Zur Lage der Nation
Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und
zu den Medien in Deutschland
Herausgegeben von Helmut Arntzen

Nummer 4 (März/April 2003)




Inhalt: Die Gesellschaft der Gartenzwerge (mit Zitaten aus der "Dreigroschenoper" und dem "Spiegel") - VON DER POLITIK: Deutsche Friedenspolitik - Demokratie in Deutschland (und anderwärts) - Der Porzellanverkäufer und der Taxifahrer - Möllemann - Die Achtundsechziger erschöpft?- VON DER GESCHICHTE: Bürger Hitler - Zwei Bücher gegen die politische Korrektheit - VON DER GEGENWART: Die Stadt, die Sauberkeit und Häussermann - Bei nochmaliger Durchsicht - VON DER LITERATUR UND DER SPRACHE: Martin Walser, Tod eines Kritikers (mit zwei autobiographischen Notizen) - Wie die Präsidentin spricht - VON STÄDTEN UND DENKMALEN: Wiesbaden und Umgebung (im Winter) - Rühmungen -VON DEN MEDIEN: Das vollkommen Idiotische - Wichtige Nachricht - Wie ein ARD-Intendant redet, wenn er gefragt wird - Uns' Heike -VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1945

Die Gesellschaft der Gartenzwerge
(mit Zitaten aus der "Dreigroschenoper" und dem "Spiegel")

Das Mittelmäßige und das Nennenswerte
Immer war es so, heißt die zynische Devise. Und in der Tat: das Mittelmaß wußte schon immer, daß es sich in Stadt und Land formieren müsse, um sich durchzusetzen. Das gelang durchweg prächtig. Der Klüngel ist keine Kölner Erfindung, sondern die Struktur des Mittelmaßes. Aber allein damit wäre nichts geschehen in der Welt außer den Hahnenkämpfen zwischen zwei oder mehreren Mittelmäßigen. Alles Nennenswerte haben wir natürlich der kleinen Schar der Talente, der noch kleineren der Genies zu verdanken, die durchweg behindert wurden, aber sich oft auch behaupteten. Auch gab es immer so etwas wie eine soziale Porosität, die in feudalen Zeiten von den Herrschenden selbst oder auch vom widerwilligen Respekt des bürgerlichen Mittelmaßes geschaffen wurde. Die Mediceer sind Symbol der ersten, die Vorderen der niederländischen Generalstaaten das der zweiten Variante.

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Die Frühgeschichte der Herrschaft des Mittelmaßes in Deutschland
Aber wohl noch nie in der neueren deutschen Geschichte deckt das Mittelmaß, nein das untere Mittelmaß, also die Formation der Gartenzwerge alles zu, was auch nur den Hauch des Reflektierten und des Kreativen, der Sprache also hat. Das erste ist durch Geschwätz, das zweite durch Scharlatanerie ersetzt. Doch es ist vor allem die Undurchlässigkeit der Gartenzwergformation, die sich so verheerend im öffentlichen Leben ausgewirkt hat.
Natürlich bedurfte es dafür einer längeren Vorbereitungszeit, denn eine derartige strukturelle Veränderung ist nicht plötzlich da. Der Beginn ist im Nazismus zu sehen, der nicht nur den Großteil der Nennenswerten außer Landes trieb, der vielmehr einen Kult der Mittelmäßigkeit etablierte, obwohl er gern von Eliten redete. Aber Eliten waren für ihn nicht die Denker und Gestalter, sondern diejenigen, die besonders laut waren, zackig auftraten, das auffällig vortrugen, was erwartet wurde, kurz die Mittelmäßigen als sich massiv gerierende Exponenten. Deren Voraussetzung war, daß ein völlig Unauffälliger und wahrhaft Nichtssagender durch das Arrangement und den Vortrag von Platituden, die als ‚Philosophie' des Mittelmaßes galten, einen ungeheuren Erfolg hatte. Nie zuvor hatte sich das Mittelmaß so hemmungslos selbst gefeiert. Und genau diese auf Herrschaft ausgerichtete Aktivierung des Mittelmaßes setzte sich nach dem Krieg fort. Dem alten, noch aus Zeiten vor dessen vollkommener Durchsetzung stammenden Adenauer war klar, daß ihm keine anderen zur Verfügung standen als die nazistisch produzierten und durchtränkten Mittelmäßigen, die nun von den Feldern des Nationalismus und des unmittelbar Totalitären abzulenken waren auf die der Wirtschaft und einer Politik der Anpassung. Die alten Vorzüge des Mittelmaßes, nämlich Produktionsfleiß und Unauffälligkeit, wurden nun auch für die sogenannten Führungspersönlichkeiten allein bestimmend. Die Wirtschaftsleute der Nachkriegszeit waren ja nicht mehr die Abkömmlinge der Rathenaus einerseits und der Stinnes' andererseits, sondern unscheinbare Leute, die früher immer im zweiten Glied geblieben wären und die nun, alle primi inter pares, die Machtclaims absteckten, in der privaten Wirtschaft durchweg Manager im Auftrag von Anonymi oder übriggebliebenen großen Familien. In der Politik waren es Funktionäre, eingebunden in die jeweiligen Machtapparate, alle mit gestanzter Rede sich artikulierend.
Nach der vorübergehenden Erschütterung dieser sich herausbildenden Mittelmaßstruktur durch die Achtundsechziger, die aber dank der eigenen spezifischen Mittelmäßigkeit des sich Gehenlassens Folgen nur in der Verlumpung des Erscheinungsbildes der Republik hatte, wurde durch die Ära Kohl diese Struktur noch einmal in der Frühform etabliert. Alles hatte nun die graue Farbe des Nichtssagenden oder allenfalls die schreiende der Scharlatanerie. Dazwischen fuhr die deutsche Einheit, durch die aber nicht die paar tausend Widerständigen im Osten nach oben kamen, sondern wieder die zum Mittelmaß gehörenden Denunzianten und die ewigen Parteifunktionäre, die ja keineswegs anders waren als die westlichen Gartenzwerge, diesen nur darum spinnefeind , weil sie bei den Hahnenkämpfen schlechter abschnitten als jene. Denn selbstverständlich tritt neben die Undurchlässigkeit des klüngelhaften Mittelmaßes nach außen die Machtauseinandersetzung im Inneren. Die wird nicht entschieden durch irgendwelche, wenn auch problematische Kompetenzen der einzelnen, sondern allein durch eine potenzierte Klüngelei, also dadurch, sich selbst als ‚mehr dazugehörig' darstellen zu können.. Hier war der westliche Klüngel natürlich dem östlichen gegenüber ‚fähiger' und darum alsbald übermächtig. Mit der rot-grünen Regierung hat sich das Mittelmaß in seiner Gartenzwerg-Formation in allen öffentlichen Bereichen nicht etwa verloren, sondern in der Variante der Achtundsechziger konsolidiert. Die Auseinandersetzung über diese Regierung ist keine intellektuelle, sondern eine von Cliquen, bei der es allein darum geht, welcher Teil der Gesamtformation stärker verklüngelt ist. Einig sind sich beide Seiten darin, jede Regung eines eigenen Gedankens sofort zu unterdrücken. Dabei werden sie von fast allen Kräften des Landes unterstützt. Imaginär ist die These von der Verweigerung struktureller Änderungen innerhalb der herrschenden Richtung, denn auch das, was ‚strukturelle Veränderung' genannt wird, ist nichts anderes als eine etwas gewagtere Symptomenveränderung. Man kann es allerwärts merken. So werden die Beschlüsse der sogenannten Hartz-Kommission als Strukturreform ausgegeben, obwohl sie zum größten Teil nur metaphorische Kunststücke sind, die allenfalls Auskunft über den Zustand der Sprache im Lande geben. Hat man miterlebt, wie der als Nothelfer gefeierte Vorsitzende nicht einmal in schlüssiger Rede das vorzustellen vermag, für das er doch stehen soll, dann weiß man, daß die Inporosität des Mittelmaßes unter anderem dank der Ausdrucksunfähigkeit seiner Repräsentanten ins Nichts führen wird.

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Herrschaftsfiguren des Mittelmaßes
Was eingetreten ist, kann man an Personen, kann man an Zuständen allgemeiner Phänomene klarmachen. Auf den ersten Blick scheint es ja so zu sein, daß ein Mann wie Helmut Kohl in seiner Erscheinung, seinem Gebaren, seinem Reden am meisten den Typus herrschenden Mittelmaßes einschließlich der Verklüngelung repräsentierte. Aber das scheint eben nur so.
In Kohl begegnete ja noch die Frühgeschichte der Herrschaft des Mittelmaßes. Er war ein Mann, der in der Nachkriegszeit herangewachsen war, in der es ja immerhin noch gewisse Durchlässigkeiten gab, so daß z.B. in der Kultur noch einiges möglich war, was das Mittelmäßige überragte, auch noch Reste jenes bürgerlichen Respekts vor einer nicht rein ökonomischen Leistung. Zwar verstand man von Kafka und Musil nichts, hatte sich aber darauf geeinigt, sie als bedeutend anzusehen. Das galt natürlich besonders für Thomas Mann, den man zu verstehen glaubte oder gar wirklich verstand und der interessanterweise auch heute noch als Repräsentant des mehr als Mittelmäßigen honoriert wird, wobei es allerdings nicht so sehr um die Bücher als vielmehr um die Vita geht, mittels derer sich der Respekt des Mittelmaßes inzwischen freilich in das einverständige "Auch nicht besser" verwandelte.
Dies deutet bereits auf den Punkt, an dem das System der Gartenzwerge durch Personen sichtbar gemacht werden kann. Kohl als Repräsentant der Vorgeschichte wurde abgelöst durch die Herren Schröder und Fischer, die viel mehr als Kohl identitätsstiftende Figuren der impenetrablen Herrschaft des Mittelmaßes sind, wobei beide allein für diese Herrschaft stehen. Mit ihren Parteien haben sie nur soweit zu tun, als die ihnen die Möglichkeit zu dieser Herrschaft geben. Seltsames und bisher Unvorstellbares geschieht. Ein Mann, der seine Karriere als Porzellanverkäufer begann, und ein anderer, der nie einen Berufsabschluß gemacht hat, waren längere Zeit die beliebtesten und angesehensten Politiker der deutschen Gegenwart, ja der zweite ist es immer noch. Und sie sind die höchstrangigen. Der eine wurde letzthin von einer Mitbürgerin ein Charmeur genannt, was ja mehr auf die kleinstädtische Friseurebene denn auf die Einschätzung eines Politikers deutet. Aber verrät sich nicht in dieser Bezeichnung die Anerkennung für einen Mann, der, von unten kommend, Anzüge tragen und Zigarren rauchen kann, der redet wie ein eloquenter Schützenkönig und sich politisch so verhält, wie man sich selbst verhalten würde?. Schröder ist die Mittelmäßigkeit mit dem Anspruch auf Alleingültigkeit , wie sie auch in Helmut Kohl noch nicht begegnet war. Er hat die Aura, nicht nur Generalist wie Kohl, sondern Alleskönner zu sein, nicht als Universalgenie, sondern als der Mann vom Dorf, der in allen Vereinen den Ton angibt, überall mitklüngelt, aber als der größte gilt, weil er eine etwas geläufigere Suada hat als die schwerfälligen anderen. Daß er der Generation der Achtundsechziger angehört, bedeutet nicht so sehr, daß er deren angeblich politischen Zielen nahestand, als vielmehr, daß er von und mit jenen gelernt hat, sich in den Hahnenkämpfen des (neuen) Mittelmaßes durchzusetzen, was sowohl die Kumpelhaftigkeit von Rede und Verhalten wie auch die ausgestellte ‚Fähigkeit' zur Voraussetzung hat, sich wie einer von den Großen kleiden und gerieren zu können. Er repräsentiert eine Variante des herrschenden Mittelmaßes, nämlich ‚einer von uns' zu sein, aber immer auch zu beweisen, daß er es leicht mit allen anderen aufnehmen könne, wobei das Zertrümmern von diplomatischem Porzellan nicht als dilettantisches Ungeschick, sondern als klare Linie gilt, die der Mittelmäßige aber in Wahrheit nie hat.

"MAC... Habt ihr denn keine Ahnung von Stil? Man muß doch Chippendale von Louis Quatorze unterscheiden können.

MAC haut einem die Schüssel aus der Hand: Ich wollte eigentlich noch nicht mit dem Essen anfangen. Ich hätte es lieber gesehen, wenn es bei euch nicht gleich "ran an den Tisch und rein in die Freßkübel" geheißen hätte, sondern erst etwas Stimmungsvolles vorgegangen wäre.
...Ich verlange ja keine Oper hier. Aber irgendetwas, was nicht bloß in Fressen und Zotenreißen besteht, hättet ihr schließlich auch vorbereiten können.
... So, und mit dem Messer, nicht wahr, da ißt du die Forelle. Jakob, das ist unerhört, hast du so was schon gesehen, Polly? Ißt den Fisch mit dem Messer. Das ist doch einfach eine Sau, der so was macht..."

"Vor kurzem ist Heidemarie Wieczorek-Zeul 60 Jahre alt geworden. Gerhard Schröder schenkte ihr im Kabinett einen Strauß mit rosa Rosen. Und sagte zu ihr: ‚Na, Heidi, hättste auch nich gedacht, wa?"

Sein Blutsbruder Fischer, inzwischen viel beliebter als er, was aber nur damit zu tun hat, daß man ihn für erfolgreicher hält als jenen, kommt nicht von ganz unten, aber von ganz außen. Aber eben aus dem ‚Außen', von dem her man vom rabaukenhaften Anfang an nur daran interessiert war, hineinzukommen, mitzuklüngeln.

"‚Otto,kneif mich, ich glaub es nicht', raunte Joschka Fischer , als er am 27. Oktober 1998 vereidigt wurde."

"...Fischer sah das Flugzeug, mit dem er von jetzt an in die Welt fliegen würde, und sagte: ‚Das ist jetzt alles meins.'"

"[Fischer] stellt sich neben Schily und sagt: ‚Das ist mein Stuhl.'"

Gleichzeitig ist er der Typus, der zeigt, daß man beruflich nichts können, nichts gelernt haben muß, um gewaltig und anerkannt mitzureden. Man braucht sich eigentlich nur anders zu verkleiden, was am raschesten im aktuellen Polit-Jargon gelingt. Während der Revolutionsjahre kehrte man den Sponti hervor, nun trägt man Zwirn, wenn man nicht gerade vorübergehend in eine Umgebung zurücktaucht, die anderes erwartet. Vor allem wird er verstanden als einer von den vielen, die nach ihren wilden und auf Kosten anderer vertanen Jahren nun zeigen, daß es gar nicht schwer ist, nach oben zu kommen und sich dort zu halten. "Außen Minister, innen grün", hieß ein von den Grünen geschätztes Wahlplakat, das eine eigentümliche Dialektik enthielt. Das Ministersein ist nur etwas Äußerliches, ein Job, das wahre Wesen ist das Grüne. Aber das hinwiederum ist längst nichts Eindeutiges mehr, sondern nur das Markenzeichen für etwas Unbestimmtes, unter dem sich die Achtundsechziger und ihre Nachfolger in bunter Mischung, aber in klarem Mittelmaß versammeln können.

"MAC Meine Direktive lautet: Blutvergießen ist zu vermeiden. Mir wird wieder ganz schlecht, wenn ich daran denke. Ihr werdet nie Geschäftsleute werden! Kannibalen, aber keine Geschäftsleute."

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Wie das herrschende Mittelmaß auftritt
Wenn von der Annäherung an die ‚Großen' gesprochen wurde, so hat das nichts mehr mit sozialem Aufstieg zu tun. Das System der Mittelmäßigkeit setzt voraus, daß es dort, wo der homo novus ankommt, eben gerade nicht anders ist als dort, woher er stammt. Der einzige Unterschied ist wirklich nur einer der Kostümierung. Während die "Menschen", wie sie die Untengebliebenen, aber Tonangebenden nennen, sich allenthalben in die Lagerkleidung hüllen, die die Textilindustrie Freizeitlook heißt, evozieren die oben Angekommenen den Eindruck einer homogenen Gruppe, die sich der Kleidung früherer Führungsschichten bedient, jedenfalls den Anschein erweckt, als täte sie es. Werden Fräcke eigentlich nur noch von Orchestermusikern und Raubtierdompteuren getragen, so greifen die, die sich gern als ‚Gesellschaft' abbilden lassen, zum sogenannten Smoking, der sich aber bis hin zu Josefs buntem Rock von Fall zu Fall verändert. Die Damen, wenn man davon sprechen darf oder soll, wollen sich gar nicht mehr auf vergangene Epochen beziehen, sondern sind der Kleidungssynthese von Teurem und Ordinärem vor allem verpflichtet, so daß jenes Hui und Pfui entsteht, in dem sich der Glanz von Königskindern mit dem Aufputz derer verbindet, die man einmal "Halbseidene" nannte.

"PEACHUM ... Heiraten, das ist überhaupt so eine Schweinerei. Ich will ihr das Heiraten schon austreiben."

Aber das Wichtigere für unser Thema ist, daß sie nun nicht mehr jene Konversation machen, die einstmals das Mittelmaß bändigte und die verstummte, sobald ein respektierlicher Geist einen nennenswerten Satz zu sagen hatte, sondern daß nun unter Gekreisch irgendwelche Unappetitlichkeiten, die früher aus der Konversation ausgeschlossen blieben, ausgebreitet oder der elementare Klatsch als Vitalbezeugung behauptet wird. Das Ganze heißt Party und wird in Blättern ausgestellt.

"PEACHUM
Anstatt daß
Sie was täten, was `nen Sinn hat und `nen Zweck
Machen sie Spaß!
Und verrecken dann natürlich glatt im Dreck."

Das Mittelmaß, das dies geschehen läßt, wird zur Unterscheidung von dem Mittelmaß, das jene "die Menschen", auch "die Menschen draußen" nennen, von ihm selbst als Prominenz bezeichnet, was ‚das Hervorragende', aber im Sinne des ‚sich Erstreckenden' meint, so daß also jemand, je länger er, auch um so prominenter ist.
Bei solchen Gelegenheiten formiert sich, was gerade, insofern es das Mittelmäßige hinter sich gelassen glaubt, es drastisch ausstellt. Sie sind von dem größten Teil der anderen, die nicht dabei sind, ausschließlich durch die Höhe des Bankkontos oder durch politische, wirtschaftliche oder kulturelle Positionen unterschieden.

"FILCH...Unsereiner - wie soll der auf Ideen kommen, und ohne Bildung, wie soll da das Geschäft florieren?"

