Zur Lage der Nation
Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und
zu den Medien in Deutschland
Herausgegeben von Helmut Arntzen

Nummer 29 (November 2011)




INHALT: VON DER LITERATUR: Lyrik der Romantik kommentiert 1. Teil. VOM JOURNALISMUS: Altlasten des Journalismus (I):Prinzipielles (Internet oder Medien; Journalistendefekt; Journalistische Ethik; Die Zeit als Zeitung). Gängige Verfahren (Die Seele vom Jeschäft; Fernsehen als horror vacui; Spaßvogel und Publikum; Fernsehmenschen). Das „Zentrale“ (Wichtige Information; Tagesschau). Das Geschwätz (Ein ZDF-Mann im Taumel; ein ungemein kluger Mann).- Was Prof. Pinker im „Spiegel“ sagt




VON DER LITERATUR

Lyrik der Romantik kommentiert


Mehr noch als Goethe wird die Romantik mit Lyrik identifiziert, wenn es um den sogenannten Mann auf der Straße geht. Damit ist natürlich nicht die intellektuelle Romantik der Brüder Schlegel, nicht die ironische Tiecks, nicht die religiöse des Novalis, nicht einmal die groteske Arnims oder die dunkle Brentanos und E.T.A. Hoffmanns gemeint. Gemeint ist, wenn man die Sache genauer betrachtet, vor allem ein bestimmter Ton der Eichendorffschen Lyrik und allenfalls noch die als Lied bekannte Lyrik von Uhland, Kerner und Wilhelm Müller. Und es war dann noch gemeint, nämlich bis 1933, ein Teil der frühen Lyrik Heines, ein seltsames, aber charakteristisches Rezeptionsphänomen. Was als Romantik oder als romantische Poesie empfunden wird, entschieden nicht ihre Autoren, entschied auch nicht die Literaturwissenschaft, sondern eine öffentliche Meinung, die überhaupt nicht einheitlich strukturiert und darum auch nicht einfach als 'Volk' zu bezeichnen ist.
Diese öffentliche Meinung orientiert sich wahrscheinlich an eher epigonalen romantischen Versen des 19. Jahrhunderts, auch an der Musik, die als romantische und spätromantische ja z.T. erheblich später erscheint als die literarische Romantik. Ein Musiker des 20. Jahrhunderts wie Hans Pfitzner z.B. gilt als spätromantischer Komponist: seine Arbeiten enstehen aber etwa 100 Jahre nach der literarischen Romantik. Schließlich wird dann von den Positionen des mittleren und späten 19. Jahrhunderts zurückgeschlossen auf die Teile der Romantik, die man am besten mit dem verbinden konnte, was über das romantische Epigonentum sich als Romantikvorstellung im Zeitbewußtsein durchgesetzt hatte. Wir sprechen heute von der romantischen Lyrik, wie sie sich zwischen etwa 1795 und 1830/40 zeigt. Der Anfang ist relativ einfach festzulegen, das Ende ist dagegen fließend. Etliche der Romantiker leben bis in die fünfziger und sechziger Jahre des Jahrhunderts, einige Lyriker des mittleren 19. Jahrhunderts beginnen zumindest als Romantiker. Dennoch kann man sagen, daß etwa mit dem Tod Goethes auch die Spätromantik zu Ende geht. Was an Schriften Tiecks, Brentanos, Eichendorffs noch bis in den Anfang der fünfziger Jahre erscheint, ist entweder Versammlung von Älterem oder hat bereits einen nachromantischen Ton.
Der Anfang der Romantik, die Frühromantik, ist einerseits eine sehr reflexive literarische Bewegung, die im sogenannten Fragment und in größerer gedanklicher Prosa ihre Ausdrucksform findet, andererseits eine dem Lyrischen durchaus zugewandte Richtung. Aber eher dem Lyrischen als der Lyrik. Denn nicht die absolute Lyrik in der Tradition Klopstocks oder der Goetheschen Liedform ist ihr wichtig, sondern eine Funktionalisierung der Lyrik zum Lyrischen inmitten des und gegen den prosaischen Kontext oder zu dessen Erweiterung. D.h. das lyrische Interesse des Novalis, des frühen Tieck und des frühen Brentano, wenn man ihn denn zur Frühromantik rechnen will, ist nicht so sehr auf die Produktion von Gedichten als eigenständiger Lyrik gerichtet, sondern darauf, innerhalb ihrer Roman- und Dramentexte lyrische Texte einzufügen, die eben das Lyrische als eine poetische, ja als eine menschliche Haltung repräsentieren. Sie sind dabei bspw. an den Verseinlagen des „Wilhelm Meister" orientiert, mit dem sie sich z.T. aber sehr kritisch auseinandersetzen.
Wenn Tieck die Gedichte zu zentralen Texten seiner Dramen macht (z.B. „Genoveva", oder „Kaiser Octavianus"), dann soll dies v.a. die dramatische Struktur verändern, die Lyrik - so bei Shakespeare und Schiller - nur unter ganz bestimmten, sozusagen dramaturgielogischen Gesichtspunkten zuließ und niemals als zentrales Element. Es ist wohl überhaupt ein Charakteristikum romantischer Lyrik, daß sie selbst dann als funktionale Lyrik aufgefaßt werden kann, wenn sie als einzelner Text gedichtet bzw. veröffentlicht worden ist. Sie ist dann funktional in Hinsicht auf die tatsächliche oder die mögliche Vertonung: So sind die Gedichte Wilhelm Müllers fast durchweg bedeutend allein durch die Komposition v.a. Schuberts. Oder aber sie ist funktional als, sagen wir, latente Rollenlyrik, d.h. sie erscheint immer als Ausdruck einer bestimmten literarischen Figur, die eben lyrisch und nicht prosaisch spricht.
So haben wir das höchst eigentümliche Phänomen, daß eine literarische Bewegung, die als Inbegriff lyrischen Sprechens gilt, und die selbst das Lyrische als Inbegriff des Poetischen verstanden hat, sehr bedeutende Gedichte nur in relativ geringer Zahl hervorgebracht hat. Und wenn wir die wirklich großen Lyriker der Romantik benennen sollen, dann sind es nur Brentano und Eichendorff und letzterer nur mit solchen Gedichten, die zumeist nicht zu seinen populärsten gezählt werden. -
In einer ersten Sequenz werden Gedichte aus den Jahren zwischen 1796 und 1804 vorgestellt, also der Zeit, die im allgemeinen als ältere oder als Frühromantik bezeichnet wird. Es ist ja gleichzeitig die Zeit der Weimarer Klassik. Literarische Epochen lösen nun nicht mehr einander ab, sondern können gleichzeitige Richtungen sein. Der Frühromantik werden Tieck, Wackenroder, die Brüder Schlegel und Novalis zugerechnet. Wir beziehen auch den jungen Brentano mit ein.
Was ändert sich in der Lyrik der Frühromantik gegenüber der der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang, des Göttinger Hain und auch der Klassik? Unmittelbar greifbar ist der Verzicht auf die Fortführung der antikisierenden Tradition Klopstocks. Durchweg werden Liedformen benutzt, auch mannigfach verwandelt. Daneben haben romanische Lyrikformen, insbesondere das Sonett, aber auch die Glosse Bedeutung.Aber wichtiger und eigentümlicher sind Lexikon, Semantik und das, was man Ton nennen könnte.
Dennoch ist es nicht ganz einfach, das Spezifische der Romantik im allgemeinen, der Frühromantik im besonderen zu bestimmen. Vieles scheint auch im Semantischen und im Ton übernommen zu sein. So setzt sich Subjektivität als dominierende Größe auch im romantischen Gedicht durch. Aber sie ist nun - und damit nennen wir ein Erstes und Zentrales - nicht mehr oder doch nicht mehr allein die Subjektivität des Individuums, sondern sie wird nun Ausdruck und Form des Allgemeinen.
Wie ist das zu verstehen? Das erste Gedicht unserer Auswahl hat Ludwig Tieck geschrieben. Er lebte von 1773 bis 1853 und präsentierte mit der Erzählung „Der blonde Eckbert" (1796) die erste erzählende romantische Prosa, während seine späten Werke bereits dem Realismus nahestehen. Vor seiner romantischen Periode publizierte der junge Tieck Aufklärungstexte für den Verleger und Autor Friedrich Nicolai. Sein Gedicht „Trauer" ist 1796 entstanden und 1797 in einem Stück seiner „Volksmärchen", nämlich der „Wundersamen Liebesgeschichte der schönen Magelone" erschienen. Innerhalb dieser Neudichtung eines Volksbuchs haben die Gedichteinlagen eine zentrale Bedeutung. In der Erzählung ist das Gedicht ein Lied der Magelone, das sie „in der Einsamkeit mit der Spindel vor der Tür sitzend" singt. Wir erkennen hier gleich das lyrische Sprechen als für einen Prosatext funktionalisiertes Sprechen. Später hat Tieck das Gedicht mit dem Titel „Trauer" versehen. Er ist ein erster Fingerzeig darauf, daß Subjektivität nun Ausdruck und Form des Allgemeinen wird.
Denn Magelone trägt nicht ihre eigene Trauer, nicht ihre eigene Einsamkeit vor, sondern „Trauer" als ein zwar subjektives, aber subjektiv-allgemeines Phänomen. So ist das Gedicht auch nicht von Ich-Aussagen bestimmt, sondern spricht, wo es nicht ganz konstatierend spricht, von einer Wir-Erfahrung. Doch dieses „Wir" ist nicht das einer Gemeinschaft, sondern das Wir, das die (potentiell) gleiche, ja identische Erfahrung aller Subjekte anzeigt, so daß die Nomina der Schlußverse - „Nachen", „Strahl", „Land", „Strand" - nicht eigentlich Naturphänomene bezeichnen, sondern Allegorien sind, die spezifizierend den Status der Subjektivität unter der Voraussetzung des Gedichttitels „Trauer" benennen. Die zweihebigen Kurzverse hasten dem Schluß entgegen, in dem das Nichts erscheint, das zumindest beim jungen Tieck häufig mit dem Tod identisch ist.

