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Inhalt: Die Gesellschaft der
Gartenzwerge (mit Zitaten aus der "Dreigroschenoper" und dem
"Spiegel") - VON DER POLITIK: Deutsche Friedenspolitik - Demokratie
in Deutschland (und anderwärts) - Der Porzellanverkäufer und der Taxifahrer -
Möllemann - Die Achtundsechziger erschöpft?- VON DER GESCHICHTE: Bürger
Hitler - Zwei Bücher gegen die politische Korrektheit - VON DER GEGENWART:
Die Stadt, die Sauberkeit und Häussermann - Bei nochmaliger Durchsicht - VON
DER LITERATUR UND DER SPRACHE: Martin Walser, Tod eines Kritikers (mit zwei autobiographischen
Notizen) - Wie die Präsidentin spricht - VON STÄDTEN UND DENKMALEN: Wiesbaden
und Umgebung (im Winter) - Rühmungen -VON DEN MEDIEN: Das vollkommen
Idiotische - Wichtige Nachricht - Wie ein ARD-Intendant redet, wenn er
gefragt wird - Uns' Heike -VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1945
Die Gesellschaft der Gartenzwerge
(mit Zitaten aus der "Dreigroschenoper" und dem
"Spiegel")
Das Mittelmäßige und das Nennenswerte
Immer war es so, heißt die zynische Devise. Und in der Tat: das Mittelmaß
wußte schon immer, daß es sich in Stadt und Land formieren müsse, um sich
durchzusetzen. Das gelang durchweg prächtig. Der Klüngel ist keine Kölner
Erfindung, sondern die Struktur des Mittelmaßes. Aber allein damit wäre
nichts geschehen in der Welt außer den Hahnenkämpfen zwischen zwei oder
mehreren Mittelmäßigen. Alles Nennenswerte haben wir natürlich der kleinen
Schar der Talente, der noch kleineren der Genies zu verdanken, die durchweg
behindert wurden, aber sich oft auch behaupteten. Auch gab es immer so etwas
wie eine soziale Porosität, die in feudalen Zeiten von den Herrschenden
selbst oder auch vom widerwilligen Respekt des bürgerlichen Mittelmaßes
geschaffen wurde. Die Mediceer sind Symbol der ersten, die Vorderen der
niederländischen Generalstaaten das der zweiten Variante.
*
Die Frühgeschichte der Herrschaft des
Mittelmaßes in Deutschland
Aber wohl noch nie in der neueren deutschen Geschichte deckt das Mittelmaß,
nein das untere Mittelmaß, also die Formation der Gartenzwerge alles zu, was
auch nur den Hauch des Reflektierten und des Kreativen, der Sprache also hat.
Das erste ist durch Geschwätz, das zweite durch Scharlatanerie ersetzt. Doch
es ist vor allem die Undurchlässigkeit der Gartenzwergformation, die sich so
verheerend im öffentlichen Leben ausgewirkt hat.
Natürlich bedurfte es dafür einer längeren Vorbereitungszeit, denn eine
derartige strukturelle Veränderung ist nicht plötzlich da. Der Beginn ist im
Nazismus zu sehen, der nicht nur den Großteil der Nennenswerten außer Landes
trieb, der vielmehr einen Kult der Mittelmäßigkeit etablierte, obwohl er gern
von Eliten redete. Aber Eliten waren für ihn nicht die Denker und Gestalter,
sondern diejenigen, die besonders laut waren, zackig auftraten, das auffällig
vortrugen, was erwartet wurde, kurz die Mittelmäßigen als sich massiv
gerierende Exponenten. Deren Voraussetzung war, daß ein völlig Unauffälliger
und wahrhaft Nichtssagender durch das Arrangement und den Vortrag von
Platituden, die als ‚Philosophie' des Mittelmaßes galten, einen ungeheuren
Erfolg hatte. Nie zuvor hatte sich das Mittelmaß so hemmungslos selbst
gefeiert. Und genau diese auf Herrschaft ausgerichtete Aktivierung des
Mittelmaßes setzte sich nach dem Krieg fort. Dem alten, noch aus Zeiten vor
dessen vollkommener Durchsetzung stammenden Adenauer war klar, daß ihm keine
anderen zur Verfügung standen als die nazistisch produzierten und
durchtränkten Mittelmäßigen, die nun von den Feldern des Nationalismus und
des unmittelbar Totalitären abzulenken waren auf die der Wirtschaft und einer
Politik der Anpassung. Die alten Vorzüge des Mittelmaßes, nämlich
Produktionsfleiß und Unauffälligkeit, wurden nun auch für die sogenannten
Führungspersönlichkeiten allein bestimmend. Die Wirtschaftsleute der
Nachkriegszeit waren ja nicht mehr die Abkömmlinge der Rathenaus einerseits
und der Stinnes' andererseits, sondern unscheinbare Leute, die früher immer
im zweiten Glied geblieben wären und die nun, alle primi inter pares, die
Machtclaims absteckten, in der privaten Wirtschaft durchweg Manager im
Auftrag von Anonymi oder übriggebliebenen großen Familien. In der Politik
waren es Funktionäre, eingebunden in die jeweiligen Machtapparate, alle mit
gestanzter Rede sich artikulierend.
Nach der vorübergehenden Erschütterung dieser sich herausbildenden
Mittelmaßstruktur durch die Achtundsechziger, die aber dank der eigenen
spezifischen Mittelmäßigkeit des sich Gehenlassens Folgen nur in der
Verlumpung des Erscheinungsbildes der Republik hatte, wurde durch die Ära
Kohl diese Struktur noch einmal in der Frühform etabliert. Alles hatte nun
die graue Farbe des Nichtssagenden oder allenfalls die schreiende der
Scharlatanerie. Dazwischen fuhr die deutsche Einheit, durch die aber nicht
die paar tausend Widerständigen im Osten nach oben kamen, sondern wieder die
zum Mittelmaß gehörenden Denunzianten und die ewigen Parteifunktionäre, die
ja keineswegs anders waren als die westlichen Gartenzwerge, diesen nur darum
spinnefeind , weil sie bei den Hahnenkämpfen schlechter abschnitten als jene.
Denn selbstverständlich tritt neben die Undurchlässigkeit des klüngelhaften
Mittelmaßes nach außen die Machtauseinandersetzung im Inneren. Die wird nicht
entschieden durch irgendwelche, wenn auch problematische Kompetenzen der
einzelnen, sondern allein durch eine potenzierte Klüngelei, also dadurch,
sich selbst als ‚mehr dazugehörig' darstellen zu können.. Hier war der
westliche Klüngel natürlich dem östlichen gegenüber ‚fähiger' und darum
alsbald übermächtig. Mit der rot-grünen Regierung hat sich das Mittelmaß in
seiner Gartenzwerg-Formation in allen öffentlichen Bereichen nicht etwa
verloren, sondern in der Variante der Achtundsechziger konsolidiert. Die
Auseinandersetzung über diese Regierung ist keine intellektuelle, sondern
eine von Cliquen, bei der es allein darum geht, welcher Teil der
Gesamtformation stärker verklüngelt ist. Einig sind sich beide Seiten darin,
jede Regung eines eigenen Gedankens sofort zu unterdrücken. Dabei werden sie
von fast allen Kräften des Landes unterstützt. Imaginär ist die These von der
Verweigerung struktureller Änderungen innerhalb der herrschenden Richtung,
denn auch das, was ‚strukturelle Veränderung' genannt wird, ist nichts
anderes als eine etwas gewagtere Symptomenveränderung. Man kann es allerwärts
merken. So werden die Beschlüsse der sogenannten Hartz-Kommission als
Strukturreform ausgegeben, obwohl sie zum größten Teil nur metaphorische
Kunststücke sind, die allenfalls Auskunft über den Zustand der Sprache im
Lande geben. Hat man miterlebt, wie der als Nothelfer gefeierte Vorsitzende
nicht einmal in schlüssiger Rede das vorzustellen vermag, für das er doch
stehen soll, dann weiß man, daß die Inporosität des Mittelmaßes unter anderem
dank der Ausdrucksunfähigkeit seiner Repräsentanten ins Nichts führen wird.
*
Herrschaftsfiguren des Mittelmaßes
Was eingetreten ist, kann man an Personen, kann man an Zuständen allgemeiner
Phänomene klarmachen. Auf den ersten Blick scheint es ja so zu sein, daß ein
Mann wie Helmut Kohl in seiner Erscheinung, seinem Gebaren, seinem Reden am
meisten den Typus herrschenden Mittelmaßes einschließlich der Verklüngelung
repräsentierte. Aber das scheint eben nur so.
In Kohl begegnete ja noch die Frühgeschichte der Herrschaft des Mittelmaßes.
Er war ein Mann, der in der Nachkriegszeit herangewachsen war, in der es ja
immerhin noch gewisse Durchlässigkeiten gab, so daß z.B. in der Kultur noch
einiges möglich war, was das Mittelmäßige überragte, auch noch Reste jenes
bürgerlichen Respekts vor einer nicht rein ökonomischen Leistung. Zwar
verstand man von Kafka und Musil nichts, hatte sich aber darauf geeinigt, sie
als bedeutend anzusehen. Das galt natürlich besonders für Thomas Mann, den
man zu verstehen glaubte oder gar wirklich verstand und der
interessanterweise auch heute noch als Repräsentant des mehr als Mittelmäßigen
honoriert wird, wobei es allerdings nicht so sehr um die Bücher als vielmehr
um die Vita geht, mittels derer sich der Respekt des Mittelmaßes inzwischen
freilich in das einverständige "Auch nicht besser" verwandelte.
Dies deutet bereits auf den Punkt, an dem das System der Gartenzwerge durch
Personen sichtbar gemacht werden kann. Kohl als Repräsentant der
Vorgeschichte wurde abgelöst durch die Herren Schröder und Fischer, die viel
mehr als Kohl identitätsstiftende Figuren der impenetrablen Herrschaft des
Mittelmaßes sind, wobei beide allein für diese Herrschaft stehen. Mit ihren
Parteien haben sie nur soweit zu tun, als die ihnen die Möglichkeit zu dieser
Herrschaft geben. Seltsames und bisher Unvorstellbares geschieht. Ein Mann,
der seine Karriere als Porzellanverkäufer begann, und ein anderer, der nie
einen Berufsabschluß gemacht hat, waren längere Zeit die beliebtesten und
angesehensten Politiker der deutschen Gegenwart, ja der zweite ist es immer
noch. Und sie sind die höchstrangigen. Der eine wurde letzthin von einer
Mitbürgerin ein Charmeur genannt, was ja mehr auf die kleinstädtische
Friseurebene denn auf die Einschätzung eines Politikers deutet. Aber verrät
sich nicht in dieser Bezeichnung die Anerkennung für einen Mann, der, von
unten kommend, Anzüge tragen und Zigarren rauchen kann, der redet wie ein
eloquenter Schützenkönig und sich politisch so verhält, wie man sich selbst
verhalten würde?. Schröder ist die Mittelmäßigkeit mit dem Anspruch auf
Alleingültigkeit , wie sie auch in Helmut Kohl noch nicht begegnet war. Er
hat die Aura, nicht nur Generalist wie Kohl, sondern Alleskönner zu sein,
nicht als Universalgenie, sondern als der Mann vom Dorf, der in allen
Vereinen den Ton angibt, überall mitklüngelt, aber als der größte gilt, weil
er eine etwas geläufigere Suada hat als die schwerfälligen anderen. Daß er
der Generation der Achtundsechziger angehört, bedeutet nicht so sehr, daß er
deren angeblich politischen Zielen nahestand, als vielmehr, daß er von und
mit jenen gelernt hat, sich in den Hahnenkämpfen des (neuen) Mittelmaßes
durchzusetzen, was sowohl die Kumpelhaftigkeit von Rede und Verhalten wie
auch die ausgestellte ‚Fähigkeit' zur Voraussetzung hat, sich wie einer von
den Großen kleiden und gerieren zu können. Er repräsentiert eine Variante des
herrschenden Mittelmaßes, nämlich ‚einer von uns' zu sein, aber immer auch zu
beweisen, daß er es leicht mit allen anderen aufnehmen könne, wobei das
Zertrümmern von diplomatischem Porzellan nicht als dilettantisches
Ungeschick, sondern als klare Linie gilt, die der Mittelmäßige aber in
Wahrheit nie hat.
"MAC... Habt ihr denn keine Ahnung
von Stil? Man muß doch Chippendale von Louis Quatorze unterscheiden können.
MAC haut einem die Schüssel aus der
Hand: Ich wollte eigentlich noch nicht mit dem Essen anfangen. Ich hätte
es lieber gesehen, wenn es bei euch nicht gleich "ran an den Tisch und
rein in die Freßkübel" geheißen hätte, sondern erst etwas
Stimmungsvolles vorgegangen wäre.
...Ich verlange ja keine Oper hier. Aber irgendetwas, was nicht bloß in
Fressen und Zotenreißen besteht, hättet ihr schließlich auch vorbereiten
können.
... So, und mit dem Messer, nicht wahr, da ißt du die Forelle. Jakob, das ist
unerhört, hast du so was schon gesehen, Polly? Ißt den Fisch mit dem Messer.
Das ist doch einfach eine Sau, der so was macht..."
"Vor kurzem ist Heidemarie
Wieczorek-Zeul 60 Jahre alt geworden. Gerhard Schröder schenkte ihr im
Kabinett einen Strauß mit rosa Rosen. Und sagte zu ihr: ‚Na, Heidi, hättste
auch nich gedacht, wa?"
Sein Blutsbruder Fischer, inzwischen
viel beliebter als er, was aber nur damit zu tun hat, daß man ihn für
erfolgreicher hält als jenen, kommt nicht von ganz unten, aber von ganz
außen. Aber eben aus dem ‚Außen', von dem her man vom rabaukenhaften Anfang
an nur daran interessiert war, hineinzukommen, mitzuklüngeln.
"‚Otto,kneif mich, ich glaub es
nicht', raunte Joschka Fischer , als er am 27. Oktober 1998 vereidigt
wurde."
"...Fischer sah das Flugzeug, mit
dem er von jetzt an in die Welt fliegen würde, und sagte: ‚Das ist jetzt
alles meins.'"
"[Fischer] stellt
sich neben Schily und sagt: ‚Das ist mein Stuhl.'"
Gleichzeitig ist er der Typus, der
zeigt, daß man beruflich nichts können, nichts gelernt haben muß, um gewaltig
und anerkannt mitzureden. Man braucht sich eigentlich nur anders zu
verkleiden, was am raschesten im aktuellen Polit-Jargon gelingt. Während der
Revolutionsjahre kehrte man den Sponti hervor, nun trägt man Zwirn, wenn man
nicht gerade vorübergehend in eine Umgebung zurücktaucht, die anderes
erwartet. Vor allem wird er verstanden als einer von den vielen, die nach
ihren wilden und auf Kosten anderer vertanen Jahren nun zeigen, daß es gar
nicht schwer ist, nach oben zu kommen und sich dort zu halten. "Außen
Minister, innen grün", hieß ein von den Grünen geschätztes Wahlplakat,
das eine eigentümliche Dialektik enthielt. Das Ministersein ist nur etwas
Äußerliches, ein Job, das wahre Wesen ist das Grüne. Aber das hinwiederum ist
längst nichts Eindeutiges mehr, sondern nur das Markenzeichen für etwas
Unbestimmtes, unter dem sich die Achtundsechziger und ihre Nachfolger in
bunter Mischung, aber in klarem Mittelmaß versammeln können.
"MAC Meine Direktive lautet:
Blutvergießen ist zu vermeiden. Mir wird wieder ganz schlecht, wenn ich daran
denke. Ihr werdet nie Geschäftsleute werden! Kannibalen, aber keine
Geschäftsleute."
*
Wie das herrschende Mittelmaß auftritt
Wenn von der Annäherung an die ‚Großen' gesprochen wurde, so hat das nichts
mehr mit sozialem Aufstieg zu tun. Das System der Mittelmäßigkeit setzt
voraus, daß es dort, wo der homo novus ankommt, eben gerade nicht anders ist
als dort, woher er stammt. Der einzige Unterschied ist wirklich nur einer der
Kostümierung. Während die "Menschen", wie sie die Untengebliebenen,
aber Tonangebenden nennen, sich allenthalben in die Lagerkleidung hüllen, die
die Textilindustrie Freizeitlook heißt, evozieren die oben Angekommenen den
Eindruck einer homogenen Gruppe, die sich der Kleidung früherer
Führungsschichten bedient, jedenfalls den Anschein erweckt, als täte sie es.
Werden Fräcke eigentlich nur noch von Orchestermusikern und
Raubtierdompteuren getragen, so greifen die, die sich gern als ‚Gesellschaft'
abbilden lassen, zum sogenannten Smoking, der sich aber bis hin zu Josefs
buntem Rock von Fall zu Fall verändert. Die Damen, wenn man davon sprechen
darf oder soll, wollen sich gar nicht mehr auf vergangene Epochen beziehen,
sondern sind der Kleidungssynthese von Teurem und Ordinärem vor allem
verpflichtet, so daß jenes Hui und Pfui entsteht, in dem sich der Glanz von
Königskindern mit dem Aufputz derer verbindet, die man einmal
"Halbseidene" nannte.
"PEACHUM ...
Heiraten, das ist überhaupt so eine Schweinerei. Ich will ihr das Heiraten
schon austreiben."
Aber das Wichtigere für unser Thema ist,
daß sie nun nicht mehr jene Konversation machen, die einstmals das Mittelmaß
bändigte und die verstummte, sobald ein respektierlicher Geist einen
nennenswerten Satz zu sagen hatte, sondern daß nun unter Gekreisch
irgendwelche Unappetitlichkeiten, die früher aus der Konversation ausgeschlossen
blieben, ausgebreitet oder der elementare Klatsch als Vitalbezeugung
behauptet wird. Das Ganze heißt Party und wird in Blättern ausgestellt.
"PEACHUM
Anstatt daß
Sie was täten, was `nen Sinn hat und `nen Zweck
Machen sie Spaß!
Und verrecken dann natürlich glatt im Dreck."
Das Mittelmaß, das dies geschehen läßt,
wird zur Unterscheidung von dem Mittelmaß, das jene "die Menschen",
auch "die Menschen draußen" nennen, von ihm selbst als Prominenz
bezeichnet, was ‚das Hervorragende', aber im Sinne des ‚sich Erstreckenden'
meint, so daß also jemand, je länger er, auch um so prominenter ist.
Bei solchen Gelegenheiten formiert sich, was gerade, insofern es das
Mittelmäßige hinter sich gelassen glaubt, es drastisch ausstellt. Sie sind
von dem größten Teil der anderen, die nicht dabei sind, ausschließlich durch
die Höhe des Bankkontos oder durch politische, wirtschaftliche oder
kulturelle Positionen unterschieden.
"FILCH...Unsereiner
- wie soll der auf Ideen kommen, und ohne Bildung, wie soll da das Geschäft florieren?"
*
Das Mittelmaß in der Wirtschaft
Während vor Jahrzehnten den sogenannten Führungskräften immerhin nachgesagt
wurde, sie seien äußerst fähig, ob es nun die Führung eines Unternehmens,
eines Tennisschlägers, eines Landes, eines wissenschaftlichen Apparats
betraf, wobei das Universale dieser Gestalten schon bedauernd bestritten,
aber das Fachmannhafte unterstrichen wurde und als ganz unbezweifelt galt, so
ist nun gerade der Rang des Fachmännischen geschwunden und wird die
Mittelmäßigkeit nur noch in der plattesten Geld- und Machtgier überschritten.