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Das Mittelmaß in der Wirtschaft
Während vor Jahrzehnten den sogenannten Führungskräften immerhin nachgesagt wurde, sie seien äußerst fähig, ob es nun die Führung eines Unternehmens, eines Tennisschlägers, eines Landes, eines wissenschaftlichen Apparats betraf, wobei das Universale dieser Gestalten schon bedauernd bestritten, aber das Fachmannhafte unterstrichen wurde und als ganz unbezweifelt galt, so ist nun gerade der Rang des Fachmännischen geschwunden und wird die Mittelmäßigkeit nur noch in der plattesten Geld- und Machtgier überschritten. Die deutliche Wirtschaftskrise offenbart, daß trotz zweier Jahrhunderte empirischer Wirtschaftswissenschaften und obwohl das Problem nicht eines ist , das intellektuell für so schwierig zu gelten hat, daß es gar nicht oder kaum durchschaubar wäre, die ökonomischen Fachleute nicht in der Lage sind, die Krise zu steuern,sondern sie nicht allein durch Verantwortungsmangel, der ja wohl für diesen Bereich gar nicht mehr als verwerflich gilt, sondern vor allem durch eine intellektuelle Armseligkeit, die ausschließlich durch Gier kompensiert werden soll, herstellen und weitertreiben.
Kurz, es hat sich herausgestellt, daß die gesamte Garde der Chefmanager zu nichts anderem in der Lage war, als für sich selbst zu sorgen. Der Augenblick, in dem sie einzig gefordert wurden(da man sie in florierenden Zeiten nicht braucht), traf ein dummes Geschlecht, das in Interviews mit hilflosen Sätzen, die seine Inkompetenz noch stärker ausstellten, glauben machen wollte, seine Repräsentanten hätten alles richtig gemacht, aber der Markt, der alles richtet, habe es diesmal nicht erkannt. Hätten sie sich vor einem Jahrhundert noch wegen ihrer Nichtswürdigkeit eine Kugel in den Kopf geschossen, so haben sie jetzt alle Hände voll zu tun, aus dem Ruin und den Ruinen das beiseite zu schaffen, was als Ausweis ihrer Leistungsfähigkeit gilt.

"MAC...Meine Polly, meine Herren! Sie sehen heute in ihrer Mitte einen Mann, den der unerforschliche Ratschlag des Königs hoch über seine Mitmenschen gesetzt hat und der doch mein Freund geblieben ist in allen Stürmen und Fährnissen und so weiter...
...und selten hat, nimm das Messer aus dem Maul, Jakob, er, der allmächtige Polizeichef, eine Razzia veranstaltet, ohne vorher mir , seinem Jugendfreund, einen kleinen Fingerzeig zukommen zu lassen, na, und so weiter, das beruht schließlich auf Gegenseitigkeit. Könnt ihr was lernen.
...Du, Jackie, weißt du, mein Schwiegervater ist ein ekelhaftes altes Roß. Wenn er da irgendeinen Stunk gegen mich zu machen versucht, liegt da in Scotland Yard etwas gegen mich vor?
BROWN In Scotland Yard liegt nicht das geringste gegen dich vor.
MAC Selbstverständlich.
BROWN Das habe ich doch alles erledigt."

Es ist der unvergleichliche Fall eingetreten, daß Leute zunächst trotz ihrer, aber dann für ihre Unfähigkeit bezahlt werden, insofern sich diese ja inzwischen unübersehbar herausgestellt hat. Die nationale Wirtschaft nicht nur, sondern die Weltwirtschaft ist in den Händen von Mittelmäßigen, deren fachliche Ignoranz ihrer geistigen Ignoranz auf dem Fuße gefolgt ist. Sie zeigt sich inzwischen bei den Honorabelsten, den Bankern, dann bei den großen Vorsitzenden, bei den Vorstandsmitgliedern, den Direktoren, natürlich auch bei den Mitgliedern der Aufsichtsgremien. Man schaue sich nur den jahrzehntelang andauernden Zustand so großer, inzwischen privatwirtschaftlich geführter Systeme wie der Deutschen Bahn und der Deutschen Telekom an. Die erste war als Reichsbahn berühmt für ihre Pünktlichkeit, Sauberkeit, Zuverlässigkeit. Sie ist nach dem Krieg mehr und mehr kümmerlich geworden, in jeder Hinsicht untermittelmäßig, weil sie, sagte man, in öffentlicher Verwaltung war, was ja bis in den Krieg hinein gerade ihre Leistungsfähigkeit garantiert hat. Wie immer: durch die Privatisierung hat sich nichts gebessert. Die Unpünktlichkeit scheint unausrottbar, immer wieder gibt es schwere Unglücke, die Attraktivität der Züge hat allenfalls in den obersten Rängen zugenommen. Die Bahngewaltigen sind überdies nicht in der Lage, vernünftige Tarife vorzulegen. Alles verharrt auf dem Stande unfähiger Subalternfiguren, und der Chef, als Tatkraft geholt, fällt nur durch unverschämtes Schwadronieren auf. Und genauso ist es bei der Telekom, deren Großmannssucht sie finanziell in Schwierigkeiten brachte, die aber nicht in der Lage ist, z.B. klare und nachprüfbare Kundenrechnungen zu schreiben.
Da aber niemand mehr in dem ganzen ökonomischen Bereich die inkompetente Mittelmäßigkeit als schuldig am Zustand des Wirtschaftssystems mit einem Verdikt belegt , da an die Stelle des Dummen nur der Dummere tritt, weiß man, daß zwar nicht durch das Handeln jener, sondern allenfalls durch das Schütteln des Marktes zufällig einmal eine neue Hausse zustande kommen könnte. So viel Mittelmaß war nie, also wird es niemanden geben, der die Wirtschaft aus der Misere herausführt.

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In der Politik
Und auch nicht aus der Misere anderer Bereiche. Deutschland ist die Führungsnation in politischer Mittelmäßigkeit, die man in der Bundesregierung als Union erfahren kann. Denn was sich unter der Regentschaft jener beiden Zaunkönige begibt, ist, von dem listigen Schily abgesehen, von Haus aus mittelmäßig . Hausmeistertypen, dialektale Hausfrauen, intrigante Gastwirte, verhuschte Lehrerinnen, machtlüsterne Predigerinnen und was der Markt der Mittelmäßigkeiten sonst noch präsentiert - das ist hierzulande insgesamt zwar ein Verfassungsorgan, aber in Wahrheit etwas, das jede Hoffnung fahren läßt. Sie machen eine Zeitlang gar nichts, dann wieder Hektisches, sie lesen Selbstrühmungen vom Blatt und sind zu Argumentationen unfähig. Sie legen sich die Frage, wohin es mit dem Lande gehen soll, darum nicht vor, weil sie es nicht können und also erst recht nicht zu plausiblen Antworten im Stande sind. Sie verhalten sich so, wie sich der Mittelmäßige im Alltag verhält: planlos, aber schematisch. Da sie nicht wissen, was vorgestern war, können sie nicht wissen, was morgen sein soll. Sie lösen kein Problem, sie haben kein Konzept. Das Land wird von einem Dilettantenclub regiert, der sich in einem Jargon aus Floskeln und flotten Sprüchen äußert.

"Unter Schröder lernte Trittin, daß man Programme opfern muß, um nach oben zu kommen und oben zu bleiben."

Auf der sogenannten Länderebene ist es natürlich um kein Gran anders. Biedere Subalternbeamte figurieren als Ministerpräsidenten, manchmal auch dicke Menschen, die schnell reden können. Und eben dies ist ja das einzige, was sie können: sie sind medientauglich. Als Minister werden Leute eingesetzt, deren einzige Qualifikation ist, daß sie schon versagt haben oder daß sie sich primär um ihre Nebeneinnahmen kümmern.

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In der Kultur
Aber die Kultur? Da sind schon mit den siebziger Jahren Theaterleiter und Schauspieler über uns gekommen, denen dann dreißig Jahre lang nichts anderes eingefallen ist, als schlecht zu sprechen, dafür aber nackt aufzutreten, was eine neue Generation von Zuschauern inzwischen großartig findet. Opern werden realistisch und gesellschaftskritisch verhunzt, große Dramen zu Material degradiert, mit dem man nach Belieben das machen kann, was einem nicht eingefallen ist. Was vom Text einzig lebt, wird, da niemand mehr sprechen kann, zu Leiberaktionen gemodelt, die beliebig sind, aber für ein Wochenende auffallen. Die Bildenden Künste werden von galeriegeförderten Scharlatanen beherrscht, deren Rang allein durch den Preis bestimmt wird, da ja zu dem, was sie produzieren, außer dem Geseire, das sich Kunstkritik nennt, nichts gesagt wird, nichts gesagt werden kann. Welcher Gartenzwerg die verbindlichen Phrasen vortragen darf, wird im Klüngel festgesetzt. Seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und seit einigen Zeitläuften des späten 19. haben wir eine solch uneingeschränkte Vorherrschaft des Mittelmaßes in der Literatur nicht mehr gehabt. Nachdem die letzten Repräsentanten der zwanziger Jahre: Thomas Mann, Döblin, Benn, Brecht abgetreten waren, also seit der Mitte der fünfziger Jahre, ist das Mittelmaß bestimmend geworden, von den beiden Nobelpreisträgern angeführt, von denen Böll ein menschlich sehr sympathischer Mann, Grass ein kauziger politischer Ignorant war. Aber beide sind, von ganz wenigen Texten abgesehen, schriftstellerisch vollständiges Mittelmaß, der lange gerühmte Böll wird kaum noch gelesen, hat wissenschaftlich überhaupt keinen Platz mehr, der längst auf die "Blechtrommel" reduzierte Grass überschwemmt den Büchermarkt mit immer gleich nichtssagenden Produkten. Einer der ganz, ganz wenigen Nennenswerten, nämlich Ernst Meister, ist dafür in eine Esoterikecke abgedrängt worden. Und wenn man dann noch Botho Strauß nennt und für bestimmte literarische Aspekte einiges von Walter Kempowski, dann ist man bereits am Ende des Registers angelangt und hat vor sich die unübersehbare Masse des so sehr Nichtssagenden, daß es ständig durch Amerikanisches kompensiert werden muß. Ein lärmender und gestikulierender Literaturpapst, der sich durch seine Lebenserinnerungen unangreifbar gemacht hat, verfügt, was in dem Ensemble des Mittelmäßigen beachtet werden muß und unbeachtet zu bleiben hat. Die intellektuelle Kraft solcher Verfügungen liegt bei der journalistischer Leitartikel.

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Im Journalismus
Auf der Herrschaft des Mittelmaßes hat prinzipiell schon immer das System der Journalistik beruht. Von großen Journalisten zu sprechen ist eine contradictio in se, wie das Beispiel des gerade verstorbenen Rudolf Augstein zeigt. Der kam durch den Zufall des, mit Bismarck zu sprechen, verfehlten Berufs an die Spitze des "Spiegel". Und die wie immer sinnlos übertriebenen Nachrufe berücksichtigten nicht, wie vieles von dem, was er publizierte, widersprüchlich und kaum durchdacht war. Aber er war unter der Masse der schlechthinnigen Ignoranten ein Einäugiger, der mit Hilfe des Zynismus, den er für sein Wirken selbst als grundlegend sah, wenigstens die Oberfläche des Übels aufzudecken vermochte. Was die "Spiegel"-Mittelmäßigen bei Gelegenheit seines Todes an Heldenverehrung durch mehr als 60 % eines Heftes betrieben haben, raubt allerdings den Atem. In einer Mischung aus Nachruf für einen Vereinsvorsitzenden im Vereinsblättchen und einem Hindenburg-Gedenkbuch, wie ich es aus meiner Kindheit erinnere, hatte man Hinz und Kunz aufgeboten, des großen Toten zu gedenken. Dazwischen wird sich das Blatt selbst zum Idol und druckt nochmal ab, was es für historisch an sich selbst hält. Denn zum Mittelmaß gehört, sich selbst Größe zu bescheinigen.
Neben dem banausischen Mittelmaß ist eben das zynische wichtig für den Stand des Journalisten, wobei dieses freilich das Verurteilenswerte genauso trifft wie das Verteidigenswerte. Wie etwa unter der Ägide Augsteins wichtige Positionen eines konservativen Denkens ebenso wie das Platte und Dumme der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, das ist eine der Schandtaten eines zynischen Journalismus, der als Mittelmäßigkeitsrepräsentant nicht drei Schritte weit zu denken vermag, aber seine ironischen Floskeln immer präsent hat.

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In der Wissenschaft
Die großartigen Leistungen der deutschen Wissenschaft von der Medizin, den Naturwissenschaften an über Jura zu den Geisteswissenschaften, zur Theologie und der Philosophie sind längst zum Kärrnergeschäft mutiert. Es lohnt sich offenbar nur noch in ganz seltenen Fällen, einem deutschen Naturwissenschaftler einen Nobelpreis zu verleihen. Schwindeleien kommen vor, wenn sie auch nicht der Standard sind. Aber der ist offenbar von der Biederkeit der zweiten Reihe bestimmt. Wir haben sehr emsige, aber keine bedeutenden Historiker. Wir haben Literaturwissenschaftler, die nur noch imitatorisch tätig sind: Foucault, Derrida, Lacan und Konsorten wird nachgebetet. Zu eigenem sind sie nicht mehr fähig. Von den Theologen hört man vor allem Soziales, aber nicht einen Hauch von Spirituellem. Und an die Philosophen-Stelle von Heidegger, Adorno, Gadamer, Liebrucks ist Herr Sloeterdijk getreten, was der Kommentierung nicht bedarf. Aber des Erbarmens bedarf es für die Art, wie sie fast alle reden.
Ein Blick in die Universitäten genügt, um zu erkennen, daß aus diesem Elend nichts Nennenswertes hervorgehen kann. Jammervoll sind die Gebäude und die Bibliotheken, überfüllt die Seminare, äußerst durchschnittlich die meisten studentischen Leistungen.

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Im Sport
Und dann hat noch der Sport kein Wort. Er ist in diesem Zusammenhang nur wichtig, weil er das Phänomen des herrschenden Gartenzwergs besonders deutlich vorführt. Und das natürlich noch einmal gesteigert in dem bis zu Absurdität überschätzten Fußball. Der ist hier nur interessant, weil bei ihm eine Horde von lethargischen Nichtskönnern hoch bezahlt wird und immer weiter als Helden der Nation gilt. Hinzu kommt, daß diese Gilde von Schlappiers ständig ergänzt werden muß durch dunkelhäutige Vitale, die allerdings alsbald das lethargische Wesen ihrer inländischen Kumpane übernehmen. Aber längst ist der sogenannte Rasen nichts als ein symbolischer Ort, der zwischen den allein wichtigen Geschäften aufgesucht wird, damit noch eine Zuordnung zu dem Sport "Fußballspielen" erkennbar wird..

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In der Ebene
Deutschland ist ein Gartenzwerg-Staat geworden , der nun auch den Kommerz, seine stumpfsinnige Hauptbeschäftigung für Jahrzehnte, dilettantisch betreibt, der überall ins Leere greift und sich nicht einmal mehr ordentlich gesellschaftlich zu organisieren vermag. Auch das muß er bei Kleinstaaten wie der Schweiz, den Niederlanden, Schweden abgucken. "Mein Mann ist so fleißig, aber es fällt ihm nichts ein," klagte die Ehefrau eines germanistischen Großordinarius vor Jahrzehnten. Daß ihnen nichts einfällt, charakterisiert die heutigen Deutschen, aber sie sind nicht einmal mehr fleißig, obwohl das der Hauptvorteil ihres Mittelmaßes war, als es noch einen Überbau gab. Der ist verschwunden. Für den großen Rest geht es vor allem um Feste, ums Verreisen, um Geldausgeben. Sie wählen das größere von zwei Übeln, sie lassen sich jeden Schund andrehen, sie haben Arztpraxen als Kommunikationsorte entdeckt, sie lesen nicht, sie spielen kein Instrument, dafür malen sie allerdings und gehen zum Italiener. Sie malen aber vor allem, um auszustellen. Sie finden sich in ihrem Mittelmaß glänzend und lassen sich das vom regierenden Mittelmaß bestätigen. Man ist zwar verunsichert, aber immer unterwegs, man sieht mit Ernst in die Zukunft, will aber heute das nächste Weinfest aufsuchen, wo man sich knubbeln kann und dadurch glücklich wird. Man freut sich darüber, daß man keinen Respekt mehr vor irgendetwas zu haben braucht und jeden, den man sieht, duzen kann. Man muß sich nicht mehr anstrengen, sondern kann ständig ausschlafen, und fragt einzig danach, wann der Feierabend beginnt und wie lange der Urlaub ist.
Natürlich gilt das, in geschönter Weise dargestellt, Politologen und ähnlichen Meinungsdirigenten als Triumph der Demokratie. Wir brauchen nichts über dem Mittelmaß, ist ihre Behauptung, denn das Postulat nach dem Höheren habe uns in die Sackgassen und auf die Katastrophenfelder der Geschichte geführt. Dabei lassen sie völlig aus dem Auge, daß nichts in der menschlichen Geschichte, also auch nicht die unbestreitbaren Ruhmestaten der Künste und der Kultur, durch eine Art Selbstorganisation der Mehrheit hätte zustande kommen können. Auch das eigentliche Feld der Demokratie, die Politik, ist nicht kultiviert worden durch die Wahlentscheidungen der vielen, die, wie das Beispiel des Nazismus zeigt, ärgste Fehlentscheidungen sein konnten, sondern durch die ‚Vorlagen' bedeutender Köpfe, ob das die amerikanische Verfassung, Roosevelts "New Deal" oder Churchills Widerstand im Zweiten Weltkrieg waren. Je weniger hingegen das Mittelmaß provoziert wird, seine aus Disziplin, Genauigkeit, Arbeitseifer hervorgehenden Fähigkeiten zu zeigen, desto mehr läßt es eben darin sofort nach und präsentiert sich nur noch in den sich immer weiter ausbreitenden Schlampereien des Alltags, wo heute nichts mehr auch nur annähernd funktioniert.

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In der Jugend
Die schlimmsten Auswirkungen hat das bei den Jugendlichen, die nicht wieder den Reglements von Hitlerjugend und Arbeitsdienst unterworfen werden sollten, aber nun als Söhne, ja gar Enkel der Achtundsechziger, völlig ungefordert in Schule, Arbeitsplatz und Universität, in großen Teilen nur noch der permanenten Langeweile durch Aggressionen, sogenannten Spaß und Destruktionen für Augenblicke zu entkommen suchen. Ihre Äußerung ist durchweg Gelall.
Die Gesellschaft der Gartenzwerge , selbst ohne Anspruchsstachel, kann ihnen nichts abverlangen und streichelt noch aus Verlegenheit die letzte Unverschämtheit. So kommt es nicht einmal mehr zu jenem Aufbegehren gegen die Lethargien der Erwachsenen, denn im globalen Mittelmaß weiß die Jugend nicht mehr, daß es irgendetwas anderes als eben dieses gab und gibt.