TRAUER

        Wie schnell verschwindet
So Licht als Glanz,	,
Der Morgen findet
Verwelkt den Kranz,

		Der gestern glühte
In aller Pracht;
Denn er verblühte
In dunkler Nacht.

		Es schwimmt die Welle
Des Lebens hin
Und färbt sich helle,
Hat's nicht Gewinn;

		Die Sonne neiget,
Die Röte flieht,
Der Schatten steiget,
Und Dunkel zieht:

		So schwimmt die Liebe
Zu Wüsten ab;
Ach! daß sie bliebe
Bis an das Grab!

		Doch wir erwachen
Zu tiefer Qual;
Es bricht der Nachen,
Es löscht der Strahl,

		Vom schönen Lande
Weit weggebracht
Zum öden Strande,
Wo um uns Nacht


Dem auch in der Lyrik sich anzeigenden Nihilismus Tiecks steht die religiöse Lyrik des Novalis gegenüber. Novalis, d.i. Friedrich von Hardenberg (1772-1801) verlor seine Verlobte Sophie von Kühn ganz früh. Ihr Tod erschüttert ihn schwer, er stirbt ihr nach. Novalis repräsentiert in außerordentlicher Weise romantische Subjektivität als Universalismus. So kann er, der Protestant, seinen Zyklus „Geistliche Lieder" mit einem Marienlied (entstanden Februar/März 1800) beschließen. Und wenn dieses Lied auch deutlich an pietistische Texte anknüpft, so weist es nicht nur durch den Namen Marias über die pietistische Subjektivität hinaus. Es ist vielmehr ein romantisches Gedicht darin, daß Maria zu einem Synonym für „Himmel" wird, „Himmel" aber das (erstrebte) Universelle und Allgemeine repräsentiert, durch das die Ansprache des Ich an Maria ins Unendliche erweitert wird.


Ich sehe dich in tausend Bildern,
Maria, lieblich ausgedrückt,
Doch keins von allen kann dich schildern,
Wie meine Seele dich erblickt.

Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel
Seitdem mir wie ein Traum verweht,
Und ein unnennbar süßer Himmel
Mir ewig im Gemüte steht.

Novalis ist vielleicht der größte religiöse deutsche Dichter der Neuzeit, zumal dann, wenn man die dezidiert religiösen Texte als Teil des schmalen Gesamtwerks liest. Wie entschieden eigenwillig er als religiöser Lyriker verfährt, dafür ist das von dem Herausgeber Minor „Das Lied der Toten" genannte Gedicht, entstanden im Juli/August 1800, ein bedeutender Beleg. Die 15 achtzeiligen Strophen variieren ihr Reimschema ständig: In dieser Mannigfaltigkeit drückt sich die Vielfalt des anderen Lebens, des Lebens der Toten aus.
Das Gedicht ist für uns darum besonders erstaunlich, weil die Toten nicht nur zum Gegenstand des ganzen Textes werden, sondern weil sie, statt wie in der Literatur sonst als Rand des Lebens zu erscheinen, hier zur eigentlichen Wirklichkeit werden. Das ist für unser Zeitalter, das den Tod und die Toten vom Alltag bis zur Theologie zu verdrängen sucht, geradezu erschreckend. Aber es ist in der Ausweitung subjektiver Todeserfahrung zur Universalität und zur Einheit von Tod und Leben durchaus romantisch. Das Gedicht gehört zum Umfeld des zweiten Teils des „Heinrich von Ofterdingen". Es wird in der ursprünglichen Reihenfolge der Strophen zitiert.


[„DAS LIED DER TOTEN"]
       [Urfassung]

Lobt doch unsre stillen Feste,
Unsre Gärten, unsre Zimmer
Das bequeme Hausgeräte,
Unser Hab' und Gut.

Täglich kommen neue Gäste
Diese früh, die ändern späte
Auf den weiten Herden immer
Lodert frische Lebens Glut.

Keiner wird sich je beschweren
Keiner wünschen fortzugehen,
Wer an unsern vollen Tischen
Einmal fröhlich saß.
Klagen sind nicht mehr zu hören
Keine Wunden mehr zu sehen
Keine Tränen abzuwischen;
Ewig läuft das Stundenglas.

Tief gerührt von heilger Güte
Und versenkt in selges Schauen
Steht der Himmel im Gemüte,
Wolkenloses Blau,
Lange fliegende Gewande
Tragen uns durch Frühlingsauen,
Und es weht in diesem Lande
Nie ein Lüftchen kalt und rauh.

Süßer Reiz der Mitternächte,
Stiller Kreis geheimer Mächte,
Wollust rätselhafter Spiele,
Wir nur kennen euch.
Wir nur sind am hohen Ziele
Bald in Strom uns zu ergießen
Dann in Tropfen zu zerfließen
Und zu nippen auch zugleich.

Uns ward erst die Liebe, Leben,
Innig wie die Elemente
Mischen wir des Daseins Fluten,
Brausend Herz mit Herz.
Lüstern scheiden sich die Fluten
Denn der Kampf der Elemente
Ist der Liebe höchstes Leben
Und des Herzens eignes Herz.

Alles was wir nur berühren
Wird zu heißen Balsamfrüchten
Wird zu weichen zarten Brüsten,
Opfer kühner Lust.

Leiser Wünsche süßes Plaudern
Hören wir allein, und schauen
Immerdar in selge Augen
Schmecken nichts als Mund und Kuß.

Immer wächst und blüht Verlangen
Am Geliebten festzuhangen
Ihn im Innern zu empfangen,
Eins mit ihm zu sein,
Seinem Durste nicht zu wehren
Sich im Wechsel zu verzehren,
Von einander sich zu nähren
Von einander nur allein.

Schüttelt eure goldnen Ketten
Mit Schmaragden u. Rubinen,
Und die blanken saubern Spangen
Blitz u. Klang zugleich.
Aus des feuchten Abgrunds Betten
Aus den Gräbern u. Ruinen
Himmelsrosen auf den Wangen
Schwebt ins bunte Fabelreich.