Die deutliche Wirtschaftskrise offenbart, daß trotz zweier Jahrhunderte
empirischer Wirtschaftswissenschaften und obwohl das Problem nicht eines ist
, das intellektuell für so schwierig zu gelten hat, daß es gar nicht oder
kaum durchschaubar wäre, die ökonomischen Fachleute nicht in der Lage sind,
die Krise zu steuern,sondern sie nicht allein durch Verantwortungsmangel, der
ja wohl für diesen Bereich gar nicht mehr als verwerflich gilt, sondern vor
allem durch eine intellektuelle Armseligkeit, die ausschließlich durch Gier
kompensiert werden soll, herstellen und weitertreiben.
Kurz, es hat sich herausgestellt, daß die gesamte Garde der Chefmanager zu
nichts anderem in der Lage war, als für sich selbst zu sorgen. Der
Augenblick, in dem sie einzig gefordert wurden(da man sie in florierenden
Zeiten nicht braucht), traf ein dummes Geschlecht, das in Interviews mit
hilflosen Sätzen, die seine Inkompetenz noch stärker ausstellten, glauben
machen wollte, seine Repräsentanten hätten alles richtig gemacht, aber der
Markt, der alles richtet, habe es diesmal nicht erkannt. Hätten sie sich vor
einem Jahrhundert noch wegen ihrer Nichtswürdigkeit eine Kugel in den Kopf
geschossen, so haben sie jetzt alle Hände voll zu tun, aus dem Ruin und den
Ruinen das beiseite zu schaffen, was als Ausweis ihrer Leistungsfähigkeit
gilt.
"MAC...Meine Polly,
meine Herren! Sie sehen heute in ihrer Mitte einen Mann, den der
unerforschliche Ratschlag des Königs hoch über seine Mitmenschen gesetzt hat
und der doch mein Freund geblieben ist in allen Stürmen und Fährnissen und so
weiter...
...und selten hat, nimm das Messer aus dem Maul, Jakob, er, der allmächtige
Polizeichef, eine Razzia veranstaltet, ohne vorher mir , seinem Jugendfreund,
einen kleinen Fingerzeig zukommen zu lassen, na, und so weiter, das beruht
schließlich auf Gegenseitigkeit. Könnt ihr was lernen.
...Du, Jackie, weißt du, mein Schwiegervater ist ein ekelhaftes altes Roß.
Wenn er da irgendeinen Stunk gegen mich zu machen versucht, liegt da in
Scotland Yard etwas gegen mich vor?
BROWN In Scotland Yard liegt nicht das geringste gegen dich vor.
MAC Selbstverständlich.
BROWN Das habe ich doch alles erledigt."
Es ist der unvergleichliche Fall
eingetreten, daß Leute zunächst trotz ihrer, aber dann für ihre Unfähigkeit
bezahlt werden, insofern sich diese ja inzwischen unübersehbar herausgestellt
hat. Die nationale Wirtschaft nicht nur, sondern die Weltwirtschaft ist in
den Händen von Mittelmäßigen, deren fachliche Ignoranz ihrer geistigen
Ignoranz auf dem Fuße gefolgt ist. Sie zeigt sich inzwischen bei den
Honorabelsten, den Bankern, dann bei den großen Vorsitzenden, bei den
Vorstandsmitgliedern, den Direktoren, natürlich auch bei den Mitgliedern der
Aufsichtsgremien. Man schaue sich nur den jahrzehntelang andauernden Zustand
so großer, inzwischen privatwirtschaftlich geführter Systeme wie der
Deutschen Bahn und der Deutschen Telekom an. Die erste war als Reichsbahn
berühmt für ihre Pünktlichkeit, Sauberkeit, Zuverlässigkeit. Sie ist nach dem
Krieg mehr und mehr kümmerlich geworden, in jeder Hinsicht untermittelmäßig,
weil sie, sagte man, in öffentlicher Verwaltung war, was ja bis in den Krieg
hinein gerade ihre Leistungsfähigkeit garantiert hat. Wie immer: durch die
Privatisierung hat sich nichts gebessert. Die Unpünktlichkeit scheint
unausrottbar, immer wieder gibt es schwere Unglücke, die Attraktivität der
Züge hat allenfalls in den obersten Rängen zugenommen. Die Bahngewaltigen
sind überdies nicht in der Lage, vernünftige Tarife vorzulegen. Alles
verharrt auf dem Stande unfähiger Subalternfiguren, und der Chef, als
Tatkraft geholt, fällt nur durch unverschämtes Schwadronieren auf. Und
genauso ist es bei der Telekom, deren Großmannssucht sie finanziell in
Schwierigkeiten brachte, die aber nicht in der Lage ist, z.B. klare und
nachprüfbare Kundenrechnungen zu schreiben.
Da aber niemand mehr in dem ganzen ökonomischen Bereich die inkompetente
Mittelmäßigkeit als schuldig am Zustand des Wirtschaftssystems mit einem
Verdikt belegt , da an die Stelle des Dummen nur der Dummere tritt, weiß man,
daß zwar nicht durch das Handeln jener, sondern allenfalls durch das
Schütteln des Marktes zufällig einmal eine neue Hausse zustande kommen
könnte. So viel Mittelmaß war nie, also wird es niemanden geben, der die
Wirtschaft aus der Misere herausführt.
*
In der Politik
Und auch nicht aus der Misere anderer Bereiche. Deutschland ist die
Führungsnation in politischer Mittelmäßigkeit, die man in der Bundesregierung
als Union erfahren kann. Denn was sich unter der Regentschaft jener beiden
Zaunkönige begibt, ist, von dem listigen Schily abgesehen, von Haus aus
mittelmäßig . Hausmeistertypen, dialektale Hausfrauen, intrigante Gastwirte,
verhuschte Lehrerinnen, machtlüsterne Predigerinnen und was der Markt der
Mittelmäßigkeiten sonst noch präsentiert - das ist hierzulande insgesamt zwar
ein Verfassungsorgan, aber in Wahrheit etwas, das jede Hoffnung fahren läßt.
Sie machen eine Zeitlang gar nichts, dann wieder Hektisches, sie lesen
Selbstrühmungen vom Blatt und sind zu Argumentationen unfähig. Sie legen sich
die Frage, wohin es mit dem Lande gehen soll, darum nicht vor, weil sie es
nicht können und also erst recht nicht zu plausiblen Antworten im Stande
sind. Sie verhalten sich so, wie sich der Mittelmäßige im Alltag verhält:
planlos, aber schematisch. Da sie nicht wissen, was vorgestern war, können
sie nicht wissen, was morgen sein soll. Sie lösen kein Problem, sie haben
kein Konzept. Das Land wird von einem Dilettantenclub regiert, der sich in
einem Jargon aus Floskeln und flotten Sprüchen äußert.
"Unter Schröder
lernte Trittin, daß man Programme opfern muß, um nach oben zu kommen und oben
zu bleiben."
Auf der sogenannten Länderebene ist es
natürlich um kein Gran anders. Biedere Subalternbeamte figurieren als
Ministerpräsidenten, manchmal auch dicke Menschen, die schnell reden können.
Und eben dies ist ja das einzige, was sie können: sie sind medientauglich.
Als Minister werden Leute eingesetzt, deren einzige Qualifikation ist, daß
sie schon versagt haben oder daß sie sich primär um ihre Nebeneinnahmen
kümmern.
*
In der Kultur
Aber die Kultur? Da sind schon mit den siebziger Jahren Theaterleiter und
Schauspieler über uns gekommen, denen dann dreißig Jahre lang nichts anderes
eingefallen ist, als schlecht zu sprechen, dafür aber nackt aufzutreten, was
eine neue Generation von Zuschauern inzwischen großartig findet. Opern werden
realistisch und gesellschaftskritisch verhunzt, große Dramen zu Material
degradiert, mit dem man nach Belieben das machen kann, was einem nicht
eingefallen ist. Was vom Text einzig lebt, wird, da niemand mehr sprechen
kann, zu Leiberaktionen gemodelt, die beliebig sind, aber für ein Wochenende
auffallen. Die Bildenden Künste werden von galeriegeförderten Scharlatanen
beherrscht, deren Rang allein durch den Preis bestimmt wird, da ja zu dem,
was sie produzieren, außer dem Geseire, das sich Kunstkritik nennt, nichts
gesagt wird, nichts gesagt werden kann. Welcher Gartenzwerg die verbindlichen
Phrasen vortragen darf, wird im Klüngel festgesetzt. Seit der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts und seit einigen Zeitläuften des späten 19. haben wir
eine solch uneingeschränkte Vorherrschaft des Mittelmaßes in der Literatur
nicht mehr gehabt. Nachdem die letzten Repräsentanten der zwanziger Jahre:
Thomas Mann, Döblin, Benn, Brecht abgetreten waren, also seit der Mitte der
fünfziger Jahre, ist das Mittelmaß bestimmend geworden, von den beiden
Nobelpreisträgern angeführt, von denen Böll ein menschlich sehr sympathischer
Mann, Grass ein kauziger politischer Ignorant war. Aber beide sind, von ganz
wenigen Texten abgesehen, schriftstellerisch vollständiges Mittelmaß, der
lange gerühmte Böll wird kaum noch gelesen, hat wissenschaftlich überhaupt
keinen Platz mehr, der längst auf die "Blechtrommel" reduzierte
Grass überschwemmt den Büchermarkt mit immer gleich nichtssagenden Produkten.
Einer der ganz, ganz wenigen Nennenswerten, nämlich Ernst Meister, ist dafür
in eine Esoterikecke abgedrängt worden. Und wenn man dann noch Botho Strauß
nennt und für bestimmte literarische Aspekte einiges von Walter Kempowski,
dann ist man bereits am Ende des Registers angelangt und hat vor sich die
unübersehbare Masse des so sehr Nichtssagenden, daß es ständig durch
Amerikanisches kompensiert werden muß. Ein lärmender und gestikulierender
Literaturpapst, der sich durch seine Lebenserinnerungen unangreifbar gemacht
hat, verfügt, was in dem Ensemble des Mittelmäßigen beachtet werden muß und
unbeachtet zu bleiben hat. Die intellektuelle Kraft solcher Verfügungen liegt
bei der journalistischer Leitartikel.
*
Im Journalismus
Auf der Herrschaft des Mittelmaßes hat prinzipiell schon immer das System der
Journalistik beruht. Von großen Journalisten zu sprechen ist eine
contradictio in se, wie das Beispiel des gerade verstorbenen Rudolf Augstein
zeigt. Der kam durch den Zufall des, mit Bismarck zu sprechen, verfehlten
Berufs an die Spitze des "Spiegel". Und die wie immer sinnlos
übertriebenen Nachrufe berücksichtigten nicht, wie vieles von dem, was er
publizierte, widersprüchlich und kaum durchdacht war. Aber er war unter der
Masse der schlechthinnigen Ignoranten ein Einäugiger, der mit Hilfe des
Zynismus, den er für sein Wirken selbst als grundlegend sah, wenigstens die
Oberfläche des Übels aufzudecken vermochte. Was die "Spiegel"-Mittelmäßigen
bei Gelegenheit seines Todes an Heldenverehrung durch mehr als 60 % eines
Heftes betrieben haben, raubt allerdings den Atem. In einer Mischung aus
Nachruf für einen Vereinsvorsitzenden im Vereinsblättchen und einem
Hindenburg-Gedenkbuch, wie ich es aus meiner Kindheit erinnere, hatte man
Hinz und Kunz aufgeboten, des großen Toten zu gedenken. Dazwischen wird sich
das Blatt selbst zum Idol und druckt nochmal ab, was es für historisch an
sich selbst hält. Denn zum Mittelmaß gehört, sich selbst Größe zu
bescheinigen.
Neben dem banausischen Mittelmaß ist eben das zynische wichtig für den Stand
des Journalisten, wobei dieses freilich das Verurteilenswerte genauso trifft
wie das Verteidigenswerte. Wie etwa unter der Ägide Augsteins wichtige Positionen
eines konservativen Denkens ebenso wie das Platte und Dumme der
Lächerlichkeit preisgegeben wurden, das ist eine der Schandtaten eines
zynischen Journalismus, der als Mittelmäßigkeitsrepräsentant nicht drei
Schritte weit zu denken vermag, aber seine ironischen Floskeln immer präsent
hat.
*
In der Wissenschaft
Die großartigen Leistungen der deutschen Wissenschaft von der Medizin, den
Naturwissenschaften an über Jura zu den Geisteswissenschaften, zur Theologie
und der Philosophie sind längst zum Kärrnergeschäft mutiert. Es lohnt sich
offenbar nur noch in ganz seltenen Fällen, einem deutschen
Naturwissenschaftler einen Nobelpreis zu verleihen. Schwindeleien kommen vor,
wenn sie auch nicht der Standard sind. Aber der ist offenbar von der
Biederkeit der zweiten Reihe bestimmt. Wir haben sehr emsige, aber keine
bedeutenden Historiker. Wir haben Literaturwissenschaftler, die nur noch
imitatorisch tätig sind: Foucault, Derrida, Lacan und Konsorten wird
nachgebetet. Zu eigenem sind sie nicht mehr fähig. Von den Theologen hört man
vor allem Soziales, aber nicht einen Hauch von Spirituellem. Und an die
Philosophen-Stelle von Heidegger, Adorno, Gadamer, Liebrucks ist Herr
Sloeterdijk getreten, was der Kommentierung nicht bedarf. Aber des Erbarmens
bedarf es für die Art, wie sie fast alle reden.
Ein Blick in die Universitäten genügt, um zu erkennen, daß aus diesem Elend
nichts Nennenswertes hervorgehen kann. Jammervoll sind die Gebäude und die
Bibliotheken, überfüllt die Seminare, äußerst durchschnittlich die meisten
studentischen Leistungen.
*
Im Sport
Und dann hat noch der Sport kein Wort. Er ist in diesem Zusammenhang nur
wichtig, weil er das Phänomen des herrschenden Gartenzwergs besonders
deutlich vorführt. Und das natürlich noch einmal gesteigert in dem bis zu
Absurdität überschätzten Fußball. Der ist hier nur interessant, weil bei ihm
eine Horde von lethargischen Nichtskönnern hoch bezahlt wird und immer weiter
als Helden der Nation gilt. Hinzu kommt, daß diese Gilde von Schlappiers
ständig ergänzt werden muß durch dunkelhäutige Vitale, die allerdings alsbald
das lethargische Wesen ihrer inländischen Kumpane übernehmen. Aber längst ist
der sogenannte Rasen nichts als ein symbolischer Ort, der zwischen den allein
wichtigen Geschäften aufgesucht wird, damit noch eine Zuordnung zu dem Sport
"Fußballspielen" erkennbar wird..
*
In der Ebene
Deutschland ist ein Gartenzwerg-Staat geworden , der nun auch den Kommerz,
seine stumpfsinnige Hauptbeschäftigung für Jahrzehnte, dilettantisch
betreibt, der überall ins Leere greift und sich nicht einmal mehr ordentlich
gesellschaftlich zu organisieren vermag. Auch das muß er bei Kleinstaaten wie
der Schweiz, den Niederlanden, Schweden abgucken. "Mein Mann ist so
fleißig, aber es fällt ihm nichts ein," klagte die Ehefrau eines germanistischen
Großordinarius vor Jahrzehnten. Daß ihnen nichts einfällt, charakterisiert
die heutigen Deutschen, aber sie sind nicht einmal mehr fleißig, obwohl das
der Hauptvorteil ihres Mittelmaßes war, als es noch einen Überbau gab. Der
ist verschwunden. Für den großen Rest geht es vor allem um Feste, ums
Verreisen, um Geldausgeben. Sie wählen das größere von zwei Übeln, sie lassen
sich jeden Schund andrehen, sie haben Arztpraxen als Kommunikationsorte
entdeckt, sie lesen nicht, sie spielen kein Instrument, dafür malen sie
allerdings und gehen zum Italiener. Sie malen aber vor allem, um
auszustellen. Sie finden sich in ihrem Mittelmaß glänzend und lassen sich das
vom regierenden Mittelmaß bestätigen. Man ist zwar verunsichert, aber immer
unterwegs, man sieht mit Ernst in die Zukunft, will aber heute das nächste
Weinfest aufsuchen, wo man sich knubbeln kann und dadurch glücklich wird. Man
freut sich darüber, daß man keinen Respekt mehr vor irgendetwas zu haben
braucht und jeden, den man sieht, duzen kann. Man muß sich nicht mehr
anstrengen, sondern kann ständig ausschlafen, und fragt einzig danach, wann
der Feierabend beginnt und wie lange der Urlaub ist.
Natürlich gilt das, in geschönter Weise dargestellt, Politologen und
ähnlichen Meinungsdirigenten als Triumph der Demokratie. Wir brauchen nichts
über dem Mittelmaß, ist ihre Behauptung, denn das Postulat nach dem Höheren
habe uns in die Sackgassen und auf die Katastrophenfelder der Geschichte
geführt. Dabei lassen sie völlig aus dem Auge, daß nichts in der menschlichen
Geschichte, also auch nicht die unbestreitbaren Ruhmestaten der Künste und
der Kultur, durch eine Art Selbstorganisation der Mehrheit hätte zustande
kommen können. Auch das eigentliche Feld der Demokratie, die Politik, ist
nicht kultiviert worden durch die Wahlentscheidungen der vielen, die, wie das
Beispiel des Nazismus zeigt, ärgste Fehlentscheidungen sein konnten, sondern
durch die ‚Vorlagen' bedeutender Köpfe, ob das die amerikanische Verfassung,
Roosevelts "New Deal" oder Churchills Widerstand im Zweiten
Weltkrieg waren. Je weniger hingegen das Mittelmaß provoziert wird, seine aus
Disziplin, Genauigkeit, Arbeitseifer hervorgehenden Fähigkeiten zu zeigen,
desto mehr läßt es eben darin sofort nach und präsentiert sich nur noch in
den sich immer weiter ausbreitenden Schlampereien des Alltags, wo heute
nichts mehr auch nur annähernd funktioniert.
*
In der Jugend
Die schlimmsten Auswirkungen hat das bei den Jugendlichen, die nicht wieder
den Reglements von Hitlerjugend und Arbeitsdienst unterworfen werden sollten,
aber nun als Söhne, ja gar Enkel der Achtundsechziger, völlig ungefordert in
Schule, Arbeitsplatz und Universität, in großen Teilen nur noch der
permanenten Langeweile durch Aggressionen, sogenannten Spaß und Destruktionen
für Augenblicke zu entkommen suchen. Ihre Äußerung ist durchweg Gelall.
Die Gesellschaft der Gartenzwerge , selbst ohne Anspruchsstachel, kann ihnen
nichts abverlangen und streichelt noch aus Verlegenheit die letzte
Unverschämtheit. So kommt es nicht einmal mehr zu jenem Aufbegehren gegen die
Lethargien der Erwachsenen, denn im globalen Mittelmaß weiß die Jugend nicht
mehr, daß es irgendetwas anderes als eben dieses gab und gibt.
