Zur Lage der Nation
Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und
zu den Medien in Deutschland
Herausgegeben von Helmut Arntzen

Nummer 5 (März/April 2003)




Inhalt: VON KRIEG UND FRIEDEN: Der Westen und der Islam. Kultur versus Religion - Parallelwelten - Ein Sternenmärchen - Eine Fabel - Wann demonstriert werden muß - Kleinigkeiten - Was sagt man öffentlich, wenn ein Krieg anfängt - Eine Fabel - Friedens-Deutschland und der Nahe Osten. Ein Capriccio - VON DER GESCHICHTE UND DER GEGENWART: [Tagebuch 9.2.1963] - Zum 17. Juni 1953 - Zwei Aphorismen - Der "Spiegel" und die Lage der Nation - VON DEN DEUTSCHEN: Aufklärung, Reaktion, Homosexualität - Zum Ethos der Deutschen - Berlin und seine Unruhen - VON DEN MEDIEN: Die Medien vor 75 Jahren (von Karl Kraus) - Kleiner Beitrag zum Journalisten-Knigge - Drei Aphorismen - VON DER JUSTIZ: Justiz bei der Arbeit - Eine Fabel - VON DER THEOLOGIE: Sprich nur ein Wort - Zwei Aphorismen - VOM ALLTAG: Ein Prozeß in Deutschland - Ein Aphorismus - VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1946.

 

VON KRIEG UND FRIEDEN

Der Westen und der Islam
Kultur versus Religion

Voraussetzungen

Die sich gegenwärtig abzeichnende globale Auseinandersetzung ist keine mehr zwischen einer pragmatisch und einer dogmatisch tendierenden Ideologie, sondern eine Auseinandersetzung zwischen einer Kultur und einer Religion.
Die Kultur ist die des Westens, wobei Westen hier keinesfalls nur Europa und Nordamerika meint, sondern erhebliche Teile Asiens, etwa Japan, aber auch China, weiter Südamerika, ja sogar und zum Teil Afrika. Diese Kultur des Westens hat sich zwar konstituiert durch Judentum, Christentum, griechisches Denken und viel später durch die Aufklärung, aber beides ist längst verwandelt worden in die heutigen Konstituenten dieser Kultur: nämlich Technik und Kapitalismus. Erst in diesen beiden Elementen hat die Kultur des Westens heute ihr Gemeinsames, sie haben alle Wirklichkeit zu Fakten, Tatsachen und zu Waren mutiert. Alles jenseits dessen Liegende, also Religion, metaphysisches Denken, Sprache werden nur noch akzeptiert, soweit sie jener Gemeinsamkeit adaptierbar sind. Natürlich gibt es religiöse, philosophische und sprachliche Tendenzen, die sich von jenem Gemeinsamen freihalten wollen. Man wird nur die Frage stellen müssen, wie weit ihnen das gelingen kann. Greift der Papst, der ohne Zweifel Tendenzen jenseits von Technik und Kapitalismus vertritt, in die öffentliche Debatte ein, so wird er dann akzeptiert werden, wenn er die eigenen Tendenzen den gemeinsamen Elementen der westlichen Kultur vermitteln kann. Das galt z.B. für seinen Friedensappell. Der wurde akzeptiert, weil es eine starke Strömung im Westen gibt, die ebenfalls unter dem Namen des "Friedens" vereint ist, aber nicht Frieden als den Zustand einer versöhnten Menschheit meint, sondern vielmehr das wohlständige Leben, das mit möglichst wenig Gewalt auskommt, mehr also den Zustand eines funktionierenden Kapitalismus. Plädiert der Papst dagegen für die Heiligkeit des ungeborenen Lebens, so gilt das weitgehend als unakzeptabel und obsolet.
Die Religion ist die des Islam, die vor allem Länder des Nahen und des Fernen Ostens wie auch von Teilen Afrikas umfaßt. Die Religion des Islam konstituiert sich durch den als Offenbarung verkündeten Koran und durch den Propheten Mohammed, die beide ständig und allein auf den einen Gott (Allah) hinweisen. Diese Konstituenten haben sich bis heute nicht geändert. Alle Wirklichkeit ist auf Allah bezogen, eine Beziehung, die im Koran und durch den Propheten Mohammed ausgesagt wird. Alles Denken, alles Handeln, alle Sprache sind allein akzeptabel, insofern jene Beziehung in ihnen kenntlich wird. Dennoch gibt es technische und kommerzielle Tendenzen auch innerhalb der Länder des Islam, wobei behauptet wird, sie seien in den Dienst der Religion genommen worden.
Das Hauptproblem der heutigen globalen Auseinandersetzung besteht darin, daß die beiden einander gegenüberstehenden Größen als Kultur und als Religion ganz unterschiedlich strukturiert sind, also eine Gegenüberstellung unter gleicher Begrifflichkeit sehr schwierig ist.