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Im Volk
Das Volk selbst, dem man in Kriegsaktionen Tapferkeit nachrühmte, freilich seit langem schon Zivilcourage absprach, ist seit der Nazizeit vor allem (mit den außerordentlichen Ausnahmen eines Georg Elser und der adligen Attentäter von 1944) als feig hervorgetreten. Hat es weggeguckt, wenn Judentransporte formiert wurden, so guckt es weg, wenn es Attacken auf Ausländer, auf einzelne, auf Frauen gibt. Die zur Mittelmäßigkeit gehörende Feigheit bewährt sich, wenn das Volk sich als Friedensvolk mit Glühwein aufstellt, wobei nicht die Frage gilt, ob eine militärische Auseinandersetzung wie die mit Hitler notwendig sein könnte, sondern allein die, ob es Unannehmlichkeiten gibt. Die größten Ideale des Volkes sind, Geld zu verdienen und seine Ruh' zu haben. Alles andere ist ihm sekundär. Denn solange jenes klappt, ist es gern tolerant, demokratisch und allem Neuen aufgeschlossen. Diesem Volk ist alles egal, was heute zentral ist: Globalisierung, Fundamentalismus, Terrorismus, die Weltzerstörung, wenn und solange es ihm gut geht.

"MAC Und jetzt muß das Gefühl auf seine Rechnung kommen. Der Mensch wird ja sonst zum Berufstier."

Aber alle herrschende Mittelmäßigkeit sucht sich natürlich mit dem Volk gut zu stellen und ihm zu bescheinigen, daß es viel klüger sei, als es die Politiker annehmen. Wer das am besten kann und dadurch Wahlen entscheidet, ist unser regierender Zaunkönig.

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Und die Ursachen?
Wenn diese Beschreibung einen Geschmack von Wahrheit hat, den natürlich das gesamte Mittelmaß bestreiten und mit der Phrase von der ungeheuren Komplexität der modernen Gesellschaft beantworten wird, dann ist die Frage nach den Ursachen dringlich.
Irgendwann muß ja eine Tradition endgültig verlassen worden sein, die sich nicht primär auf soziale Hierarchien stützte, nicht sich zuerst und zuletzt an Kapitalmenge oder Funktionärstum orientierte, sondern die im Denken, Gestalten und Handeln sichtbar werdende kreative und intellektuelle Überlegenheit von einzelnen und Gruppen einzelner als Garantien der Bewahrung und der Veränderung des Tradierten wußte. Es wäre völlig unsinnig zu behaupten, das Andauern dieser Tradition sei eine Geschichte von Erfolgen gewesen. Vielmehr ist eher anzunehmen, daß die Evolution des homo sapiens sapiens das jüngste und greifbarste Beispiel dafür ist, daß sie mehr das Modell des Versagens ist, an dessen Ende das steht, was in religiöser Diktion als jüngstes Gericht benannt wird, wonach ein neuer Versuch einer Kosmosentfaltung zu denken wäre. Aber da das Schlimmere der Feind des Schlimmen ist, kann man beobachten, daß auch die Schrecken der Geschichte im 20. Jahrhundert, das im Zeichen der Demokratie wie des Mittelmaßes stand, weit überschritten worden sind. Was sind die Alexanderzüge, was die römischen und mongolischen Kriege, was Kreuzzüge und Inquisition, was die Schlachten des Feudalismus gegen die jedem Vergleich spottenden Greuel des Nazismus und des Kommunismus, gegen die globalisierte Brutalität der Kriege, der wie die Nußschale dem Meer die Redensarten der Menschenwürde kontrastiert werden? Was sich heute Ethik nennt, ist die Anpassung an die Forderung einer allenfalls sublimierten Bestialität.

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Geistverrat und Sprachverrat
Daß die sich in scheinbaren Harmlosigkeiten verbirgt, gehört zu den Undurchschautheiten des historischen Gangs. Harmlos kommt der Positivismus als ‚Erkenntnistheorie' seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts daher, die zum erstenmal in der menschlichen Geschichte Sprache und Sache, die nun Tatsache benannt wird, vollkommen voneinander trennt. Es ist die Trennung von Geist und Materie, mächtiger und wirksamer als jeder Manichäismus, es ist der Verzicht auf die Ganzheit nicht nur als Gegenwart, sondern als Postulat. Nun erst tritt sowohl das Objektive hervor, das moderne Wissenschaft und Technik ermöglicht, aber auch deren Grauenhaftigkeit, wie das Subjekt, das nicht nur Beobachter und Handhaber des Objektiven, sondern auch das in sich rettungslos Vergrabene ist und aus sich wie das Tier in Kafkas "Bau" keinen Ausweg mehr finden kann. Vor allem spaltet sich in diesem Subjekt wie in Goethes Faust der Sprecher vom Täter ab. Faust kann "das Wort so hoch unmöglich schätzen". So muß er den Anfang des Johannes-Evangeliums "anders übersetzen": "Am Anfang war die Tat", die die Tatsache hervorbringt, welche nur noch eines bedeutet, nämlich nichts. Damit ist alles dem Zugriff des Tätersubjekts ausgeliefert bis zu den SS-Chargen, während das Sprechersubjekt redet, was es lustig ist. Im "Faust" wird das Tätersubjekt zum Blinden, der sich sein eigenes Grab gräbt, das Sprechersubjekt allerdings wird in Goethescher Versöhnung von den heiligen Sprechern bis hin zur "Himmelskönigin" ‚aufgehoben', so daß "alles Vergängliche[...] nur ein Gleichnis" ist und nicht mehr die Tat getan wird, sondern das "Unbeschreibliche", also ein Modus der Sprache.

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Sprachverrat und Zeitung
In der Realgeschichte wird die allerdings seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemäß dem Positivismus zum instrumentalen Zeichensystem, zuständig nur noch für die Registrierung dessen, was schon vorhanden ist, nämlich als Tatsache. Eine so beschaffene Welt ist jeder Manipulation ausgeliefert, sie ist, von jeder Art von Sinn befreit, Spielmaterial aller. Dieses Spielmaterial wird nun von einer Sprache bezeichnet, die in der Zeitung ihre Erfüllung findet. Im System des Mittelmaßes erschwindelt die sich eine Stellung, die noch auf Vorpositivistisches zurückdeutet. Die Aufklärung lieferte ihr den Anspruch auf Pressefreiheit, der sich seinerseits in dem Anspruch auf Information begründet, will sagen darin, daß jeder die Möglichkeit habe zu wissen, was ist, und zu denken, was sein könnte (Nachricht und Meinung). Da dies aber erst wirksam wird in der Epoche des Positivismus, wird aus dem Dynamischen und Verändernden von Wissen und Denken, das alle über das Mittelmaß hinausheben sollte, nun das von allem Wissen und Denken unabhängige Datum, das wie jeder Zimmerbrand und jedes Hochwasser nur vom sprachlichen Instrument reportiert werden kann und soll. Doch begreift man alsbald, daß in dieser Reportage die Basis eines Geschäfts liegt, für das man die Menge des Mittelmaßes braucht und für das die Menge des Mittelmaßes aufgeschlossen ist, gerade weil es die Realität auf die bloße Sensation reduziert, die an Stelle der denkenden Anstrengung die genießende Untätigkeit setzt. Nun geschieht entsprechend dem Weltmodell der Zeitung nur noch das sinnlose Tatsächliche, nun wird nur noch gesprochen über dieses als das Sensationelle.
Wie die Lehre vom Tatsächlichen alles zum sprachlosen und damit sinnlosen Da macht, so macht die Zeitung dank einem nur bezeichnenden und instrumentellen Sprechen dieses bloße Da zum Anlaß von Sensationierung, die sich alsbald als Anfang des Mediengeschäfts, also des eigentlich modernen, das Mittelmaß ewig reproduzierenden erweist. Die Gefangenschaft in sinnlosen Fakten und sensationierendem Reden ist der ‚Raum' des Mittelmaßes, denn das Faktische und die Sensation kennen nur Hinnahme dort und Konsum hier. Die Fakten gruppieren sich zur sinnlosen Welt, die Sprache artikuliert sich nicht mehr in ihrer analytischen, nicht mehr in ihrer kreativen Kraft, sondern nur immer mehr als sensationierendes Gefasel, die Menschheit erfüllt sich im immer Gleichen des Mittelmaßes, das nun alle Gen-Wissenschaften in aeternum reproduzieren werden.

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Die totale Herrschaft des Mittelmaßes
"Es ist erreicht", darf man mit Wilhelm II. sagen. "Es geht", sagt der gegenwärtige Nachfolger. "Es geht weiter", räumte Karl Kraus ein. Aber er fügte hinzu: "Als es erlaubt ist".
Die totale Herrschaft des Mittelmaßes ist keine Episode, die wir hinter uns lassen werden, sondern der nicht anfechtbare Dauerzustand, dessen Unanfechtbarkeit durch Formeln wie die der politischen Korrektheit gesichert wird. Das Mittelmaß produziert ständig aufs neue seine Barbarei, die als der wünschenswerte Zustand von allen Kanzeln der Demokratie- Tempel verkündet wird.

"Der Herrgott, für dich ist er Luft?
Er zeigt dir's beim Jüngsten Gericht!"

Die Mittel der Predigten, die dort gehalten werden, sind die der Denunziation. Alles, was von den Wegen der Herrschaft des Mittelmaßes abweicht, wird zum Zurückgebliebenen, Absurden, Lächerlichen, Unmodernen , eben der Herrschaft Zuwideren erklärt. Wirksamer als in den Zeiten alter Herrschaft sind die Verdikte heute, da sie von den Medien gestützt werden, die als Gesetzgebungs- und Vollzugsorgane in einem jede auch nur vermutete Bedrohung der Mittelmaß-Herrschaft mit ihrer Inquisition und ihren Foltermethoden der öffentlichen Herabsetzung, der böswilligen Fälschung oder des modernen Totschlags als Totschweigen bestrafen. Was immer einst Bedeutung und Größe war, bringen sie auf ihr Maß, das Mittelmaß. Der harmlose Gartenzwerg tritt vor als der zerstörende Alberich.

Einige Sätze und Verse realistischer Beschreibung aus dem ersten Akt der "Dreigroschenoper".
Einige weitere Sätze dieser Art aus "Der Spiegel" 6/2003. S. 46-60.

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VON DER POLITIK

Deutsche Friedenspolitik

Deutsche Naziwissenschaftler und deutsche Firmen in der Nazizeit mit guten Kontakten zu den KZ-Lagern haben sich während des letzten Krieges und danach um die Anreicherung von Uran bemüht und darum, dadurch das Atomwaffenprogramm Saddam Husseins nach Kräften und gegen entsprechende Bezahlung zu fördern. Sie sind daran von keiner Bundesregierung gehindert worden.

Die Attentäter des 11.September haben sich in Hamburg und anderwärts mit ihren Plänen und Mordvorbereitungen über Jahre ungestört beschäftigen können. Niemand hinderte sie daran.

Die Bundesregierung und das deutsche Volk sind gegen den Krieg. Wäre, was an Morden in der chinesischen Kulturrevolution, im Kambodscha Pol Pots, in Ruanda, in den afrikanischen Bürgerkriegen, in Tschetschenien geschehen ist, in einem richtigen Krieg geschehen, die Bundesregierung wäre empört und das deutsche Volk würde sicher Demonstrationen veranstalten, die allerdings etwas kleiner wären als die gegen den drohenden Krieg im Irak.

Die Bundesregierung bekennt sich zur Freundschaft mit den Amerikanern. Als Freund spricht sie zum Freunde, daß Bush durch seine Irakpolitik von innenpolitischen Schwierigkeiten so ablenken wolle, wie das schon Hitler getan habe, und daß es natürlich dabei um Ölinteressen vor allem gehe und daß Deutschland sich auf keine Abenteuer einlasse.

Sie wird auch dann nicht an einem Krieg teilnehmen, wenn die UNO es beschließen sollte. Sie ist aber entschieden für die Autorität der UNO und des Sicherheitsrates.

Sie ist auch entschieden für die NATO, hängt sich aber an die Franzosen, die jene aus nationalem Interesse für vernachlässigenswert halten, und streitet sich über Wochen wegen einer Resolution zugunsten des NATO-Mitglieds Türkei.

Sie ist entschieden für die Erweiterung der EU, hält sich aber angesichts der Großmachtallüren Frankreichs gegenüber den neuen Mitgliedern ebenso entschieden zurück.

Die Deutschen begrüßen die Friedenspolitik ihrer Regierung. Sie demonstrieren dafür zu Hunderttausenden, obwohl sie eigentlich zum Bundesligaspiel müßten und anschließend zum Karnevalsumzug.

Demokratie in Deutschland (und anderwärts)

Wir haben in Deutschland endlich eine funktionierende Demokratie, lautet die politisch korrekte Meinung über den Staat "Bundesrepublik Deutschland". Man leitet sie ab aus dem Funktionieren der Institutionen, dem der Gewaltenteilung, dem der Wahlen, in denen der Souverän, nämlich die Wahlberechtigten des Volkes, hervortreten.
Doch fangen damit die Fragen an. "Im Namen des Volkes" werden die Urteile der rechtsprechenden Gewalt formuliert. Das Volk tritt alle paar Jahre, wie unsere Journalisten sagen, an die Urne. Die erste Formulierung ist vollständig fiktiv. Es ist lediglich eine Formel, die an die Stelle anderer Formeln tritt, etwa der "im Namen Gottes" oder "im Namen des Königs" verkündeten Urteile. Es ist in Wahrheit eine Verlegenheitsformel, deren Abstraktheit nicht zu überbieten ist. Denn es ist keine Situation denkbar, in der "das Volk" hinter einem Urteil stehen könnte. Vielmehr geht es um das Urteil eines Einzelrichters, eines Kollegiums von Richtern, die nicht Repräsentanten des Volks sind, sondern juristisch ausgebildete Personen, die entsprechende Examina bestanden haben und von der Regierung, die ja nur in einem sehr abgeleiteten Sinn das Volk repräsentiert, ernannt werden. Daneben gibt es als Schöffen und Geschworene "Volksrichter", die, wie gleichberechtigt immer, nur in einem sehr bescheidenen Sinn in der Lage sind, eigenständig an der Urteilsfindung mitzuwirken.
Die juristische Gewalt geht also nicht vom Volke aus, sondern bedarf der Voraussetzung der politischen Gewalten, also der Legislative und der Exekutive, um funktionieren zu können, und ihre Unabhängigkeit, die angeblich in der Urteilsfindung zum Ausdruck kommt, ist einerseits theoretische Abhängigkeit von jener abstrakten Größe "Volk", nämlich die Umsetzung der durch Legitimation des "Volks" als Souverän vom Gesetzgebungsorgan beschlossenen Gesetze, und gleichzeitig ist sie praktische Abhängigkeit von den politisch-sozialen Strömungen der Zeit, die, wie wir wissen, natürlich zu den absurdesten Abweichungen von allen inhaltlichen wie formalen Rechtstraditionen führen können. Das jeweilige Rechtssystem innerhalb eines demokratischen Systems operiert mit einer Fülle von Fiktionen und ist immer in der Gefahr, den Dorfrichter Adam zur Leitfigur zu machen, der "Recht so und jetzo so erteilen" kann.
Aber der Souverän, den Helmut Kohl gern als "obersten Souverän" bezeichnete, obwohl es nur einen geben kann? (Diese Emphase war wohl weniger ironisch tingiert als vielmehr der Versuch, etwas bedeutender zu machen, als es ist.) Der Souverän hat in Deutschland einzig als Wahlvolk Bedeutung. Diese Bedeutung liegt aber nicht darin, daß der Wähler bei der Wahl als wahlfähig hervortritt und dadurch seine Entscheidung zur Grundlage aller weiteren Entscheidungen von Parlament und Regierung macht, sondern vielmehr darin, daß das Wahlvolk gerade als in der Mehrheit wahlunfähig abstimmt. Leider gibt es aber in der Demokratie keine andere Legitimation des Systems als Wahlen. Diese Wahlen sind im Interesse der zu Wählenden so zu manipulieren, daß sie für diese unschädlich werden, die Wahlen also eine Art von Akklamation derer sind, die die stärksten Fähigkeiten zur Manipulation haben. Der als Politiker völlig dilettantische gegenwärtige Bundeskanzler hat nach übereinstimmendem Urteil die letzten Wahlen nicht gewonnen, weil er klare Ziele für Wahlfähige vorgestellt hat, die er durch ebenso klare Argumentationen als notwendig zu erreichende bestimmt hat. Er hatte gar keine Ziele außer dem einen, Bundeskanzler zu bleiben, und er hat über die Voraussetzung zur Erreichung jeder Art von Zielen, nämlich über die finanzielle Lage auf allen relevanten Gebieten keine deutliche Auskunft gegeben. Sein Wahlsieg ging aus Zufällen hervor, die weder mit politischen Zielen noch mit deren Voraussetzungen irgendetwas zu tun hatten. Es kam eine große Flut, auf die er mit Gummistiefeln und entschlossener Physiognomie antwortete. Außerdem gab es die Rede von einem Krieg der USA gegen den Irak. Obwohl niemand gefordert hatte, Deutschland solle sich an diesem Krieg beteiligen, erklärte der Bundeskanzler, Deutschland werde sich niemals an einem solchen Krieg beteiligen. Das eine war eine Geste, das andere schieres Geschwätz, das Deutschland international in Schwierigkeiten brachte. Aber der Souverän entschied dieser beiden Redensarten wegen und also bewußtlos mehrheitlich für Schröder.
So oder ähnlich entscheidet der Souverän immer, der seit Franz Müntefering "die Menschen" heißt, der aber vor allem dumm, will sagen in der Mehrheit nicht fähig ist, eine politische Wahlentscheidung zu treffen. Das darf ihm aber unter keinen Umständen von den Politikern gesagt werden, die vielmehr immer wieder betonen, das Volk sei viel klüger, als man (wer immer das ist)denke. Für wie klug sie diesen Volkssouverän allerdings in Wahrheit halten, lehrt einmal der verlogene und manipulative Wahlkampf, lehrt zum anderen der Horror der Politiker davor, diesem Souverän mehr Rechte einzuräumen, als er unbedingt haben muß, damit sie selbst von ihrer Legitimiertheit sprechen können. Natürlich ist schon die Voraussetzung einer Einräumung von mehr Rechten nichts anderes als die Anerkennung der Chuzpe der Politiker, eben darüber entscheiden zu können. Denn der Souverän ist nur soweit Souverän, als er eben über seine Rechte und deren Wahrnehmung selbst entscheidet. Wenn also mit historisch orientierter Begründung behauptet wird, weitere Rechte als Wahlrechte könnten nicht gewährt werden, weil wir ja die Nazis hatten, so könnte allenfalls ein Skeptiker hinsichtlich der Volkssouveränität fordern, ein anderes Volk zu wählen (was nicht so abwegig wäre, wie es bei Brecht klingen soll), aber natürlich ist es nicht ins Belieben von Leuten gestellt, die sich selbst auf das Volk berufen müssen, auszumachen, wo die Rechte des Volkes zu enden haben.
Die ganze Diskussion um die Volkssouveränität und ihre Grenzen ist artikulierter Unsinn. Auf der einen Seite gibt es in der Demokratie keinen Begriff, selbst den der Grundwerte nicht, der eine andere Basis hätte als den Volkswillen im Sinne der volonté génerale. Genau aber vor dem bekreuzigt sich wahrhaft noch der unchristlichste Politiker, weil er jenem nichts zutraut, dieses Mißtrauen aber zugleich niemals zugeben darf, wenn er nicht selbst den Machtzweig absägen will, auf dem er sitzt.