*
Im Volk
Das Volk selbst, dem man in Kriegsaktionen Tapferkeit nachrühmte, freilich
seit langem schon Zivilcourage absprach, ist seit der Nazizeit vor allem (mit
den außerordentlichen Ausnahmen eines Georg Elser und der adligen Attentäter
von 1944) als feig hervorgetreten. Hat es weggeguckt, wenn Judentransporte
formiert wurden, so guckt es weg, wenn es Attacken auf Ausländer, auf
einzelne, auf Frauen gibt. Die zur Mittelmäßigkeit gehörende Feigheit bewährt
sich, wenn das Volk sich als Friedensvolk mit Glühwein aufstellt, wobei nicht
die Frage gilt, ob eine militärische Auseinandersetzung wie die mit Hitler
notwendig sein könnte, sondern allein die, ob es Unannehmlichkeiten gibt. Die
größten Ideale des Volkes sind, Geld zu verdienen und seine Ruh' zu haben.
Alles andere ist ihm sekundär. Denn solange jenes klappt, ist es gern
tolerant, demokratisch und allem Neuen aufgeschlossen. Diesem Volk ist alles
egal, was heute zentral ist: Globalisierung, Fundamentalismus, Terrorismus,
die Weltzerstörung, wenn und solange es ihm gut geht.
"MAC Und jetzt muß
das Gefühl auf seine Rechnung kommen. Der Mensch wird ja sonst zum
Berufstier."
Aber alle herrschende Mittelmäßigkeit
sucht sich natürlich mit dem Volk gut zu stellen und ihm zu bescheinigen, daß
es viel klüger sei, als es die Politiker annehmen. Wer das am besten kann und
dadurch Wahlen entscheidet, ist unser regierender Zaunkönig.
*
Und die Ursachen?
Wenn diese Beschreibung einen Geschmack von Wahrheit hat, den natürlich das
gesamte Mittelmaß bestreiten und mit der Phrase von der ungeheuren
Komplexität der modernen Gesellschaft beantworten wird, dann ist die Frage
nach den Ursachen dringlich.
Irgendwann muß ja eine Tradition endgültig verlassen worden sein, die sich
nicht primär auf soziale Hierarchien stützte, nicht sich zuerst und zuletzt
an Kapitalmenge oder Funktionärstum orientierte, sondern die im Denken,
Gestalten und Handeln sichtbar werdende kreative und intellektuelle
Überlegenheit von einzelnen und Gruppen einzelner als Garantien der Bewahrung
und der Veränderung des Tradierten wußte. Es wäre völlig unsinnig zu
behaupten, das Andauern dieser Tradition sei eine Geschichte von Erfolgen
gewesen. Vielmehr ist eher anzunehmen, daß die Evolution des homo sapiens
sapiens das jüngste und greifbarste Beispiel dafür ist, daß sie mehr das Modell
des Versagens ist, an dessen Ende das steht, was in religiöser Diktion als
jüngstes Gericht benannt wird, wonach ein neuer Versuch einer
Kosmosentfaltung zu denken wäre. Aber da das Schlimmere der Feind des
Schlimmen ist, kann man beobachten, daß auch die Schrecken der Geschichte im
20. Jahrhundert, das im Zeichen der Demokratie wie des Mittelmaßes stand,
weit überschritten worden sind. Was sind die Alexanderzüge, was die römischen
und mongolischen Kriege, was Kreuzzüge und Inquisition, was die Schlachten
des Feudalismus gegen die jedem Vergleich spottenden Greuel des Nazismus und
des Kommunismus, gegen die globalisierte Brutalität der Kriege, der wie die
Nußschale dem Meer die Redensarten der Menschenwürde kontrastiert werden? Was
sich heute Ethik nennt, ist die Anpassung an die Forderung einer allenfalls
sublimierten Bestialität.
*
Geistverrat und Sprachverrat
Daß die sich in scheinbaren Harmlosigkeiten verbirgt, gehört zu den
Undurchschautheiten des historischen Gangs. Harmlos kommt der Positivismus
als ‚Erkenntnistheorie' seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts daher,
die zum erstenmal in der menschlichen Geschichte Sprache und Sache, die nun
Tatsache benannt wird, vollkommen voneinander trennt. Es ist die Trennung von
Geist und Materie, mächtiger und wirksamer als jeder Manichäismus, es ist der
Verzicht auf die Ganzheit nicht nur als Gegenwart, sondern als Postulat. Nun
erst tritt sowohl das Objektive hervor, das moderne Wissenschaft und Technik
ermöglicht, aber auch deren Grauenhaftigkeit, wie das Subjekt, das nicht nur
Beobachter und Handhaber des Objektiven, sondern auch das in sich rettungslos
Vergrabene ist und aus sich wie das Tier in Kafkas "Bau" keinen
Ausweg mehr finden kann. Vor allem spaltet sich in diesem Subjekt wie in Goethes
Faust der Sprecher vom Täter ab. Faust kann "das Wort so hoch unmöglich
schätzen". So muß er den Anfang des Johannes-Evangeliums "anders
übersetzen": "Am Anfang war die Tat", die die Tatsache
hervorbringt, welche nur noch eines bedeutet, nämlich nichts. Damit ist alles
dem Zugriff des Tätersubjekts ausgeliefert bis zu den SS-Chargen, während das
Sprechersubjekt redet, was es lustig ist. Im "Faust" wird das
Tätersubjekt zum Blinden, der sich sein eigenes Grab gräbt, das
Sprechersubjekt allerdings wird in Goethescher Versöhnung von den heiligen
Sprechern bis hin zur "Himmelskönigin" ‚aufgehoben', so daß
"alles Vergängliche[...] nur ein Gleichnis" ist und nicht mehr die
Tat getan wird, sondern das "Unbeschreibliche", also ein Modus der
Sprache.
*
Sprachverrat und Zeitung
In der Realgeschichte wird die allerdings seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts gemäß dem Positivismus zum instrumentalen Zeichensystem,
zuständig nur noch für die Registrierung dessen, was schon vorhanden ist,
nämlich als Tatsache. Eine so beschaffene Welt ist jeder Manipulation
ausgeliefert, sie ist, von jeder Art von Sinn befreit, Spielmaterial aller.
Dieses Spielmaterial wird nun von einer Sprache bezeichnet, die in der
Zeitung ihre Erfüllung findet. Im System des Mittelmaßes erschwindelt die
sich eine Stellung, die noch auf Vorpositivistisches zurückdeutet. Die
Aufklärung lieferte ihr den Anspruch auf Pressefreiheit, der sich seinerseits
in dem Anspruch auf Information begründet, will sagen darin, daß jeder die
Möglichkeit habe zu wissen, was ist, und zu denken, was sein könnte
(Nachricht und Meinung). Da dies aber erst wirksam wird in der Epoche des
Positivismus, wird aus dem Dynamischen und Verändernden von Wissen und
Denken, das alle über das Mittelmaß hinausheben sollte, nun das von allem
Wissen und Denken unabhängige Datum, das wie jeder Zimmerbrand und jedes
Hochwasser nur vom sprachlichen Instrument reportiert werden kann und soll.
Doch begreift man alsbald, daß in dieser Reportage die Basis eines Geschäfts
liegt, für das man die Menge des Mittelmaßes braucht und für das die Menge
des Mittelmaßes aufgeschlossen ist, gerade weil es die Realität auf die bloße
Sensation reduziert, die an Stelle der denkenden Anstrengung die genießende
Untätigkeit setzt. Nun geschieht entsprechend dem Weltmodell der Zeitung nur
noch das sinnlose Tatsächliche, nun wird nur noch gesprochen über dieses als
das Sensationelle.
Wie die Lehre vom Tatsächlichen alles zum sprachlosen und damit sinnlosen Da
macht, so macht die Zeitung dank einem nur bezeichnenden und instrumentellen
Sprechen dieses bloße Da zum Anlaß von Sensationierung, die sich alsbald als
Anfang des Mediengeschäfts, also des eigentlich modernen, das Mittelmaß ewig
reproduzierenden erweist. Die Gefangenschaft in sinnlosen Fakten und
sensationierendem Reden ist der ‚Raum' des Mittelmaßes, denn das Faktische
und die Sensation kennen nur Hinnahme dort und Konsum hier. Die Fakten
gruppieren sich zur sinnlosen Welt, die Sprache artikuliert sich nicht mehr
in ihrer analytischen, nicht mehr in ihrer kreativen Kraft, sondern nur immer
mehr als sensationierendes Gefasel, die Menschheit erfüllt sich im immer
Gleichen des Mittelmaßes, das nun alle Gen-Wissenschaften in aeternum
reproduzieren werden.
*
Die totale Herrschaft des Mittelmaßes
"Es ist erreicht", darf man mit Wilhelm II. sagen. "Es
geht", sagt der gegenwärtige Nachfolger. "Es geht weiter",
räumte Karl Kraus ein. Aber er fügte hinzu: "Als es erlaubt ist".
Die totale Herrschaft des Mittelmaßes ist keine Episode, die wir hinter uns
lassen werden, sondern der nicht anfechtbare Dauerzustand, dessen
Unanfechtbarkeit durch Formeln wie die der politischen Korrektheit gesichert
wird. Das Mittelmaß produziert ständig aufs neue seine Barbarei, die als der
wünschenswerte Zustand von allen Kanzeln der Demokratie- Tempel verkündet
wird.
"Der Herrgott, für
dich ist er Luft?
Er zeigt dir's beim Jüngsten Gericht!"
Die Mittel der Predigten, die dort
gehalten werden, sind die der Denunziation. Alles, was von den Wegen der
Herrschaft des Mittelmaßes abweicht, wird zum Zurückgebliebenen, Absurden,
Lächerlichen, Unmodernen , eben der Herrschaft Zuwideren erklärt. Wirksamer
als in den Zeiten alter Herrschaft sind die Verdikte heute, da sie von den
Medien gestützt werden, die als Gesetzgebungs- und Vollzugsorgane in einem jede
auch nur vermutete Bedrohung der Mittelmaß-Herrschaft mit ihrer Inquisition
und ihren Foltermethoden der öffentlichen Herabsetzung, der böswilligen
Fälschung oder des modernen Totschlags als Totschweigen bestrafen. Was immer
einst Bedeutung und Größe war, bringen sie auf ihr Maß, das Mittelmaß. Der
harmlose Gartenzwerg tritt vor als der zerstörende Alberich.
Einige Sätze und Verse realistischer
Beschreibung aus dem ersten Akt der "Dreigroschenoper".
Einige weitere Sätze dieser Art aus "Der Spiegel" 6/2003. S. 46-60.
(nach oben)
VON DER POLITIK
Deutsche Friedenspolitik
Deutsche Naziwissenschaftler und
deutsche Firmen in der Nazizeit mit guten Kontakten zu den KZ-Lagern haben
sich während des letzten Krieges und danach um die Anreicherung von Uran
bemüht und darum, dadurch das Atomwaffenprogramm Saddam Husseins nach Kräften
und gegen entsprechende Bezahlung zu fördern. Sie sind daran von keiner
Bundesregierung gehindert worden.
Die Attentäter des 11.September haben
sich in Hamburg und anderwärts mit ihren Plänen und Mordvorbereitungen über
Jahre ungestört beschäftigen können. Niemand hinderte sie daran.
Die Bundesregierung und das deutsche
Volk sind gegen den Krieg. Wäre, was an Morden in der chinesischen
Kulturrevolution, im Kambodscha Pol Pots, in Ruanda, in den afrikanischen
Bürgerkriegen, in Tschetschenien geschehen ist, in einem richtigen Krieg
geschehen, die Bundesregierung wäre empört und das deutsche Volk würde sicher
Demonstrationen veranstalten, die allerdings etwas kleiner wären als die
gegen den drohenden Krieg im Irak.
Die Bundesregierung bekennt sich zur
Freundschaft mit den Amerikanern. Als Freund spricht sie zum Freunde, daß
Bush durch seine Irakpolitik von innenpolitischen Schwierigkeiten so ablenken
wolle, wie das schon Hitler getan habe, und daß es natürlich dabei um
Ölinteressen vor allem gehe und daß Deutschland sich auf keine Abenteuer
einlasse.
Sie wird auch dann nicht an einem Krieg
teilnehmen, wenn die UNO es beschließen sollte. Sie ist aber entschieden für
die Autorität der UNO und des Sicherheitsrates.
Sie ist auch entschieden für die NATO,
hängt sich aber an die Franzosen, die jene aus nationalem Interesse für
vernachlässigenswert halten, und streitet sich über Wochen wegen einer
Resolution zugunsten des NATO-Mitglieds Türkei.
Sie ist entschieden für die Erweiterung
der EU, hält sich aber angesichts der Großmachtallüren Frankreichs gegenüber
den neuen Mitgliedern ebenso entschieden zurück.
Die Deutschen begrüßen die
Friedenspolitik ihrer Regierung. Sie demonstrieren dafür zu Hunderttausenden,
obwohl sie eigentlich zum Bundesligaspiel müßten und anschließend zum
Karnevalsumzug.
Demokratie in Deutschland (und
anderwärts)
Wir haben in Deutschland endlich eine
funktionierende Demokratie, lautet die politisch korrekte Meinung über den
Staat "Bundesrepublik Deutschland". Man leitet sie ab aus dem
Funktionieren der Institutionen, dem der Gewaltenteilung, dem der Wahlen, in
denen der Souverän, nämlich die Wahlberechtigten des Volkes, hervortreten.
Doch fangen damit die Fragen an. "Im Namen des Volkes" werden die
Urteile der rechtsprechenden Gewalt formuliert. Das Volk tritt alle paar
Jahre, wie unsere Journalisten sagen, an die Urne. Die erste Formulierung ist
vollständig fiktiv. Es ist lediglich eine Formel, die an die Stelle anderer
Formeln tritt, etwa der "im Namen Gottes" oder "im Namen des
Königs" verkündeten Urteile. Es ist in Wahrheit eine
Verlegenheitsformel, deren Abstraktheit nicht zu überbieten ist. Denn es ist
keine Situation denkbar, in der "das Volk" hinter einem Urteil
stehen könnte. Vielmehr geht es um das Urteil eines Einzelrichters, eines
Kollegiums von Richtern, die nicht Repräsentanten des Volks sind, sondern
juristisch ausgebildete Personen, die entsprechende Examina bestanden haben
und von der Regierung, die ja nur in einem sehr abgeleiteten Sinn das Volk
repräsentiert, ernannt werden. Daneben gibt es als Schöffen und Geschworene
"Volksrichter", die, wie gleichberechtigt immer, nur in einem sehr
bescheidenen Sinn in der Lage sind, eigenständig an der Urteilsfindung
mitzuwirken.
Die juristische Gewalt geht also nicht vom Volke aus, sondern bedarf der
Voraussetzung der politischen Gewalten, also der Legislative und der
Exekutive, um funktionieren zu können, und ihre Unabhängigkeit, die angeblich
in der Urteilsfindung zum Ausdruck kommt, ist einerseits theoretische
Abhängigkeit von jener abstrakten Größe "Volk", nämlich die
Umsetzung der durch Legitimation des "Volks" als Souverän vom
Gesetzgebungsorgan beschlossenen Gesetze, und gleichzeitig ist sie praktische
Abhängigkeit von den politisch-sozialen Strömungen der Zeit, die, wie wir
wissen, natürlich zu den absurdesten Abweichungen von allen inhaltlichen wie
formalen Rechtstraditionen führen können. Das jeweilige Rechtssystem
innerhalb eines demokratischen Systems operiert mit einer Fülle von Fiktionen
und ist immer in der Gefahr, den Dorfrichter Adam zur Leitfigur zu machen,
der "Recht so und jetzo so erteilen" kann.
Aber der Souverän, den Helmut Kohl gern als "obersten Souverän"
bezeichnete, obwohl es nur einen geben kann? (Diese Emphase war wohl weniger
ironisch tingiert als vielmehr der Versuch, etwas bedeutender zu machen, als
es ist.) Der Souverän hat in Deutschland einzig als Wahlvolk Bedeutung. Diese
Bedeutung liegt aber nicht darin, daß der Wähler bei der Wahl als wahlfähig
hervortritt und dadurch seine Entscheidung zur Grundlage aller weiteren
Entscheidungen von Parlament und Regierung macht, sondern vielmehr darin, daß
das Wahlvolk gerade als in der Mehrheit wahlunfähig abstimmt. Leider gibt es
aber in der Demokratie keine andere Legitimation des Systems als Wahlen.
Diese Wahlen sind im Interesse der zu Wählenden so zu manipulieren, daß sie
für diese unschädlich werden, die Wahlen also eine Art von Akklamation derer
sind, die die stärksten Fähigkeiten zur Manipulation haben. Der als Politiker
völlig dilettantische gegenwärtige Bundeskanzler hat nach übereinstimmendem
Urteil die letzten Wahlen nicht gewonnen, weil er klare Ziele für Wahlfähige
vorgestellt hat, die er durch ebenso klare Argumentationen als notwendig zu
erreichende bestimmt hat. Er hatte gar keine Ziele außer dem einen,
Bundeskanzler zu bleiben, und er hat über die Voraussetzung zur Erreichung
jeder Art von Zielen, nämlich über die finanzielle Lage auf allen relevanten
Gebieten keine deutliche Auskunft gegeben. Sein Wahlsieg ging aus Zufällen
hervor, die weder mit politischen Zielen noch mit deren Voraussetzungen
irgendetwas zu tun hatten. Es kam eine große Flut, auf die er mit Gummistiefeln
und entschlossener Physiognomie antwortete. Außerdem gab es die Rede von
einem Krieg der USA gegen den Irak. Obwohl niemand gefordert hatte,
Deutschland solle sich an diesem Krieg beteiligen, erklärte der
Bundeskanzler, Deutschland werde sich niemals an einem solchen Krieg
beteiligen. Das eine war eine Geste, das andere schieres Geschwätz, das
Deutschland international in Schwierigkeiten brachte. Aber der Souverän
entschied dieser beiden Redensarten wegen und also bewußtlos mehrheitlich für
Schröder.
So oder ähnlich entscheidet der Souverän immer, der seit Franz Müntefering
"die Menschen" heißt, der aber vor allem dumm, will sagen in der
Mehrheit nicht fähig ist, eine politische Wahlentscheidung zu treffen. Das
darf ihm aber unter keinen Umständen von den Politikern gesagt werden, die
vielmehr immer wieder betonen, das Volk sei viel klüger, als man (wer immer
das ist)denke. Für wie klug sie diesen Volkssouverän allerdings in Wahrheit
halten, lehrt einmal der verlogene und manipulative Wahlkampf, lehrt zum
anderen der Horror der Politiker davor, diesem Souverän mehr Rechte
einzuräumen, als er unbedingt haben muß, damit sie selbst von ihrer
Legitimiertheit sprechen können. Natürlich ist schon die Voraussetzung einer
Einräumung von mehr Rechten nichts anderes als die Anerkennung der Chuzpe der
Politiker, eben darüber entscheiden zu können. Denn der Souverän ist nur
soweit Souverän, als er eben über seine Rechte und deren Wahrnehmung selbst
entscheidet. Wenn also mit historisch orientierter Begründung behauptet wird,
weitere Rechte als Wahlrechte könnten nicht gewährt werden, weil wir ja die
Nazis hatten, so könnte allenfalls ein Skeptiker hinsichtlich der
Volkssouveränität fordern, ein anderes Volk zu wählen (was nicht so abwegig
wäre, wie es bei Brecht klingen soll), aber natürlich ist es nicht ins
Belieben von Leuten gestellt, die sich selbst auf das Volk berufen müssen,
auszumachen, wo die Rechte des Volkes zu enden haben.
Die ganze Diskussion um die Volkssouveränität und ihre Grenzen ist artikulierter
Unsinn. Auf der einen Seite gibt es in der Demokratie keinen Begriff, selbst
den der Grundwerte nicht, der eine andere Basis hätte als den Volkswillen im
Sinne der volonté génerale. Genau aber vor dem bekreuzigt sich wahrhaft noch
der unchristlichste Politiker, weil er jenem nichts zutraut, dieses Mißtrauen
aber zugleich niemals zugeben darf, wenn er nicht selbst den Machtzweig
absägen will, auf dem er sitzt.