 

Die Kultur des Westens

Die Kultur des Westens ist als historisch bedingte und gewachsene Kultur in einem ständigen Veränderungsprozeß. Dieser Veränderungsprozeß zeigt sich darin, daß die (primären) Konstituenten der Kultur heute nur noch Momente innerhalb der (sekundären) Konstituenten der Gegenwart sind, nämlich von Technik und Kapitalismus. Wie kommt es zu deren Dominanz? Die hat natürlich etwas zu tun mit der Durchsetzung der Aufklärung, die ja Religion und Metaphysik kritisch bedenkt, d.h. ihren behaupteten Wirklichkeitscharakter allein an menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung und an den Gesetzen der Mathematik mißt. So ist für den Positivismus (als Folgewirkung eines Teils der Aufklärung) evident nur das sinnlich Gegebene und das Meßbare. Wird damit die Wirklichkeit neu begründet, so erweist sich als bestes Wertsystem hinsichtlich dieser neuen Wirklichkeit der Kapitalismus, weil auch er von der Wahrnehmbarkeit und Meßbarkeit von allem und jedem ausgeht, so daß der Wert nun präzis in einer Zahl, dem Preis, ausgedrückt werden kann. So ergeben sich ein universales System der Wirklichkeit und ebenso ein universales Wertsystem, die sich nach den Anfängen in der Renaissance seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vollkommen durchsetzen.
Die (primären) Konstituenten der westlichen Kultur wurden in einigen historischen Kontexten z.T. oder ganz außer Kraft gesetzt (französische Revolution, Kommunismus, Nazismus), zumeist aber den neuen oder verwandelten Konstituenten adaptiert . Es wird nun z.B. das empirische Moment in Judentum und Christentum, also die Wahrnehmung des Irdischen und die pragmatische Moral auch von vielen ‚Gläubigen' in den Vordergrund gestellt, selbst wenn es sich dabei um krasse und verfälschende Veränderungen der überlieferten Texte handelt. So wird der Verzicht auf Waffen bereits als Frieden im christlichen Sinn verstanden und damit die Differenz von "meinem Frieden" (Jesus) und "Frieden, den die Welt gibt" verschwinden gemacht.
Unterhalb von Technik und kapitalistischer Wirtschaft, die freilich nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden dürfen, kann sich nun das entfalten, was man "pluralistische Gesellschaft" nennt, ein im ganzen beliebiges Nebeneinander von Tendenzen, die sozial, aber auch gänzlich asozial, ethisch oder ethisch neutral, ja unethisch, an den überlieferten Normen, aber auch anomisch orientiert sein können. Diese "pluralistische Gesellschaft" hat ihren Ursprung in dem Individualismus, wie ihn ebenfalls die Aufklärung nach Anfängen in der Renaissance postuliert hat. Individualismus ist pragmatisch in der Erfahrung der "Einzelheit" jedes Menschen, die dann zur Einzigartigkeit in der Tradition des Christentums wie in den moralischen Postulaten der Aufklärung überhöht wird. Sie finden sich am deutlichsten in Kants "Kritik der praktischen Vernunft", wo der Individualismus als Bewußtseinsgröße, also als Subjektivität erscheint, der abverlangt wird, daß die Maxime ihres Handelns die Maxime des Handelns aller sein könne. Doch hat sich diese Subjektivität historisch nie realisiert. Sie ist weder im ethischen noch im politischen noch im wirtschaftlichen Handeln anzutreffen. Vielmehr stellt sich der Individualismus lediglich in einem mehr oder minder planen und chaotisierenden Egoismus dar, der wirtschaftlich sogar legitimiert , politisch zur demokratischen Abstimmung mit Mehrheitsentscheidung sublimiert wird, ethisch aber vor allem einen evolutionistischen "struggle for life" produziert.