Der Porzellanverkäufer und der Taxifahrer

Gerhard Schröder vorzuhalten, er sei "Porzellanverkäufer" gewesen, sei ebensowenig fair wie immer wieder den "Taxifahrer" Fischer zu apostrophieren, meinte ein Freund nach Lektüre des Texts "Nach den Wahlen"(Lage der Nation 3). Der Einwand warnt offenbar vor ‚Hochnäsigkeit' und hätte damit recht, wenn es darum ginge, uralte soziale Differenzen, die es eben gar nicht mehr gibt, zur Polemik zu nutzen. Aber wir alle sind sozial Kleinbürger verschiedener Stufen, und die großen Familien sind verschwunden, sind zumindest verstummt, als habe es sie nie gegeben.
Aber es geht um etwas ganz anderes. Die satirische Verkürzung sucht das, was eigentlich immer nur als psychologischer Umstand verstanden wird, neu zu bestimmen. Der ‚Hans Dampf in allen Gassen' Schröder heißt es zum Beispiel in der FAZ. Das ist eins der üblichen Urteile. Etwas intensiver spricht der CDU-Politiker Wulff von einem Mann, der zwar gewußt habe, daß er ins Kanzleramt wolle und wie er hineinkomme, aber nicht, was er mit der Macht tun solle, die ihm dort zuwachse. Das deutet bereits auf den "Porzellanverkäufer" als Existenz, nämlich einen Mann, der ganz darin aufgeht, anderen Leuten etwas aufzuschwätzen, der aber außer dem unmittelbaren Erfolg im Verkauf damit nichts verbinden kann. Der unmittelbare Verkaufserfolg ist völlig ideenlos, und jemand, der mit der Macht ideenlos umgeht, bleibt auf der Stufe des "Porzellanverkäufers". Schröder scheint mir diesen Typus, der heute natürlich der herrschende ist, besonders markant zu vertreten, weil er ihn eben in der Politik auslebt. Hat er eine Vorstellung von Deutschland, von Europa, von Amerika, von der Welt? Er hat von all dem nur die Vorstellung, deren Perspektive der unmittelbare Erfolg ist, der wiederum ihm hilft, an der Macht zu bleiben.
Deutschland will keinen Krieg. Das ist zwar eine Trivialität, aber auch mit einer Trivialität, ja gerade mit ihr kann man Erfolg haben. Schröder ist kein ‚Friedensfreund', schon gar kein Pazifist, aber er sieht, daß eine der wenigen Interessen, die dieses Volk in seiner Mehrheit hat, ‚Frieden' ist, was einfach bedeutet, alles solle so bleiben, wie es ist. Schlächtereien in Kambodscha, in Ruanda, die Kulturrevolution in China, Bürgerkriege in Afrika, der Krieg in Tschetschenien interessieren die Deutschen einen Schmarren, aber der Krieg am Golf, insofern er von den USA geführt wird, könnte uns involvieren. Schröder wittert einen unmittelbaren Erfolg, den des "Porzellanverkäufers". Es ist ihm völlig egal, ob er mit diesem Erfolg die Leute betrügt, ob er Deutschland isoliert, der "Porzellanverkäufer" macht für einen Augenblick den Eindruck ‚guter Mensch'. Das bringt den Erfolg. Brächte Krieg ihn, er wäre sofort für den Krieg.
Hinzu kommt, wie die Irak-Affäre besonders drastisch zeigt, daß der "Porzellanverkäufer" unfähig ist, einfachste politisch-taktische Verhaltensweisen zu beachten, wenn sie denn jenseits des unmittelbaren Verkaufserfolgs liegen. Er zerschlägt, wenn er es denn nicht verkaufen kann, lieber sämtliches Porzellan.

Der "Taxifahrer" Fischer ist ein anderer Typ. Er ist der neue Bohemien, der nichts gelernt und nie etwas Ernsthaftes getan hat. Als er im Bundestagshandbuch angeben sollte, welchen Beruf er habe, schrieb er (er war noch nicht Bundesaußenminister) "Staatsminister a.D.". Er hätte angeben müssen: Nichtstuer, Steinewerfer, Schlenderer, Taxifahrer. Dann hatte er beschlossen, wegen des Reizes der Macht Politiker zu werden, wozu sich jeder entschließen kann, aber es kam ihm darauf an, jenen von seiner reputierlichen Seite zu zeigen und gleichzeitig im "a.D." noch so etwas wie einen abgeschlossenen Lebensweg zu imaginieren. Fischer hatte irgendwann entdeckt, daß er reden, und begriffen, daß der Bohemien sich dadurch über alle biographischen Leerstellen hinwegsetzen und sich dann das Air des Etablierten geben kann. Der Politiker alter Art hatte, wie das selbst noch bei Schröder der Fall ist, als beruflichen Hintergrund eine Juristenausbildung, der Bohemien Fischer hat gar nichts außer dem Taxischein. Er könnte gerade nicht, was alle Politiker doch können sollen, in den früheren Beruf zurückkehren. Er hatte in der Vergangenheit nichts als seinen Schlendrian, während dessen er in der Manier anderer politisch avancierter Autodidakten so allerhand gelesen hat, er hat in der Gegenwart nichts als seine Westenanzüge, die seine Dazugehörigkeit bestätigen. Er ist kein Grüner, kein Roter, natürlich kein Gelber und kein Schwarzer, er ist der Politiker, ja der Außenpolitiker an sich. Er macht als solcher alles so, wie man es macht. Er geht in seiner Rolle auf. Er war nicht "Taxifahrer", um sich etwas zu verdienen, sondern weil ein Bohemien auf irgendeine Weise die Zeit totschlagen muß, mit der er nichts anfangen kann, außer sie zur Machtausübung zu nutzen. Und darum ist er heute Außenminister. Es ist nichts dahinter, aber ihm hilft es zu glauben, er habe eine Existenz.

Möllemann

Wir sind weit weg von einer außerordentlichen, gar dämonischen politischen Persönlichkeit. Wir sind zunächst und zuletzt nahe an den Figuren Schröder oder Fischer, obwohl das unser Thema gar nicht sein soll.
Dieser Möllemann springt schon vor 35 Jahren um des Effekts willen vom Himmel. Er war, ich erinnere mich, ASTA-Vorsitzender der Pädagogischen Hochschule Münster. Er machte schon damals mit Hilfe solcher Späße Politik und war, wahrscheinlich nicht zu unrecht, überzeugt, derlei bringe Zustimmung und Stimmen.
Möllemann galt dann viele Jahrzehnte hindurch als politisches Naturtalent, das immer neue Einfälle hatte. Der große Außenpolitiker Genscher (wodurch war er groß ?) machte ihn zu seinem politischen Ziehsohn, dann galt er als sein Minenhund, was wohl bedeuten sollte, daß er unangenehme politische Aufträge erledigte. Zu denen gehörten schon damals solche, die etwas mit dem Nahen Osten zu tun hatten. Möllemann war auf Seiten der Araber und kritisierte die Israelis. Das wurde ihm nicht übel genommen, schon gar nicht von der FDP. Vielmehr stieg Möllemann unter dem Protektorat des großen Genscher auf. Er wurde Bundestagsabgeordneter, Staatsminister im Auswärtigen Amt, dann gar Bundesminister für Bildung. Und einzig problematische Figuren wie der verstorbene Franz-Josef Strauß verhöhnten ihn als "Riesenstaatsmann Mümmelmann". Möllemann wurde schließlich Bundeswirtschaftsminister, ja Stellvertreter des Bundeskanzlers, ein Amt, das keine besondere Machtfülle bedeutete, wohl aber den Inhaber als den führenden Mann der FDP auswies. Dann tat Möllemann etwas Falsches und - nach Lage der hiesigen politischen Dinge - sehr Harmloses: er empfahl auf Ministerialbögen einen entfernten Verwandten als zu berücksichtigenden Erfinder. Wer dies als politische Untat ausstellte, weiß ich nicht. Aber es genügte, den Hallodri, der dies immer gewesen war, zu stürzen. Möllemann verließ sein Amt, hatte Mühe, wieder auf die Füße zu kommen, aktivierte aber alsbald seine Fallschirmspringerfähigkeiten und begann von Nordrhein-Westfalen aus eine neue politische Karriere.
Schließlich gewann er bei den Wahlen in Nordrhein-Westfalen erhebliche Stimmen für die FDP hinzu, startete ein Wahlprogramm, das pure PR war, aber gegen wenig Widerstand von den FDP-Chefs, voran Guido Westerwelle, angenommen wurde. Es bestand darin zu verbreiten, die FDP wolle 18% bei den Wahlen erreichen: eine beliebige Zahl, aber nennenswert größer als die bisher von der FDP erreichte. Dann sagte Möllemann, die FDP müsse einen Kanzler-Kandidaten anbieten, welche Rolle er selbst gern übernommen hätte, aber an Westerwelle abtreten mußte, der in einem Guido-Mobil herumfuhr, sich 18 unter die Schuhsohlen schrieb und eine der größten Blödheiten des Fernsehens besuchte. Kurz, was immer Möllemann an Albernheiten vorschlug, wurde von den Häuptern und den Mitgliedern der FDP gern übernommen.
Erst als Möllemann anfing, sich in eine Streiterei mit Michel Friedman einzulassen, der gleichzeitig als Repräsentant der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland wie als völlig unabhängiger Fernsehmoderator auftritt und wie Reich-Ranicki Unangreifbarkeit beansprucht, begann man (?) Möllemann als Antisemiten zu erkennen. Als weiterer Beweis dessen wurde die Aufnahme des früheren Grünen-Abgeordneten Karsli, eines Arabers, in die FDP-Fraktion des NRW-Landtags gesehen.
Hier beginnt spätestens eine Inszenierung politischer Heuchelei, wie sie selbst in der von Hypokrisie durchtränkten politischen Sphäre der Bundesrepublik einzigartig ist. Denkt man daran, mit welch hemmungsloser Chuzpe in der Zeit der Achtundsechziger Antisemitismus betrieben wurde, der den Namen Antizionismus erhielt, um sich unangreifbar zu machen, denkt man daran, wie Arabisches, gar Palästinensisches von der Generation, die heute die Geschicke des Landes dirigiert, gehätschelt wurde, dann weiß man, was der Vorwurf gegen Möllemann wert ist. Er ist eine primitive Demonstration von political correctness, die sich nun breit machte, um den bisher Gefeierten zu erledigen. Warum so etwas geschieht, ist fast uninteressant. Es hat oft lächerlich private Hintergründe. Vor allem bot es Gelegenheit, daß die gesamte politische Phalanx des Landes ihr korrektes politisches Verhalten beweisen konnte. Das zeigte sich besonders eindrucksvoll, als Möllemann, zweifellos aus Wut gegen den höchst problematischen Friedman, kurz vor dem Ende der Wahlen und taktisch vollkommen unklug ein Flugblatt in Nordrhein-Westfalen verteilen ließ, das sich gegen Friedman, gegen Scharon und dessen Politik richtete. Nun brach der Vorwurf des Antisemitismus mit Macht aus den Heuchelmündern der Politiker hervor.
Eine Ekelhaftigkeit war z.B. der Aufschrei der nordrhein-westfälischen Umweltministerin Höhn von den Grünen, die sich ausgerechnet in der Sendung von Friedman vor Empörung über die Möllemannsche Untat nicht lassen konnte. Zu diesem Zeitpunkt wußte kaum ein Mensch, was eigentlich in diesem Flugblatt stehe. Es war, wie sich dann herausstellte, keine Spur antisemitisch, sondern eine der gängigen Ablehnungen der israelischen Politik, deren Verkünder Möllemann auch in Friedman sah.
Aber nun war kein Halten mehr. Vor allem die FDP, längst in dem Ruch, mehr durch Westerwelle als durch Möllemann sowohl zur Spaßpartei wie zur Partei des geheimen Antisemitismus heruntergekommen zu sein, suchte sich durch energische Separierung von Möllemann zu salvieren.
Jeder, der behaupten wollte, hier gehe es um politische Grundsätze, beschwindelt uns. Man hat sich der Späße und Einfälle des PR-Politikers Möllemann gern und jahrelang bedient. Möllemann hat auch im letzten halben Jahr nur das getan, was er immer getan hatte, sein sogenannter Antisemitismus ist ein Teil seiner Eskapaden, ganz undifferenziert, aber nicht annähernd so peinlich und abstoßend wie das, was unsere Linken seit den sechziger Jahren zu diesem Thema beigetragen haben. Die ihn plötzlich einen Antisemiten schalten, wollten ihn loswerden oder durch ihre Wehe-Rufe unter Beweis stellen, welch vorzügliche Philosemiten sie seien.
Der nimmermüde Spieler und Fallschirmspringer Möllemann ist ein wirkliches Opfer einer Bagage, gegen die er, ein Luftikus comme il faut, sich als leuchtende Gestalt abhebt.

Die Achtundsechziger erschöpft?

Der juristische Ordinarius und Schriftsteller Bernhard Schlink schreibt im "Spiegel" einen Essay, den er "Die erschöpfte Generation" überschrieben hat( 1/2003. S. 134 f). Damit meint er seine Generation, die Achtundsechziger. Die gegenwärtige Regierung nennt er "die Regierung meiner Generation" und obwohl er vieles an ihr kritisiert, gibt er "die Hoffnung nicht auf". Weil es die Regierung seiner Generation ist? Es scheint so.
Er behauptet, die Regierung seiner Generation sei "erschöpft", ja überfordert. Hier könnte wieder einmal eine der Geschichtslügen beginnen, für die die Achtundsechziger eine Vorliebe haben. Aber Schlink spricht nachdrücklich davon, daß die "späten sechziger und frühen siebziger Jahre...Jahre leichter früher Erfolge" waren. "Sitzungen sprengen, Lehrveranstaltungen und Gottesdienste umfunktionieren, Schüler anpolitisieren, den Wehrdienst verweigern oder mit langen Haaren ableisten, Krawatten- und Jackettzwänge aufkündigen, Ortsvereine übernehmen, in Parteiämter und -gremien aufsteigen, zum Professor ernannt oder Vizepräsidenten einer Universität gewählt werden, die Diplom- oder Doktorarbeit bei Suhrkamp verlegen - die ersten Schritte in die Welt des öffentlichen Auftretens, des beruflichen und politischen Handelns waren mühelos. Sie durften auch keine Mühe kosten, sondern mußten Spaß machen; anders wären es Schritte in die Entfremdung gewesen." Wie recht er hat mit dem Hinweis auf die ‚leichten frühen Erfolge', auf die Mühelosigkeit, auf den eingeforderten Spaß. Aber wie kommt er darauf zu behaupten, hätten seine Generationsgenossen keinen Spaß gehabt, hätte die Entfremdung gedroht? Ist nicht der Begriff der Entfremdung und ihrer Überwindung gebunden an die Mühe und den Ernst des Individuums? Sie aber wollten sich keine Mühe geben und leichte Erfolge haben. Und davon ist man erschöpft und findet sich als überfordert wieder? Kann ja sein, daß hier ein bißchen ironisch mit den Begriffen hantiert wird, aber die Zeiten, wo das funktionierte, sind eigentlich vorbei.
Und wenn Schlink neben dem "Sprengen", das immerhin eine Metapher der Wahrheit ist , vom "Umfunktionieren von Lehrveranstaltungen und Gottesdiensten" spricht, dann geht in diesem obsoleten , aber verharmlosenden Dictum unter, wieviel Barbarei in ihm aufgespeichert war und wie sehr der Spaß, den sich die Horde praktizierender Aufklärer damit machte, auf Kosten der ‚Umfunktionierten' ging.
Und nun ist dieses Geschlecht erschöpft und überfordert? Ausgegeben hat sich Joschka mit dem Erwerb des Taxischeins und dem Verkauf von irgendwie erworbenen Büchern, mit zehn Jahren des Herumschlenderns. Da bleibt nichts mehr an Gedanken und Handlungsmaximen für das Geschäft der Außenpolitik?
Nein, eher ist wohl richtig, daß nun herauskommt, wie wenig diese Generation zu bieten hatte. Ihre Vertreter machten sich wichtig, aber das einzige, was sie vermochten, war Geschrei und Destruktion. Sie wußten und sie konnten nichts, und darum mußten sie wie auf einer Parteiakademie fremde Texte für sich sprechen lassen. Man nenne neben dem einzigen, aber auch demagogischen Dutschke einen anderen, der wert wäre, heute genannt zu werden. Habermas z.B. distanzierte sich ja schon früh. Ihre sonstigen Denker waren drittklassig und überdies nur Dekoration. Denn wenn es ihnen übers Zerschlagen hinaus noch um etwas ging, dann war es die rohe Teilhabe an der Macht, die nun endlich bei den Schröder, Fischer, Trittin und Konsorten angekommen ist.
Mit halber Ironie sagt uns Schlink, die Achtundsechziger seien auch "eine sensible Generation" gewesen, die "gemocht werden" wollte. Mit halber Ironie. Denn immerhin erkennt er auch, daß noch deren Sensibilität Brutalität gegenüber anderen war, wobei den Opfern nur die Wahl blieb, "die gute Absicht" der Sensibelchen, die gerade mal wieder gesprengt und umfunktioniert hatten, zu "erkennen und an[zu]erkennen", oder deren Empörung zu ertragen, weil jene sich "verteidigten oder zurückschlugen". Übersetzen wir auch dies in unironische und direkte Rede. Die Sensiblen waren larmoyant und verlogen. Und das sind sie bis heute geblieben. Sagt man ihnen damals wie heute, sie könnten es nicht, greinen sie, daß man sie nicht lasse, und wenden sich wieder dem einzigen Geschäft zu, das sie aus dem FF beherrschen: nämlich ohne einen Funken eigener Ideen an der Macht zu bleiben.