Der Porzellanverkäufer und der
Taxifahrer
Gerhard Schröder vorzuhalten, er sei
"Porzellanverkäufer" gewesen, sei ebensowenig fair wie immer wieder
den "Taxifahrer" Fischer zu apostrophieren, meinte ein Freund nach
Lektüre des Texts "Nach den Wahlen"(Lage der Nation 3). Der Einwand
warnt offenbar vor ‚Hochnäsigkeit' und hätte damit recht, wenn es darum
ginge, uralte soziale Differenzen, die es eben gar nicht mehr gibt, zur
Polemik zu nutzen. Aber wir alle sind sozial Kleinbürger verschiedener
Stufen, und die großen Familien sind verschwunden, sind zumindest verstummt,
als habe es sie nie gegeben.
Aber es geht um etwas ganz anderes. Die satirische Verkürzung sucht das, was
eigentlich immer nur als psychologischer Umstand verstanden wird, neu zu
bestimmen. Der ‚Hans Dampf in allen Gassen' Schröder heißt es zum Beispiel in
der FAZ. Das ist eins der üblichen Urteile. Etwas intensiver spricht der
CDU-Politiker Wulff von einem Mann, der zwar gewußt habe, daß er ins
Kanzleramt wolle und wie er hineinkomme, aber nicht, was er mit der Macht tun
solle, die ihm dort zuwachse. Das deutet bereits auf den "Porzellanverkäufer"
als Existenz, nämlich einen Mann, der ganz darin aufgeht, anderen Leuten
etwas aufzuschwätzen, der aber außer dem unmittelbaren Erfolg im Verkauf
damit nichts verbinden kann. Der unmittelbare Verkaufserfolg ist völlig
ideenlos, und jemand, der mit der Macht ideenlos umgeht, bleibt auf der Stufe
des "Porzellanverkäufers". Schröder scheint mir diesen Typus, der
heute natürlich der herrschende ist, besonders markant zu vertreten, weil er
ihn eben in der Politik auslebt. Hat er eine Vorstellung von Deutschland, von
Europa, von Amerika, von der Welt? Er hat von all dem nur die Vorstellung,
deren Perspektive der unmittelbare Erfolg ist, der wiederum ihm hilft, an der
Macht zu bleiben.
Deutschland will keinen Krieg. Das ist zwar eine Trivialität, aber auch mit
einer Trivialität, ja gerade mit ihr kann man Erfolg haben. Schröder ist kein
‚Friedensfreund', schon gar kein Pazifist, aber er sieht, daß eine der
wenigen Interessen, die dieses Volk in seiner Mehrheit hat, ‚Frieden' ist,
was einfach bedeutet, alles solle so bleiben, wie es ist. Schlächtereien in
Kambodscha, in Ruanda, die Kulturrevolution in China, Bürgerkriege in Afrika,
der Krieg in Tschetschenien interessieren die Deutschen einen Schmarren, aber
der Krieg am Golf, insofern er von den USA geführt wird, könnte uns
involvieren. Schröder wittert einen unmittelbaren Erfolg, den des
"Porzellanverkäufers". Es ist ihm völlig egal, ob er mit diesem
Erfolg die Leute betrügt, ob er Deutschland isoliert, der
"Porzellanverkäufer" macht für einen Augenblick den Eindruck ‚guter
Mensch'. Das bringt den Erfolg. Brächte Krieg ihn, er wäre sofort für den
Krieg.
Hinzu kommt, wie die Irak-Affäre besonders drastisch zeigt, daß der
"Porzellanverkäufer" unfähig ist, einfachste politisch-taktische
Verhaltensweisen zu beachten, wenn sie denn jenseits des unmittelbaren
Verkaufserfolgs liegen. Er zerschlägt, wenn er es denn nicht verkaufen kann,
lieber sämtliches Porzellan.
Der "Taxifahrer" Fischer ist
ein anderer Typ. Er ist der neue Bohemien, der nichts gelernt und nie etwas
Ernsthaftes getan hat. Als er im Bundestagshandbuch angeben sollte, welchen
Beruf er habe, schrieb er (er war noch nicht Bundesaußenminister)
"Staatsminister a.D.". Er hätte angeben müssen: Nichtstuer,
Steinewerfer, Schlenderer, Taxifahrer. Dann hatte er beschlossen, wegen des
Reizes der Macht Politiker zu werden, wozu sich jeder entschließen kann, aber
es kam ihm darauf an, jenen von seiner reputierlichen Seite zu zeigen und
gleichzeitig im "a.D." noch so etwas wie einen abgeschlossenen Lebensweg
zu imaginieren. Fischer hatte irgendwann entdeckt, daß er reden, und
begriffen, daß der Bohemien sich dadurch über alle biographischen Leerstellen
hinwegsetzen und sich dann das Air des Etablierten geben kann. Der Politiker
alter Art hatte, wie das selbst noch bei Schröder der Fall ist, als
beruflichen Hintergrund eine Juristenausbildung, der Bohemien Fischer hat gar
nichts außer dem Taxischein. Er könnte gerade nicht, was alle Politiker doch
können sollen, in den früheren Beruf zurückkehren. Er hatte in der Vergangenheit
nichts als seinen Schlendrian, während dessen er in der Manier anderer
politisch avancierter Autodidakten so allerhand gelesen hat, er hat in der
Gegenwart nichts als seine Westenanzüge, die seine Dazugehörigkeit
bestätigen. Er ist kein Grüner, kein Roter, natürlich kein Gelber und kein
Schwarzer, er ist der Politiker, ja der Außenpolitiker an sich. Er macht als
solcher alles so, wie man es macht. Er geht in seiner Rolle auf. Er war nicht
"Taxifahrer", um sich etwas zu verdienen, sondern weil ein Bohemien
auf irgendeine Weise die Zeit totschlagen muß, mit der er nichts anfangen
kann, außer sie zur Machtausübung zu nutzen. Und darum ist er heute
Außenminister. Es ist nichts dahinter, aber ihm hilft es zu glauben, er habe
eine Existenz.
Möllemann
Wir sind weit weg von einer
außerordentlichen, gar dämonischen politischen Persönlichkeit. Wir sind
zunächst und zuletzt nahe an den Figuren Schröder oder Fischer, obwohl das
unser Thema gar nicht sein soll.
Dieser Möllemann springt schon vor 35 Jahren um des Effekts willen vom
Himmel. Er war, ich erinnere mich, ASTA-Vorsitzender der Pädagogischen
Hochschule Münster. Er machte schon damals mit Hilfe solcher Späße Politik
und war, wahrscheinlich nicht zu unrecht, überzeugt, derlei bringe Zustimmung
und Stimmen.
Möllemann galt dann viele Jahrzehnte hindurch als politisches Naturtalent,
das immer neue Einfälle hatte. Der große Außenpolitiker Genscher (wodurch war
er groß ?) machte ihn zu seinem politischen Ziehsohn, dann galt er als sein
Minenhund, was wohl bedeuten sollte, daß er unangenehme politische Aufträge
erledigte. Zu denen gehörten schon damals solche, die etwas mit dem Nahen
Osten zu tun hatten. Möllemann war auf Seiten der Araber und kritisierte die
Israelis. Das wurde ihm nicht übel genommen, schon gar nicht von der FDP.
Vielmehr stieg Möllemann unter dem Protektorat des großen Genscher auf. Er
wurde Bundestagsabgeordneter, Staatsminister im Auswärtigen Amt, dann gar
Bundesminister für Bildung. Und einzig problematische Figuren wie der
verstorbene Franz-Josef Strauß verhöhnten ihn als "Riesenstaatsmann
Mümmelmann". Möllemann wurde schließlich Bundeswirtschaftsminister, ja
Stellvertreter des Bundeskanzlers, ein Amt, das keine besondere Machtfülle
bedeutete, wohl aber den Inhaber als den führenden Mann der FDP auswies. Dann
tat Möllemann etwas Falsches und - nach Lage der hiesigen politischen Dinge -
sehr Harmloses: er empfahl auf Ministerialbögen einen entfernten Verwandten
als zu berücksichtigenden Erfinder. Wer dies als politische Untat ausstellte,
weiß ich nicht. Aber es genügte, den Hallodri, der dies immer gewesen war, zu
stürzen. Möllemann verließ sein Amt, hatte Mühe, wieder auf die Füße zu
kommen, aktivierte aber alsbald seine Fallschirmspringerfähigkeiten und
begann von Nordrhein-Westfalen aus eine neue politische Karriere.
Schließlich gewann er bei den Wahlen in Nordrhein-Westfalen erhebliche
Stimmen für die FDP hinzu, startete ein Wahlprogramm, das pure PR war, aber
gegen wenig Widerstand von den FDP-Chefs, voran Guido Westerwelle, angenommen
wurde. Es bestand darin zu verbreiten, die FDP wolle 18% bei den Wahlen
erreichen: eine beliebige Zahl, aber nennenswert größer als die bisher von
der FDP erreichte. Dann sagte Möllemann, die FDP müsse einen
Kanzler-Kandidaten anbieten, welche Rolle er selbst gern übernommen hätte,
aber an Westerwelle abtreten mußte, der in einem Guido-Mobil herumfuhr, sich
18 unter die Schuhsohlen schrieb und eine der größten Blödheiten des
Fernsehens besuchte. Kurz, was immer Möllemann an Albernheiten vorschlug,
wurde von den Häuptern und den Mitgliedern der FDP gern übernommen.
Erst als Möllemann anfing, sich in eine Streiterei mit Michel Friedman
einzulassen, der gleichzeitig als Repräsentant der jüdischen Gemeinschaft in
Deutschland wie als völlig unabhängiger Fernsehmoderator auftritt und wie
Reich-Ranicki Unangreifbarkeit beansprucht, begann man (?) Möllemann als
Antisemiten zu erkennen. Als weiterer Beweis dessen wurde die Aufnahme des
früheren Grünen-Abgeordneten Karsli, eines Arabers, in die FDP-Fraktion des
NRW-Landtags gesehen.
Hier beginnt spätestens eine Inszenierung politischer Heuchelei, wie sie
selbst in der von Hypokrisie durchtränkten politischen Sphäre der
Bundesrepublik einzigartig ist. Denkt man daran, mit welch hemmungsloser
Chuzpe in der Zeit der Achtundsechziger Antisemitismus betrieben wurde, der
den Namen Antizionismus erhielt, um sich unangreifbar zu machen, denkt man
daran, wie Arabisches, gar Palästinensisches von der Generation, die heute
die Geschicke des Landes dirigiert, gehätschelt wurde, dann weiß man, was der
Vorwurf gegen Möllemann wert ist. Er ist eine primitive Demonstration von
political correctness, die sich nun breit machte, um den bisher Gefeierten zu
erledigen. Warum so etwas geschieht, ist fast uninteressant. Es hat oft
lächerlich private Hintergründe. Vor allem bot es Gelegenheit, daß die
gesamte politische Phalanx des Landes ihr korrektes politisches Verhalten
beweisen konnte. Das zeigte sich besonders eindrucksvoll, als Möllemann,
zweifellos aus Wut gegen den höchst problematischen Friedman, kurz vor dem
Ende der Wahlen und taktisch vollkommen unklug ein Flugblatt in
Nordrhein-Westfalen verteilen ließ, das sich gegen Friedman, gegen Scharon
und dessen Politik richtete. Nun brach der Vorwurf des Antisemitismus mit
Macht aus den Heuchelmündern der Politiker hervor.
Eine Ekelhaftigkeit war z.B. der Aufschrei der nordrhein-westfälischen
Umweltministerin Höhn von den Grünen, die sich ausgerechnet in der Sendung
von Friedman vor Empörung über die Möllemannsche Untat nicht lassen konnte. Zu
diesem Zeitpunkt wußte kaum ein Mensch, was eigentlich in diesem Flugblatt
stehe. Es war, wie sich dann herausstellte, keine Spur antisemitisch, sondern
eine der gängigen Ablehnungen der israelischen Politik, deren Verkünder
Möllemann auch in Friedman sah.
Aber nun war kein Halten mehr. Vor allem die FDP, längst in dem Ruch, mehr
durch Westerwelle als durch Möllemann sowohl zur Spaßpartei wie zur Partei
des geheimen Antisemitismus heruntergekommen zu sein, suchte sich durch
energische Separierung von Möllemann zu salvieren.
Jeder, der behaupten wollte, hier gehe es um politische Grundsätze,
beschwindelt uns. Man hat sich der Späße und Einfälle des PR-Politikers
Möllemann gern und jahrelang bedient. Möllemann hat auch im letzten halben
Jahr nur das getan, was er immer getan hatte, sein sogenannter Antisemitismus
ist ein Teil seiner Eskapaden, ganz undifferenziert, aber nicht annähernd so
peinlich und abstoßend wie das, was unsere Linken seit den sechziger Jahren
zu diesem Thema beigetragen haben. Die ihn plötzlich einen Antisemiten
schalten, wollten ihn loswerden oder durch ihre Wehe-Rufe unter Beweis
stellen, welch vorzügliche Philosemiten sie seien.
Der nimmermüde Spieler und Fallschirmspringer Möllemann ist ein wirkliches
Opfer einer Bagage, gegen die er, ein Luftikus comme il faut, sich als
leuchtende Gestalt abhebt.
Die Achtundsechziger erschöpft?
Der juristische Ordinarius und
Schriftsteller Bernhard Schlink schreibt im "Spiegel" einen Essay,
den er "Die erschöpfte Generation" überschrieben hat( 1/2003. S.
134 f). Damit meint er seine Generation, die Achtundsechziger. Die
gegenwärtige Regierung nennt er "die Regierung meiner Generation"
und obwohl er vieles an ihr kritisiert, gibt er "die Hoffnung nicht
auf". Weil es die Regierung seiner Generation ist? Es scheint so.
Er behauptet, die Regierung seiner Generation sei "erschöpft", ja
überfordert. Hier könnte wieder einmal eine der Geschichtslügen beginnen, für
die die Achtundsechziger eine Vorliebe haben. Aber Schlink spricht
nachdrücklich davon, daß die "späten sechziger und frühen siebziger
Jahre...Jahre leichter früher Erfolge" waren. "Sitzungen sprengen,
Lehrveranstaltungen und Gottesdienste umfunktionieren, Schüler
anpolitisieren, den Wehrdienst verweigern oder mit langen Haaren ableisten,
Krawatten- und Jackettzwänge aufkündigen, Ortsvereine übernehmen, in
Parteiämter und -gremien aufsteigen, zum Professor ernannt oder
Vizepräsidenten einer Universität gewählt werden, die Diplom- oder
Doktorarbeit bei Suhrkamp verlegen - die ersten Schritte in die Welt des
öffentlichen Auftretens, des beruflichen und politischen Handelns waren
mühelos. Sie durften auch keine Mühe kosten, sondern mußten Spaß machen;
anders wären es Schritte in die Entfremdung gewesen." Wie recht er hat
mit dem Hinweis auf die ‚leichten frühen Erfolge', auf die Mühelosigkeit, auf
den eingeforderten Spaß. Aber wie kommt er darauf zu behaupten, hätten seine
Generationsgenossen keinen Spaß gehabt, hätte die Entfremdung gedroht? Ist
nicht der Begriff der Entfremdung und ihrer Überwindung gebunden an die Mühe
und den Ernst des Individuums? Sie aber wollten sich keine Mühe geben und
leichte Erfolge haben. Und davon ist man erschöpft und findet sich als
überfordert wieder? Kann ja sein, daß hier ein bißchen ironisch mit den
Begriffen hantiert wird, aber die Zeiten, wo das funktionierte, sind
eigentlich vorbei.
Und wenn Schlink neben dem "Sprengen", das immerhin eine Metapher
der Wahrheit ist , vom "Umfunktionieren von Lehrveranstaltungen und
Gottesdiensten" spricht, dann geht in diesem obsoleten , aber
verharmlosenden Dictum unter, wieviel Barbarei in ihm aufgespeichert war und
wie sehr der Spaß, den sich die Horde praktizierender Aufklärer damit machte,
auf Kosten der ‚Umfunktionierten' ging.
Und nun ist dieses Geschlecht erschöpft und überfordert? Ausgegeben hat sich
Joschka mit dem Erwerb des Taxischeins und dem Verkauf von irgendwie
erworbenen Büchern, mit zehn Jahren des Herumschlenderns. Da bleibt nichts
mehr an Gedanken und Handlungsmaximen für das Geschäft der Außenpolitik?
Nein, eher ist wohl richtig, daß nun herauskommt, wie wenig diese Generation
zu bieten hatte. Ihre Vertreter machten sich wichtig, aber das einzige, was
sie vermochten, war Geschrei und Destruktion. Sie wußten und sie konnten
nichts, und darum mußten sie wie auf einer Parteiakademie fremde Texte für
sich sprechen lassen. Man nenne neben dem einzigen, aber auch demagogischen
Dutschke einen anderen, der wert wäre, heute genannt zu werden. Habermas z.B.
distanzierte sich ja schon früh. Ihre sonstigen Denker waren drittklassig und
überdies nur Dekoration. Denn wenn es ihnen übers Zerschlagen hinaus noch um
etwas ging, dann war es die rohe Teilhabe an der Macht, die nun endlich bei
den Schröder, Fischer, Trittin und Konsorten angekommen ist.
Mit halber Ironie sagt uns Schlink, die Achtundsechziger seien auch
"eine sensible Generation" gewesen, die "gemocht werden"
wollte. Mit halber Ironie. Denn immerhin erkennt er auch, daß noch deren
Sensibilität Brutalität gegenüber anderen war, wobei den Opfern nur die Wahl
blieb, "die gute Absicht" der Sensibelchen, die gerade mal wieder
gesprengt und umfunktioniert hatten, zu "erkennen und
an[zu]erkennen", oder deren Empörung zu ertragen, weil jene sich
"verteidigten oder zurückschlugen". Übersetzen wir auch dies in
unironische und direkte Rede. Die Sensiblen waren larmoyant und verlogen. Und
das sind sie bis heute geblieben. Sagt man ihnen damals wie heute, sie
könnten es nicht, greinen sie, daß man sie nicht lasse, und wenden sich
wieder dem einzigen Geschäft zu, das sie aus dem FF beherrschen: nämlich ohne
einen Funken eigener Ideen an der Macht zu bleiben.
(nach oben)
VON DER GESCHICHTE
Bürger Hitler
Ganz fiktive Annahme: Einer kennt den
Namen Hitler nicht und liest das Buch einer seiner Sekretärinnen, nämlich das
von Traudl Junge, was müßte er sich sagen? Z. B. er verstehe nicht, daß ein
älterer, freundlicher, leise sprechender Herr, der die junge Dame in Dienst
nimmt, in einer Bunkeranlage arbeitet, manchmal mit einem Sonderzug in
Deutschland umherfährt und dann in einem größeren Landhaus im Bayrischen sich
ausbreitet. Besonders unverständlich ist, daß ihn die Leute seiner Umgebung
"Mein Führer" anreden, obwohl der Mann ganz unauffällig und
bescheiden lebt, dann und wann etwas diktiert und sich danach erkundigt, ob
die erzählende Sekretärin nicht friere. Er sagt zu ihr "mein Kind"
oder "junge Frau", aber daran ist nichts Auffälliges, im Gegenteil
fast alles, was berichtet wird, ist nahezu uninteressant und überhaupt nicht
aufregend. Man hat auch nicht den Eindruck, daß vor diesem älteren Herrn
jemand zittere, er schreit nicht, er tobt nicht, er behandelt alle, vor allem
die jungen Damen, mit Höflichkeit und wird selbst von allen so behandelt, als
sei seine Autorität nicht überwältigend. Und als es zum Schluß nach Berlin
und ans Sterben geht, bleibt auch das alles ziemlich unverständlich. Warum
läßt sich der Mann nicht irgendwohin fahren, wo er in Sicherheit und Ruhe
ist?