Kinder der Vergangenheiten,
Helden aus den grauen Zeiten,
Der Gestirne Riesen geister
Wunderlich gesellt,
Holde Frauen, ernste Meister,
Kinder, und verlebte Greise
Sitzen hier in Einem Kreise
Wohnen in der alten Welt.

So in Lieb' und hoher Wollust
Sind wir immerdar versunken
Seit der wilde trübe Funken
Jener Welt erlosch,
Seit der Hügel sich geschlossen
Und der Scheiterhaufen sprühte
Und dem schauernden Gemüte
Nun das Erdgesicht zerfloß.

Tausend zierliche Gefäße
Einst betaut mit tausend Tränen,
Goldne Ringe, Sporen, Schwerter
Sind in unserm Schatz.
Viel Kleinodien und Juwelen
Wissen wir in dunkeln Höhlen
Keiner kann den Reichtum zählen
Zählt er auch ohn' Unterlaß.

Zauber der Erinnerungen,
Heilger Wehmut süße Schauer
Haben innig uns durchklungen
Kühlen unsre Glut.
Wunden gibts, die ewig schmerzen
Eine göttlich tiefe Trauer
Wohnt in unser aller Herzen
Löst uns auf in Eine Flut.

Und in dieser Flut ergießen
Wir uns auf geheime Weise
In den Ozean des Lebens
Tief in Gott hinein.

Und aus seinem Herzen fließen
Wir zurück zu unserm Kreise
Und der Geist des höchsten Strebens
Taucht in unsre Wirbel ein.

Könnten doch die Menschen wissen
Unsre künftigen Genossen
Daß bei allen ihren Freuden
Wir geschäftig sind,
Jauchzend würden sie verscheiden
Gern das bleiche Dasein missen –
O! die Zeit ist bald verflossen
Kommt Geliebte doch geschwind

Helft uns nur den Erdgeist binden
Lernt den Sinn des Todes fassen
Und das Wort des Lebens finden;
Einmal kehrt euch um.
Deine Macht muß bald verschwinden,
Dein erborgtes Licht verblassen,
Werden dich in kurzen binden,
Erdgeist, deine Zeit ist um.


Clemens Brentano (1778-1842) war mit Friedrich Schlegel und Tieck befreundet. Mit Achim von Arnim ist er später der Hauptvertreter der Heidelberger Romantik, eines Zweigs der jüngeren oder der Hochromantik. Wahrscheinlich ist er, der auch große Erzählprosa, auch Dramen schrieb, der wichtigste romantische Lyriker. Fünf Jahre hat er in Dülmen/Westfalen gelebt und die Visionen der stigmatisierten Anna Katharina Emmerick festgehalten und literarisch verarbeitet.
Das Gedicht „Simphonie" des 22-jährigen von 1800 hat manche Beziehung zu dem vorigen von Novalis. Auch hier wird Tod als Leben evoziert, allerdings nicht als Gesang der Toten, sondern als wirbelnd-tänzerische Bewegung, die immer wieder in der letzten Zeile jeder Strophe retardiert. V.a. aber wird die Einheit aus Mannigfaltigkeit, der spezifische romantische Universalismus beschworen, der bis zum Schluß als Ein- und Zusammenklang, als Symphonie aus Einzelnem und Ganzem erscheint.



SIMPHONIE


Ruhe! - die Gräber erbeben;
Ruhe! - und heftig hervor
Stürzt aus der Ruhe das Leben,
Strömt aus sich selbsten empor
Die Menge, vereinzelt im Chor.

Schaffend eröffnet der Meister
Gräber - Geborener Tanz
Schweben die tönenden Geister;
Schimmert im eigenen Glanz
Der Töne bunt wechselnder Kranz.

Alle in einem verschlungen,
Jeder im eigenen Klang,
Mächtig durchs Ganze geschwungen,
Eilet der Geister Gesang
Gestaltet die Bühne entlang.

Heilige brausende Wogen,
Ernst und wollüstige Glut
Strömet in schimmernden Bogen,
Sprühet in klingender Wut
Des Geistertanz silberne Flut.

Alle in einem erstanden,
Sind sie sich selbst nicht bewußt
Daß sie sich einzeln verbanden;
Fühlt in der eigenen Brust
Ein jeder vom Ganzen die Lust.

Aber im inneren Leben
Fesselt der Meister das Sein;
Läßt sie dann ringen und streben;
Handelnd durcheilet die Reihn
Das Ganze im einzelnen Schein.


Die drei nächsten Gedichte sind ebenfalls von Brentano, alle drei Belege funktionalisierter Lyrik, alle drei aber zugleich bedeutende eigenständige Zeugnisse romantischer Lyrik. Jedes hat überdies eine eigene Form, wenn auch der Typus des Liedes immer gegenwärtig ist. Das erste wechselt beständig zwischen einer Strophe aus zweihebigen Kurzversen und einer aus vierhebigen (in sich selbst rhythmisch variablen) langen Versen. Das zweite, metrisch-rhythmisch und im Reim zunächst einfach, gewinnt seinen formalen, man könnte auch sagen tonalen Reichtum dadurch, daß die späteren Strophen das Versmaterial der vorangehenden immer wieder aufnehmen und variieren, so daß eine insistente Melodie entsteht. Das dritte schließlich wirkt durch seine Synästhesien.
Das erste von 1801 steht im Roman „Godwi", das zweite, wahrscheinlich entstanden im Sommer 1802, steht in der „Chronika eines fahrenden Schülers" (1818), das dritte, ebenfalls 1802 entstanden, gehört zu dem Singspiel „Die lustigen Musikanten" (1803). Im ersten ist die Synthese von Einzelnem und Ganzem, von Ich und All nicht allein Thema, sondern lyrischer Vollzug. Immer aufs neue kontrahiert und erweitert sich das Gedicht und kehrt am Ende zum Anfang zurück.
Das zweite ist zwar ganz bestimmt von der Subjektivität der Einsamen als einer negativen Erfahrung, aber es appelliert immer wieder an die andere Erfahrung der Vereinigung als die des Ganzen. Das dritte schließlich stellt das Ganze aus der Fähigkeit der Subjektivität her, im Wort Klang, Farbe und Sinn zu vereinen.




		Sprich aus der Ferne
		Heimliche Welt,
		Die sich so gerne
		Zu mir gesellt.

Wenn das Abendrot niedergesunken,
Keine freudige Farbe mehr spricht,
Und die Kränze stilleuchtender Funken
Die Nacht um die schattige Stirne flicht:

		Wehet der Sterne
		Heiliger Sinn
		Leis durch die Ferne
		Bis zu mir hin.

Wenn des Mondes still lindernde Tränen
Lösen der Nächte verborgenes Weh;
Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen
Schiffen die Geister im himmlischen See.

		Glänzender Lieder
		Klingender Lauf
		Ringelt sich nieder,
		Wallet hinauf.

Wenn der Mitternacht heiliges Grauen
Bang durch die dunklen Wälder hinschleicht,
Und die Büsche gar wundersam schauen,
Alles sich finster tiefsinnig bezeugt:

		Wandelt im Dunkeln
		Freundliches Spiel,
		Still Lichter funkeln
		Schimmerndes Ziel.

Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
Bietet sich tröstend und traurend die Hand,
Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt.

		Sprich aus der Ferne
		Heimliche Welt,
		Die sich so gerne
		Zu mir gesellt.





DER SPINNERIN NACHTLIED


Es sang vor langen Jahren
Wohl auch die Nachtigall,
Das war wohl süßer Schall,
Da wir zusammen waren.

Ich sing' und kann nicht weinen,
Und spinne so allein
Den Faden klar und rein
So lang der Mond wird scheinen.

Als wir zusammen waren
Da sang die Nachtigall
Nun mahnet mich ihr Schall
Daß du von mir gefahren.

So oft der Mond mag scheinen,
Denk' ich wohl dein allein,
Mein Herz ist klar und rein,
Gott wolle uns vereinen.

Seit du von mir gefahren,
Singt stets die Nachtigall,
Ich denk' bei ihrem Schall,
Wie wir zusammen waren.

Gott wolle uns vereinen
Hier spinn' ich so allein,
Der Mond scheint klar und rein,
Ich sing' und möchte weinen.