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VON DER GESCHICHTE

Bürger Hitler

Ganz fiktive Annahme: Einer kennt den Namen Hitler nicht und liest das Buch einer seiner Sekretärinnen, nämlich das von Traudl Junge, was müßte er sich sagen? Z. B. er verstehe nicht, daß ein älterer, freundlicher, leise sprechender Herr, der die junge Dame in Dienst nimmt, in einer Bunkeranlage arbeitet, manchmal mit einem Sonderzug in Deutschland umherfährt und dann in einem größeren Landhaus im Bayrischen sich ausbreitet. Besonders unverständlich ist, daß ihn die Leute seiner Umgebung "Mein Führer" anreden, obwohl der Mann ganz unauffällig und bescheiden lebt, dann und wann etwas diktiert und sich danach erkundigt, ob die erzählende Sekretärin nicht friere. Er sagt zu ihr "mein Kind" oder "junge Frau", aber daran ist nichts Auffälliges, im Gegenteil fast alles, was berichtet wird, ist nahezu uninteressant und überhaupt nicht aufregend. Man hat auch nicht den Eindruck, daß vor diesem älteren Herrn jemand zittere, er schreit nicht, er tobt nicht, er behandelt alle, vor allem die jungen Damen, mit Höflichkeit und wird selbst von allen so behandelt, als sei seine Autorität nicht überwältigend. Und als es zum Schluß nach Berlin und ans Sterben geht, bleibt auch das alles ziemlich unverständlich. Warum läßt sich der Mann nicht irgendwohin fahren, wo er in Sicherheit und Ruhe ist?
Man findet keinerlei Verbindung zwischen diesem älteren Herrn mit Nickelbrille, der um seinen Magen besorgt ist und sich nicht in kurzen Hosen seiner weißen Knie wegen zeigen will, und, sagen wir, dem acht Jahre jüngeren Mann, den Leni Riefenstahl beim Nazi-Parteitag einfliegen läßt, der im fahrenden Auto stehend oder am Hotelfenster oder auf hoher Empore vor Tausenden von Menschen oder bei der Parade immer wieder, mal mit gewinkeltem, mal mit gestrecktem Arm den faschistischen Gruß erweist, der als Zinnsoldat durch eine leere Mitte zu einem Tempel schreitet, der die Jugend und den Arbeitsdienst und die Funktionäre seiner Partei und die Wehrmacht mit Reden bedenkt, die als Zeugnisse höherer Eingebung bejubelt werden.
Was Frau Riefenstahl getan hat, gilt als ungebührliche Verklärung, als verdammte und dennoch bewunderte Korrumpierung des Dokumentarfilms. Aber das richtige Hitlerbild der Historiker und Publizisten ist von diesem so ganz weit nicht entfernt. Man muß nur die verklärenden Bilder mit dem gehörigen kritischen Kommentar versehen, was zwischen den seit fast sechzig Jahren geltenden Epitheta vom ‚Monster' oder vom ‚Dämon' bis hin zum ‚Fanatiker' oder auch nur ‚Dilettanten' sich vollzieht. Wir haben einen teppichbeißenden , tobenden, Drohungen ausstoßenden, dem Nichts entstiegenen, alle zivilisatorische Ordnung hinwegfegenden, kriegslüsternen, brutal herrschenden Diktator, der dann und wann in kurioser Weise seine Linzer und Wiener Herkunft ausstellt. Über diese als Kuriosa deklarierten Abweichungen von der diktatorischen Selbstdarstellung hinaus dürfen die Differenzierungen freilich nicht gehen.
So muß im gängigen Hitler-Diskurs ein Buch wie das von Traudl Junge zurückgeführt werden auf die Verblendung einer Unpolitischen, die eine Inszenierung etwa nicht durchschaut. Oder es muß das alte Dictum von Hannah Arendt von der "Banalität des Bösen" gebraucht werden. Hier kommt dann je und je das Beispiel vom familienliebenden KZ-Kommandanten. in Frage. Schließlich steht als klassischer Topos "Dr. Jekyll and Mr Hyde" zur Verfügung. Genügt das aber alles, um deutlicher zu sehen, um was es sich handelt? Ist das nicht alles geprägt von der Vorstellung einer Verstellung, einer cachierenden Selbstinszenierung, die eben nur der wache, der kritische Geist durchschauen kann.
Nun wissen wir, daß Hitler z.B. eine einfache Uniformkleidung ohne großartige Auszeichnungen trug im bewußten Gegensatz zu seinen großen und kleineren Gefolgsleuten, am deutlichsten zu seinem Stellvertreter Göring. Was aber veranlaßt jemanden, diesen Habitus fortzusetzen, wenn eine Außenwirkung nicht vorhanden ist? Der krank im Bett seines Wolfsschanzen-Bunkers liegende Hitler trägt ein Wehrmachts-Nachthemd, hat einen grauen und biederen Morgenmantel zur Verfügung, er sitzt in Räumen, die offenbar denen einer unteren Wehmachtverwaltung ähneln, ißt nicht nur Diät, was eine Caprice sein könnte, sondern läßt sie sich längere Zeit von einem Mann zubereiten, der ein höchst mittelmäßiger Koch war. Hier spielt wohl vielmehr die Rückkehr ins Bewußtsein des Soldaten im ersten Weltkrieg eine Rolle. Aber es kommt hinzu der leise und freundlich sprechende ältere Mann mit der Nickelbrille, der der Sekretärin einen Elektroofen herbeischafft , der ihre Arbeit auch dann akzeptiert, wenn sie Fehler macht. Es kommt vor allem hinzu ein Verhalten, das im Alltag nicht auf den brachial sich durchsetzenden Diktatorenwillen deutet, sondern auf einen Mann, der mit seiner Umgebung in Frieden leben will und der von dieser nicht als die Herrschaftssonne behandelt wird, sondern eher mit einer gewissen Nonchalance. Man widerspricht ihm, man fragt ihn nach privaten Dingen, er muß um die Gesellschaft selbst kleiner Leute manchmal werben . Man hat nicht den Eindruck, daß alle es nur darauf anlegen, seine Nähe zu suchen. Er muß sich oft damit bescheiden, mit seinem Hund umzugehen usw. Und in dem ganzen Buch gibt es keine Stelle, die auf ein unangenehmes, gar bedrückendes Ambiente schließen ließe.
Was bedeutet das alles? Wohl weder das Doppelwesen des großen Bösen noch dessen Banalität. Eher wohl das Nichtsagende genau jener Lebensformen, deren Verbindlichkeit man gegen all die Dämonisierungen und Simplifizierungen des Menschen Hitler retten will. Gerade weil sich eine, ja eine Reihe von Generationen in dieser Lebensform wohl und geborgen fühlte, ist sie das Unverbindliche. Aber sie ist nicht gespielt. Der Mann Hitler wollte auch ganz authentisch in der biederen Bescheidenheit eines mittleren Bürgers leben . Daß daraus "mein Führer" wurde, war eine Symbiose aus seinen Wünschen und denen aller: nämlich daß aus dem Wohnzimmer die Ewigkeit aufsteige, sei sie auch identisch mit dem Nichts. (Traudl Junge: Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben. Unter Mitarbeit von Melissa Müller. München: Claassen. 8. Aufl. 2002)

Zwei Bücher gegen die politische Korrektheit
(Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. München, Zürich: Piper 2002.
Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19. Berlin: Kindler 2002)
Das eine ist neu. Die Verfasserin von "Hitlers Wien", Brigitte Hamann, hat es geschrieben. Da es ihr Ruhm eingebracht hat, setzt der Verlag auf den Umschlag groß ihren Namen, kleiner den Haupttitel, um den es doch geht: "Winifred Wagner" und in gleicher Größe einen zweiten Titel, den wahrscheinlich der Verlag erfunden hat: "Hitlers Bayreuth". Damit hat das Buch auf ca 430 von fast 690 Seiten zu tun,also eine leichte Übertreibung. Dieser Titel soll auf einen unmittelbaren Zusammenhang beider Bücher hinweisen. Den gibt es nicht, denn es ist vor allem eine Biographie der Winifred Wagner. Aber der Verlag will natürlich vom Ruhm des ersten zehren.
Schon das erste Buch zeigt, daß Frau Hamann keine große Historiographin ist. So interessant die unterschiedlich wichtigen Quellen für "Hitlers Wien" waren, wichtige Fragen wurden nicht oder nur beiläufig gestellt, weil Frau Hamann viel mehr eine Sammlerin als eine Interpretin ist. Hat Hitler z.B. in Wien den Antisemitismus gelernt oder gerade nicht? Es bleibt unklar. Obwohl viele Quellen noch nicht zugänglich sind und obwohl Frau Hamann die zugänglichen vor allem ausbreitet und nicht analysiert, ist es ein interessantes Buch geworden.
Daß Bayreuth eine antisemitische und nationalistische Tradition hatte, wußte man schon vom "Meister" her. Aber auch der Sohn Siegfried war ein in der Wolle gefärbter Antisemit, und seine junge Frau tat es ihm in allen Varianten nach, wie wir spätestens aus dem Dokumentarfilm von Syberberg wissen.
Was wir nicht so genau wußten, war, wie die kleine englische Waise Winifred Williams nach Deutschland kam, wie sie von dem alten Pianisten und Wagnerianer Klindworth und dessen Frau aufs freundlichste erzogen wurde und wie es um die Ehe des 46jährigen Siegfried mit der 18jährigen Winifred bestellt war.
Recht gut sind wir hingegen über Winifreds Nazitum, ihr Verhältnis zu Hitler und Verwandtes informiert. Das gestattet es, mit der üblichen politischen Korrektheit ein Urteil über die "Herrin von Wahnfried" sich nicht nur zu bilden, sondern entschieden zu fällen. Auch mußte man in den üblichen Urteilsbahnen zugeben, daß Winifred mit einer erheblichen Durchsetzungskraft sich in Bayreuth behauptete und dank einer großen Arbeitskraft Familie, Haus und Festspiele dirigierte.
Aber es kommt erst Bewegung in diese festgefügten Auffassungen, wenn ausführlicher und immer wieder von dem gesprochen wird, was sie selbst in dem Syberbergfilm nur andeutete, daß sie nämlich eine geradezu unermüdliche Helferin für ‚rassisch' und politisch Verfolgte während der Nazijahre wurde, daß sie dies völlig spontan und ohne Ansehen der Person tat, aus Gewissensgründen sicherlich, aber vielleicht noch mehr aus dem Bedürfnis heraus, ihre Unabhängigkeit auch in der von ihr akzeptierten, ja gewollten Diktatur zu bewahren. Hier ist nichts, wie die Verfasserin sehr deutlich werden läßt, um irgendwelcher Taktiken willen geschehen. Daß man sich dies heute nur in solchen Zusammenhängen vorstellen kann, lehrt ein Artikel einer jungen Person (Doktorandin) in einem Lexikon zum Dritten Reich. Der unterstellt Winifred egoistische Motive, sie habe für das Sängerpersonal der Festspiele sorgen wollen.
Die Betoniertheit des Bewußtseins in Bezug auf die Nazizeit stellt sich jedem Differenzierungsbedürfnis entgegen. Es hat sich in fast 60 Jahren geradezu ein Jargon ausgebildet, der jeden Satz über jene Zeit und ihre Personen lenkt. Das gilt natürlich vor allem für Hitler selbst, für den jener Jargon alle negativen Konnotationen bereitgestellt hat, so daß selbst irgendwelche Harmlosigkeiten des Alltags sofort mit salvierenden Klauseln umgeben werden müssen, wenn nicht sofort der Verdacht auf Faschismus oder doch Kryptofaschismus aufkommen soll. Man sollte aber aufgrund dieses Buches oder der Erinnerungen der Hitler-Sekretärin, Frau Junge, endlich einmal anfangen, über das Dr. Jekyll and Mr.Hyde-Syndrom hinaus nicht so sehr das Nebeneinander als vielmehr das Ineinander des Barbaren und Diktators mit dem freundlichen und (dilettantisch) sachverständigen "Onkel Wolf" zu bedenken. Es hilft nicht, wenn man die unbedarfte Jugendlichkeit der Frau Junge und die ideologische Okkupiertheit der Winifred Wagner einzig ins Feld führt, denn was da berichtet wird, ist offenkundig weder Verstellung noch politpsychologische Selbstinszenierung, sondern das Bedürfnis nach bürgerlicher Normalität ebenso wie nach ästhetischen Kontexten, die überhaupt nichts mit Verdrängungen zu tun haben, vielmehr die freilich atemraubende Überzeugtheit Hitlers voraussetzen, daß ihn z. B. niemand fürchten könne und daß sein Künstlertum, das ja durchaus über Plattheiten des Historismus immer wieder hinauszielte, nicht in Frage zu stellen sei. Der Schreihals der öffentlichen Darstellung, der Monologist der privaten muß darum nicht aus dem Blick geraten. Aber daß die Wagner-Kinder insgesamt, auch die spätere Antifaschistin Friedelind "Onkel Wolf" herzlich zugetan waren(und er offenbar ihnen), ist nicht mit den üblichen Jargonvokabeln beiseite zu wischen, sondern zum Nutzen eines ‚realistischen' Menschenbildes aufzugreifen.
Das gilt auch für die unerfreulichste Entdeckung des Buches, nämlich den Winifred-Sohn Wieland, den sie selbst als den eigentlichen Erben sah. Ist es schon schwierig, sich vorzustellen, wie dieser Erbe, der Werk und Person des Großvaters haßte, mit beidem angemessen hätte umgehen können, so ist es ausgesprochen unangenehm, in ihm einen existentiellen Opportunisten zu erkennen. Hitler aus eigenem Antrieb bis zuletzt tief verpflichtet, alle Vorteile, die aus dieser Beziehung erwuchsen, auf das selbstverständlichste nutzend, u.a. als stellvertretender Leiter der KZ-Außenstelle Bayreuth amtierend, findet man Wieland nach dem Krieg, immerhin 1945 schon 27 Jahre, als Linken und Antifaschisten, der das Werk, nachdem er bei seinen Anfängen während der Nazizeit den biedersten Historismus hatte walten lassen , nun mit allerhand modernen Adapationen von Leuten wie Preetorius, die er in und nach der Nazizeit ablehnte, inszenatorisch aufputzte und sich dafür Genialität bescheinigen ließ. Im Gegensatz zu seiner Mutter wurde ihm kein Spruchkammerprozeß gemacht. Es gibt nur wenige Intellektuelle der Nachkriegszeit, die(dank der Lektüre des Buches von Frau Hamann) so entschieden gegenüber der opinio communis abfallen wie dieser Wieland Wagner.-
Das zweite Buch ist älter. Es ist zum ersten Mal 1969, dann noch einmal 1979 und zum dritten Mal im vorigen Jahr erschienen. Mir ist aufgefallen, daß sein Verfasser, Sebastian Haffner nämlich, für eine Weile nach dem Erscheinen seiner "Geschichte eines Deutschen" hoch gelobt worden ist und daß das Buch und dann auch andere Arbeiten Haffners große Verkaufserfolge hatten. Aber seit einigen Monaten änderte sich diese Einschätzung, und man las, ich glaube auch im "Spiegel", davon, daß Beweise für einen erheblichen Opportunismus Haffners im Laufe der Jahre vorlägen. Das war erstaunlich. Aber es ist nicht so erstaunlich, wenn man die neue Bewertung auf dem Hintergrund dieses SPD-kritischen Buches sieht, von dem Haffner selbst bei der zweiten Auflage schreibt, es sei 1969 ziemlich unbeachtet geblieben.
Es ist das Buch "Die deutsche Revolution 1918/19", das zunächst unter dem Titel "Die verratene Revolution" erschienen ist. Und genau dies ist sein Thema. Denn Haffner entwickelt, wie zunächst Ludendorff im Oktober 1918 in raschem Entschluß die Forderung aufgestellt habe, die Regierung müsse alsbald um einen Waffenstillstand nachsuchen, daß er gleichzeitig eine parlamentarisch gestützte Regierung unter Einbeziehung auch der Sozialdemokraten wünschte. Dies alles aber nur, um die Verantwortung von sich und der Heeresleitung abwälzen und wenig später die Parole vom "Dolchstoß" ausgeben zu können.
Dies ist nicht mehr ganz unbekannt. Aber schlimmer ist die wohlfundierte These des Buchs, daß die Sozialdemokraten unter Friedrich Ebert nicht nur die Verantwortung für den Lauf der Dinge übernahmen, nachdem der letzte und parlamentarisch abgesicherte kaiserliche Reichskanzler, Prinz Max von Baden, abgetreten war, sondern daß Ebert, der die Revolution "wie die Sünde" fürchtete, zunächst den Versuch machte, die Monarchie zu erhalten, dann unter dem Druck der Ereignisse vorübergehend mit der USPD in den revolutionär legitimierten "Rat der Volksbeauftragten" eintrat, aber die inzwischen von der Arbeiterschaft unternommene Revolution, obwohl sie keinerlei anarchische oder chaotische Züge zeigte, alsbald durch die Zusammenarbeit mit dem Militär und den nationalen Freikorps verriet. Dabei half ihm der von Haffner als "primitiver Gewaltmensch" (185) bezeichnete sozialdemokratische Wehrminister Gustav Noske.
Wie Haffner diese Geschichte des Verrats einer Revolution, die die SPD doch immer gefordert hatte, bis hin zu dem Punkt darstellt, da die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung sich nach dem Kapp-Putsch, der sie an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, trotz ihrer Unterstützung durch den Generalstreik, den sie sozusagen im Nebenhinein ausgerufen hatte, wieder mit den Mächten arrangierte, die ihr den Garaus hatten machen wollen, das ist ein Lehrstück über korrumpiertes Bewußtsein, das allerdings sehr bewußt verschwiegen wird, auch von der politisch korrekten Historiographie. Mit der Unterstützung meuternder Generale und illegaler Freikorps nimmt die SPD unter dem Präsidenten Ebert vorweg , was dreizehn Jahre später dann zur legalisierten Politik der Nazis werden sollte. Von dieser Verbindung hört man natürlich nicht sehr gern.
Daß Ebert als Opfer der Rechten dargestellt wird, was er gegen Ende seines Lebens auch war, sieht Haffner als eine Art von Vergeltung für jenen Verrat, bei dem die Führung der SPD in Gestalt Eberts diejenigen "opferte", "die ihnen folgten und vertrauten", und zwar jenen, "von denen sie sich begönnert fanden. Das Scheußliche wurde mit treuherzig aufblickendem Biedersinn getan".(241)
So wird die Geschichte der verratenen Revolution zur Vorgeschichte der "Machtübernahme". Und die, die sich im Reichstag 1933 gegen den beginnenden Terror zu wehren versuchten, hatten vor über einem Jahrzehnt dazu beigetragen, daß die Entwicklung anfangen konnte, die nun triumphierte. Der Abgeordnete Otto Wels, Fraktionsvorsitzender der SPD, fand mutige Worte nach den Märzwahlen im Reichstag. Aber 1918/19 war er Stadtkommandant von Berlin gewesen und als solcher ein Mann Eberts, dessen Kollege Scheidemann einen Kopfpreis von 50 000 Mark auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ausgesetzt hatte. Es ist längst an der Zeit, daß an die Stelle einer Geschichtsschreibung, die korrekt, aber nicht ehrlich ist, eine tritt, die die Widersprüche deutscher Geschichte, insbesondere die des letzten Jahrhunderts aushielte und vortrüge. Von den heute gängigen Schlagworten dürfte sie sich nicht irre machen lassen. Allerdings entscheiden diese Schlagworte über Karrieren.