Man findet keinerlei Verbindung zwischen diesem älteren Herrn mit
Nickelbrille, der um seinen Magen besorgt ist und sich nicht in kurzen Hosen
seiner weißen Knie wegen zeigen will, und, sagen wir, dem acht Jahre jüngeren
Mann, den Leni Riefenstahl beim Nazi-Parteitag einfliegen läßt, der im
fahrenden Auto stehend oder am Hotelfenster oder auf hoher Empore vor
Tausenden von Menschen oder bei der Parade immer wieder, mal mit gewinkeltem,
mal mit gestrecktem Arm den faschistischen Gruß erweist, der als Zinnsoldat
durch eine leere Mitte zu einem Tempel schreitet, der die Jugend und den
Arbeitsdienst und die Funktionäre seiner Partei und die Wehrmacht mit Reden
bedenkt, die als Zeugnisse höherer Eingebung bejubelt werden.
Was Frau Riefenstahl getan hat, gilt als ungebührliche Verklärung, als
verdammte und dennoch bewunderte Korrumpierung des Dokumentarfilms. Aber das
richtige Hitlerbild der Historiker und Publizisten ist von diesem so ganz
weit nicht entfernt. Man muß nur die verklärenden Bilder mit dem gehörigen
kritischen Kommentar versehen, was zwischen den seit fast sechzig Jahren
geltenden Epitheta vom ‚Monster' oder vom ‚Dämon' bis hin zum ‚Fanatiker'
oder auch nur ‚Dilettanten' sich vollzieht. Wir haben einen teppichbeißenden
, tobenden, Drohungen ausstoßenden, dem Nichts entstiegenen, alle
zivilisatorische Ordnung hinwegfegenden, kriegslüsternen, brutal herrschenden
Diktator, der dann und wann in kurioser Weise seine Linzer und Wiener
Herkunft ausstellt. Über diese als Kuriosa deklarierten Abweichungen von der
diktatorischen Selbstdarstellung hinaus dürfen die Differenzierungen freilich
nicht gehen.
So muß im gängigen Hitler-Diskurs ein Buch wie das von Traudl Junge
zurückgeführt werden auf die Verblendung einer Unpolitischen, die eine
Inszenierung etwa nicht durchschaut. Oder es muß das alte Dictum von Hannah
Arendt von der "Banalität des Bösen" gebraucht werden. Hier kommt
dann je und je das Beispiel vom familienliebenden KZ-Kommandanten. in Frage.
Schließlich steht als klassischer Topos "Dr. Jekyll and Mr Hyde"
zur Verfügung. Genügt das aber alles, um deutlicher zu sehen, um was es sich
handelt? Ist das nicht alles geprägt von der Vorstellung einer Verstellung,
einer cachierenden Selbstinszenierung, die eben nur der wache, der kritische
Geist durchschauen kann.
Nun wissen wir, daß Hitler z.B. eine einfache Uniformkleidung ohne großartige
Auszeichnungen trug im bewußten Gegensatz zu seinen großen und kleineren
Gefolgsleuten, am deutlichsten zu seinem Stellvertreter Göring. Was aber
veranlaßt jemanden, diesen Habitus fortzusetzen, wenn eine Außenwirkung nicht
vorhanden ist? Der krank im Bett seines Wolfsschanzen-Bunkers liegende Hitler
trägt ein Wehrmachts-Nachthemd, hat einen grauen und biederen Morgenmantel
zur Verfügung, er sitzt in Räumen, die offenbar denen einer unteren
Wehmachtverwaltung ähneln, ißt nicht nur Diät, was eine Caprice sein könnte,
sondern läßt sie sich längere Zeit von einem Mann zubereiten, der ein höchst
mittelmäßiger Koch war. Hier spielt wohl vielmehr die Rückkehr ins Bewußtsein
des Soldaten im ersten Weltkrieg eine Rolle. Aber es kommt hinzu der leise
und freundlich sprechende ältere Mann mit der Nickelbrille, der der
Sekretärin einen Elektroofen herbeischafft , der ihre Arbeit auch dann
akzeptiert, wenn sie Fehler macht. Es kommt vor allem hinzu ein Verhalten,
das im Alltag nicht auf den brachial sich durchsetzenden Diktatorenwillen
deutet, sondern auf einen Mann, der mit seiner Umgebung in Frieden leben will
und der von dieser nicht als die Herrschaftssonne behandelt wird, sondern
eher mit einer gewissen Nonchalance. Man widerspricht ihm, man fragt ihn nach
privaten Dingen, er muß um die Gesellschaft selbst kleiner Leute manchmal
werben . Man hat nicht den Eindruck, daß alle es nur darauf anlegen, seine
Nähe zu suchen. Er muß sich oft damit bescheiden, mit seinem Hund umzugehen
usw. Und in dem ganzen Buch gibt es keine Stelle, die auf ein unangenehmes,
gar bedrückendes Ambiente schließen ließe.
Was bedeutet das alles? Wohl weder das Doppelwesen des großen Bösen noch
dessen Banalität. Eher wohl das Nichtsagende genau jener Lebensformen, deren
Verbindlichkeit man gegen all die Dämonisierungen und Simplifizierungen des
Menschen Hitler retten will. Gerade weil sich eine, ja eine Reihe von
Generationen in dieser Lebensform wohl und geborgen fühlte, ist sie das
Unverbindliche. Aber sie ist nicht gespielt. Der Mann Hitler wollte auch ganz
authentisch in der biederen Bescheidenheit eines mittleren Bürgers leben .
Daß daraus "mein Führer" wurde, war eine Symbiose aus seinen
Wünschen und denen aller: nämlich daß aus dem Wohnzimmer die Ewigkeit
aufsteige, sei sie auch identisch mit dem Nichts. (Traudl Junge: Bis zur
letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben. Unter Mitarbeit von
Melissa Müller. München: Claassen. 8. Aufl. 2002)
Zwei Bücher gegen die politische
Korrektheit
(Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. München, Zürich:
Piper 2002.
Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19. Berlin: Kindler 2002)
Das eine ist neu. Die Verfasserin von "Hitlers Wien", Brigitte
Hamann, hat es geschrieben. Da es ihr Ruhm eingebracht hat, setzt der Verlag
auf den Umschlag groß ihren Namen, kleiner den Haupttitel, um den es doch
geht: "Winifred Wagner" und in gleicher Größe einen zweiten Titel,
den wahrscheinlich der Verlag erfunden hat: "Hitlers Bayreuth".
Damit hat das Buch auf ca 430 von fast 690 Seiten zu tun,also eine leichte
Übertreibung. Dieser Titel soll auf einen unmittelbaren Zusammenhang beider
Bücher hinweisen. Den gibt es nicht, denn es ist vor allem eine Biographie
der Winifred Wagner. Aber der Verlag will natürlich vom Ruhm des ersten
zehren.
Schon das erste Buch zeigt, daß Frau Hamann keine große Historiographin ist.
So interessant die unterschiedlich wichtigen Quellen für "Hitlers
Wien" waren, wichtige Fragen wurden nicht oder nur beiläufig gestellt,
weil Frau Hamann viel mehr eine Sammlerin als eine Interpretin ist. Hat
Hitler z.B. in Wien den Antisemitismus gelernt oder gerade nicht? Es bleibt
unklar. Obwohl viele Quellen noch nicht zugänglich sind und obwohl Frau
Hamann die zugänglichen vor allem ausbreitet und nicht analysiert, ist es ein
interessantes Buch geworden.
Daß Bayreuth eine antisemitische und nationalistische Tradition hatte, wußte
man schon vom "Meister" her. Aber auch der Sohn Siegfried war ein
in der Wolle gefärbter Antisemit, und seine junge Frau tat es ihm in allen
Varianten nach, wie wir spätestens aus dem Dokumentarfilm von Syberberg
wissen.
Was wir nicht so genau wußten, war, wie die kleine englische Waise Winifred
Williams nach Deutschland kam, wie sie von dem alten Pianisten und
Wagnerianer Klindworth und dessen Frau aufs freundlichste erzogen wurde und
wie es um die Ehe des 46jährigen Siegfried mit der 18jährigen Winifred
bestellt war.
Recht gut sind wir hingegen über Winifreds Nazitum, ihr Verhältnis zu Hitler
und Verwandtes informiert. Das gestattet es, mit der üblichen politischen Korrektheit
ein Urteil über die "Herrin von Wahnfried" sich nicht nur zu
bilden, sondern entschieden zu fällen. Auch mußte man in den üblichen
Urteilsbahnen zugeben, daß Winifred mit einer erheblichen Durchsetzungskraft
sich in Bayreuth behauptete und dank einer großen Arbeitskraft Familie, Haus
und Festspiele dirigierte.
Aber es kommt erst Bewegung in diese festgefügten Auffassungen, wenn
ausführlicher und immer wieder von dem gesprochen wird, was sie selbst in dem
Syberbergfilm nur andeutete, daß sie nämlich eine geradezu unermüdliche
Helferin für ‚rassisch' und politisch Verfolgte während der Nazijahre wurde,
daß sie dies völlig spontan und ohne Ansehen der Person tat, aus
Gewissensgründen sicherlich, aber vielleicht noch mehr aus dem Bedürfnis
heraus, ihre Unabhängigkeit auch in der von ihr akzeptierten, ja gewollten
Diktatur zu bewahren. Hier ist nichts, wie die Verfasserin sehr deutlich
werden läßt, um irgendwelcher Taktiken willen geschehen. Daß man sich dies
heute nur in solchen Zusammenhängen vorstellen kann, lehrt ein Artikel einer
jungen Person (Doktorandin) in einem Lexikon zum Dritten Reich. Der
unterstellt Winifred egoistische Motive, sie habe für das Sängerpersonal der
Festspiele sorgen wollen.
Die Betoniertheit des Bewußtseins in Bezug auf die Nazizeit stellt sich jedem
Differenzierungsbedürfnis entgegen. Es hat sich in fast 60 Jahren geradezu
ein Jargon ausgebildet, der jeden Satz über jene Zeit und ihre Personen
lenkt. Das gilt natürlich vor allem für Hitler selbst, für den jener Jargon
alle negativen Konnotationen bereitgestellt hat, so daß selbst irgendwelche
Harmlosigkeiten des Alltags sofort mit salvierenden Klauseln umgeben werden
müssen, wenn nicht sofort der Verdacht auf Faschismus oder doch
Kryptofaschismus aufkommen soll. Man sollte aber aufgrund dieses Buches oder
der Erinnerungen der Hitler-Sekretärin, Frau Junge, endlich einmal anfangen,
über das Dr. Jekyll and Mr.Hyde-Syndrom hinaus nicht so sehr das
Nebeneinander als vielmehr das Ineinander des Barbaren und Diktators mit dem
freundlichen und (dilettantisch) sachverständigen "Onkel Wolf" zu
bedenken. Es hilft nicht, wenn man die unbedarfte Jugendlichkeit der Frau
Junge und die ideologische Okkupiertheit der Winifred Wagner einzig ins Feld
führt, denn was da berichtet wird, ist offenkundig weder Verstellung noch
politpsychologische Selbstinszenierung, sondern das Bedürfnis nach
bürgerlicher Normalität ebenso wie nach ästhetischen Kontexten, die überhaupt
nichts mit Verdrängungen zu tun haben, vielmehr die freilich atemraubende
Überzeugtheit Hitlers voraussetzen, daß ihn z. B. niemand fürchten könne und
daß sein Künstlertum, das ja durchaus über Plattheiten des Historismus immer
wieder hinauszielte, nicht in Frage zu stellen sei. Der Schreihals der
öffentlichen Darstellung, der Monologist der privaten muß darum nicht aus dem
Blick geraten. Aber daß die Wagner-Kinder insgesamt, auch die spätere
Antifaschistin Friedelind "Onkel Wolf" herzlich zugetan waren(und
er offenbar ihnen), ist nicht mit den üblichen Jargonvokabeln beiseite zu
wischen, sondern zum Nutzen eines ‚realistischen' Menschenbildes
aufzugreifen.
Das gilt auch für die unerfreulichste Entdeckung des Buches, nämlich den
Winifred-Sohn Wieland, den sie selbst als den eigentlichen Erben sah. Ist es
schon schwierig, sich vorzustellen, wie dieser Erbe, der Werk und Person des
Großvaters haßte, mit beidem angemessen hätte umgehen können, so ist es
ausgesprochen unangenehm, in ihm einen existentiellen Opportunisten zu
erkennen. Hitler aus eigenem Antrieb bis zuletzt tief verpflichtet, alle
Vorteile, die aus dieser Beziehung erwuchsen, auf das selbstverständlichste
nutzend, u.a. als stellvertretender Leiter der KZ-Außenstelle Bayreuth
amtierend, findet man Wieland nach dem Krieg, immerhin 1945 schon 27 Jahre,
als Linken und Antifaschisten, der das Werk, nachdem er bei seinen Anfängen
während der Nazizeit den biedersten Historismus hatte walten lassen , nun mit
allerhand modernen Adapationen von Leuten wie Preetorius, die er in und nach
der Nazizeit ablehnte, inszenatorisch aufputzte und sich dafür Genialität
bescheinigen ließ. Im Gegensatz zu seiner Mutter wurde ihm kein
Spruchkammerprozeß gemacht. Es gibt nur wenige Intellektuelle der
Nachkriegszeit, die(dank der Lektüre des Buches von Frau Hamann) so
entschieden gegenüber der opinio communis abfallen wie dieser Wieland
Wagner.-
Das zweite Buch ist älter. Es ist zum ersten Mal 1969, dann noch einmal 1979
und zum dritten Mal im vorigen Jahr erschienen. Mir ist aufgefallen, daß sein
Verfasser, Sebastian Haffner nämlich, für eine Weile nach dem Erscheinen
seiner "Geschichte eines Deutschen" hoch gelobt worden ist und daß
das Buch und dann auch andere Arbeiten Haffners große Verkaufserfolge hatten.
Aber seit einigen Monaten änderte sich diese Einschätzung, und man las, ich
glaube auch im "Spiegel", davon, daß Beweise für einen erheblichen
Opportunismus Haffners im Laufe der Jahre vorlägen. Das war erstaunlich. Aber
es ist nicht so erstaunlich, wenn man die neue Bewertung auf dem Hintergrund
dieses SPD-kritischen Buches sieht, von dem Haffner selbst bei der zweiten
Auflage schreibt, es sei 1969 ziemlich unbeachtet geblieben.
Es ist das Buch "Die deutsche Revolution 1918/19", das zunächst
unter dem Titel "Die verratene Revolution" erschienen ist. Und
genau dies ist sein Thema. Denn Haffner entwickelt, wie zunächst Ludendorff
im Oktober 1918 in raschem Entschluß die Forderung aufgestellt habe, die
Regierung müsse alsbald um einen Waffenstillstand nachsuchen, daß er
gleichzeitig eine parlamentarisch gestützte Regierung unter Einbeziehung auch
der Sozialdemokraten wünschte. Dies alles aber nur, um die Verantwortung von
sich und der Heeresleitung abwälzen und wenig später die Parole vom
"Dolchstoß" ausgeben zu können.
Dies ist nicht mehr ganz unbekannt. Aber schlimmer ist die wohlfundierte
These des Buchs, daß die Sozialdemokraten unter Friedrich Ebert nicht nur die
Verantwortung für den Lauf der Dinge übernahmen, nachdem der letzte und
parlamentarisch abgesicherte kaiserliche Reichskanzler, Prinz Max von Baden,
abgetreten war, sondern daß Ebert, der die Revolution "wie die
Sünde" fürchtete, zunächst den Versuch machte, die Monarchie zu
erhalten, dann unter dem Druck der Ereignisse vorübergehend mit der USPD in
den revolutionär legitimierten "Rat der Volksbeauftragten" eintrat,
aber die inzwischen von der Arbeiterschaft unternommene Revolution, obwohl
sie keinerlei anarchische oder chaotische Züge zeigte, alsbald durch die
Zusammenarbeit mit dem Militär und den nationalen Freikorps verriet. Dabei
half ihm der von Haffner als "primitiver Gewaltmensch" (185) bezeichnete
sozialdemokratische Wehrminister Gustav Noske.
Wie Haffner diese Geschichte des Verrats einer Revolution, die die SPD doch
immer gefordert hatte, bis hin zu dem Punkt darstellt, da die
sozialdemokratisch geführte Reichsregierung sich nach dem Kapp-Putsch, der
sie an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, trotz ihrer Unterstützung durch
den Generalstreik, den sie sozusagen im Nebenhinein ausgerufen hatte, wieder
mit den Mächten arrangierte, die ihr den Garaus hatten machen wollen, das ist
ein Lehrstück über korrumpiertes Bewußtsein, das allerdings sehr bewußt
verschwiegen wird, auch von der politisch korrekten Historiographie. Mit der
Unterstützung meuternder Generale und illegaler Freikorps nimmt die SPD unter
dem Präsidenten Ebert vorweg , was dreizehn Jahre später dann zur
legalisierten Politik der Nazis werden sollte. Von dieser Verbindung hört man
natürlich nicht sehr gern.
Daß Ebert als Opfer der Rechten dargestellt wird, was er gegen Ende seines
Lebens auch war, sieht Haffner als eine Art von Vergeltung für jenen Verrat,
bei dem die Führung der SPD in Gestalt Eberts diejenigen "opferte",
"die ihnen folgten und vertrauten", und zwar jenen, "von denen
sie sich begönnert fanden. Das Scheußliche wurde mit treuherzig aufblickendem
Biedersinn getan".(241)
So wird die Geschichte der verratenen Revolution zur Vorgeschichte der
"Machtübernahme". Und die, die sich im Reichstag 1933 gegen den
beginnenden Terror zu wehren versuchten, hatten vor über einem Jahrzehnt dazu
beigetragen, daß die Entwicklung anfangen konnte, die nun triumphierte. Der
Abgeordnete Otto Wels, Fraktionsvorsitzender der SPD, fand mutige Worte nach
den Märzwahlen im Reichstag. Aber 1918/19 war er Stadtkommandant von Berlin
gewesen und als solcher ein Mann Eberts, dessen Kollege Scheidemann einen
Kopfpreis von 50 000 Mark auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ausgesetzt
hatte. Es ist längst an der Zeit, daß an die Stelle einer
Geschichtsschreibung, die korrekt, aber nicht ehrlich ist, eine tritt, die
die Widersprüche deutscher Geschichte, insbesondere die des letzten
Jahrhunderts aushielte und vortrüge. Von den heute gängigen Schlagworten
dürfte sie sich nicht irre machen lassen. Allerdings entscheiden diese
Schlagworte über Karrieren.