		Fabiola 1

Hör', es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen.


		Piast

Golden wehn die Töne nieder,
Stille, stille, laß uns lauschen!


		Fabiola

Holdes Bitten, mild Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!


		Piast

Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht.


Tieck dichtet am Anfang des 19. Jahrhunderts ein Lustspiel „Kaiser Octavianus" (1804), das ein Spiel der Universalität und Vereinigung sein sollte. Der Prolog wie auch das ganze Spiel enden mit einer Glosse auf den Vierzeiler, den Tieck selbst als das Motto der Romantik sah. In einer Glosse wird eine Zeile der vier Zeilen des Mottos am Ende einer zehnzeiligen Strophe aufgenommen. In der Schlußglosse des Stücks sprechen acht Figuren die Zeilen, die die Liebe als die Substanz des Ganzen apostrophiert, das als romantisches Ganzes eben in dem Motto erscheint.


		Eine Stimme

Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält,
Wundervolle Märchenwelt,
Steig' auf in der alten Pracht!


		Florens 2

Wenn die Blumen sich erschließen
Und die Frühlingslüfte ziehen,
Will die Welt sich selbst entfliehen
Und sich hin in Liebe gießen.


		Marcebille

Darum muß im Herzen fließen
Kühler Labung Strom, und sacht
Bringt ihn die Erfüllung: lacht
Uns die Holde freundlich milde,
Sehen wir in ihrem Bilde
Mondbeglänzte Zaubernacht.


		Leo

		Eine Andacht, Eine Liebe
Ist dem Herzen und dem Leben
In der Demut nur gegeben,
Weichend keinem ändern Triebe.


		Lealia

Und daß diese in uns bliebe,
Ist die Treue hingestellt,
Sie bewacht die rege Welt
Aller wechselnden Gedanken,
Treue nur läßt uns nicht wanken,
Die den Sinn gefangen hält.


		Octavianus

		Wer in Liebe sich berauschet,
Und sich selber will entfliehen,
Daß er Kälte mit dem Glühen,
Haß mit seiner Liebe tauschet,
Den ein böser Stern belauschet,
Bis er in die Sünde fallt.


		Felicitas

Wenn er liebend treu aushält,
Muß sich alles fügen, schicken,
Daß ihm dünkt Glück und Entzücken
Wundervolle Märchenwelt.


		Roxane

		Was die Geister denken, sinnen,
Wonach Wünsche und Verlangen
Jemals nur die Flügel schwangen,
Können Schöners nichts gewinnen
Sie als Liebe, denn darinnen
Uns das Herz der Welten lacht.


		Hornvilla

Wenn zur Flamm' den Funken facht,
Güt'ge Nachsicht, dann Gedicht,
Was auch deiner Kraft gebricht,
Steig' auf in der alten Pracht! -



Das letzte Gedicht dieser Sequenz sind die aus dem Sommer 1800 stammenden Zeilen des Novalis, die als Schlüsselverse des Romans „Heinrich von Ofterdingen" gelten können. In ihnen gipfelt auch das Sprachdenken der Frühromantik derart, daß die Sprache als poetische Sprache bereits das Symbol der Vereinigung von Einzelnem und Ganzem ist, denn die Sprache der Dichtung gilt der Frühromantik als das ganz Subjektive und als das ganz Universelle zugleich.


Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit wieder gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.



1 Fabiola, Piast: Figuren des Singspiels „Die lustigen Musikanten".
2 Florens, Marcebille, Leo, Lealia, Octavianus, Felicitas, Roxane, Hornvilla: Figuren des Lustspiels„Kaiser Octavianus".



VOM JOURNALISMUS
Altlasten des Journalismus,


die sich nie verändern. Die folgenden Texte sind vor 13 oder 14 Jahren geschrieben worden, sie könnten durchweg auch heute geschrieben worden sein, natürlich über andere Personen.
Was sich ändert, ändert sich nicht durch journalistische Selbstreflexion, sondern durch das Internet. Damit ist es zunächst eine Frage des Kommerz. Das ist so deutlich wie möglich dem Beitrag „Der letzte Zar“ im „Spiegel“ Nr. 41(2011)zu entnehmen, der über den Zeitungsverleger Alfred Neven Du Mont von Alexander Osang geschrieben wurde, einem früheren DDR-Journalisten, der schnell umgelernt hat wie die anfänglich von Herrn Augstein eingestellten Nazi-Journalisten. Es soll ein kritischer Artikel sein, aber er ist es nicht. Er ist von Zustimmung gespeist, wie es die Artikel Nannens aus der Nazizeit waren und wie die Artikel über ihn, als er die journalistischen Seiten gewechselt hatte, was eine journalistische Metapher war. Zu einem grundlegenden „ich kann rechts, ich kann links schreiben“ und anderem Prinzipiellen kamen dann die zahllosen Fehler und Versäumnisse in allen journalistischen Genres, von denen einige hier vorgezeigt werden, unveränderlich bis heute und in Ewigkeit…...



Prinzipielles

Internet oder Medien

Im Gegensatz zum Internet, sagt der „Spiegel“, sichte „ein Heer von Journalisten, Wissenschaftlern und Archivaren...ein Dickicht von Informationen, wählt Wichtiges aus und beglaubigt, was der Überprüfung standhält“. Lassen wir mal die Wissenschaftler und Archivare beiseite, die wohl mehr um der Legitimation der Journalisten willen eingeführt werden. Was haben die in der letzten Samstagausgabe meiner Provinzzeitung gesichtet, ausgewählt und beglaubigt?
Zunächst haben sie wie die Journalisten aller Zeitungen auf der Welt gar nichts gesichtet und ausgewählt, wenn das denn bedeuten soll, wir bekämen inhaltlich geordnete Seiten geliefert und nicht nur nach Satzspiegel, Umbruch, Aufmachern u.ä. formal geordnete. Aber das fällt, da es sozusagen naturhaft ist, seit 150 Jahren niemandem mehr auf.
Gesichtet, ausgewählt und beglaubigt wurden da als erstes vier Fotos, die etwa ein Drittel der Seite füllen: zum ersten ein ganz kleines schwarz-weißes, auf dem ein Mann einem anderen Mann, der ein größeres Papier in der einen Hand hält, die andere schüttelt, während im Hintergrund bemützte Personen stehen. Die Legende dazu ist größer als das Foto und aus der geht etwa hervor: Eingeweiht -Jallermann - feierlich begrüßt - Bernhard Hutters - Gemeindedirektor - Scheck - Eigenanteil. Drei Farbfotos heißen: Rennatmosphäre, Entschärft und Die Aussicht und zeigen drei alte Rennautos auf einer Straße, ein Hebegerät, an dessen Arm ein verklumptes Ovales hängt („Blindgänger“, sagt die Legende), und (nach genauerem Hingucken) an einem Steg liegende Tretboote. Alle drei Fotos werden durch ziemlich ausführliche Legenden erläutert. Wie ist das aus dem Angebot gesichtet und ausgewählt worden? Inwiefern ist es beglaubigt? Was bedeutet überhaupt in diesem Zusammenhang, es sei beglaubigt, weil es der Überprüfung standgehalten habe?
Zu lesen gibt es auf der ersten Seite oben links einen Einspalter „Clinton muß neue Niederlage hinnehmen“, in der Mitte mit fetter erster Schlagzeile einen textlich ziemlich kurzen Zweispalter: „Daimler feiert die Fusion mit Chrysler. Aktionäre stimmen Zusammenschluß zu“. Daneben ein kurzer Einspalter (über zwei Spalten): „Kindertag: Kritik an Schulen“. Unten der Vierspalter mit Autornennung „Bahn startet Offensive für mehr Sicherheit“. Unter der Clinton-Nachricht ein einspaltiger Kommentar „Beste Chancen“, der sich mit der Daimler-Chrysler-Fusion beschäftigt. Außerdem gibt es auf der Seite noch drei Kästen: oben ein einspaltiger „Sport“ mit Fußball-Ergebnissen und einer Nachricht über Fußball und Fernsehen, daneben ein zweispaltiger „Lokales“ mit drei Nachrichten und dem schwarz-weißen Foto, darunter ein Zitat und darunter ein zweispaltiger Kasten „Telegramme“ mit fünf Nachrichten. Außerdem noch eine Zeile mit der Wettervorhersage und eine Anzeige.
Gesichtet, ausgewählt, beglaubigt ? Der Clinton-Beitrag ist einer aus dem Clinton-Kontext, der sich seit Wochen und Monaten formiert. Da es um den Präsidenten der Vereinigten Staaten geht, kann vielleicht gesagt werden, er sei wichtiger als tausend andere. Aber er ist andererseits recht kurz und enthält nur einen Nebenaspekt des Gesamtgeschehens. Ist er also nur gesichtet und ausgewählt worden, um den Clinton-Kontext zu erhalten?
Als wichtiger wird jedenfalls die Fusion Daimlers mit Chrysler dargestellt. Aber diese Darstellung wird gerade durch die Schlagzeilen zunichte gemacht. Während die Hauptsache „Aktionäre stimmen Zusammenschluß zu“ dünn als zweite Schlagzeile erscheint, heißt die Hauptschlagzeile „Daimler feiert die Fusion mit Chrysler“: schlechte Schlagzeilen-Metaphorik, die das Ausgewählte zu einer dekorativen Inszenierung macht.
Die Meldung „Bahn startet Offensive für mehr Sicherheit“, eine Eigenproduktion der Zeitung, riecht geradezu nach einem PR-Beitrag zugunsten der Bahn. Deren miserabler Zustand auf allen Ebenen braucht notwendig eine ‘schöne Rede’. Aber die ist wahrscheinlich überhaupt nicht beglaubigt, hielte also keiner Überprüfung stand, wenn dies mehr sagen soll, als daß die Bahn behauptet habe, eine Offensive für mehr Sicherheit zu starten, zumal auf der selben Seite die Behauptung, wenn man sie denn auf Technik und nicht auf Kriminalität bezieht, dementiert wird: „IC-Unfall durch defekte Oberleitung“ heißt die Überschrift über einer Kurzmeldung im Kasten „Telegramme“.
Die Fotos schließlich sind wie fast stets bloßes Füllsel. Sichten und auswählen bedeutet hier nichts anderes als statt der Aufnahmen X, Y, Z die Fotos A, B, C nehmen, die genauso nichtssagend sind wie jene.
Der „Spiegel“ macht ein bißchen PR für den Journalismus. Wenn er Internet gegen die Medien hält, müßte er sagen: jenes ist das unorganisierte, dieses das organisierte Chaos. Gesichtet, ausgewählt, beglaubigt - das ist eine Angelegenheit irgendwelcher Leute, die irgendwelchen Leuten verpflichtet sind, und darum irgendetwas sichten, auswählen und beglaubigen.