Wenn nun auch im sozialen Interesse die Gesetze des bürgerlichen Staates weiterbestehen, so nur soweit, als die technischen und wirtschaftlichen Gesetze und gleichzeitig die Interessen der Mehrheit der Individuen nicht tangiert werden. Auch sind diese Gesetze im einzelnen nahezu beliebig interpretierbar, so daß Delikte ganz Verschiedenes bedeuten können: Mord kann z.B. als Völkermord schlechthinniger Gewaltabusus sein, so daß dann auch die obsolete Todesstrafe als gerechtfertigt gilt (Nürnberger Prozesse), er kann aber auch das Fehlverhalten eines Jugendlichen sein, das so zurückhaltend als eben noch möglich geahndet wird. Der Jugendliche kann einer klar umrissenen Altersgruppe angehören, er kann aber auch nach dem Gesetz ein junger Erwachsener sein, dem gutachterlich bestätigt wird, daß sein Verhalten noch keineswegs mit seinem nominellen Alter übereinstimmt, obwohl das wieder bei politischen Entscheidungen den Ausschlag gibt. Kurz alles, was in der "pluralistischen Gesellschaft" des Westens geschieht, unterliegt völlig verschiedenen Bewertungskriterien. So ist bspw. das sexuelle Verhalten in einer Weise liberalisiert, wie es bisherige Gesellschaften nicht kannten. Pornographie wird in jeder Form geduldet. Es wird aber nicht begriffen, daß damit latent oder offenkundig die Grenzen zur Gewalt überschritten werden, sondern es wird nur von Fall zu Fall(z.B. Kinderpornographie), der sich aber oft als Häufung von Fällen erweist, eine Sanktion vorgenommen, die zu keinerlei grundsätzlichen Überlegungen führt. Oder es werden große Bemühungen zur Eindämmung des Drogenkonsums bei Jugendlichen unternommen, gleichzeitig aber der Konsum von Alkohol ebenfalls bei Jugendlichen nicht nur gebilligt, sondern z.B. durch Reklame und sogenannte Feste gefördert.
Die soziale Verpflichtung des Eigentums wird einerseits betont, gleichzeitig aber vieles getan, um außerordentliche Gewinne zu ermöglichen, die als völlig asozial sich auswirken.
Kulturell stützt man sich auf die große künstlerische Überlieferung, zerstört aber gleichzeitig durch alle möglichen theatralischen und außertheatralischen Inszenierungen deren Sinn und deren Postulate. Auf den Ernst der politischen und wirtschaftlichen Lage wird häufig hingewiesen, gleichzeitig werden alle Formen der Spaßgesellschaft direkt und medial proklamiert.
Im Rahmen des Tatsächlichen der Technik und des Wertes dieses Tatsächlichen in Gestalt des Kapitalismus als der einzigen allgemeinen Vorgaben kann der Individualismus sich in jeder Form ‚selbst verwirklichen'.
Die Kultur des Westens ist bis zum Exzeß inhomogen und wird nur von Fall zu Fall durch Abstimmungen oder Machtmittel von meist staatlichen Institutionen, die man unter tradierte Vokabeln (Freiheit, Demokratie etc) stellt, zusammengehalten.
Ihr Verhältnis zum Islam ist ebenso diffus wie ihre eigene Verfassung. Geht es darum, die eigenen individualistischen Möglichkeiten im Rahmen von Technik und Kapitalismus zu bewahren, so plädiert man, auch gegenüber einem blutigen Schlächter wie Saddam Hussein, für Frieden. Erscheinen jene Möglichkeiten unmittelbar durch Terror bedroht, wie nach dem 11.September 2001, plädiert man für entschiedene Abwehr, die allerdings möglichst wenig in die individuelle Lebensführung eingreifen soll.
Es gibt also keine klare Position gegenüber dem Islam. Vielmehr ist die Struktur der westlichen Kultur so diffus, daß wir von Zustimmung und Toleranz bis zur Feindschaft und Abwehr alle Verhaltensformen antreffen können.
Auch wird der Islam gemeinhin nicht als Religion wahrgenommen, sondern als Lebensform und gesellschaftliche Größe, bei denen das Religiöse nur ein Appendix ist, im Vordergrund aber soziale Themen wie Reichtum/Armut, technischer Fortschritt, politische Freiheit u.ä. stehen.