(nach
oben)
VON DER GEGENWART
Die Stadt, die Sauberkeit und
Häussermann
In Frankfurt am Main tut man nach
Jahrzehnten des Nichtstuns etwas völlig Selbstverständliches: man sorgt für
die Sauberkeit der Stadt, indem man das Wegwerfen von Kippen und
Verpackungen, das Hinterlassen von Hundehaufen u.s.w. mit einem gehörigen
Ordnungsgeld ahndet. Man gibt zu, daß man bisher gemeint habe, durch den
Appell an die Bürger weiterzukommen, aber eben dies nütze bei denen, die das
Problem schaffen, gar nichts. D.h. man kehrt zu einer der urältesten
Erkenntnisse der Menschheit zurück, nämlich daß es immer Menschen gibt, die
sich im öffentlichen oder privaten Raum zivilisiert verhalten, und solche,
die das nicht tun. Letztere muß man durch u.U. schmerzhafte Maßnahmen dazu
bringen, sich ebenfalls zivilisiert zu verhalten.
An einer Radiorunde, in der die Frankfurter Absichten diskutiert werden,
nimmt auch ein Soziologe namens Häussermann teil, von dem man alsbald
Differenzierungen hört: für die Hundehalter sollte es, sagt er, strenge
Strafen geben; das Wegwerfen von Zigarettenkippen hält er dagegen für ein
irrelevantes Problem und für das Wegwerfen von Verpackungen trügen die
Firmen, die sie schaffen, allein die Verantwortung. Auch lehnt er ab, den
öffentlichen Raum mit dem privaten eines Vorgartens etwa zu vergleichen.
Singapur, wo mit großer Härte für die Sauberkeit gesorgt werde, sei übrigens
schrecklich steril. Alles an diesen Einlassungen ist interessant. Einmal weiß
man sofort, wem wir die Verlumpung unserer Städte, zu der natürlich
vordringlich auch die Schmierereien gehören, zu verdanken haben: nämlich den
Plädoyers jener Häussermänner, die fast immer Soziologen sind, natürlich von
den Achtundsechzigern abstammen und wie der argumentierende Häussermann natürlich
irgendwann einmal an der Universität Bremen waren. Sie sind für den Dreck,
weil der eben nicht steril wirke. So sagen sie es natürlich nicht, denn ihre
ideologischen Auslassungen, die sich als wissenschaftliche ausgeben, treffen
sich aufs schönste mit ihren privaten Vorlieben. Sie haben etwas gegen Hunde
und vor allem Hundehalter, also dürfen, nein müssen die sanktioniert werden.
Sie rauchen selbst, also ist die Hinterlassenschaft der Raucher bagatellhaft.
Sie haben einen (übrigens berechtigten) Zorn gegen den verantwortungslosen
Industriekapitalismus, also ist der, und zwar allein, regreßpflichtig zu
machen und nicht der unmittelbare Veranlasser, der natürlich seinen Teil an
der Verschmutzung der Städte zu verantworten hat, auch was Verpackungen anlangt.
Sie sind im übrigen gegen die Sterilität von Städten, lehnen also als alte
WGler das ab, was Goethe als Reinlichkeit in seinen Stadtcharakterisierungen
hervorhob. Das Ganze ist, wie wir es seit den Tagen der Achtundsechziger
kennen, privatestes Ressentiment, verpackt in ein paar wissenschaftlich
scheinende Floskeln.
Was ist die Basis? Der Weg der Zivilisation, der von öffentlicher
Unsauberkeit seit dem 19. Jahrhundert zu mehr und mehr öffentlicher
Sauberkeit führte und vor allem dadurch die großen Städte attraktiv und
keinesfalls steril machte. Es war natürlich eine dem privaten Vorbild
folgende Entwicklung, die ja im protestantischen Norden früher wirkte als im
katholischen Süden Europas, aber mit ihren ästhetischen und medizinischen
Folgen durchaus akzeptiert wurde. Daß wir seit den siebziger Jahren eine
Umkehrung dieser Entwicklung haben, gilt zunächst nur oder fast nur für den
öffentlichen Raum. Die Behauptung, der werde durch Sauberkeit steril, ist
nichts anderes als die gängige Rationalisierung der Faulheit der
Achtundsechziger, die sich durchaus von Fall zu Fall, wie die Bemerkungen des
Herrn Häussermann zu den Hundehaltern zeigt, der alten Sauberkeitspostulate
bedienen, wenn sie nämlich dadurch Ressentiments als Argumente verpacken
können. Will sagen: die ganze Einlassung ist Mumpitz, sowohl, was die
Einschätzung der Menschen wie, was die der Sauberkeit angeht. Es geht dem
Wissenschaftler nur darum, private Vorlieben und Ressentiments mit
pseudowissenschaftlichen Thesen zu behängen und so ganz und gar Disparates
zusammenzubinden, statt zu sagen: Ich will den Dreck, soweit er von mir und
den meinen gemacht wird, Industriedreck lehne ich ab, weil ich ein
Antikapitalist bin, Hundedreck lehne ich auch ab, weil Hundebesitzer mir
zuwider sind. Um das an den Mann zu bringen, tue ich so, als sei ich
Professor, obwohl ich nur ein Dummkopf bin.
Bei nochmaliger Durchsicht
(aus Walter Kempowski, Alkor. Tagebuch 1989. München 2001)
Ähnlich geeignet als Bettlektüre und
jedermann zu empfehlen sind Ratschläge für den "guten Ton". (16)
Der "Hokuspokus"-Film von Curt
Goetz (1953). Jämmerlich. Diese jämmerliche 50er Jahre-Jauche. Unbegreiflich,
es waren doch gute Schauspieler? Daß die sich das gefallen ließen ? (Erich
Ponto!) (33)
In Oldenburg habe ich den Studenten
gesagt, wenn sie eines Tages Lehrer sind, sollen sie sich öfter mal
"schön" machen, also was Gutes anziehen usw. Schließlich seien die
Kinder gezwungen, sie den ganzen Tag anzusehen. - So was fällt nicht gerade
auf fruchtbaren Boden.[...] Die Professoren übrigens laufen "unter aller
Kanone" herum, in dieser durch und durch verwahrlosten
Bildungsanstalt.(63)
Sich im Präapokalyptikum befinden.(64).
Das war schon ziemlich jämmerlich, wie
der alberne Helmut Schmidt plötzlich öffentlich zu dem Schnupfhorn griff und
kleine Pyramiden auf dem Handrücken aufhäufte! (76)
"Und wer soll das alles
lesen?" - dieser blöde Ausspruch einer Generation, die vor Freizeit
nicht mehr geradeaus gucken kann. (84)
Thomas Mann: Tagebücher. (Allmählich
doch zum Kotzen.) (88)
Das Nachsehen der Oldenburger
Seminararbeiten ist nervensägend. Diese jungen Menschen, die alle Pädagogen
werden wollen...nein, es ist unbeschreiblich. Besonders das
Geschlechterspezifische hat es ihnen angetan. Eine dieser Trampeltierinnen
beanstandet es, daß Jungen und Mädel unterschiedlich gekleidet sind! Man
macht sich keine Vorstellung von der Verblödung dieser Leute. (97)
Die Sprache dieser Leute drüben [DDR]
hatte etwas Verschleierndes, Abstoßendes an sich. (119)
Eine dieser Unbegreiflichkeiten: Der
Mann, der den Hitler-Attentäter Elser an der Schweizer Grenze gefasst hat,
ein Zollbeamter oder so was, bekam 1979 das Bundesverdienstkreuz.(137)
Vor den Evangelischen muß man sich in
acht nehmen, die sind links, also tückisch.(144)
Lesung in Düsseldorf. Universität
Düsseldorf, dreckig und verkommen. (174)
Diese Apo-Aufgeregtheiten waren ein Fall
von kollektivem Irresein, durchaus zu vergleichen mit Hysterien von 1937. Und
es schleppt sich noch immer hin! Diese Leute sitzen jetzt überall, in allen
Redaktionen und Verwaltungen. (176)
1.Mai in Kreuzberg, abstoßende
Krawallbilder. - Die "autonome Szene", so wird das genannt. Und mit
Benennungen meint man die Sache in den Griff zu kriegen, es hat einen Namen,
also ist es nicht mehr gefährlich. (207)
Nichts schlimmer als frohe
Gesichter!(273)
Wer sich umsieht, muß zugeben, daß alle
die apokalyptischen Probleme nicht gelöst werden, nicht ein einziges.(277)
Wahrscheinlich geht unser Planet nicht
an der Umweltverschmutzung zugrunde, sondern an der Quasselei. (295)
Der Meinungsterror hat sich derartig
verschärft, daß man um seine Existenz fürchten muß. Einziger Ausweg: sich
dumm stellen.(296)
An der SPD stört mich, daß sie sich mit
"Genosse" anreden und sich duzen.(477)
Ewige Schande über die Politiker hier im
Westen, die überall Unrecht sahen, doch mit den Oberen von drüben sich
verbrüderten.(482)
...die Deutschen...Sie haben die Leinen
gekappt und treiben nun den Fluß hinunter auf die Fälle zu.(498)
Die Wieczorek-Zeul als westlicher
Wendehals. Sie meint, daß hier bei uns nicht untersucht werden soll, wer
früher Recht oder Unrecht hatte. Eben! Sie hat nämlich Unrecht gehabt.(506 f)
Flughäfen: An diesen neuralgischen
Punkten begreift man, daß es zu Ende geht. Dies kann nicht mehr lange
dauern.(521)
Ansonsten lautet die neue gesamtdeutsche
Nationalhymne: "So ein Tag, so wunderschön wie heute!"(527)
(nach
oben)
VON DER LITERATUR UND DER SPRACHE
Martin Walser, Tod eines Kritikers
(Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002)
(mit zwei autobiographischen Notizen)
Gut erinnere ich mich an mehrfache
Begegnungen und Gespräche mit "Dr. Walser vom Süddeutschen
Rundfunk". Das war im Wintersemester 1952/53 in Heidelberg. Walser hatte
über Kafka promoviert, war freier Mitarbeiter oder Redakteur bei dem Stuttgarter
Sender, der in Heidelberg eine ‚Filiale' unterhielt. An der hatte sich eine
Arbeitsgemeinschaft Funk als studentische Vereinigung gebildet, der ich in
einem frühen Semester beitrat . Walser machte im Rundfunk Erfahrungen, die er
satirisch in seinem ersten Roman "Ehen in Philippsburg" nutzen
konnte. Daraus übernahm ich einige Stücke in die Satire-Anthologie
"Gegen-Zeitung" (1964). Anfang der sechziger Jahre besuchte ich
Walser ein- oder zweimal am Bodensee. Es gab ein paar Briefe und Karten hin
und her. Und es blieb die Erinnerung an einen guten Gesprächspartner. Aber
ich wurde kein Walser- Leser. Das hing damit zusammen, daß ich meinte und bis
heute meine, daß die große moderne Romanprosa der deutschen Literatur
zwischen dem Anfang des 20. Jahrhunderts und den frühen fünfziger Jahren
geschrieben bzw. publiziert wurde.
Gut erinnere ich mich auch der Begegnung
mit dem Kritiker Reich-Ranicki in Wien aus Anlaß der Karl-Kraus Woche 1974.
Er hatte mich Anfang der sechziger Jahre wegen eines Satire-Überblicks gelobt,
bot mir in Wien die Mitarbeit am Literaturteil der FAZ an. Ich wich aus,
obwohl ich ihn noch gar nicht genauer kannte. Dennoch war ich am selben Abend
froh, mich so verhalten zu haben. In einer öffentlichen Diskussion vor sehr
vielen Leuten zum Abschluß der Kraus-Woche redete er apodiktisch völlig
Unverantwortliches über Kraus(s. mein Buch "Karl Kraus und die
Presse". München 1975. S.101 - 105). Obwohl eine ganze Reihe von
prominenten Kraus-Kennern auf dem Podium war, blieb mir allein die Replik auf
ihn vorbehalten , bei der mich aus dem Publikum Jens Malte Fischer
unterstützte. Reich-Ranicki war über meine Einwände beleidigt. Wir waren
damit geschiedene Leute. Später leistete er sich über Robert Musil mindestens
zweimal ähnlich Unverantwortliches . Da war schon längst klar, daß er weder
in der Lage ist zu argumentieren noch irgendwelche nennenswerten Maßstäbe
hat, um Literatur beurteilen zu können. Ich bin einmal in einem kleinen
Aufsatz (Literaturkritik? Annotierte Zitate in einem Buch von Marcel Reich-Ranicki.
In: Kunstgriffe. Festschrift Herbert Mainusch. 1989. S.27-33) auf diese
Umstände eingegangen. Mehr lohnt sich nicht. Daß er angesichts dessen zum
"Literaturpapst" werden konnte, wie er in den Medien genannt wird,
ist deren Problem und das des Publikums.
Die zeitgenössischen deutschen
Schriftsteller leiden unter ihm. Walser hat sich davon in dem Roman "Tod
eines Kritikers" zu befreien versucht. Dieses Schlüsselmoment wiederum
genügte, das Buch zu einem "Renner" zu machen. Inzwischen ist es
still darum geworden, wie das üblich ist. Man kann also genauer betrachten,
um was für ein Buch es sich handelt. Dabei hat man zunächst die Behauptung im
Ohr, die wohl zuerst der FAZ-Herausgeber Schirrmacher aufstellte, das Buch
sei antisemitisch. Das wurde von etlichen nachgesprochen, wenige bestritten
die These. Diese Behauptung kann nichts anderes bedeuten als dies: Hinter der
Gestalt des Kritikers Ehrl-König im Buch steht der reale Kritiker
Reich-Ranicki. Reich-Ranicki ist Jude. Weil Ehrl-König auch Jude ist und satirisch
dargestellt wird, richtet sich der Roman gegen Reich-Ranicki als Juden und
ist damit ein antisemitischer Roman. Würde das als ernsthaftes Argument
gelten können, müßte inskünftig jede satirische Darstellung eines Juden in
einem deutschen Roman oder einem deutschen Theaterstück unterbleiben. Wir
hätten damit eindeutig eine Form von Zensur. (In den siebziger Jahren gab es
von linker Seite deutlich antisemitische Beiträge. Publizistisch blieb das
weitgehend unbeanstandet.)
Wer sich die Behauptung Schirrmachers nicht zu eigen machen, aber sich
dennoch mit dem Buch nicht abgeben wollte, sagte, der Roman sei mißlungen.
Das ist natürlich nicht akzeptabler Escapismus.
Der Roman "Tod eines Kritikers" stellt dar, wie der
Literaturkritiker Ehrl-König eine Machtposition im literarisch-medialen
Betrieb dadurch erreicht, daß er Bücher als gute und schlechte sortiert, daß
er diese Sortierung mit ein paar immer wieder benutzten Sätzen und mit
Lautstärke im Fernsehen und vor einem Studiopublikum unternimmt und daraus
ein Ritual macht, das sich nach der Sendung im Haus des Verlegers Pilgrim
fortsetzt.
Dies allein wäre noch kein Roman, sondern eine satirische Erzählung nach Art
der Satiren Heinrich Bölls in "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen".
Zu einem Roman, nämlich einem kleinen Kriminalroman und dessen Parodie, wird
das Buch dadurch, daß Ehrl-König von der Bildfläche verschwindet und einen
blutgetränkten Pullover hinterläßt. Der Verdacht entsteht, daß er ermordet
worden sei, und zwar von dem Schriftsteller Hans Lach, dessen neuestes Buch
Ehrl-König wie schon frühere in einer TV-Sendung verrissen hat.
Hans Lach gerät in Untersuchungshaft. Sein Bekannter, der Mystik-Experte
Michael Landolf, übernimmt , weil er nicht an die Schuld Lachs glaubt, die
Rolle eines Privatdetektivs, der sehr unterschiedliche Bekannte Lachs, die
alle zum Literaturbetrieb in Beziehung stehen, aufsucht und sich bemüht, sie
über mögliche Kenntnisse im Zusammenhang mit dem vermuteten Mord auszufragen.
Der Witz des Ganzen ist, daß Ehrl-König wieder auftaucht und daß Landolf sich
als ein Doppelgänger Lachs erweist, der die ganze Geschichte vielleicht bloß
imaginiert hat.
Der kleine Roman hat durchaus Charme und Witz. Vor allem gelingt es Walser,
eine ganze Reihe von Charakteren in den Gesprächen mit Landolf prägnant
vorzustellen: die Verlegersfrau Julia Pelz-Pilgrim, den Literaturprofessor
Silberfuchs, den Romancier Bernt Streiff, den psychopathischen 'Dichter' Mani
Mani, schließlich Rainer Heiner Henkel, "Ehrl-Königs Souffleur,
Einpeitscher, aber auch Dompteur"(91), und dessen Schwester. Vor allem
aber wird natürlich Ehrl-König in seiner Sendung "Sprechstunde" und
in seinen Auftritten im Hause des Verlegers Pilgrim gezeigt. Das alles weist
zurück auf den frühen Roman "Ehen in Philippsburg" und dessen Mediensatire.
Dabei stellt Walser das Gehabe und die Diktion Reich-Ranickis sehr
nachdrücklich aus. Er ist in Ehrl-König unverkennbar wie sonst nur noch
Henkel alias Walter Jens; beide sind Figuren satirischer Mimesis.
Mit diesen Figuren eröffnet sich eine weitere Ebene, es ist die eines
satirischen Romans über einen geschlossenen Literaten-Kreis, wie er sich vor
allem in dem Haus des Verlegers trifft, und über den offenen Kreis des
Fernsehpublikums. Beide erscheinen als Objekte des Mediums Fernsehen. Zwar gibt
es außerdem noch zwei Kriminalbeamte, die Ehefrauen zweier Schriftsteller und
wenige andere Randfiguren. Aber zentral ist zunächst der Zirkel von
Literaten,der sich in jenem Haus des Verlegers versammelt, das vollständig
der Inszenierung Ehrl-Königs dient und ganz und gar fassadenhaft ist. Der
Kritiker fährt an den Abenden nach seiner Sendung mit dem Aufzug auf die
oberste Plattform des Hauses und bewegt sich dann unter dem Beifall der
Anwesenden nach unten "auf das tiefste Niveau"(35).
Diesem Zirkel gegenüber steht das Publikum der Fernsehsendung
"Sprechstunde". Es ist nicht an der Literatur interessiert, sondern
an Rede-Sensationen und Vernichtungsaktionen, die Ehrl-König mit Hilfe seines
Promotors Henkel erzeugt. Beide sind so platt wie der übliche Schmonzes des
Fernsehens, erscheinen aber durch die Attituden Ehrl-Königs als geistige
Entscheidungen, an denen teilzunehmen dieses Publikum zugleich als
Unterhaltung genießt.
Das Ganze ist eine Inszenierung von nichts. Es geht zunächst um das
"Auftritts-Zeremoniell" Ehrl-Königs(34). Auch darin wird das
Fassadenhafte betont: Ehrl-König "thront" auf einem Sessel in
"schön imitierte[m] Empire", dessen Holz "an Marmor
denken" lassen soll mit "Zeus-Symbole[n] (Adler und Blitz)",
Füßen, "auslaufend in Löwentatzen, die auf vier Büchersockeln stehen.
Vielleicht Attrappen." Auf den Buchrücken der Büchersockel steht:
"FAUST; EFFI BRIEST; ZAUBERBERG; BERLIN ALEXANDERPLATZ." "Der
Auftritt ist von Musik begleitet."(34).
Das alles hat das Air des Jahrmarkthaften, das sich das Air gibt, bedeutend
zu sein, wie das etwa eine Wahrsagerbude versucht. Die Literatur ist
heruntergekommen auf Buchrücken, die die Sockel des ‚Throns' von Ehrl-König
sind. Ihre Titel haben einzig die Funktion, die literarischen Vorlieben
Ehrl-Königs anzuzeigen, der sich durch Büchmann-Zitate als Kenner darstellt.