Journalistendefekt

Dreiviertel Stunde reden die Teilnehmer des Presseclubs über Sexualstraftäter, deren Bestrafung, deren Therapie. Dann beendet Herr Pleitgen, der die Moderation der Sendung hat, diese mit den Worten, er wünsche den Zuschauern „wunderschöne Weihnachten“.
Journalisten fehlt habituell jedes Gefühl für Übergänge. Da sie gewohnt sind, vom Unzusammenhängendsten, Gegensätzlichsten sozusagen pausenlos zu sprechen, mangelt ihnen das, was eine der Grundvoraussetzungen für Rede und Gespräch ist: nicht über alles hintereinanderweg zu perorieren, zwischen dem Alltäglichen und dem Schrecklichen und dem Freudigen zu unterscheiden. Und wir beauftragen mit unserer Unterrichtung in den Medien ausgerechnet Leute, die diese Fähigkeit der Übergangs und der Unterscheidung nicht oder nicht mehr haben.



Journalistische Ethik

Einer aus dem Moralapostelkollegium der „Zeit“ äußert sich im Rundfunk zu den Internetveröffentlichungen über Bill Clinton und deren Abdruck in der deutschen Presse.
Er freut sich darüber, daß er nicht bei einer Tageszeitung ist. Denn dann wüßte er nicht, wie er sich verhalten werde. Aber wie sich ein Journalist in diesem und nicht nur in diesem Falle verhält, sagt er wiederholt im Laufe des Interviews. Die Konkurrenzsituation zwinge zu einem Abdruck aller pornographischen Details, die die Leser auch erwarteten.
Das ist die krudeste und häufigste Begründung für jeden Dreck und jeden Unsinn in der Zeitung. Auch der Journalist mit Verantwortung kennt keinen anderen Reim, wenn er sich dem gegenüber sieht, was er wahrscheinlich den Zwang der Tatsachen nennt. Nur heißt das doch, daß er gar keine Verantwortung mehr übernimmt, da ja wegen der Konkurrenz und wegen der Leser alles gedruckt wird, und zwar alles, was auf irgendeine Weise bekannt wird.
Aber der Moralapostel hat sich sein Reservat bewahrt. Er spricht sich gegen den Hyperpuritanismus der Amerikaner aus, der leicht in das Gegenteil umschlage, und hofft, daß die „Tugend“ sich durchsetze, nicht alles zu sagen. Damit sind natürlich nur die Politiker und deren Funktionäre gemeint. Denn wenn es gesagt ist, gilt: siehe oben.
Was ist das für ein Grad von schizoidem Verhalten! Der Repräsentant der vierten Gewalt erteilt nach wie vor der Politik Lehren. Vor dem Chaos seines eigenen Ladens aber steht er achselzuckend und verweist auf das Blatt als Handelsware und auf den schlechten Geschmack der Leser.
Die Kontrolleure, im eigenen Dreck versinkend, pfeifen: „Haltet den Schmutzfink !“



Musikantenstadl

Also, das muß man gesehen haben, diese chymische Hochzeit der vollkommenen Geschmacklosigkeit mit der äußersten G’schaftlhuberei. Da tritt einer auf, der sich selbst Karl nennt und von anderen Charly gerufen wird und der seine Weltläufigkeit durch häufig gebrauchtes ‘Wow’ unterstreicht. Dieser Charly schmiert unter dem Himmel von Kapstadt alles zusammen, was nicht zusammen gehört: die Zillertaler Buam und Nelson Mandela, die Klippen des Kaps mit dem Röhren vom blauen Enzian, den südafrikanischen Kinderfonds und seine eigene Familie. Die hat er ebenso in der Sendung untergebracht wie einen Menschen, der als österreichischer Außenminister bezeichnet wird, eine Frau Intendantin, die der Kerl natürlich duzt, worüber sie charmiert ist, kurz diesen ganzen öffentlichen Janhagel, der von unserem Geld nach Südafrika transportiert worden ist. Zwar weigert sich die Technik immer aufs neue, diesen Irrsinn zu übermitteln, aber es gelingt ihr nicht, den ärgsten Tinnef zu verhindern: einen Cancan von Dilettantinnen vor einem Tiroler Fernsehbauernhof in Kapstadt, Südafrika.
Was helfen da alle Warnungen von Thomas Bernhard. Die Hölle, das sind die Charlys aus Österreich. Wow.



