mail und ihrer verknüpften Anhänge sind strikt untersagt.

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Darauf schreibe ich:

16.2.11


An den Vorsitzenden des Vorstands der
Deutschen Post
Herrn Dr. Frank Appel


Sehr geehrter Herr Doktor Appel,

schon im ersten Brief an die Post schrieb ich, daß es zwecklos sei, dies zu tun. Da wußte ich allerdings noch nicht, daß sich hinter dem Namen "Silvia Eller" ein Code verbirgt, der auf einen schlecht programmierten Roboter weist. Denn es ist undenkbar, daß sich ein menschliches Wesen, statt eine zweite (sinnvollere) Antwort zu verfassen, mit der Übersendung der diplomatischen Form des ihr übersandten Briefs begnügt, als sei der mir nicht bekannt.
Ich hatte diesem Code geschrieben, daß mein mir zurückgesandter Brief deutlich und richtig an eine Person, an eine Straße, an deren Hausnummer und an einen Ort adressiert gewesen sei, wobei, wie ich jetzt feststelle, die Postleitzahl einen Zahlendreher aufwies, der bei allen derartigen Gelegenheiten vorkommen kann und vorkommt. Aber das hatte den von Ihnen bestimmten Code nicht interessiert. Er wollte wohl mit seiner zweiten Antwort bedeuten, dieser Zahlendreher sei das eigentliche Problem, und wenn ein Kunde der Post einen Zahlendreher in der PLZ zulasse, dann sei es selbstverständlich, daß der Brief zurückgesandt werde. Dies aber hatte ich mehrfach bezweifelt, bis auf die Reichspost und die Bundespost zurückgehend, die beide einen Brief, der vier Stellen richtiger Adressierung und einen Zahlendreher enthält, sehr wohl zugestellt hätten, auch als die Zustellung eines Briefs nur 12 Reichspfennige kostete, während heute mehr als das Neunfache für diese Nichtleistung berechnet wird.
Nun bin ich natürlich weiterhin davon überzeugt, daß dieser Brief Sie nicht erreichen wird, da Sie gegenwärtig zu entscheidenden Verhandlungen in Katmandu oder La Paz weilen, Sie, der unmittelbare Nachfolger eines rechtskräftig verurteilten Steuerschwindlers, Sie auch, der weitläufige Nachfolger des Herrn von Stephan, der, sage ich ungeschützt, sicher einem solch blamablen Zeichen von Unfähigkeit mit Fleiß nachgegangen wäre.
Daß das von Ihnen geleitete Unternehmen (wie zahlreiche andere in ähnlichen Fällen) nicht mehr fähig ist, einen weitgehend richtig adressierten Brief zu befördern, wohl aber für diese Unfähigkeit einen Riesenbetrag fordert, den Sie wahrscheinlich für selbstverständlich halten, auch weil Sie u.a. mit Hilfe der Versammlung vieler "kleiner" Beträge nach Katmandu und La Paz reisen können, ist die eigentliche Schande, die aber wahrscheinlich weder Ihr Code noch Sie verstehen werden.

Mit freundlichen Grüßen
Univ-Prof. Dr. Helmut Arntzen



Abgesang

Herrn Lauterbach mag ich nicht, weil er im allgemeinen wie ein Hampelmann wirkt. Herr Jörges ist Journalist: das ist schlimm genug. Aber was beide heute in der Sendung von Frau Will über Herrn zu Guttenberg und seine Dissertation sagten, ist zwar nichts besonderes, aber vollkommen richtig: der Mann ist ein Schwindler.
Doch das Schlimmste ist nicht seine Schwindelei, auf die er sich auch noch, weil er sie sieben Jahre betrieben haben will, heute als Ehrenmann beruft, sondern die Bestätigung eines Verdachts, den ich lange hatte: nämlich daß dieses Volk mehrheitlich so korrupt, so wenig anständig ist, daß es jemanden, den es wegen seiner Gelhaare und ein paar kesser Sprüche heiß liebt, obwohl der sie sofort, wenn jene nicht so gut waren, wie er vermutete, zurücknahm. Denn abgesehen von der Zustimmung für Guttenberg seitens der durch ihren Vater offensichtlich in moralibus verdorbenen Frau Hohlmeier, ist es schrecklich zu erleben, wie das durchgängige Schwindeln in einer Dissertation von der Mehrzahl der Leute nicht nur vergeben wird, sondern als sogenanntes Kavaliersdelikt dem Volkshelden (und dem der Bild-Zeitung), einem netten Menschen, zugestanden wird, obwohl diese Zustimmung ja bedeutet, daß Hochstapler, inskünftig frei und von der Mehrheit gelobt, das tun dürfen, was eben Hochstapler tun.


Nummer 26 (Dezember 2010) s. Archiv
INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert: Klassik 2.Teil.VON DER GEGENWART: Gestern (Wie immer – Aus alten Blättern – Aus einem ganz alten Blatt) – Öffentlichkeit und Privatheit

Die Nummern 1 – 26 s. Archiv

s. Register der Nummern 1- 25 „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen

Neu: H.A., Satirische Redemimesis in der Deutschen Chronik von Walter Kempowski.
In: Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Hrsg. v. L. Hagestedt. Berlin/New York: de Gruyter 2010. S.1-13

Neu: H.A., Karl Kraus. Beiträge 1980 – 2010. Frankfurt/Main etc: Lang 2011.235 S. (Literatur als Sprache. Literaturtheorie – Interpretation – Sprachkritik. Hrsg. v. H.A.)




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