Er trägt Sätze vor, die Rainer Heiner Henkel zubereitet hat, gestanzte
Bosheiten, die das Publikum lachen machen sollen. Das reagiert "mit
Hingerissenheit, Lachen, Klatschen, auch schon mal mit begeistertem
Johlen"(39). Dazu trägt ein Überraschungsgast bei, im Buche die
amerikanische Autorin Martha Friday, mit der Ehrl-König einen nichtssagenden,
aber anzüglichen Dialog führt, auf den sie gern eingeht.
Die (mündliche)Rezension des Romans von Hans Lach "Das Mädchen ohne
Zehennägel" besteht dann aus Hinweisen auf die unerträgliche
Beschränktheit der weiblichen Hauptfigur, auf die Unzahl der Personen des
Romans , die aber nur Namen seien, auf dessen Umfang, der über die von
Ehrl-König verordnete Seitenzahl hinausgehe, und aus allerhand Tralala, das
sich auf ihn, den Kritiker, und seine Leiden und auf Martha Friday(deutlich
Susan Sontag) bezieht. Der Roman Lachs wird zum schlechten Buch erklärt, dem
gegenüber das neue Buch von Philip Roth zum guten. Das ‚kritische' Verfahren
ist eine einzige Absurdität. Aber: "Die Leute seien begeistert gewesen.
Die Kameras holten feuchte Blicke der Hingerissenheit in die
Großaufnahme."(42) Aber: auf dem Verleger-Abend "brüllt als erster
Bernt Streiff [ein Autor], offenbar schon völlig voll: Egal, wie man
inhaltlich zu dem, was der Meister heute gesagt habe, stehe, es sei tierisch
gut gewesen"(43).
Walser stellt einen Zustand der Literatur dar, der nicht mehr durch
Argumente, ja nicht einmal durch begründete Meinungen entsteht, sondern durch
eine blödsinnige mediale Inszenierung, der das Publikum und die Angehörigen
der Literatur als Betriebsangehörige applaudieren. Es ist natürlich die
Zerstörung jeder Vorstellung von ernsthafter Literatur. Und es ist der Sinn
der Literatursatire Walsers, die Möglichkeit dieser Zerstörung zu zeigen, die
ein dem Fernsehen und dem hampelmännischen Gebaren Ehrl-Königs sich
auslieferndes Publikum, aber auch die literarischen Intellektuellen
verschulden. Es wäre völlig lächerlich, dem Autor vorzuhalten, er übertreibe,
als sei der Satiriker verpflichtet, sich an die Mimesis einer historischen
Situation zu halten, aber es gehört natürlich zur satirischen Leistung, wenn
die Rezeption, ob beglückt oder entrüstet, einen Zusammenhang mit der historischen
Situation konstatieren muß. Rainer Heiner Henkel, der Ehrl-König gefördert
und der schließlich mit diesem gebrochen hat, führt die kritische Aura seiner
Figur gerade auf die Unfähigkeit Ehrl-Königs zu "reiner Verehrung"
zurück, eine Unfähigkeit, die er zu einer "unersetzbare[n
]Funktion" gemacht habe: nämlich zur "Aufhebung jeder Verehrung
durch ein Gegenteil"(110). Dabei bleibe nur noch ein Wert übrig,
"der Unterhaltungswert". Es herrsche nun, dank Ehrl-König, "die
Demokratie des reinen Werts"(117).
Ehrl-König steht für die Versöhnung , ja für die Identität von Medium und
Publikum, und zwar gerade dort, wo das Medium durch kritische Darstellung,
das Publikum durch kritisches Bewußtsein als unversöhnbare Elemente erkannt
werden sollten. Ehrl-König, immer mit der Attitude des durch die Aufklärung
legitimierten Kritikers(der Name Lessings wird toposhaft mehrfach
aufgerufen), entlastet das Publikum gerade von der Aufgabe ernsthafter
Rezeption durch die Produktion von Lachern und huldigt dem Medium auf Kosten
der Literatur, indem er die mediale Beliebigkeit an die Stelle jedes
argumentativ insistenten Eingehens auf den Text ("Verehrung")
setzt.
In Ehrl-König sucht Walser die völlige Entleerung der Literatur sichtbar zu
machen, an der die mitwirken, die verantwortlich für sie sind: der große
Verleger, dessen Frau, die Schriftsteller selbst. Denn weder Lach noch
Streiff noch gar Mani-Mani sind in der Lage und willens, sich dem Betrieb zu
entziehen. Lach kann nur nach seinem Verriß einen Augenblick spontanen
Widerstands erzeugen, der ihn zunächst zum Angeklagten macht und alsbald der
medialen Omnipotenz Ehrl-Königs zugute kommt, obwohl der selbst nur ein
Angestellter des Apparats ist. Lachs alter ego Landolf ist mit dem Mystiker
Seuse beschäftigt , von dem er eine Stelle zitiert, die statt der
"wercke" das "lassen" preist. Das zielt auf eine
Literatur, die den Betrieb hinter sich läßt. Und Landolf fügt dem hinzu: den
Weg dieses Lassens gründe "nichts als Sprache", "aber nachher
fühlt es sich an, als sei man ihn wirklich gegangen"(59).
Ehrl-Königs Sprache gründet, wie Walser schon in ‚der akustischen Umschrift'
seines Redens deutlich macht, dagegen im Geräusch, das keinen Sinn haben
kann, aber "Unterhaltungswert" hat und einzig die Lacher erzeugt,
in denen sich das Publikum als literarisches auflöst.
Wie die Präsidentin spricht
Die frühere Präsidentin des
Bundesverfassungsgerichts, Frau Prof. Jutta Limbach, jetzige Präsidentin des
Goethe-Instituts, schrieb in der Zeitschrift "Deutschland"(Nr.
5/2002) u.a. den folgenden Satz :
"Die Sprache ist
immer noch das erste Transportmittel, wenn man kulturelle Errungenschaften
anderen nahe bringen möchte."
"Errungenschaft" könnte man
bei einem besonderen stilistischen Interesse zunächst betrachten. Da mischt
sich Juristensprache (früher einmal das Vermögen,das Gatten während ihrer Ehe
erwerben),mit Kanzleisprache; später wird es dann ein politisches Wort:
"Märzerrungenschaften" von 1848 - und geht dann in die
Alltagssprache über. Doch hat es immer etwas an sich von anstrengender
Bemühung, von Schwitzen, was man mit der Kultur nicht so gern zusammenbinden
möchte.
Nun ist aber nicht das Stilisticum in Wahrheit wichtig,sondern der Kontext,
in dem dieses Wort erscheint und dem es sich in bemerkenswerter Weise
einfügt. "Die Sprache ist immer noch das erste Transportmittel",
beginnt dieser Satz ja, und wenn man ihn liest, muß man sich fragen, wie das
Bewußtsein der Sprecherin beschaffen ist. Die spricht doch davon, daß man
anderen etwas nahebringen möchte, nämlich "kulturelle
Errungenschaften". Das könnte zum Beispiel ein großer literarischer Text
sein, sagen wir Goethes "Wahlverwandtschaften". Diesen Roman als
"kulturelle Errungenschaft" apostrophiert zu hören, macht Pein, die
wir aber tapfer überwinden.
Aber diese "Errungenschaft" wird mit dem "erste[n]
Transportmittel" "Sprache" verbunden , die eben dies
"immer noch" sein soll.
Machen wir uns so deutlich wie möglich, was hier vorgeht: Wir sollen und
wollen z.B. einer Gruppe junger Tschechen, die deutsch sprechen können, die
"Wahlverwandtschaften" nahebringen. Wir müssen das hier und in
allen anderen Fällen natürlich in der Sprache tun. Während wir es tun, merken
wir, daß wir, weil wir mit einem bedeutenden sprachlichen Text umgehen,
selbst in einer Weise sprechen sollten, daß niemals der Eindruck entsteht,
wir benutzten ein "Transportmittel". Es könnte sich übrigens auch
um ein Bild, eine musikalische Komposition, eine Architektur handeln, die wir
vermitteln wollen. Würden wir dies alles nahebringen wollen mit der Sprache
als "Transportmittel", so hätten wir es von Anfang an verfehlt,
denn die Sprache als "Transportmittel" wäre ein bloßes Instrument.
Und das könnte gerade nicht die Kreativität der Sprache, die eben auch
Malerei, Musik, Architektur haben, anzeigen. Sprache als
"Transportmittel" ist ja deren reduzierteste Erscheinung, die
übrigens selbst als solche gegen diese Reduktion sich wehrt, wie man an jedem
"Transportmittel"- Satz und dessen ‚Sprachlosigkeit' zeigen kann.
Wir wissen, nicht zuletzt aus der Jurisprudenz, welche Destruktionen eine
aufs "Transportmittel" reduzierte Sprache anrichtet. Sie führt zu
einer Instrumentalisierung der Welt, die wir heute überall zu durchleiden
haben. Aber sie zu einem Wert erhoben zu sehen, als"erste[s]
Transportmittel", was an das "erste Haus am Platze" ebenso
denken läßt wie an eine "erste Gelegenheit", und solchen Schrecken
noch kombiniert zu lesen mit einem "immer noch", bei dem man nicht
weiß, ob man weinen oder lachen soll, weil man nicht weiß, ob das "immer
noch" für die Sprache derart zutreffen soll, daß man sie zwar jetzt
noch, aber dann nicht mehr braucht, oder für das "Transportmittel"
Sprache, das als die schlechteste Erscheinung der Sprache an ihr Ende kommen
soll, das ist eine schmerzliche Erfahrung. Denn nicht ein Buchhalter, der
froh ist, daß er die Sprache beherrscht, sondern die ehemalige höchste
deutsche Richterin und die gegenwärtige höchste deutsche Kulturvermittlerin
tritt mit einem solchen Satz vor das internationale Publikum, das, wenn es
denn anderes im Sinn hat als das "Transportmittel" Sprache, nun
besser als durch Produktions- und Absatzzahlen weiß, warum es mit diesem
neuen Deutschland so steht, daß es kaum als "Errungenschaft"
jemandem nahegebracht werden kann.
(nach
oben)
VON STÄDTEN UND DENKMALEN
Wiesbaden und Umgebung
(im Winter)
Der Baedeker von 1895 sagt, es sei eine
"freundliche Stadt" mit "schönen öffentlichen Anlagen und
ihrer anmutigen Umgebung". "Das milde Klima und die trefflichen
Heilanstalten locken vom ersten Frühjahr bis zum Spätherbst ganze Scharen von
Gästen an." Man hat keine Ahnung, ob das jetzt auch so ist. Aber:
"im Winter ist das Leben billiger als im Sommer", heißt es. Das
kann man heute nicht mehr bestätigen. Es ist überall sehr teuer, und die
Statistik, die behauptet, im letzten Jahr sei alles nur um eineinhalb Prozent
teurer geworden , lügt wie alle Statistiken.
Man merkt, daß dies einst eine elegante Stadt gewesen sein muß, zwar nicht
mit außerordentlicher Architektur gesegnet, aber mit Kursaal und Kurpark, mit
dem "Neuen Theater", das jetzt Staatstheater ist, von Fellner und
Hellmer 1892 - 94 erbaut, mit einem kleineren Boulevard, der Wilhelmstraße.
Aber wohin ist diese Eleganz eigentlich? Fehlt sie nur, weil es so kalt ist
und die Wilhelmstraße darum ziemlich leer? Es gibt ja viele ansehenswerte
Geschäfte, aber unter den Kurkolonnaden auch Lücken der Ladenlokale. Und wenn
man in das vom Varta-Führer verzeichnete erste Café am Platze geht, ist das
in keinerlei Sinn elegant, sondern eigentümlich asketisch, wegen der Kälte
müssen auch allerwärts kleine Radiatoren aufgestellt werden. Nur die
Kuchentheke glänzt pompös. Elegant ist es auch nicht in dem kleinen
Altstadtbezirk, in dem unser hübsches Jugenstilhotel steht. Der ist eines der
in den fünfziger Jahren zusammengewürfelten Viertel, das wie so manches in
amerikanischen Städten downtown aussieht und eben in Westdeutschland
allerwärts, weil die Stadtplanungen der frühen Jahre nichtssagend und
langweilig waren wie nie zuvor. Jetzt soll das hier alles wieder geschleift
werden, obwohl man nicht sehr auf das hoffen darf, was dann kommt. Überall
wird einzelnes gebaut und dadurch die Straße versperrt. Und überall ist es
verschmiert. Diese Räude, die sich über fast alle deutschen Städte gelegt hat
und die das Publikum mit Stumpfsinn erträgt, macht das Mißlungene und das
restaurierte Gelungene, das Edle und das Elende gleich. Nichts wird vor
diesem Ausschlag bewahrt. Erst wenn man in irgendein Inneres kommt, ins
Gasthaus, Museum, Theater, ist alles aufs glänzendste zubereitet.
An einem Abend lassen wir uns ins Käfer-Bistro weisen, das im alten
Restaurant des Kurhauses untergebracht ist. Da kommen sich mit patinierten
Holzwänden und allerhand Bildern und mit strengem französischem
Tafelarrangement Altes und Neues angenehm entgegen. Man wird gut versorgt,
freundlich und unauffällig. Und muß dafür umfänglich zahlen.
Oder das prächtige Staatstheater in gold, weiß und rot mit einem Foyer, gegen
das die Sistina eine bescheidene Angelegenheit ist. Da und dort ist manches
mal ein bißchen bestoßen, aber sonst in bestem Zustand. Niemand schmiert
hier. Was lebt sich denn da für eine neue Einteilung aus? Die völlige
Verwilderung draußen? Prunkende Bürgerlichkeit, in der alle Feudalität wie
alle streng-teure Moderne aufgehoben ist, drinnen? Fährt man z.B. über die
Mainzer Straße zur Autobahn, ist alles, was man sehen muß, verschmierenswert,
und das sich auf Frankfurt ausrichtende Autobahngewirr hat alles
niedergetrampelt, was früher einmal Landschaft hieß. Auf der glatten Rollbahn
geht es zu den Türmen der Bankmetropole, dann auf eher buckligen Stadtstraßen
mit schlechter Beschilderung nach Sachsenhausen zur Museumsmeile. Die
Tristesse des Parkhauses (also auch drinnen) und die verschmierte Tristesse
der Fassaden draußen. Das kunsthandwerkliche Museum, das jetzt Museum für
angewandte Kunst heißt, gruppiert sich um die Metzler-Villa (man denkt an die
Scheußlichkeit eines Mordes an einem kleinen Familienmitglied vor kurzem).
Was sich da gruppiert, ist moderner Museumsbau, für den es natürlich auch
entsprechende Architekten gibt. Gezeigt wird z.T. Beachtliches vom
Mittelalter bis zur Gegenwart. Aber es ist wie in allen Museen: die Legenden
sind schlecht angebracht, schlecht zu lesen und vor allem stimmen sie oft
nicht. Man stellt sich die ganze Crew von Kunstbeamten vor, die für sich,
aber nicht fürs Publikum arbeiten. Ins Metzlerhaus, eine klassizistische
Villa, darf man nur mit Begleitung, die man anfordern muß. Vielen Dank.
Irgendwo ist ein Museumsrestaurant. Es ist völlig leer, und man möchte
schnell wieder hinaus, weil es so leer ist und ganz kalt wirkt. Aber die
jungen Ober sind bemerkenswert freundlich.
Eine hübsche Rheingaustadt ist Eltville mit kurfürstlicher Burg, der Kirche
mit Apokalypse-Fresken an versteckter Stelle, vielem hochglänzendem Fachwerk.
Nicht sehr weit davon das Kloster Eberbach, das in einer Talsenke liegt und
sehr Altes bietet, v.a. eine sehr große, sehr großartige Kirche aus den
romanischen Anfängen der Zisterzienserzeit. Welche Wonne, daß man Zeit und
Geld und die Fähigkeit hat, dies und so vieles mehr zu restaurieren.
Deutschland: ein Freilandmuseum inmitten von Nachkriegsscheußlichkeit und
Schmiererei.
Rühmungen
"Monumente" heißt eine der
schönsten und sinnvollsten deutschen Zeitschriften, die ich kenne. Sie soll
der "Denkmalkultur in Deutschland" dienen, ein Begriff, der unnötig
modisch ist, aber sie zeigt in Wahrheit, was Denkmalschutz leisten kann und
darüber hinaus, welche Denkmale dieses Deutschland immer noch besitzt.
Man muß ja auch in diesem Zusammenhang zunächst den düsteren Hintergrund
wahrnehmen Es ist wie fast immer in der neuesten deutschen Geschichte der
Nazismus, es ist vor allem der Bombenkrieg, der das städtische, vor allem das
großstädtische Deutschland so weitgehend und schrecklich zerstört hat. Der
Bombenkrieg ist einmal ganz unmittelbar aus dem Nazismus entstanden, er setzt
die Kriegslust dieses Regimes voraus, er setzt die vielen Luftüberfälle der
deutschen Wehrmacht in Spanien, Polen und England voraus und er setzt
natürlich die Zustimmung oder zumindest das Schweigen der Deutschen zu dieser
Kriegslust des Regimes voraus. Das ist die eine Seite des Schreckens. Sie
darf nie vergessen werden. Aber die andere gehört zu dieser ersten. Es ist
die Barbarei derer, die die Barbaren besiegen wollten und besiegt haben. Es
ist die völlige Kulturlosigkeit der englischen und amerikanischen
Bomberkommandos und der dahinter stehenden Politik. Brandlegend wie die
Soldateska des 16. bis 18. Jahrhunderts zerstörten gerade sie ja nicht die
deutsche Barbarei, sondern europäische Architektur, die so gut die ihre wie
die unsere war, und trafen gerade das, was das Unschuldigste in Bezug auf die
deutsche Kriegsvorbereitung wie Kriegführung geblieben ist. So schwierig ist
Geschichte geworden. Wer nur das eine oder das andere ausstellte, er löge.
Nach dem Krieg bauten die Deutschen auf. Was da in den fünfziger Jahren an
Stadtarchitektur verbrochen wurde, macht heute noch wütend und schamrot. Es
war, als hätten sich die schlechtesten Architekten des Zeitalters
abgesprochen, um zu demonstrieren, wessen sie fähig sind. Überdies gingen
diese von allem Geist verlassenen Horden hin und rissen vieles von dem, was
überlebt hatte, ein. Sicher die Banausien eines Walter Ulbricht sind
besonders eindrucksvoll, aber auch der Westen hat eine Vielzahl kleiner
Ulbrichts hervorgebracht, die mit aller Anstrengung vor dem Bombenkrieg
Gerettetes zerstörten und Scheußlichkeiten in allen deutschen Städten mit
regster Unterstützung kulturfeindlicher Bauämter produzierten.
Daß dennoch so vieles an Außerordentlichem stehengeblieben ist, bleibt ein
Wunder. Und daß es zu erheblichen Teilen schließlich durch Restaurierung ins
Bewußtsein der deutschen Zeitgenossen gerückt wurde, bleibt eine Ruhmestat
der Denkmalpflege und aller großen und kleinen Sponsoren. Von ihnen und vor
allem vom Ergebnis ihrer Bemühungen kündet die Zeitschrift
"Monumente". Angesichts der sinnlosen Verpulverung von
Milliardenbeträgen in den guten Zeiten, ist hier keine Mark in überflüssiger
Weise ausgegeben worden. Sicher, wir haben in den letzten 25 Jahren doch so
etwas wie eine "Denkmalkultur" in Deutschland entstehen sehen, wenn
das nämlich bedeutet, daß fast überall nicht die großen architektonischen
Ensembles von Innenstädten, von Straßen und Plätzen, sondern mehr die
Kleinteiligkeit einzelner "Monumente" wiederhergestellt wurde.