Die Zeit als Zeitung

Wenn man nach Monaten wieder einmal in die „Zeit“ guckt, sieht man gleich auf Seite 2 dies:„Ich bin stolz darauf, was wir geleistet haben,“ wird als Zitat von Kenneth Starr unter „Worte der Woche“ mitgeteilt. Irgendjemand bei der „Zeit“ muß ja wohl eine englische Äußerung so übersetzt haben. Aber „darauf“ geht nicht, wenn ein Relativsatz angeschlossen wird. ‘Ich bin stolz darauf, Leser der „Zeit“ zu sein’. Das ginge allenfalls, jedenfalls grammatisch. Hier jedoch müßte es heißen:‘Ich bin stolz auf das, was wir geleistet haben’.
Ein paar Zeilen darunter wird Heide Ruhle, „die Fraktionssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen“ zitiert. Die Dame heißt Rühle und ist nicht Fraktionssprecherin der Grünen.
Und noch ein paar Zeilen darunter gibt es im „Zeitspiegel“ eine kleine Glosse unter dem Titel „Abseits“. Darin wird der frühere UNO-Generalsekretär Butros Butros-Ghali ironisiert, weil er „erfolglos, aber mit bemerkenswerter Zähigkeit“ versuche, „sich ins Gespräch zu bringen“. Was hat er getan? Er hat als Generalsekretär der Gemeinschaft frankophoner Staaten einem afrikanischen Politiker zu einer Wiederwahl gratuliert. Außerdem hat er eine Vortragsreise nach Lissabon angekündigt. Derlei tun zahlreiche Funktionäre allüberall in der Welt. Aber die „Zeit“ hebt in diesem Fall(und nur in diesem) hervor, daß das die Weltöffentlichkeit nicht interessiere und daß sie Butros-Ghali „aus den Augen verloren habe“ und ihn nicht vermisse. Bei Gelegenheit vollkommener Nichtigkeiten versetzt die „Zeit“ einem von tausenden leitender Manager einen Schlag. Offenbar aus schierem Ressentiment.
Da haben wir die „Zeit“ ganz. Trotz großem Anspruch versagt sie immer wieder einmal in der Grammatik, immer wieder in der Tatsacheninformation, triumphiert sie aber in der funktionslosen Häme. Das sind die Elemente, die sie zur Zeitung machen.



Gängige Verfahren.


Die Seele vom Jeschäft
Der „Stern“ feiert sich zum Fünfzigjährigen. Claus Lutterbeck feiert die Fotografen des „Stern“ unter dem Titel „Das Beste aus 50 Jahren Stern-Fotografie“. Dazu gehört auch das Bild vom toten Uwe Barschel. „Manchmal müssen [müssen !] Fotografen so dicht rangehen, daß es dem Leser graut“, schreibt Claus Lutterbeck. Grauen ist wichtig. Wichtiger als „scheinheilige [scheinheilige !] Entrüstung“ über das Foto. Ob man das dürfe, sei damals gefragt worden. Claus Lutterbeck weiß die Antwort: Natürlich darf man, man muß [muß !]sogar. Wegen des Grauens für den Leser ? Nein, weil ohne Fotos Tod, Krieg, Elend, Hunger „leblose, abstrakte Begriffe“ wären. Der tote Uwe Barschel wäre nur ein lebloser Begriff geblieben. Als man ihn hingegen in der Wanne zeigte, lebte er: also als Begriff, vastehste.
Aber Lutterbeck hat noch bessere Begründungen in petto. Wenn es den Leser nicht graute, wenn er trotz allem nur einen abstrakten Begriff sähe, dann ist da immer noch das Übergeordnete, Große, Endgültige: das Verbot der Langeweile nämlich. Tod, Krieg, Elend, Hunger - wozu sind sie in der Welt? Damit sich der Leser nicht langweile. Das ist das moralische Gesetz des „Stern“. Seit 50 Jahren.



Fernsehen als horror vacui.

Ein Fernsehfilm über das alte Hotel Adlon in Berlin. Eine Besprechung aus der Povinz: ein paar Bewertungen, ein Widerspruch, eine Selbstverständlichkeit. Wozu ist soetwas gut ? Wer kann mit diesen hingehuschten Sätzen etwas anfangen ?
Der das Adlon charakterisierende Satz sieht so aus: Erinnerung „an die luxuriösen Zeiten, in denen Berühmtheiten wie die Stummfilmdiva Pola Negri“ - sie war auch eine Tonfilmdiva - „im Hotel Adlon verkehrten, der Champagner in Strömen floß und Kaviar ungeniert aus großen Schalen gelöffelt wurde.“ Der kleine Moritz ! So ist Luxus ! Es ist eine aus Courths-Mahler übernommene Formel. Denn nichts ist weniger charakteristisch für ein gutgeführtes Hotel als „Champagner in Strömen“ und „Kaviar ungeniert“, schon weil sich die Gäste damals immerhin passabel benehmen konnten.
Nun gibt es tatsächlich eine Szene, wo Kaviar gelöffelt wird. Sie ist etwas outriert, aber sie bezieht sich gar nicht auf das Hotel, sondern auf Louis Adlon jr., nicht, wie es heißt, auf den „jungen Louis Adlon“, denn das wäre in diesem Zusammenhang Louis Adlon sen. in seiner Jugend. Aber der Schreiber ist ein journalistischer Pawlowscher Hund. Unfähig auf das Spezifische dieser randhaften Szene einzugehen, bemerkt er nur Kaviar, und schon stellt sich zwanghaft bei ihm ein: Kaviar ungeniert, Champagner in Strömen. Automatische Prosa.
Gäbe es an Stelle solcher Besprechungen ein Stückchen weißes Zeitungspapier, es wäre ein Stückchen Erholung.



Spaßvogel und Publikum

Das öffentlich- rechtliche Fernsehen bewährt sich aufs neue. Herr von der Lippe empfängt ihm unbekannte Gäste, die er dem üblichen Publikum, das auf Spaß en gros aus ist, vorzustellen hat.
Zuerst kommt ein ernsthafter junger Mann, Theologe, der sehr bestimmt von Engelerfahrungen berichtet. Das Publikum kichert.
Dann erhält der Meister die Informationskarte über den zweiten Gast und prustet. Auftritt einer Art dicklichen Erotik-Rotkäppchens, das von der „Genitale“ berichtet, einer Ausstellung mit Kunstwerken, die „Schwanz und Möse“ zeigten. „Das ist etwas sehr Schönes“. Das Publikum applaudiert.
Dann kommt ein Transvestit, der aufs Referendariat wartet und katholische Theologie studiert hat. Das Publikum rast.



Fersehmenschen

Das Fernsehen kann mit dem einzelnen nur etwas anfangen, wenn er sich prostituiert. Er muß nicht nur seine Würde antasten lassen, sondern sie aufgeben, was er ja in den unzähligen Talkshows auch genußvoll tut. Er läßt sich völlig widerstandslos den Bedingungen anpassen, die ihm das Fernsehen setzt, strukturell ein ganz ähnliches Verhalten wie die Bereitschaft, im Krieg auch barbarischen Befehlen zu folgen. Der Unterschied ist zunächst nur der, daß der Befehlsempfänger seine Selbsthingabe manifestiert, indem er andere beschädigt oder tötet, der Fernsehgelenkte „nur“, indem er sich selbst beschädigt.
Welche Trostlosigkeit diese Selbstbeschädigung erreichen kann, beweist natürlich ein Fernsehpfarrer, der zum Komödianten geworden ist. Eine Großmutter, deren Enkelkind sich losgerissen hatte und dann von einem Auto überfahren worden war, hat sich dank mehrerer Talkshows selbst derart abgerichtet, daß sie nicht mehr den Schrecken des Geschehens erlebt, sondern die Wohltat der Fernsehauftritte, die sämtlich vom Großvater auf der Kassette gespeichert werden. Der Schmerz des einzelnen ist in den event verwandelt und wird auch von dem Betroffenen so erlebt. Das aber paßt nun wieder dem Pfarrer nicht ins Konzept seiner Talkshow, in der es ihn nach dem ‚echten’ Schmerz gelüstet, den aber die inzwischen anders programmierte Großmutter nicht mehr präsentieren kann, sehr zum Leidwesen des Pfarrers.
Unbrauchbar aber bleibt der einzelne, der beispielsweise unter den Folgen einer Naturkatastrophe leidet. Nur wenn er dabei zu einer größeren Gruppe gehört, kann er hoffen, immerhin Staffage einer Mediennachricht zu sein. Als einzelner bleibt er dagegen unbeachtet. Denn gerade der Schmerz in seiner Besonderheit ist für das Medium völlig uninteressant und darum nicht vorhanden. Erst wenn er begaffbar würde, was eben zumeist ‘Masse’ voraussetzt, wäre das Fernsehen wieder bereit, Notiz von der Katastrophe zu nehmen. Der einzelne hätte also nur dann eine Chance, wenn er sich noch im Augenblick der Katastrophe zum Objekt des Fernsehens prostituierte, also etwa seinen Schmerz in Hysterie inszenierte, so daß man etwas zu gucken hätte.
Das Fernsehen verlangt die freiwillige Verwandlung der sich an ihm Beteiligenden zum Objekt, das aber funktionieren muß, als sei es Subjekt, das sein Inneres öffnet.