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VON DER GEGENWART

Die Stadt, die Sauberkeit und Häussermann

In Frankfurt am Main tut man nach Jahrzehnten des Nichtstuns etwas völlig Selbstverständliches: man sorgt für die Sauberkeit der Stadt, indem man das Wegwerfen von Kippen und Verpackungen, das Hinterlassen von Hundehaufen u.s.w. mit einem gehörigen Ordnungsgeld ahndet. Man gibt zu, daß man bisher gemeint habe, durch den Appell an die Bürger weiterzukommen, aber eben dies nütze bei denen, die das Problem schaffen, gar nichts. D.h. man kehrt zu einer der urältesten Erkenntnisse der Menschheit zurück, nämlich daß es immer Menschen gibt, die sich im öffentlichen oder privaten Raum zivilisiert verhalten, und solche, die das nicht tun. Letztere muß man durch u.U. schmerzhafte Maßnahmen dazu bringen, sich ebenfalls zivilisiert zu verhalten.
An einer Radiorunde, in der die Frankfurter Absichten diskutiert werden, nimmt auch ein Soziologe namens Häussermann teil, von dem man alsbald Differenzierungen hört: für die Hundehalter sollte es, sagt er, strenge Strafen geben; das Wegwerfen von Zigarettenkippen hält er dagegen für ein irrelevantes Problem und für das Wegwerfen von Verpackungen trügen die Firmen, die sie schaffen, allein die Verantwortung. Auch lehnt er ab, den öffentlichen Raum mit dem privaten eines Vorgartens etwa zu vergleichen. Singapur, wo mit großer Härte für die Sauberkeit gesorgt werde, sei übrigens schrecklich steril. Alles an diesen Einlassungen ist interessant. Einmal weiß man sofort, wem wir die Verlumpung unserer Städte, zu der natürlich vordringlich auch die Schmierereien gehören, zu verdanken haben: nämlich den Plädoyers jener Häussermänner, die fast immer Soziologen sind, natürlich von den Achtundsechzigern abstammen und wie der argumentierende Häussermann natürlich irgendwann einmal an der Universität Bremen waren. Sie sind für den Dreck, weil der eben nicht steril wirke. So sagen sie es natürlich nicht, denn ihre ideologischen Auslassungen, die sich als wissenschaftliche ausgeben, treffen sich aufs schönste mit ihren privaten Vorlieben. Sie haben etwas gegen Hunde und vor allem Hundehalter, also dürfen, nein müssen die sanktioniert werden. Sie rauchen selbst, also ist die Hinterlassenschaft der Raucher bagatellhaft. Sie haben einen (übrigens berechtigten) Zorn gegen den verantwortungslosen Industriekapitalismus, also ist der, und zwar allein, regreßpflichtig zu machen und nicht der unmittelbare Veranlasser, der natürlich seinen Teil an der Verschmutzung der Städte zu verantworten hat, auch was Verpackungen anlangt. Sie sind im übrigen gegen die Sterilität von Städten, lehnen also als alte WGler das ab, was Goethe als Reinlichkeit in seinen Stadtcharakterisierungen hervorhob. Das Ganze ist, wie wir es seit den Tagen der Achtundsechziger kennen, privatestes Ressentiment, verpackt in ein paar wissenschaftlich scheinende Floskeln.
Was ist die Basis? Der Weg der Zivilisation, der von öffentlicher Unsauberkeit seit dem 19. Jahrhundert zu mehr und mehr öffentlicher Sauberkeit führte und vor allem dadurch die großen Städte attraktiv und keinesfalls steril machte. Es war natürlich eine dem privaten Vorbild folgende Entwicklung, die ja im protestantischen Norden früher wirkte als im katholischen Süden Europas, aber mit ihren ästhetischen und medizinischen Folgen durchaus akzeptiert wurde. Daß wir seit den siebziger Jahren eine Umkehrung dieser Entwicklung haben, gilt zunächst nur oder fast nur für den öffentlichen Raum. Die Behauptung, der werde durch Sauberkeit steril, ist nichts anderes als die gängige Rationalisierung der Faulheit der Achtundsechziger, die sich durchaus von Fall zu Fall, wie die Bemerkungen des Herrn Häussermann zu den Hundehaltern zeigt, der alten Sauberkeitspostulate bedienen, wenn sie nämlich dadurch Ressentiments als Argumente verpacken können. Will sagen: die ganze Einlassung ist Mumpitz, sowohl, was die Einschätzung der Menschen wie, was die der Sauberkeit angeht. Es geht dem Wissenschaftler nur darum, private Vorlieben und Ressentiments mit pseudowissenschaftlichen Thesen zu behängen und so ganz und gar Disparates zusammenzubinden, statt zu sagen: Ich will den Dreck, soweit er von mir und den meinen gemacht wird, Industriedreck lehne ich ab, weil ich ein Antikapitalist bin, Hundedreck lehne ich auch ab, weil Hundebesitzer mir zuwider sind. Um das an den Mann zu bringen, tue ich so, als sei ich Professor, obwohl ich nur ein Dummkopf bin.

Bei nochmaliger Durchsicht
(aus Walter Kempowski, Alkor. Tagebuch 1989. München 2001)

Ähnlich geeignet als Bettlektüre und jedermann zu empfehlen sind Ratschläge für den "guten Ton". (16)

Der "Hokuspokus"-Film von Curt Goetz (1953). Jämmerlich. Diese jämmerliche 50er Jahre-Jauche. Unbegreiflich, es waren doch gute Schauspieler? Daß die sich das gefallen ließen ? (Erich Ponto!) (33)

In Oldenburg habe ich den Studenten gesagt, wenn sie eines Tages Lehrer sind, sollen sie sich öfter mal "schön" machen, also was Gutes anziehen usw. Schließlich seien die Kinder gezwungen, sie den ganzen Tag anzusehen. - So was fällt nicht gerade auf fruchtbaren Boden.[...] Die Professoren übrigens laufen "unter aller Kanone" herum, in dieser durch und durch verwahrlosten Bildungsanstalt.(63)

Sich im Präapokalyptikum befinden.(64).

Das war schon ziemlich jämmerlich, wie der alberne Helmut Schmidt plötzlich öffentlich zu dem Schnupfhorn griff und kleine Pyramiden auf dem Handrücken aufhäufte! (76)

"Und wer soll das alles lesen?" - dieser blöde Ausspruch einer Generation, die vor Freizeit nicht mehr geradeaus gucken kann. (84)

Thomas Mann: Tagebücher. (Allmählich doch zum Kotzen.) (88)

Das Nachsehen der Oldenburger Seminararbeiten ist nervensägend. Diese jungen Menschen, die alle Pädagogen werden wollen...nein, es ist unbeschreiblich. Besonders das Geschlechterspezifische hat es ihnen angetan. Eine dieser Trampeltierinnen beanstandet es, daß Jungen und Mädel unterschiedlich gekleidet sind! Man macht sich keine Vorstellung von der Verblödung dieser Leute. (97)

Die Sprache dieser Leute drüben [DDR] hatte etwas Verschleierndes, Abstoßendes an sich. (119)

Eine dieser Unbegreiflichkeiten: Der Mann, der den Hitler-Attentäter Elser an der Schweizer Grenze gefasst hat, ein Zollbeamter oder so was, bekam 1979 das Bundesverdienstkreuz.(137)

Vor den Evangelischen muß man sich in acht nehmen, die sind links, also tückisch.(144)

Lesung in Düsseldorf. Universität Düsseldorf, dreckig und verkommen. (174)

Diese Apo-Aufgeregtheiten waren ein Fall von kollektivem Irresein, durchaus zu vergleichen mit Hysterien von 1937. Und es schleppt sich noch immer hin! Diese Leute sitzen jetzt überall, in allen Redaktionen und Verwaltungen. (176)

1.Mai in Kreuzberg, abstoßende Krawallbilder. - Die "autonome Szene", so wird das genannt. Und mit Benennungen meint man die Sache in den Griff zu kriegen, es hat einen Namen, also ist es nicht mehr gefährlich. (207)

Nichts schlimmer als frohe Gesichter!(273)

Wer sich umsieht, muß zugeben, daß alle die apokalyptischen Probleme nicht gelöst werden, nicht ein einziges.(277)

Wahrscheinlich geht unser Planet nicht an der Umweltverschmutzung zugrunde, sondern an der Quasselei. (295)

Der Meinungsterror hat sich derartig verschärft, daß man um seine Existenz fürchten muß. Einziger Ausweg: sich dumm stellen.(296)

An der SPD stört mich, daß sie sich mit "Genosse" anreden und sich duzen.(477)

Ewige Schande über die Politiker hier im Westen, die überall Unrecht sahen, doch mit den Oberen von drüben sich verbrüderten.(482)

...die Deutschen...Sie haben die Leinen gekappt und treiben nun den Fluß hinunter auf die Fälle zu.(498)

Die Wieczorek-Zeul als westlicher Wendehals. Sie meint, daß hier bei uns nicht untersucht werden soll, wer früher Recht oder Unrecht hatte. Eben! Sie hat nämlich Unrecht gehabt.(506 f)

Flughäfen: An diesen neuralgischen Punkten begreift man, daß es zu Ende geht. Dies kann nicht mehr lange dauern.(521)

Ansonsten lautet die neue gesamtdeutsche Nationalhymne: "So ein Tag, so wunderschön wie heute!"(527)

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VON DER LITERATUR UND DER SPRACHE

Martin Walser, Tod eines Kritikers
(Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002)

(mit zwei autobiographischen Notizen)

Gut erinnere ich mich an mehrfache Begegnungen und Gespräche mit "Dr. Walser vom Süddeutschen Rundfunk". Das war im Wintersemester 1952/53 in Heidelberg. Walser hatte über Kafka promoviert, war freier Mitarbeiter oder Redakteur bei dem Stuttgarter Sender, der in Heidelberg eine ‚Filiale' unterhielt. An der hatte sich eine Arbeitsgemeinschaft Funk als studentische Vereinigung gebildet, der ich in einem frühen Semester beitrat . Walser machte im Rundfunk Erfahrungen, die er satirisch in seinem ersten Roman "Ehen in Philippsburg" nutzen konnte. Daraus übernahm ich einige Stücke in die Satire-Anthologie "Gegen-Zeitung" (1964). Anfang der sechziger Jahre besuchte ich Walser ein- oder zweimal am Bodensee. Es gab ein paar Briefe und Karten hin und her. Und es blieb die Erinnerung an einen guten Gesprächspartner. Aber ich wurde kein Walser- Leser. Das hing damit zusammen, daß ich meinte und bis heute meine, daß die große moderne Romanprosa der deutschen Literatur zwischen dem Anfang des 20. Jahrhunderts und den frühen fünfziger Jahren geschrieben bzw. publiziert wurde.

Gut erinnere ich mich auch der Begegnung mit dem Kritiker Reich-Ranicki in Wien aus Anlaß der Karl-Kraus Woche 1974. Er hatte mich Anfang der sechziger Jahre wegen eines Satire-Überblicks gelobt, bot mir in Wien die Mitarbeit am Literaturteil der FAZ an. Ich wich aus, obwohl ich ihn noch gar nicht genauer kannte. Dennoch war ich am selben Abend froh, mich so verhalten zu haben. In einer öffentlichen Diskussion vor sehr vielen Leuten zum Abschluß der Kraus-Woche redete er apodiktisch völlig Unverantwortliches über Kraus(s. mein Buch "Karl Kraus und die Presse". München 1975. S.101 - 105). Obwohl eine ganze Reihe von prominenten Kraus-Kennern auf dem Podium war, blieb mir allein die Replik auf ihn vorbehalten , bei der mich aus dem Publikum Jens Malte Fischer unterstützte. Reich-Ranicki war über meine Einwände beleidigt. Wir waren damit geschiedene Leute. Später leistete er sich über Robert Musil mindestens zweimal ähnlich Unverantwortliches . Da war schon längst klar, daß er weder in der Lage ist zu argumentieren noch irgendwelche nennenswerten Maßstäbe hat, um Literatur beurteilen zu können. Ich bin einmal in einem kleinen Aufsatz (Literaturkritik? Annotierte Zitate in einem Buch von Marcel Reich-Ranicki. In: Kunstgriffe. Festschrift Herbert Mainusch. 1989. S.27-33) auf diese Umstände eingegangen. Mehr lohnt sich nicht. Daß er angesichts dessen zum "Literaturpapst" werden konnte, wie er in den Medien genannt wird, ist deren Problem und das des Publikums.

Die zeitgenössischen deutschen Schriftsteller leiden unter ihm. Walser hat sich davon in dem Roman "Tod eines Kritikers" zu befreien versucht. Dieses Schlüsselmoment wiederum genügte, das Buch zu einem "Renner" zu machen. Inzwischen ist es still darum geworden, wie das üblich ist. Man kann also genauer betrachten, um was für ein Buch es sich handelt. Dabei hat man zunächst die Behauptung im Ohr, die wohl zuerst der FAZ-Herausgeber Schirrmacher aufstellte, das Buch sei antisemitisch. Das wurde von etlichen nachgesprochen, wenige bestritten die These. Diese Behauptung kann nichts anderes bedeuten als dies: Hinter der Gestalt des Kritikers Ehrl-König im Buch steht der reale Kritiker Reich-Ranicki. Reich-Ranicki ist Jude. Weil Ehrl-König auch Jude ist und satirisch dargestellt wird, richtet sich der Roman gegen Reich-Ranicki als Juden und ist damit ein antisemitischer Roman. Würde das als ernsthaftes Argument gelten können, müßte inskünftig jede satirische Darstellung eines Juden in einem deutschen Roman oder einem deutschen Theaterstück unterbleiben. Wir hätten damit eindeutig eine Form von Zensur. (In den siebziger Jahren gab es von linker Seite deutlich antisemitische Beiträge. Publizistisch blieb das weitgehend unbeanstandet.)
Wer sich die Behauptung Schirrmachers nicht zu eigen machen, aber sich dennoch mit dem Buch nicht abgeben wollte, sagte, der Roman sei mißlungen. Das ist natürlich nicht akzeptabler Escapismus.
Der Roman "Tod eines Kritikers" stellt dar, wie der Literaturkritiker Ehrl-König eine Machtposition im literarisch-medialen Betrieb dadurch erreicht, daß er Bücher als gute und schlechte sortiert, daß er diese Sortierung mit ein paar immer wieder benutzten Sätzen und mit Lautstärke im Fernsehen und vor einem Studiopublikum unternimmt und daraus ein Ritual macht, das sich nach der Sendung im Haus des Verlegers Pilgrim fortsetzt.
Dies allein wäre noch kein Roman, sondern eine satirische Erzählung nach Art der Satiren Heinrich Bölls in "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen". Zu einem Roman, nämlich einem kleinen Kriminalroman und dessen Parodie, wird das Buch dadurch, daß Ehrl-König von der Bildfläche verschwindet und einen blutgetränkten Pullover hinterläßt. Der Verdacht entsteht, daß er ermordet worden sei, und zwar von dem Schriftsteller Hans Lach, dessen neuestes Buch Ehrl-König wie schon frühere in einer TV-Sendung verrissen hat.
Hans Lach gerät in Untersuchungshaft. Sein Bekannter, der Mystik-Experte Michael Landolf, übernimmt , weil er nicht an die Schuld Lachs glaubt, die Rolle eines Privatdetektivs, der sehr unterschiedliche Bekannte Lachs, die alle zum Literaturbetrieb in Beziehung stehen, aufsucht und sich bemüht, sie über mögliche Kenntnisse im Zusammenhang mit dem vermuteten Mord auszufragen.
Der Witz des Ganzen ist, daß Ehrl-König wieder auftaucht und daß Landolf sich als ein Doppelgänger Lachs erweist, der die ganze Geschichte vielleicht bloß imaginiert hat.
Der kleine Roman hat durchaus Charme und Witz. Vor allem gelingt es Walser, eine ganze Reihe von Charakteren in den Gesprächen mit Landolf prägnant vorzustellen: die Verlegersfrau Julia Pelz-Pilgrim, den Literaturprofessor Silberfuchs, den Romancier Bernt Streiff, den psychopathischen 'Dichter' Mani Mani, schließlich Rainer Heiner Henkel, "Ehrl-Königs Souffleur, Einpeitscher, aber auch Dompteur"(91), und dessen Schwester. Vor allem aber wird natürlich Ehrl-König in seiner Sendung "Sprechstunde" und in seinen Auftritten im Hause des Verlegers Pilgrim gezeigt. Das alles weist zurück auf den frühen Roman "Ehen in Philippsburg" und dessen Mediensatire.
Dabei stellt Walser das Gehabe und die Diktion Reich-Ranickis sehr nachdrücklich aus. Er ist in Ehrl-König unverkennbar wie sonst nur noch Henkel alias Walter Jens; beide sind Figuren satirischer Mimesis.
Mit diesen Figuren eröffnet sich eine weitere Ebene, es ist die eines satirischen Romans über einen geschlossenen Literaten-Kreis, wie er sich vor allem in dem Haus des Verlegers trifft, und über den offenen Kreis des Fernsehpublikums. Beide erscheinen als Objekte des Mediums Fernsehen. Zwar gibt es außerdem noch zwei Kriminalbeamte, die Ehefrauen zweier Schriftsteller und wenige andere Randfiguren. Aber zentral ist zunächst der Zirkel von Literaten,der sich in jenem Haus des Verlegers versammelt, das vollständig der Inszenierung Ehrl-Königs dient und ganz und gar fassadenhaft ist. Der Kritiker fährt an den Abenden nach seiner Sendung mit dem Aufzug auf die oberste Plattform des Hauses und bewegt sich dann unter dem Beifall der Anwesenden nach unten "auf das tiefste Niveau"(35).
Diesem Zirkel gegenüber steht das Publikum der Fernsehsendung "Sprechstunde". Es ist nicht an der Literatur interessiert, sondern an Rede-Sensationen und Vernichtungsaktionen, die Ehrl-König mit Hilfe seines Promotors Henkel erzeugt. Beide sind so platt wie der übliche Schmonzes des Fernsehens, erscheinen aber durch die Attituden Ehrl-Königs als geistige Entscheidungen, an denen teilzunehmen dieses Publikum zugleich als Unterhaltung genießt.
Das Ganze ist eine Inszenierung von nichts. Es geht zunächst um das "Auftritts-Zeremoniell" Ehrl-Königs(34). Auch darin wird das Fassadenhafte betont: Ehrl-König "thront" auf einem Sessel in "schön imitierte[m] Empire", dessen Holz "an Marmor denken" lassen soll mit "Zeus-Symbole[n] (Adler und Blitz)", Füßen, "auslaufend in Löwentatzen, die auf vier Büchersockeln stehen. Vielleicht Attrappen." Auf den Buchrücken der Büchersockel steht: "FAUST; EFFI BRIEST; ZAUBERBERG; BERLIN ALEXANDERPLATZ." "Der Auftritt ist von Musik begleitet."(34).
Das alles hat das Air des Jahrmarkthaften, das sich das Air gibt, bedeutend zu sein, wie das etwa eine Wahrsagerbude versucht. Die Literatur ist heruntergekommen auf Buchrücken, die die Sockel des ‚Throns' von Ehrl-König sind. Ihre Titel haben einzig die Funktion, die literarischen Vorlieben Ehrl-Königs anzuzeigen, der sich durch Büchmann-Zitate als Kenner darstellt. Er trägt Sätze vor, die Rainer Heiner Henkel zubereitet hat, gestanzte Bosheiten, die das Publikum lachen machen sollen. Das reagiert "mit Hingerissenheit, Lachen, Klatschen, auch schon mal mit begeistertem Johlen"(39). Dazu trägt ein Überraschungsgast bei, im Buche die amerikanische Autorin Martha Friday, mit der Ehrl-König einen nichtssagenden, aber anzüglichen Dialog führt, auf den sie gern eingeht.
Die (mündliche)Rezension des Romans von Hans Lach "Das Mädchen ohne Zehennägel" besteht dann aus Hinweisen auf die unerträgliche Beschränktheit der weiblichen Hauptfigur, auf die Unzahl der Personen des Romans , die aber nur Namen seien, auf dessen Umfang, der über die von Ehrl-König verordnete Seitenzahl hinausgehe, und aus allerhand Tralala, das sich auf ihn, den Kritiker, und seine Leiden und auf Martha Friday(deutlich Susan Sontag) bezieht. Der Roman Lachs wird zum schlechten Buch erklärt, dem gegenüber das neue Buch von Philip Roth zum guten. Das ‚kritische' Verfahren ist eine einzige Absurdität. Aber: "Die Leute seien begeistert gewesen. Die Kameras holten feuchte Blicke der Hingerissenheit in die Großaufnahme."(42) Aber: auf dem Verleger-Abend "brüllt als erster Bernt Streiff [ein Autor], offenbar schon völlig voll: Egal, wie man inhaltlich zu dem, was der Meister heute gesagt habe, stehe, es sei tierisch gut gewesen"(43).
Walser stellt einen Zustand der Literatur dar, der nicht mehr durch Argumente, ja nicht einmal durch begründete Meinungen entsteht, sondern durch eine blödsinnige mediale Inszenierung, der das Publikum und die Angehörigen der Literatur als Betriebsangehörige applaudieren. Es ist natürlich die Zerstörung jeder Vorstellung von ernsthafter Literatur. Und es ist der Sinn der Literatursatire Walsers, die Möglichkeit dieser Zerstörung zu zeigen, die ein dem Fernsehen und dem hampelmännischen Gebaren Ehrl-Königs sich auslieferndes Publikum, aber auch die literarischen Intellektuellen verschulden. Es wäre völlig lächerlich, dem Autor vorzuhalten, er übertreibe, als sei der Satiriker verpflichtet, sich an die Mimesis einer historischen Situation zu halten, aber es gehört natürlich zur satirischen Leistung, wenn die Rezeption, ob beglückt oder entrüstet, einen Zusammenhang mit der historischen Situation konstatieren muß. Rainer Heiner Henkel, der Ehrl-König gefördert und der schließlich mit diesem gebrochen hat, führt die kritische Aura seiner Figur gerade auf die Unfähigkeit Ehrl-Königs zu "reiner Verehrung" zurück, eine Unfähigkeit, die er zu einer "unersetzbare[n ]Funktion" gemacht habe: nämlich zur "Aufhebung jeder Verehrung durch ein Gegenteil"(110). Dabei bleibe nur noch ein Wert übrig, "der Unterhaltungswert". Es herrsche nun, dank Ehrl-König, "die Demokratie des reinen Werts"(117).
Ehrl-König steht für die Versöhnung , ja für die Identität von Medium und Publikum, und zwar gerade dort, wo das Medium durch kritische Darstellung, das Publikum durch kritisches Bewußtsein als unversöhnbare Elemente erkannt werden sollten. Ehrl-König, immer mit der Attitude des durch die Aufklärung legitimierten Kritikers(der Name Lessings wird toposhaft mehrfach aufgerufen), entlastet das Publikum gerade von der Aufgabe ernsthafter Rezeption durch die Produktion von Lachern und huldigt dem Medium auf Kosten der Literatur, indem er die mediale Beliebigkeit an die Stelle jedes argumentativ insistenten Eingehens auf den Text ("Verehrung") setzt.
In Ehrl-König sucht Walser die völlige Entleerung der Literatur sichtbar zu machen, an der die mitwirken, die verantwortlich für sie sind: der große Verleger, dessen Frau, die Schriftsteller selbst. Denn weder Lach noch Streiff noch gar Mani-Mani sind in der Lage und willens, sich dem Betrieb zu entziehen. Lach kann nur nach seinem Verriß einen Augenblick spontanen Widerstands erzeugen, der ihn zunächst zum Angeklagten macht und alsbald der medialen Omnipotenz Ehrl-Königs zugute kommt, obwohl der selbst nur ein Angestellter des Apparats ist. Lachs alter ego Landolf ist mit dem Mystiker Seuse beschäftigt , von dem er eine Stelle zitiert, die statt der "wercke" das "lassen" preist. Das zielt auf eine Literatur, die den Betrieb hinter sich läßt. Und Landolf fügt dem hinzu: den Weg dieses Lassens gründe "nichts als Sprache", "aber nachher fühlt es sich an, als sei man ihn wirklich gegangen"(59).
Ehrl-Königs Sprache gründet, wie Walser schon in ‚der akustischen Umschrift' seines Redens deutlich macht, dagegen im Geräusch, das keinen Sinn haben kann, aber "Unterhaltungswert" hat und einzig die Lacher erzeugt, in denen sich das Publikum als literarisches auflöst.