Deutschland ist ein riesiges open-air-Museum geworden und ein ebenso riesiges
Museum von Interieurs. Nicht wiederherstellbar ist der Gesamteindruck von
Städten, wie man es ja in Danzig und Warschau immerhin versucht hat. Aber
beides ist dennoch innerhalb der Barbarei des verflossenen und der Ignoranz
des gegenwärtigen Zeitalters eine ‚Renaissance', aufs nachdrücklichste zu
rühmen. Und es ist "Monumente", die Zeitschrift, dafür zu rühmen,
daß sie es fertiggebracht hat, fertigbringt, sich als Führer durch jene
Museen hervorzutun. Denn ohne jene Rettungen bestünde dieses Land nur noch
aus Wohnungsställen und Verwaltungskerkern und Glashäusern, vor allem aber
aus Autos,dem einzig originellen ‚Architekturbeitrag',der Deutschland in der
Nachkriegszeit gelungen ist.
(nach
oben)
VON DEN MEDIEN
Das vollkommen Idiotische
das uns heute überall und zu jeder Zeit
anspringt, muß doch dann und wann benannt werden, damit es nicht als
selbstverständlich passieren kann.
Natürlich erscheint es besonders drastisch in den Medien und dort vor allem
im Feuilleton. Der Deutschlandfunk hat den absurden Einfall, Feuilletongerede
auch noch von Sonntag zu Sonntag vorzustellen. So etwa die hundertjährigen
Geburtstage zweier Autoren. Das ist schon für sich genommen ein Aberwitz.
Denn daß es solcher runden Daten bedarf, um jemanden wahrzunehmen, kann nur
einem Toren einfallen. Aber diesmal wird der Einfall dazu benutzt, die
Erinnerten sofort wieder in den Orkus zu befördern.
Der eine der beiden ist Günther Anders, um dessen hundertsten Geburtstag es
geht. Und das einzige, das wert ist, von Günter Anders erinnert zu werden,
ist nach der Meinung des Feuilletonarrangeurs ein Ausspruch von Odo Marquard,
der gesagt habe, Günther Anders sei ein Philosoph nur für Philosophen
gewesen, was etwa so absurd sei wie ein Sockenhersteller, der nur für
Sockenhersteller produziere. Abgesehen davon, daß einen solchen Pofel nicht
einmal ein Feuilletonist wie Odo Marquard gesagt haben kann, ist es ein
solcher Unsinn, daß er nur von einem kompletten Idioten, also von jemandem,
der auch nicht den Ansatz einer Ahnung hat, verbreitet werden kann, wobei
hinzukommt, daß dieser Ahnungslosigkeit wahrscheinlich noch irgendein Ressentiment
attachiert ist, das an die Stelle der Ahnung zu treten versucht.
Denn wenn es einen neueren Philosophen gegeben hat, der n i c h t für
Philosophen, sondern für jeden Reflektierten geschrieben hat, dann war es
Günther Anders.Er hat allen Wert darauf gelegt,seinen zentralen Gedanken, daß
nämlich unsere Vorstellungsfähigkeit nicht hinreiche, unsere technischen
Fähigkeiten , insbesondere deren bisherigen "Gipfel", die
Atombombe, einzuholen und zu begreifen, so kenntlich zu machen wie nur
möglich. Daß er damit einen Gedanken von Karl Kraus hinsichtlich des ersten
Weltkriegs aufgenommen hat, ist interessant genug. Aber fern von jedem
Sachgehalt darf heute ein ressentimentärer Dummkopf über einen Sender etwas
verkünden, was das genaue Gegenteil der Evidenz ist. Dazu bedarf es freilich
einer öffentlichen Verblödung, die auch das Thema von Günther Anders war.
Wichtige Nachricht
Wenn ihnen die Natur-, die Verkehrs-,
die Terrorkatastrophen vorübergehend ausgehen, kommen die medialen
Nachrichtendirigenten in Verlegenheit. Der Deutschlandfunk entschloß sich an
einem Tage sozusagen zur Duodeznachricht und meldete, und zwar an erster
Stelle, es habe Wahlen zum tschechischen Senat gegeben. Bei den nächsten
Nachrichten rückte diese Meldung an die zweite Stelle, aber nach
offenkundigen Auseinandersetzungen in der Nachrichtenredaktion war sie bei
der übernächsten wieder ganz oben.
Nun ist diese Meldung als solche schon von großer Faszination. Die wurde hier
noch dadurch gesteigert, daß ein mittlerer Essay über das Ereignis erschien,
der nach genauer Zahlendarbietung und allerhand Kommentar schließlich bei den
Wahlen des nächsten Präsidenten der Republik endete, wobei natürlich noch der
Name des jetzigen genannt wurde.
Zwar kennt der normale Nachrichtenredakteur gemeinhin nicht einmal den
Unterschied zwischen Staatspräsident und Ministerpräsident, und auch hier
hörte er sicher zum ersten Mal, daß es einen tschechischen Senat gebe, aber
wenn so einer sich einmal mit einer Materie intensiv beschäftigt, dann gibt
das aus. Und allerorten sah man Menschen auf den Straßen, die ihr stumpfes
Schweigen durchbrachen: "Sie, ja bitte Sie, wie steht's mit den Wahlen
zum tschechischen Senat?"
Wie ein ARD-Intendant redet, wenn er
gefragt wird
Moloch und Elend klingen ausschließlich
für Journalisten Klasse.
Dann kann man den Laden auch durchaus
prägen.
...wir [können]natürlich im nächsten
Jahr nicht sonderlich viele neue Projekte anschieben...
Hier sind wir seit Jahren top.
Mißerfolge gehören auch zum Geschäft.
Wir haben einfach nichts im Stock.
Dort wird Neues ausgetüftelt und dann
auf die Schiene geschoben.
Denken Sie an den Grand Prix, die
gelungene Wiederbelebung einer Leiche, die heute wieder fröhlich rumspringt.
Sicher, der Quiz-Trend wurde verpennt.
Und der Fundus an Leuten, die unfallfrei
eine große Show-Treppe heruntersteigen können, ist begrenzt..
Von Volksmusik haben wir lange sehr gut
gelebt.
Irgendwann landet jeder bei uns.
Alle prügeln uns da rein, und ich lasse
mich widerstrebend hinterherziehen...
...obwohl dann 90 Minuten lang Fleisch
gewordene Litfaßsäulen an der Bandenwerbung vorbeirennen.
Hier im NDR analysieren wir zur Zeit
sehr genau, wo wir eventuell über die Hecke gefressen haben.
(Der Intendant des NDR
Jobst Plog im "Spiegel" 1/2003. S. 150 f)
Uns' Heike
Manchmal gucken wir im Fernsehen, wie
ein nettes Mädchen so tut, als führe sie mit dem Fahrrad durch
Norddeutschland und treffe dort auf nette Ökobauern und dergleichen. In
Wahrheit ist natürlich alles vorher arrangiert und uns' Heike fährt gerade die
zwanzig Meter mit dem Rad, die eine Kameraeinstellung braucht. Aber was
soll's , sagt der gewohnte Zuschauer, es bleibt doch hübsch, wie sie das
machen und wie uns' Heike so tut, als mache sie es auch. Recht hat er
natürlich. Die Frage bleibt nur, warum uns' Heike sich zur Attrappe machen
läßt. Sie würde, danach befragt, sagen, sie sei Journalistin und bei näherer
Erkundigung, sie habe schon auf der Schule so gut schreiben und reden können
und da sei sie schließlich geworden, was sie geworden sei; auch betrachte sie
diese Sendung als große Chance, weiter Karriere zu machen. Was könnte sie
damit meinen? Was sie jetzt tut, ist freundlich sein und den Zuschauern
sagen, sie wolle z.B. nach Otternstedt zu einer Dame, die Ziegen züchte. Und
dann sehen wir sie dort wieder, und sie ist freundlich und fragt und sagt
Sachen, die ihre vollkommene Ahnungslosigkeit bestätigen, obwohl sie
natürlich vorher schon dort gewesen ist. Auch fragt sie immer, ob sie helfen
dürfe. Dazu zieht sie sich eine Schürze an oder setzt sich ein Häubchen auf
und dann ‚hilft' sie für eine halbe Minute auf ungeschickte Art, so daß die
Ökobauern froh sind, wenn sie wieder, ohne allzuviel kaputt gemacht zu haben,
aufhört zu helfen. Das ist natürlich alles von vollkommener Harmlosigkeit,
und angesichts von Krieg und Terror wird man fragen, ob es sich lohne, dazu
ein Wort zu sagen., Es lohnt sich insofern, als man daran aufs rascheste den
Charakter des Fernseh-Journalismus studieren kann. Das arme Mädchen, das
etwas Vernünftiges hätte lernen können, läßt sich in eine sogenannte
Redaktion einfügen, in der sie, weil sie nett ist, den Anschein erwecken
darf, sie mache eine kleine Reise, sei über die Gepflogenheiten der Leute,
die sie besuche, aufs beste informiert und gebe ihre Kenntnisse nun weiter. In
Wahrheit weiß sie nichts und kann sie nichts und wird sie nie etwas lernen.
Sie kann nur ein bißchen plappern, was wahrscheinlich noch auf Anweisung
erfolgt. Was sie plappert, hat immer die gleiche Qualität. So fragt sie in
einer Landkäserei, wie man Landkäse mache. Oder sie fragt bei der
Ziegenzüchterin nach den Ziegen, aber bei der läßt sie sich dann durch die
netten Ziegen ablenken, und schon kriegt sie und kriegen wir die Antwort der
Ziegenzüchterin gar nicht mit. Der Regisseur wird sagen, darauf komme es gar
nicht an, Hauptsache sei, daß die Zuschauer sich über die Landschaft, die
Tiere, die Bauernhöfe etc freuten und daß uns' freundliche Heike zu dieser
Freude beitrage. So weiß man nun darüber Bescheid, wie Fernsehen gemacht
wird. Es ist sicher nicht so schlimm, daß die Zuschauer auf liebenswürdige
Weise blöd gemacht werden, aber daß Leute wie uns' Heike nicht mehr etwas
Sinnvolles lernen wollen, sondern wahrscheinlich sehr stolz darauf sind, im
Fernsehen fragen zu dürfen, wie denn der Käse gemacht werde, das ist schon
schlimmer.
(nach
oben)
VOM (EINSTIGEN) LEBEN
1945
Anfang Februar wird ebenso festgehalten,
daß es "wunderbar warm" wie, daß "die Lage an der Ostfront
nicht so besonders" sei, "die Sowjets" aber auch nicht "vordringen
konnten" und daß "im Westen kleinere Einbrüche beseitigt"
wurden.
In der Schule wird nur noch einmal die Woche unterrichtet, und zwar in fünf
Stunden zu 30 Minuten.
Nach Mannheim zu den Verwandten zu fahren ist schon ziemlich schwierig. Wenn
es gelingt, gibt es dort bspw. keinen Strom und statt der Straßenbahn, deren
Oberleitung defekt ist, wird ein Bus in den Vorort, in den ich fahren muß,
eingesetzt.
Ich gehe in den Konfirmandenunterricht, lese z.B. "Kleine
Weltlaterne" von Peter Bamm, schreibe an Kinderfreunde und habe manchmal
Heimweh. Schon mit zwölf Jahren hatte ich einen sogenannten Kleinstaat
gegründet, den ich auch in H. weiter durchspiele mit Regierung, Gesetzen und
Bekanntmachungen.
Im Stift sind nur noch wenige. Mit einem Gleichaltrigen unterhalte ich mich
"über die Zeit vor dem Krieg".
Die Fliegeralarme häufen sich nun: mehrmals in der Nacht und am Tage. Mitte
Februar wird ein Großangriff im Westen verzeichnet.
Aus der Stadtbücherei werden Bücher entliehen, zur gleichen Zeit "Plisch
und Plum" von Wilhelm Busch und "Brand an der Wolga" von W.
Boje, in dem "die Leiden der Wolgadeutschen" dargestellt werden.
"Hoffentlich bleiben wir davon verschont."
Von zu Hause kommen, sehr verspätet, zum Geburtstag noch Päckchen mit einem
Pullover, Handschuhen und Plätzchen.
Anfang März hört man, daß die Amerikaner Krefeld besetzt haben, dann Homberg,
das D. gegenüber liegt. Die Schulen werden in H. endgültig geschlossen. Ich
lese u.a. von Henry Ford: "Mein Leben und Werk" und auch "Der
Befehl des Gewissens" von H. Zöberlein, einen Nazi-Roman. Die
Lebensmittelrationen werden verringert. Meine Schwester, die mit ihrer
einjährigen Tochter von Frankfurt/Oder nach Thüringen geflüchtet ist, bittet
in einem Brief um Gemüse für das Kind.
Mitte März wird in H. die Bachsche Johannes-Passion aufgeführt. Ich fahre
noch einmal nach Mannheim, aber wenige Tage später kommen Tante und
Großmutter nach H. und werden in einer Wohnung untergebracht. Ich muß in den
Tagen darauf in Mannheim noch Sachen aus dem Haus der Tante holen.
Tieffliegerangriffe setzen uns zu. Am 26. März beginnt die Beschießung von
Mannheim, die man auch in H. hört. Die Amerikaner sind bereits in einem
Vorort von Mannheim. Ich bekomme noch eine Karte von meinen Eltern. In H.
wird die Neuenheimer Brücke, die damals Hindenburgbrücke hieß, gesprengt:
"Ich finde, daß es Unsinn ist. Wie lange wird es noch dauern?"
Wir kaufen im "Kolonialwarengeschäft" in Handschuhsheim noch rasch
für das Stift ein, was zu haben ist. Einen Tage später, am 30. März,
Karfreitag, ziehen die Amerikaner in H. ein. "An der Johanniskirche ist
ein Geschütz aufgebaut. Das schießt andauernd mörderisch." "Die
Amerikaner requirieren nun auch schon Wohnungen." Man schläft noch im
Keller.
Ostern geht man bereits wieder in die Kirche. Das Stift muß nicht geräumt
werden.
Ich notiere Anfang April: "Der Führer soll in Japan sein, Goebbels soll
sich erschossen haben etc. Quatsch."
Ich suche sehr nach einem Friseur. Neue Lebensmittelrationen werden
bekanntgegeben. Im Stift bekommen wir täglich wieder vier Schnitten Brot.
Mitte April laufen Tante und Großmutter mit einem Leiterwägelchen zurück nach
Mannheim. Ich begleite sie bis Ladenburg.
Aus einer privaten Leihbücherei besorge ich mir "Satan und
Ischariot" I von Karl May.
Generalfeldmarschall Model habe Selbstmord begangen, wird eingetragen.
Und am 20. April, Hitlers Geburtstag: Goebbels habe "nur Phrasen"
gedroschen. "Länger als drei Wochen kann nach meiner Ansicht der Krieg
nicht mehr dauern." In Berlin seien schwere Kämpfe. Ich fahre mit dem Rad
nach Mannheim.
Anfang Mai können wir kein Radio hören und also auch keine Nachrichten.
Das wird bedauert. Schon am 5. Mai heißt es, der Krieg sei aus. Das tägliche
Leben sei eintönig. Die Verdunklung in H. wird aufgehoben. Es ist schon im
Mai sehr warm.
Es gibt viel Spargel , und auch die "sonstige Verpflegung" ist,
heißt es, "verhältnismäßig gut".
Die Stadtbücherei hat seit Mitte Mai wieder geöffnet. Ich lese u.a.
"München" von Müller-Partenkirchen.
Nun werden die Lebensmittelrationen wieder gekürzt. Es findet wieder eine
Fronleichnamsprozession statt "mit großem Pomp und zahlreicher
Beteiligung".
Unser früherer Schuldirektor fragt im Stift, ob wir Landarbeit auf einem Hof
machen wollen. Dafür gibt es große Schnitten Brot. Wir besorgen im Odenwald
Heidelbeeren und Erbsen.
Schirach und Ribbentrop seien gefangen genommen worden.
Mitte Juni bringt mir "ein Herr", es war wohl jemand aus der
weiteren Nachbarschaft, einen Brief von den Eltern. Nun will ich rasch nach
Hause, und "Frau Pfarrer", die anstelle ihres Mannes das Stift
leitet, versucht, mir eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen. Um fahren zu
können brauche ich von den Amerikanern einen Passierschein, den ich in
Mannheim nach langem Warten bekomme. Als es nach fast einem Monat immer noch
nicht mit einem Auto klappt, mache ich mich allein auf den Weg. Ich fahre mit
Kohlenzügen und komme schließlich nach Köln. Dort sitze ich auf meinem
Köfferchen vor dem beschädigten Dom, bis ich Richtung D. weiterfahren kann.
Verdreckt komme ich an unserer Wohnung an.
Über die folgenden zwei Monate weiß ich nichts mehr. Mitte September fange
ich an, ausführlichere Notizen zu machen.
Zu dieser Zeit muß ich zum Arbeitsamt, um eine Arbeitskarte zu bekommen, die
wiederum Voraussetzung für Lebensmittelkarten ist. Eine Weile arbeite ich in
einer Eisenhandlung, bis es im Oktober zunächst Privatunterricht und kurz
darauf Schulunterricht gibt. Der findet in einem alten Volksschulgebäude
statt. Die Schüler versammelten sich im Hof,und an einem Fenster im ersten
Stock erschien der Direktor, ein alter Zentrumsmann,der sich später als der
dienstälteste Oberstudiendirektor in Nordrhein-Westfalen berühmte. Er trug
ein Mützchen und sprach Worte zur Einführung. Im Klassenraum waren nur ein
paar Scheiben eingesetzt, es war ziemlich dunkel. Als sich ein Mitschüler
darüber beschwerte, sagte der Klassenleiter: "Wißt Ihr was, Jungens, wir
haben den Krieg verloren." Man hatte zu enge Schuhe, fühlte sich
unverstanden, sah die meisten Menschen als "Skeptiker und
Zweifler", die "in eine stumpfe, alles vergessende Gleichgültigkeit
und Lethargie" verfallen seien.
Die Lebensmittelrationen werden verzeichnet: im Monat gibt es für Jugendliche
11000 gr Brot, 650 gr Fett, 400 gr Fleisch und 8000 gr Kartoffeln.
Die Engländer lassen die Bildung von Parteien zu. Im Oktober finden
Betriebsratswahlen in einer Zeche statt: 53% Kommunisten und 42 %
Sozialdemokraten. Der Postverkehr läuft wieder in allen Besatzungszonen. In
D. finden die ersten Konzerte statt. Ein Operettentheater wird eröffnet. Am
9. November beginnt der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg.
Regelmäßig werden die abendlichen Korrespondentenberichte am Radio gehört.
Die Gründung der UNO wird registriert.
Im November ist es schon sehr kalt. Im Dezember wird ein Krippenspiel in der
evangelischen Notkirche, einer größeren Wohnung, vorbereitet. Zu Weihnachten
gibt es u.a. neue Halbschuhe und am Heiligen Abend Schnittchen und
Kartoffelsalat.
Zu Sylvester kommt eine Mitteilung von der Schule, daß meine Versetzung
gefährdet sei. Am Abend werden zwei Flaschen Rotwein und "etwas
Likör" getrunken. Das Neujahrsläuten der Glocken wird erwähnt.
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