Das Zentrale


Wichtige Informationen

Am 1. Januar blickte ZDF-Intendant Prof. Dr.h.c. Dieter Stolte in das neue Programmjahr, und zwar optimistisch.
Am 15. Januar startete die Serie „Mona M.“ und versprach etwas, nämlich frischen Wind in der Krimilandschaft.
Am 19. Januar wurde im von Barbara Groth moderierten „Politbarometer“ nicht mehr getrennt über Meinungen und Stimmungen der Bürger in West- und Ostdeutschland informiert, sondern es wurden nun präsentiert, und zwar gesamtdeutsche Ergebnisse.
Am 22. Januar hatte ein Aushängeschild eine durchschnittliche Einschaltquote und einen Marktanteil.
Am 23. Januar wurde der ZDF-Intendant, der übrigens Prof. Dr.h.c. Dieter Stolte heißt, von der Umweltstifung Europäisches Kulturerbe ausgezeichnet, bei welcher Gelegenheit der Stiftungspräsident im Ludwigsburger Forum am Schloßpark etwas erklärte.
Am 29. Januar zeigte das „Auslandsjournal“, das offiziell „auslandsjournal“ heißt, einen Beitrag von Christian Sterley über deutschen Sextourismus in Thailand, wo Christian Sterley auch einen polizeilich gesuchten Kindersexvermittler traf.
Am 11., 12., 13.,14. und noch am 25. Februar berichtete das ZDF live von den Alpinen Ski-Weltmeisterschaften in der spanischen Sierra Nevada. Diese Übertragungen wurden begleitet und ergänzt. Auch gab es eine Moderatorin vor Ort und einen Reporter und noch einen Reporter, und alle drei hatten Namen, nämlich Müller und Donzelli und Wörndl.
Am 15. Februar wurde das Magazin „ZDF-info Arbeit und Beruf“ ausgestrahlt, bei welcher Gelegenheit der Moderator Jürgen Biehle Gäste begrüßte.
Am 23. Februar wurde der Intendant des ZDF, manchmal auch ZDF-Intendant genannt, Herr Prof. Dr.h.c. Dieter Stolte vom Fernsehrat (wahrscheinlich des ZDF) wiedergewählt, und zwar mit von abgegebenen Stimmen, und zwar für eine vierte Amtsperiode. Er wird nun, und zwar vom 15. März 1997 an, den ZDF leiten, und zwar für fünf weitere Jahre, und zwar als dienstältester Intendant des ZDF. Die Wahl erfolgte im Rahmen. Der Vorsitzende des Fernsehrates würdigte. Der Intendant stehe, und zwar zu seiner sachlichen Überzeugung, für die er kämpfe und für die er Zustimmung gewinne, und zwar mit Sachargumenten.
Durch das Medium des Bildes gibt es außerdem noch die Information, daß der Vorsitzende des Fernsehrats dem Intendanten des ZDF, Prof. Dr.h.c. Dieter Stolte, die Hand schüttelte, und zwar die rechte, während die linke Hand des Vorsitzenden des Fernsehrats einen Blumenstrauß hielt, den er wahrscheinlich an den Intendanten des ZDF, Prof. Dr.h.c. Dieter Stolte, überreicht hat, und zwar alsbald.
Am 10. März gab es einen Leckerbissen besonderer Art, nämlich die Verfilmung der Strawinsky-Oper „The Rake’s Progress“, die überdies aufwendig war und ausgezeichnet wurde und in der außerdem auch noch gesungen wurde.
Am 24. März berichtete das ZDF live über die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Geführt wurde durch den Wahlabend , geführt wurden auch Interviews, und zwar in Stuttgart, aber auch in Mainz, ja sogar in Kiel. Außerdem wurde präsentiert und gesprochen und es erfolgte, und zwar in den nachfolgenden Tagen.
Am 19. April wurde ein neues Korrespondentenbüro in Istanbul eröffnet. Außerdem wurde ein Korrespondent eingeführt. Dazu kam der Intendant des ZDF Prof.Dr.h.c. Dieter Stolte nach Istanbul, öffnete eine Tür, dann den Mund , bezeichnete die Eröffnung als ein Signal, führte den neuen Korrespondenten ein, führte dann etwas aus und flog dann wieder nach Mainz, was aber nicht mehr mitgeteilt wird.
Schon am 9. Mai unterzeichnete Prof. Dr.h.c. Dieter Stolte, der Intendant des ZDF.
Schon am 5. Juni würdigte er sodann.
Schon am 21. Juni informierte er und betonte dann.
Was er noch getan hat, wissen wir nicht , wohl aber, daß das ZDF am 18. September neue Wege beschritt, am 30. September für ein neues Buchzeitalter sorgte und sich am 31. Dezember mit einer Anzeigenkampagne bedankte.
Auch wir danken herzlich für alles, was das ZDF im allgemeinen und der Intendant des ZDF Prof.Dr.h.c. Dieter Stolte im besonderen für uns alle, für Sie, für Sie und ganz besonders für Sie, für Dich und für mich, für Tante Traute und für die Oma in Heisterbach und für die europäische Kultur tun.Und natürlich auch für Hauser und Kienzle und für Knopp und für Marianne und Michael und für Dieter Thomas Heck und für Tom Toelle und für Helmut Ringelmann und für Gunther Emmerlich und für Prof.Dr.h.c. Dieter Stolte und für den ganz besonders.



Tagesschau

Die Tagesschau, Garant einer so bedachten wie zuverlässigen politischen Information, teilt uns eines Abends mit, daß Clinton in höchsten Nöten sei, daß Jelzin keinen Ausweg wisse, daß die Kluft von Arm und Reich in der Welt immer größer werde, daß Banglah Desh zu zwei Dritteln hochwasserüberflutet sei.
Über das Hochwasser in China sagt sie nichts, über die Hungersnot im Sudan nichts, über das Kosovo nichts, über die japanische Wirtschaft nichts. Denn da gibt es gegenwärtig wohl nichts Aktuelles.
Aber das Aktuellste, Wichtigste, Zentrale des heutigen Abends, die erste Meldung ist: Der deutsche Fußballbund hat einen neuen Bundestrainer.



Das Geschwätz


Ein ZDF-Mann im Taumel

Einmal im Monat sendet das ZDF ein Blatt aus, das natürlich „ZDF Monatsjournal“ heißt, aber ganz anders geschrieben wird. Darin wird vieles aus dem Programm vorgestellt. Ganz am Anfang gibt es das, was im Jargon „Editorial“ heißt und von dem man gern einmal wüßte, wer das wohl liest.
Für den Oktober 1998 hat sich Dr. Hans Helmut Hillrichs, der uns schon im Jahrbuch des ZDF aufgefallen ist und der mit Foto und Unterschrift präsentiert wird, unter anderem folgendes ausgedacht:
Er will davon sprechen, daß das ZDF und der Discovery Channel montags bis donnerstags viermal je 45 Minuten eine Sendung ausstrahlen. Meinetwegen, vielleicht wird das was, wir wissen es noch nicht, jedenfalls handelt es sich um vier Dreiviertelstunden-Sendungen und um kein bißchen mehr. Zur Aufregung ist keinerlei Anlaß.
Dr. Hinrichs aber ist so euphorisch, was sage ich, er ist so hingerissen, daß ihm Mund, Herz, Sprache und schlechthin alles überquellen: „Revolution der dokumentarischen Denkungsart“, ruft er begeistert, „unabweisbar geniale Idee“, bricht es aus ihm heraus, „identische Quelle der Verheißung“., taumelt er, „kopernikanische Wende“, rast er (es geht um vier Fernsehsendungen pro Woche !), „grandioser Schachzug mit weltweiter Wirkung“, deliriert er, Vorstoß „ins Herz der Dinge“, lallt es aus ihm, bevor er zusammenbricht.
Und wozu das alles ? Weil die beiden Partner „sehr konkret unter einer Decke“ stecken und weil der Zuschauer nun „ent-decken“ soll, „was darunter liegt“, obwohl ihm das doch als das einzig Verständliche und Angemessene innerhalb dieser entsetzlichen Salbaderei gerade eben, vor einer Sekunde, vor einem Satz mitgeteilt worden ist. Unter der Decke liegen - das ZDF mit dem Discovery Channel, und zwar konkret.