Wie die Präsidentin spricht

Die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Frau Prof. Jutta Limbach, jetzige Präsidentin des Goethe-Instituts, schrieb in der Zeitschrift "Deutschland"(Nr. 5/2002) u.a. den folgenden Satz :

"Die Sprache ist immer noch das erste Transportmittel, wenn man kulturelle Errungenschaften anderen nahe bringen möchte."

"Errungenschaft" könnte man bei einem besonderen stilistischen Interesse zunächst betrachten. Da mischt sich Juristensprache (früher einmal das Vermögen,das Gatten während ihrer Ehe erwerben),mit Kanzleisprache; später wird es dann ein politisches Wort: "Märzerrungenschaften" von 1848 - und geht dann in die Alltagssprache über. Doch hat es immer etwas an sich von anstrengender Bemühung, von Schwitzen, was man mit der Kultur nicht so gern zusammenbinden möchte.
Nun ist aber nicht das Stilisticum in Wahrheit wichtig,sondern der Kontext, in dem dieses Wort erscheint und dem es sich in bemerkenswerter Weise einfügt. "Die Sprache ist immer noch das erste Transportmittel", beginnt dieser Satz ja, und wenn man ihn liest, muß man sich fragen, wie das Bewußtsein der Sprecherin beschaffen ist. Die spricht doch davon, daß man anderen etwas nahebringen möchte, nämlich "kulturelle Errungenschaften". Das könnte zum Beispiel ein großer literarischer Text sein, sagen wir Goethes "Wahlverwandtschaften". Diesen Roman als "kulturelle Errungenschaft" apostrophiert zu hören, macht Pein, die wir aber tapfer überwinden.
Aber diese "Errungenschaft" wird mit dem "erste[n] Transportmittel" "Sprache" verbunden , die eben dies "immer noch" sein soll.
Machen wir uns so deutlich wie möglich, was hier vorgeht: Wir sollen und wollen z.B. einer Gruppe junger Tschechen, die deutsch sprechen können, die "Wahlverwandtschaften" nahebringen. Wir müssen das hier und in allen anderen Fällen natürlich in der Sprache tun. Während wir es tun, merken wir, daß wir, weil wir mit einem bedeutenden sprachlichen Text umgehen, selbst in einer Weise sprechen sollten, daß niemals der Eindruck entsteht, wir benutzten ein "Transportmittel". Es könnte sich übrigens auch um ein Bild, eine musikalische Komposition, eine Architektur handeln, die wir vermitteln wollen. Würden wir dies alles nahebringen wollen mit der Sprache als "Transportmittel", so hätten wir es von Anfang an verfehlt, denn die Sprache als "Transportmittel" wäre ein bloßes Instrument. Und das könnte gerade nicht die Kreativität der Sprache, die eben auch Malerei, Musik, Architektur haben, anzeigen. Sprache als "Transportmittel" ist ja deren reduzierteste Erscheinung, die übrigens selbst als solche gegen diese Reduktion sich wehrt, wie man an jedem "Transportmittel"- Satz und dessen ‚Sprachlosigkeit' zeigen kann. Wir wissen, nicht zuletzt aus der Jurisprudenz, welche Destruktionen eine aufs "Transportmittel" reduzierte Sprache anrichtet. Sie führt zu einer Instrumentalisierung der Welt, die wir heute überall zu durchleiden haben. Aber sie zu einem Wert erhoben zu sehen, als"erste[s] Transportmittel", was an das "erste Haus am Platze" ebenso denken läßt wie an eine "erste Gelegenheit", und solchen Schrecken noch kombiniert zu lesen mit einem "immer noch", bei dem man nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll, weil man nicht weiß, ob das "immer noch" für die Sprache derart zutreffen soll, daß man sie zwar jetzt noch, aber dann nicht mehr braucht, oder für das "Transportmittel" Sprache, das als die schlechteste Erscheinung der Sprache an ihr Ende kommen soll, das ist eine schmerzliche Erfahrung. Denn nicht ein Buchhalter, der froh ist, daß er die Sprache beherrscht, sondern die ehemalige höchste deutsche Richterin und die gegenwärtige höchste deutsche Kulturvermittlerin tritt mit einem solchen Satz vor das internationale Publikum, das, wenn es denn anderes im Sinn hat als das "Transportmittel" Sprache, nun besser als durch Produktions- und Absatzzahlen weiß, warum es mit diesem neuen Deutschland so steht, daß es kaum als "Errungenschaft" jemandem nahegebracht werden kann.

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VON STÄDTEN UND DENKMALEN

Wiesbaden und Umgebung
(im Winter)

Der Baedeker von 1895 sagt, es sei eine "freundliche Stadt" mit "schönen öffentlichen Anlagen und ihrer anmutigen Umgebung". "Das milde Klima und die trefflichen Heilanstalten locken vom ersten Frühjahr bis zum Spätherbst ganze Scharen von Gästen an." Man hat keine Ahnung, ob das jetzt auch so ist. Aber: "im Winter ist das Leben billiger als im Sommer", heißt es. Das kann man heute nicht mehr bestätigen. Es ist überall sehr teuer, und die Statistik, die behauptet, im letzten Jahr sei alles nur um eineinhalb Prozent teurer geworden , lügt wie alle Statistiken.
Man merkt, daß dies einst eine elegante Stadt gewesen sein muß, zwar nicht mit außerordentlicher Architektur gesegnet, aber mit Kursaal und Kurpark, mit dem "Neuen Theater", das jetzt Staatstheater ist, von Fellner und Hellmer 1892 - 94 erbaut, mit einem kleineren Boulevard, der Wilhelmstraße.
Aber wohin ist diese Eleganz eigentlich? Fehlt sie nur, weil es so kalt ist und die Wilhelmstraße darum ziemlich leer? Es gibt ja viele ansehenswerte Geschäfte, aber unter den Kurkolonnaden auch Lücken der Ladenlokale. Und wenn man in das vom Varta-Führer verzeichnete erste Café am Platze geht, ist das in keinerlei Sinn elegant, sondern eigentümlich asketisch, wegen der Kälte müssen auch allerwärts kleine Radiatoren aufgestellt werden. Nur die Kuchentheke glänzt pompös. Elegant ist es auch nicht in dem kleinen Altstadtbezirk, in dem unser hübsches Jugenstilhotel steht. Der ist eines der in den fünfziger Jahren zusammengewürfelten Viertel, das wie so manches in amerikanischen Städten downtown aussieht und eben in Westdeutschland allerwärts, weil die Stadtplanungen der frühen Jahre nichtssagend und langweilig waren wie nie zuvor. Jetzt soll das hier alles wieder geschleift werden, obwohl man nicht sehr auf das hoffen darf, was dann kommt. Überall wird einzelnes gebaut und dadurch die Straße versperrt. Und überall ist es verschmiert. Diese Räude, die sich über fast alle deutschen Städte gelegt hat und die das Publikum mit Stumpfsinn erträgt, macht das Mißlungene und das restaurierte Gelungene, das Edle und das Elende gleich. Nichts wird vor diesem Ausschlag bewahrt. Erst wenn man in irgendein Inneres kommt, ins Gasthaus, Museum, Theater, ist alles aufs glänzendste zubereitet.
An einem Abend lassen wir uns ins Käfer-Bistro weisen, das im alten Restaurant des Kurhauses untergebracht ist. Da kommen sich mit patinierten Holzwänden und allerhand Bildern und mit strengem französischem Tafelarrangement Altes und Neues angenehm entgegen. Man wird gut versorgt, freundlich und unauffällig. Und muß dafür umfänglich zahlen.
Oder das prächtige Staatstheater in gold, weiß und rot mit einem Foyer, gegen das die Sistina eine bescheidene Angelegenheit ist. Da und dort ist manches mal ein bißchen bestoßen, aber sonst in bestem Zustand. Niemand schmiert hier. Was lebt sich denn da für eine neue Einteilung aus? Die völlige Verwilderung draußen? Prunkende Bürgerlichkeit, in der alle Feudalität wie alle streng-teure Moderne aufgehoben ist, drinnen? Fährt man z.B. über die Mainzer Straße zur Autobahn, ist alles, was man sehen muß, verschmierenswert, und das sich auf Frankfurt ausrichtende Autobahngewirr hat alles niedergetrampelt, was früher einmal Landschaft hieß. Auf der glatten Rollbahn geht es zu den Türmen der Bankmetropole, dann auf eher buckligen Stadtstraßen mit schlechter Beschilderung nach Sachsenhausen zur Museumsmeile. Die Tristesse des Parkhauses (also auch drinnen) und die verschmierte Tristesse der Fassaden draußen. Das kunsthandwerkliche Museum, das jetzt Museum für angewandte Kunst heißt, gruppiert sich um die Metzler-Villa (man denkt an die Scheußlichkeit eines Mordes an einem kleinen Familienmitglied vor kurzem). Was sich da gruppiert, ist moderner Museumsbau, für den es natürlich auch entsprechende Architekten gibt. Gezeigt wird z.T. Beachtliches vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Aber es ist wie in allen Museen: die Legenden sind schlecht angebracht, schlecht zu lesen und vor allem stimmen sie oft nicht. Man stellt sich die ganze Crew von Kunstbeamten vor, die für sich, aber nicht fürs Publikum arbeiten. Ins Metzlerhaus, eine klassizistische Villa, darf man nur mit Begleitung, die man anfordern muß. Vielen Dank.
Irgendwo ist ein Museumsrestaurant. Es ist völlig leer, und man möchte schnell wieder hinaus, weil es so leer ist und ganz kalt wirkt. Aber die jungen Ober sind bemerkenswert freundlich.
Eine hübsche Rheingaustadt ist Eltville mit kurfürstlicher Burg, der Kirche mit Apokalypse-Fresken an versteckter Stelle, vielem hochglänzendem Fachwerk. Nicht sehr weit davon das Kloster Eberbach, das in einer Talsenke liegt und sehr Altes bietet, v.a. eine sehr große, sehr großartige Kirche aus den romanischen Anfängen der Zisterzienserzeit. Welche Wonne, daß man Zeit und Geld und die Fähigkeit hat, dies und so vieles mehr zu restaurieren.
Deutschland: ein Freilandmuseum inmitten von Nachkriegsscheußlichkeit und Schmiererei.

Rühmungen

"Monumente" heißt eine der schönsten und sinnvollsten deutschen Zeitschriften, die ich kenne. Sie soll der "Denkmalkultur in Deutschland" dienen, ein Begriff, der unnötig modisch ist, aber sie zeigt in Wahrheit, was Denkmalschutz leisten kann und darüber hinaus, welche Denkmale dieses Deutschland immer noch besitzt.
Man muß ja auch in diesem Zusammenhang zunächst den düsteren Hintergrund wahrnehmen Es ist wie fast immer in der neuesten deutschen Geschichte der Nazismus, es ist vor allem der Bombenkrieg, der das städtische, vor allem das großstädtische Deutschland so weitgehend und schrecklich zerstört hat. Der Bombenkrieg ist einmal ganz unmittelbar aus dem Nazismus entstanden, er setzt die Kriegslust dieses Regimes voraus, er setzt die vielen Luftüberfälle der deutschen Wehrmacht in Spanien, Polen und England voraus und er setzt natürlich die Zustimmung oder zumindest das Schweigen der Deutschen zu dieser Kriegslust des Regimes voraus. Das ist die eine Seite des Schreckens. Sie darf nie vergessen werden. Aber die andere gehört zu dieser ersten. Es ist die Barbarei derer, die die Barbaren besiegen wollten und besiegt haben. Es ist die völlige Kulturlosigkeit der englischen und amerikanischen Bomberkommandos und der dahinter stehenden Politik. Brandlegend wie die Soldateska des 16. bis 18. Jahrhunderts zerstörten gerade sie ja nicht die deutsche Barbarei, sondern europäische Architektur, die so gut die ihre wie die unsere war, und trafen gerade das, was das Unschuldigste in Bezug auf die deutsche Kriegsvorbereitung wie Kriegführung geblieben ist. So schwierig ist Geschichte geworden. Wer nur das eine oder das andere ausstellte, er löge.
Nach dem Krieg bauten die Deutschen auf. Was da in den fünfziger Jahren an Stadtarchitektur verbrochen wurde, macht heute noch wütend und schamrot. Es war, als hätten sich die schlechtesten Architekten des Zeitalters abgesprochen, um zu demonstrieren, wessen sie fähig sind. Überdies gingen diese von allem Geist verlassenen Horden hin und rissen vieles von dem, was überlebt hatte, ein. Sicher die Banausien eines Walter Ulbricht sind besonders eindrucksvoll, aber auch der Westen hat eine Vielzahl kleiner Ulbrichts hervorgebracht, die mit aller Anstrengung vor dem Bombenkrieg Gerettetes zerstörten und Scheußlichkeiten in allen deutschen Städten mit regster Unterstützung kulturfeindlicher Bauämter produzierten.
Daß dennoch so vieles an Außerordentlichem stehengeblieben ist, bleibt ein Wunder. Und daß es zu erheblichen Teilen schließlich durch Restaurierung ins Bewußtsein der deutschen Zeitgenossen gerückt wurde, bleibt eine Ruhmestat der Denkmalpflege und aller großen und kleinen Sponsoren. Von ihnen und vor allem vom Ergebnis ihrer Bemühungen kündet die Zeitschrift "Monumente". Angesichts der sinnlosen Verpulverung von Milliardenbeträgen in den guten Zeiten, ist hier keine Mark in überflüssiger Weise ausgegeben worden. Sicher, wir haben in den letzten 25 Jahren doch so etwas wie eine "Denkmalkultur" in Deutschland entstehen sehen, wenn das nämlich bedeutet, daß fast überall nicht die großen architektonischen Ensembles von Innenstädten, von Straßen und Plätzen, sondern mehr die Kleinteiligkeit einzelner "Monumente" wiederhergestellt wurde. Deutschland ist ein riesiges open-air-Museum geworden und ein ebenso riesiges Museum von Interieurs. Nicht wiederherstellbar ist der Gesamteindruck von Städten, wie man es ja in Danzig und Warschau immerhin versucht hat. Aber beides ist dennoch innerhalb der Barbarei des verflossenen und der Ignoranz des gegenwärtigen Zeitalters eine ‚Renaissance', aufs nachdrücklichste zu rühmen. Und es ist "Monumente", die Zeitschrift, dafür zu rühmen, daß sie es fertiggebracht hat, fertigbringt, sich als Führer durch jene Museen hervorzutun. Denn ohne jene Rettungen bestünde dieses Land nur noch aus Wohnungsställen und Verwaltungskerkern und Glashäusern, vor allem aber aus Autos,dem einzig originellen ‚Architekturbeitrag',der Deutschland in der Nachkriegszeit gelungen ist.