Ein ungemein kluger Mann

Und wo ihr’s packt, da ist es interessant. Gepackt haben wir es heute unter dem Namen des Kritikerzaren Kaiser, der nicht mit dem freundlichen Herrn von der Hamburg-Mannheimer oder dergleichen zu verwechseln ist. Als Kritikerzar liegt er in einem Rangstreit mit dem Kritikerpapst Reich-Ranicki. Wo der schreit und gestikuliert, ist jener feinsinnig und leicht zergrübelt(Blick in den Spiegel).
Bedeutende Kritiker haben wir in Deutschland nicht allzu viele gehabt: Kerr gehörte nicht zu ihnen.
Gehört Kaiser dazu? Die Zeitgenossenschaft würde mit überwiegender Mehrheit „ja“ sagen. Worauf kann sie sich dabei in dem kleinen Fernsehfilm berufen ? Etwa auf die Bemerkung „Ich halte viele Festvorträge“? Man kennt diese Dekorationsschriftsteller aus dem neunzehnten Jahrhundert, die bis tief ins zwanzigste anzutreffen sind. Sie gehören zu der schrecklichen und lausigen Spezies der Verfehlten, die aber nicht nur durch ihre Themen, vielmehr durch die gräßliche, noch in jedem Adjektiv sich präsentierende Staffagen-Prosa Löcher in das Bewußtsein der ihnen ergebenen Zuhörenden gebrannt haben. Natürlich wird Herr K. nicht durch Gußeisen und Porzellan-Nippes auffallen, er geht es sublimer an. Aber reiht er sich nicht ein ins Geschlecht, wenn er das fröhliche Bekenntnis ablegt: „Ich halte viele Festvorträge“? Wenn er es denn tut und kein Zweifel ist erlaubt, dann tut er es aus Eitelkeit und Geldgier. Aber dann hält man doch wenigstens in dieser Angelegenheit die Klappe. Er benennt aber gleich auch sein Festvortragspublikum: „Manche verehren mich sogar“, sagt er mit feinem Lächeln, wie er das selbst nennen würde. Und er eilt in die Arme dessen, der ihm entgegenruft: „Ich bin ein ganz spezieller Verehrer von Ihnen“.
Aber man muß im kleinen Film zu noch Größerem kommen, etwa zur Moralität der Künste. Etliches aus einer Inszenierung von „Kabale und Liebe“ wird gezeigt, er sagt gütig und doch ernst: „Vor dem Ernst haben wir alle ein bißchen Angst.“ Dem müsse man sich jedoch stellen. Wenn Moses dem „lieben Gott“, so sagt er, im brennenden Dornbusch begegne, das sei nun auch kein Zuckerschlecken. Ein mutiger Mann, der für den Ernst eintritt, aber er bietet auch gleich die unübersehbaren Vorteile: Auch der Ernst könne ja ein bißchen Spaß machen. Im brennenden Dornbusch oder in „Kabale und Liebe“.
Er sieht da nur ein paar Probleme mit den jungen Leuten, doch er ist ja auch, sagt er, die eigene Zeitung zitierend, schon ein elder statesman.
Und dann diktiert er in einem kleinen Zimmer, das aber mit einem größeren Spiegel ausgestattet ist, die Rezension zu „Kabale und Liebe“, etwas zergrübelt, ganz in sich gekehrt. Doch wenn er am Spiegel vorbeikommt, guckt er mal rasch hinein. Wer mag da drin sein? Richtig: der sublime Kritikerzar K., der die vielen Festvorträge hält, aber den ganzen Ernst dieses Jahrhunderts kennt und eben, nicht wahr, aufgemerkt nun also, wenn man bedenkt, denn wenn’s einen interessiert, dann wird’s gepackt. Ich danke Ihnen.





Was Prof. Pinker im „Spiegel“ sagt

In Nummer 42 des diesjährigen „Spiegel“ verkündet der „weltbekannte Evolutionspsychologe und Bestseller-Autor Steven Pinker“, daß - so faßt es der „Spiegel“ zusammen – seine „Studie“, nämlich „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“, „eine leidenschaftliche Antithese zum verbreiteten Kulturpessimismus und dem Gefühl des moralischen Niedergangs“ sei.
Dagegen sage ich , unbekannt und kein Bestsellerautor, daß hier ein dummer Kerl sich äußert und ihm dumme Kerle dazu Gelegenheit geben. Was kein „Kulturpessimismus“ ist.
Es fängt nur damit an und hört damit auf, daß Pinker trotz der üblichen Einschränkungen den Gewaltbegriff nicht definiert , ihn aber deutlich nur mit dem Töten in Kriegen, Schlachten u.ä. verbindet und der „Spiegel“ trotz aller ‚kritischen’ Fragen ihm dabei folgt. Denn weder die Gewalt gegen die Natur noch die gegen sich selbst, weder die Gewalt des täglichen Lebens noch die indirekte Gewalt durch den einzigen noch anerkannten Wert, nämlich das Geld, durch den Verlust der Empathie, durch immer weiter sich ausbreitende Korruption, durch Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit von nahezu jedermann, durch die Blödsinnigkeit der Reklame, durch die Wirkung von Alkohol und Verwandtem, durch den ‚Ersatz’ von Liebe zwischen den Geschlechtern durch Sex, ja durch den ganzen Unsinn des ‚beschleunigten’ Lebens, schließlich durch den Verlust der Sprache als Gedanke – nichts von allem wird als Gewalttätigkeit bedacht. So wird auch die (richtige) Frage des „Spiegel“, ob denn nicht das 20. Jahrhundert „das blutigste in der Geschichte war“, eingeführt, wie es Prof. Pinker gebrauchen kann, nämlich als „das blutigste“, womit „Gewalt“ wieder nur als Mord und Totschlag ‚zugelassen’ wird. Selbst Pinker aber, der zu jedem Einwand die ihm als Wissenschaftler passende Einschränkung zur Hand hat, weiß diesmal nur: „Das ist nicht ganz klar“.
Und dann weiß der „weltbekannte Entwicklungspsychologe noch, daß „alle Menschen… den angeborenen Wunsch nach einem Leben in Freiheit und Glück“ haben, worunter die meisten allerdings Ballermann verstehen und einige Macht bis zur Folter und zum Genickschuß.
Sind das nun „Psychopathen“, die es trotz des angeborenen Wunsches nach einem Leben in Freiheit und Glück „ immer“ geben wird? Oder gehen sie gar hervor aus „Konflikte[n]“, die „zum menschlichen Wesen“ „gehören“? „Angeborenen“, „immer“ , „gehören zum“: das weiß Prof. Pinker genau. Und dann weiß er noch genau, was seine Statistiken ihm sagen. Daraus zieht er den Schluß, daß wir, „alles in allem, in glücklichen Zeiten“ leben . Und laß uns ruhig schlafen! Und unsern kranken Nachbarn auch!




Nummer 28 (Juli 2011) s. Archiv
INHALT: VON DER GEGENWART: Die Grünen heute. VON DER GESCHICHTE: [Rez.] Olaf B. Rader: Friedrich II. Der Sizilianer auf dem Kaiserthron. Eine Biographie.München 2010. VOM JOURNALISMUS: Damals: Wie immer. Alltäglichstes, „Bild“-Lektüre, Bismarck bei Arte, Ein Chefredakteur spricht, Die Pressefreiheit des Adabei, „Alle haben sich geirrt“ –„Der Spiegel“ 22 vom 30.5.2011. VOM HERAUSGEBER: Karl Pestalozzi:Rede zum Achtzigsten - H.A.: Kleine Ergänzung.

Die Nummern 1 – 28 s. Archiv

S. Register der Nummern 1 – 25 „Zur Lage der Nation““ Hrsg. von Helmut Arntzen




(zum Archiv)

(zur Startseite)
(zum Register)