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VON DEN MEDIEN

Das vollkommen Idiotische

das uns heute überall und zu jeder Zeit anspringt, muß doch dann und wann benannt werden, damit es nicht als selbstverständlich passieren kann.
Natürlich erscheint es besonders drastisch in den Medien und dort vor allem im Feuilleton. Der Deutschlandfunk hat den absurden Einfall, Feuilletongerede auch noch von Sonntag zu Sonntag vorzustellen. So etwa die hundertjährigen Geburtstage zweier Autoren. Das ist schon für sich genommen ein Aberwitz. Denn daß es solcher runden Daten bedarf, um jemanden wahrzunehmen, kann nur einem Toren einfallen. Aber diesmal wird der Einfall dazu benutzt, die Erinnerten sofort wieder in den Orkus zu befördern.
Der eine der beiden ist Günther Anders, um dessen hundertsten Geburtstag es geht. Und das einzige, das wert ist, von Günter Anders erinnert zu werden, ist nach der Meinung des Feuilletonarrangeurs ein Ausspruch von Odo Marquard, der gesagt habe, Günther Anders sei ein Philosoph nur für Philosophen gewesen, was etwa so absurd sei wie ein Sockenhersteller, der nur für Sockenhersteller produziere. Abgesehen davon, daß einen solchen Pofel nicht einmal ein Feuilletonist wie Odo Marquard gesagt haben kann, ist es ein solcher Unsinn, daß er nur von einem kompletten Idioten, also von jemandem, der auch nicht den Ansatz einer Ahnung hat, verbreitet werden kann, wobei hinzukommt, daß dieser Ahnungslosigkeit wahrscheinlich noch irgendein Ressentiment attachiert ist, das an die Stelle der Ahnung zu treten versucht.
Denn wenn es einen neueren Philosophen gegeben hat, der n i c h t für Philosophen, sondern für jeden Reflektierten geschrieben hat, dann war es Günther Anders.Er hat allen Wert darauf gelegt,seinen zentralen Gedanken, daß nämlich unsere Vorstellungsfähigkeit nicht hinreiche, unsere technischen Fähigkeiten , insbesondere deren bisherigen "Gipfel", die Atombombe, einzuholen und zu begreifen, so kenntlich zu machen wie nur möglich. Daß er damit einen Gedanken von Karl Kraus hinsichtlich des ersten Weltkriegs aufgenommen hat, ist interessant genug. Aber fern von jedem Sachgehalt darf heute ein ressentimentärer Dummkopf über einen Sender etwas verkünden, was das genaue Gegenteil der Evidenz ist. Dazu bedarf es freilich einer öffentlichen Verblödung, die auch das Thema von Günther Anders war.

Wichtige Nachricht

Wenn ihnen die Natur-, die Verkehrs-, die Terrorkatastrophen vorübergehend ausgehen, kommen die medialen Nachrichtendirigenten in Verlegenheit. Der Deutschlandfunk entschloß sich an einem Tage sozusagen zur Duodeznachricht und meldete, und zwar an erster Stelle, es habe Wahlen zum tschechischen Senat gegeben. Bei den nächsten Nachrichten rückte diese Meldung an die zweite Stelle, aber nach offenkundigen Auseinandersetzungen in der Nachrichtenredaktion war sie bei der übernächsten wieder ganz oben.
Nun ist diese Meldung als solche schon von großer Faszination. Die wurde hier noch dadurch gesteigert, daß ein mittlerer Essay über das Ereignis erschien, der nach genauer Zahlendarbietung und allerhand Kommentar schließlich bei den Wahlen des nächsten Präsidenten der Republik endete, wobei natürlich noch der Name des jetzigen genannt wurde.
Zwar kennt der normale Nachrichtenredakteur gemeinhin nicht einmal den Unterschied zwischen Staatspräsident und Ministerpräsident, und auch hier hörte er sicher zum ersten Mal, daß es einen tschechischen Senat gebe, aber wenn so einer sich einmal mit einer Materie intensiv beschäftigt, dann gibt das aus. Und allerorten sah man Menschen auf den Straßen, die ihr stumpfes Schweigen durchbrachen: "Sie, ja bitte Sie, wie steht's mit den Wahlen zum tschechischen Senat?"

Wie ein ARD-Intendant redet, wenn er gefragt wird

Moloch und Elend klingen ausschließlich für Journalisten Klasse.

Dann kann man den Laden auch durchaus prägen.

...wir [können]natürlich im nächsten Jahr nicht sonderlich viele neue Projekte anschieben...

Hier sind wir seit Jahren top.

Mißerfolge gehören auch zum Geschäft.

Wir haben einfach nichts im Stock.

Dort wird Neues ausgetüftelt und dann auf die Schiene geschoben.

Denken Sie an den Grand Prix, die gelungene Wiederbelebung einer Leiche, die heute wieder fröhlich rumspringt.

Sicher, der Quiz-Trend wurde verpennt.

Und der Fundus an Leuten, die unfallfrei eine große Show-Treppe heruntersteigen können, ist begrenzt..

Von Volksmusik haben wir lange sehr gut gelebt.

Irgendwann landet jeder bei uns.

Alle prügeln uns da rein, und ich lasse mich widerstrebend hinterherziehen...

...obwohl dann 90 Minuten lang Fleisch gewordene Litfaßsäulen an der Bandenwerbung vorbeirennen.

Hier im NDR analysieren wir zur Zeit sehr genau, wo wir eventuell über die Hecke gefressen haben.

(Der Intendant des NDR Jobst Plog im "Spiegel" 1/2003. S. 150 f)

Uns' Heike

Manchmal gucken wir im Fernsehen, wie ein nettes Mädchen so tut, als führe sie mit dem Fahrrad durch Norddeutschland und treffe dort auf nette Ökobauern und dergleichen. In Wahrheit ist natürlich alles vorher arrangiert und uns' Heike fährt gerade die zwanzig Meter mit dem Rad, die eine Kameraeinstellung braucht. Aber was soll's , sagt der gewohnte Zuschauer, es bleibt doch hübsch, wie sie das machen und wie uns' Heike so tut, als mache sie es auch. Recht hat er natürlich. Die Frage bleibt nur, warum uns' Heike sich zur Attrappe machen läßt. Sie würde, danach befragt, sagen, sie sei Journalistin und bei näherer Erkundigung, sie habe schon auf der Schule so gut schreiben und reden können und da sei sie schließlich geworden, was sie geworden sei; auch betrachte sie diese Sendung als große Chance, weiter Karriere zu machen. Was könnte sie damit meinen? Was sie jetzt tut, ist freundlich sein und den Zuschauern sagen, sie wolle z.B. nach Otternstedt zu einer Dame, die Ziegen züchte. Und dann sehen wir sie dort wieder, und sie ist freundlich und fragt und sagt Sachen, die ihre vollkommene Ahnungslosigkeit bestätigen, obwohl sie natürlich vorher schon dort gewesen ist. Auch fragt sie immer, ob sie helfen dürfe. Dazu zieht sie sich eine Schürze an oder setzt sich ein Häubchen auf und dann ‚hilft' sie für eine halbe Minute auf ungeschickte Art, so daß die Ökobauern froh sind, wenn sie wieder, ohne allzuviel kaputt gemacht zu haben, aufhört zu helfen. Das ist natürlich alles von vollkommener Harmlosigkeit, und angesichts von Krieg und Terror wird man fragen, ob es sich lohne, dazu ein Wort zu sagen., Es lohnt sich insofern, als man daran aufs rascheste den Charakter des Fernseh-Journalismus studieren kann. Das arme Mädchen, das etwas Vernünftiges hätte lernen können, läßt sich in eine sogenannte Redaktion einfügen, in der sie, weil sie nett ist, den Anschein erwecken darf, sie mache eine kleine Reise, sei über die Gepflogenheiten der Leute, die sie besuche, aufs beste informiert und gebe ihre Kenntnisse nun weiter. In Wahrheit weiß sie nichts und kann sie nichts und wird sie nie etwas lernen. Sie kann nur ein bißchen plappern, was wahrscheinlich noch auf Anweisung erfolgt. Was sie plappert, hat immer die gleiche Qualität. So fragt sie in einer Landkäserei, wie man Landkäse mache. Oder sie fragt bei der Ziegenzüchterin nach den Ziegen, aber bei der läßt sie sich dann durch die netten Ziegen ablenken, und schon kriegt sie und kriegen wir die Antwort der Ziegenzüchterin gar nicht mit. Der Regisseur wird sagen, darauf komme es gar nicht an, Hauptsache sei, daß die Zuschauer sich über die Landschaft, die Tiere, die Bauernhöfe etc freuten und daß uns' freundliche Heike zu dieser Freude beitrage. So weiß man nun darüber Bescheid, wie Fernsehen gemacht wird. Es ist sicher nicht so schlimm, daß die Zuschauer auf liebenswürdige Weise blöd gemacht werden, aber daß Leute wie uns' Heike nicht mehr etwas Sinnvolles lernen wollen, sondern wahrscheinlich sehr stolz darauf sind, im Fernsehen fragen zu dürfen, wie denn der Käse gemacht werde, das ist schon schlimmer.

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

1945

Anfang Februar wird ebenso festgehalten, daß es "wunderbar warm" wie, daß "die Lage an der Ostfront nicht so besonders" sei, "die Sowjets" aber auch nicht "vordringen konnten" und daß "im Westen kleinere Einbrüche beseitigt" wurden.
In der Schule wird nur noch einmal die Woche unterrichtet, und zwar in fünf Stunden zu 30 Minuten.
Nach Mannheim zu den Verwandten zu fahren ist schon ziemlich schwierig. Wenn es gelingt, gibt es dort bspw. keinen Strom und statt der Straßenbahn, deren Oberleitung defekt ist, wird ein Bus in den Vorort, in den ich fahren muß, eingesetzt.
Ich gehe in den Konfirmandenunterricht, lese z.B. "Kleine Weltlaterne" von Peter Bamm, schreibe an Kinderfreunde und habe manchmal Heimweh. Schon mit zwölf Jahren hatte ich einen sogenannten Kleinstaat gegründet, den ich auch in H. weiter durchspiele mit Regierung, Gesetzen und Bekanntmachungen.
Im Stift sind nur noch wenige. Mit einem Gleichaltrigen unterhalte ich mich "über die Zeit vor dem Krieg".
Die Fliegeralarme häufen sich nun: mehrmals in der Nacht und am Tage. Mitte Februar wird ein Großangriff im Westen verzeichnet.
Aus der Stadtbücherei werden Bücher entliehen, zur gleichen Zeit "Plisch und Plum" von Wilhelm Busch und "Brand an der Wolga" von W. Boje, in dem "die Leiden der Wolgadeutschen" dargestellt werden. "Hoffentlich bleiben wir davon verschont."
Von zu Hause kommen, sehr verspätet, zum Geburtstag noch Päckchen mit einem Pullover, Handschuhen und Plätzchen.
Anfang März hört man, daß die Amerikaner Krefeld besetzt haben, dann Homberg, das D. gegenüber liegt. Die Schulen werden in H. endgültig geschlossen. Ich lese u.a. von Henry Ford: "Mein Leben und Werk" und auch "Der Befehl des Gewissens" von H. Zöberlein, einen Nazi-Roman. Die Lebensmittelrationen werden verringert. Meine Schwester, die mit ihrer einjährigen Tochter von Frankfurt/Oder nach Thüringen geflüchtet ist, bittet in einem Brief um Gemüse für das Kind.
Mitte März wird in H. die Bachsche Johannes-Passion aufgeführt. Ich fahre noch einmal nach Mannheim, aber wenige Tage später kommen Tante und Großmutter nach H. und werden in einer Wohnung untergebracht. Ich muß in den Tagen darauf in Mannheim noch Sachen aus dem Haus der Tante holen.
Tieffliegerangriffe setzen uns zu. Am 26. März beginnt die Beschießung von Mannheim, die man auch in H. hört. Die Amerikaner sind bereits in einem Vorort von Mannheim. Ich bekomme noch eine Karte von meinen Eltern. In H. wird die Neuenheimer Brücke, die damals Hindenburgbrücke hieß, gesprengt: "Ich finde, daß es Unsinn ist. Wie lange wird es noch dauern?"
Wir kaufen im "Kolonialwarengeschäft" in Handschuhsheim noch rasch für das Stift ein, was zu haben ist. Einen Tage später, am 30. März, Karfreitag, ziehen die Amerikaner in H. ein. "An der Johanniskirche ist ein Geschütz aufgebaut. Das schießt andauernd mörderisch." "Die Amerikaner requirieren nun auch schon Wohnungen." Man schläft noch im Keller.
Ostern geht man bereits wieder in die Kirche. Das Stift muß nicht geräumt werden.
Ich notiere Anfang April: "Der Führer soll in Japan sein, Goebbels soll sich erschossen haben etc. Quatsch."
Ich suche sehr nach einem Friseur. Neue Lebensmittelrationen werden bekanntgegeben. Im Stift bekommen wir täglich wieder vier Schnitten Brot.
Mitte April laufen Tante und Großmutter mit einem Leiterwägelchen zurück nach Mannheim. Ich begleite sie bis Ladenburg.
Aus einer privaten Leihbücherei besorge ich mir "Satan und Ischariot" I von Karl May.
Generalfeldmarschall Model habe Selbstmord begangen, wird eingetragen.
Und am 20. April, Hitlers Geburtstag: Goebbels habe "nur Phrasen" gedroschen. "Länger als drei Wochen kann nach meiner Ansicht der Krieg nicht mehr dauern." In Berlin seien schwere Kämpfe. Ich fahre mit dem Rad nach Mannheim.
Anfang Mai können wir kein Radio hören und also auch keine Nachrichten.
Das wird bedauert. Schon am 5. Mai heißt es, der Krieg sei aus. Das tägliche Leben sei eintönig. Die Verdunklung in H. wird aufgehoben. Es ist schon im Mai sehr warm.
Es gibt viel Spargel , und auch die "sonstige Verpflegung" ist, heißt es, "verhältnismäßig gut".
Die Stadtbücherei hat seit Mitte Mai wieder geöffnet. Ich lese u.a. "München" von Müller-Partenkirchen.
Nun werden die Lebensmittelrationen wieder gekürzt. Es findet wieder eine Fronleichnamsprozession statt "mit großem Pomp und zahlreicher Beteiligung".
Unser früherer Schuldirektor fragt im Stift, ob wir Landarbeit auf einem Hof machen wollen. Dafür gibt es große Schnitten Brot. Wir besorgen im Odenwald Heidelbeeren und Erbsen.
Schirach und Ribbentrop seien gefangen genommen worden.
Mitte Juni bringt mir "ein Herr", es war wohl jemand aus der weiteren Nachbarschaft, einen Brief von den Eltern. Nun will ich rasch nach Hause, und "Frau Pfarrer", die anstelle ihres Mannes das Stift leitet, versucht, mir eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen. Um fahren zu können brauche ich von den Amerikanern einen Passierschein, den ich in Mannheim nach langem Warten bekomme. Als es nach fast einem Monat immer noch nicht mit einem Auto klappt, mache ich mich allein auf den Weg. Ich fahre mit Kohlenzügen und komme schließlich nach Köln. Dort sitze ich auf meinem Köfferchen vor dem beschädigten Dom, bis ich Richtung D. weiterfahren kann. Verdreckt komme ich an unserer Wohnung an.
Über die folgenden zwei Monate weiß ich nichts mehr. Mitte September fange ich an, ausführlichere Notizen zu machen.
Zu dieser Zeit muß ich zum Arbeitsamt, um eine Arbeitskarte zu bekommen, die wiederum Voraussetzung für Lebensmittelkarten ist. Eine Weile arbeite ich in einer Eisenhandlung, bis es im Oktober zunächst Privatunterricht und kurz darauf Schulunterricht gibt. Der findet in einem alten Volksschulgebäude statt. Die Schüler versammelten sich im Hof,und an einem Fenster im ersten Stock erschien der Direktor, ein alter Zentrumsmann,der sich später als der dienstälteste Oberstudiendirektor in Nordrhein-Westfalen berühmte. Er trug ein Mützchen und sprach Worte zur Einführung. Im Klassenraum waren nur ein paar Scheiben eingesetzt, es war ziemlich dunkel. Als sich ein Mitschüler darüber beschwerte, sagte der Klassenleiter: "Wißt Ihr was, Jungens, wir haben den Krieg verloren." Man hatte zu enge Schuhe, fühlte sich unverstanden, sah die meisten Menschen als "Skeptiker und Zweifler", die "in eine stumpfe, alles vergessende Gleichgültigkeit und Lethargie" verfallen seien.
Die Lebensmittelrationen werden verzeichnet: im Monat gibt es für Jugendliche 11000 gr Brot, 650 gr Fett, 400 gr Fleisch und 8000 gr Kartoffeln.
Die Engländer lassen die Bildung von Parteien zu. Im Oktober finden Betriebsratswahlen in einer Zeche statt: 53% Kommunisten und 42 % Sozialdemokraten. Der Postverkehr läuft wieder in allen Besatzungszonen. In D. finden die ersten Konzerte statt. Ein Operettentheater wird eröffnet. Am 9. November beginnt der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg. Regelmäßig werden die abendlichen Korrespondentenberichte am Radio gehört. Die Gründung der UNO wird registriert.
Im November ist es schon sehr kalt. Im Dezember wird ein Krippenspiel in der evangelischen Notkirche, einer größeren Wohnung, vorbereitet. Zu Weihnachten gibt es u.a. neue Halbschuhe und am Heiligen Abend Schnittchen und Kartoffelsalat.
Zu Sylvester kommt eine Mitteilung von der Schule, daß meine Versetzung gefährdet sei. Am Abend werden zwei Flaschen Rotwein und "etwas Likör" getrunken. Das Neujahrsläuten der Glocken wird erwähnt.





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