 

Der Islam

Er zeichnet sich nicht so sehr durch reale Einheit als vielmehr durch die ständige Tendenz auf Einheit aus. Schon Sunniten und Schiiten sind frühe Erscheinungen der Spaltung im Islam, die aber als ständige Mahnung zur Einheit verstanden werden, schon insofern sich beide gleichermaßen auf den Koran und auf den Propheten berufen.
Beides repräsentiert die ideelle Einheit des Islam in einem ungleich stärkeren Maße, als es z.B. die Bibel alten und neuen Testaments für das Christentum tut. Die katholische Kirche des Mittelalters ist stärker als durch die Bibel durch ihre Einsetzung durch Jesus Christus und durch die ständige Gegenwart des Heiligen Geistes in Papsttum, Konzilien und Gesamtkirche geprägt. Dagegen kennt der Protestantismus als verbindlich nur das Wort der Heiligen Schrift, das allerdings wiederum zwischen dem leibgewordenen Gotteswort in Gestalt Jesu und dem Wort der Bibel changiert. Beides bedarf freilich - und damit beginnt die neuzeitliche Durchsetzung der Subjektivität in Europa - der ständigen Auslegung, zu der aber jeder mündige Christ berufen ist. Die Homogenität des Islam sucht sich dagegen unbezweifelbar zu machen, insofern der Koran sich selbst als unmittelbar von Gott gegeben bezeugt und insofern der Prophet als der einzige Überlieferer dieses Korans anerkannt ist.
Der Koran, so scheint es mir, ist unter den Heiligen Schriften der drei Offenbarungsreligionen, deren zwei ihm vorausgehende auch vom Islam und im Koran anerkannt werden, die rigideste. Als Hauptinhalte des Korans sehe ich das Postulat der vollkommenen Unterwerfung unter den Willen Allahs, die Erfüllung der religiösen Hauptpflichten, die Verpflichtung zum Dschihad als Ausbreitung des Islam über die ganze Welt, die auch mit Gewalt zu erfolgen hat, die Voraussage und Androhung des Jüngsten Gerichts in Gestalt von Belohnung und Strafe.
Diese Rigidität ist zum einen, wie sich historisch zeigt, nicht durchzusetzen, andererseits wird sie im Laufe der Jahrhunderte immer wieder postuliert. Auf sie treffen wir auch in den terroristischen Anschlägen, wie sie bisher im Geschehen des 11. September 2001 gipfelten. Es ist nicht primär wichtig, ob diese Terroranschläge von Autoritäten des Islam für unislamisch erklärt werden, den Tätern und ihren Instruktoren (Bin Laden) erscheinen sie als ganz und gar islamisch. Sie haben weder etwas mit psychischen Defekten noch mit Aggressionen der Täter gegen Reichtum und Erfolge des Westens vor allem zu tun, sondern gelten jenen und ihren Lehrmeistern als die nicht umgehbare Durchsetzung des Islam, wie sie der Koran vorschreibt, und als die Abwehr der Kultur des Westens, die freilich zunächst in religiöse Kategorien übersetzt werden muß, so daß der Westen nun unter einer Kategorie wie "Kreuzzug" erscheint, was allenfalls für einen Teil der amerikanischen Kultur als Teil der Kultur des Westens gilt.
Gleichzeitig kennen wir aber im Raum des Islam die Faszination durch den Westen und den Wunsch, dessen Errungenschaften ebenfalls zu besitzen. Hier besteht ein ständiges Dilemma, das aber anders strukturiert ist als das Diffuse des Westens. Es entsteht aus dem Nebeneinander von ‚wörtlicher' Erfüllung des Korangebots und lebensweltlichem Interesse an einem ‚Fortschritt', wie er vor allem durch den Westen repräsentiert wird. Dieser ‚Fortschritt' stellt sich ja zunächst in den Kategorien Technik und Kapitalismus dar, dann aber auch in der des Individualismus. Es zeigt die Fremdheit des koranischen Denkens gegenüber diesen Kategorien, daß es zwischen diesen und dem Islam keine plausiblen Vermittlungen gibt, sondern daß Technik, Kapitalismus und Individualismus sich lediglich in den krudesten, ja primitivsten Formen innerhalb der islamischen Welt zeigen, so daß das Islamische in diesen Bereichen nur noch als Dekoration ganz und gar materieller Interessen vorkommt.- Wie der Westen den Islam nicht als Religion, sondern als Kultur betrachtet, so betrachtet der Islam den Westen als Religion ("Kreuzzug").
Erhält sich der Islam als Religion, so steht er einer Kultur gegenüber, mit der eine Vermittlung auch im antagonistischen Sinn kaum möglich sein wird, und zwar darum, weil es sich bei dieser eben nicht um eine Religion handelt und weil diese Kultur äußerst diffus ist, so daß es gar keinen ‚Angriffspunkt' für eine Religion gibt. Kehrte diese Kultur aber zu ihren religiösen Ursprüngen zurück, was theoretisch und praktisch sehr schwer vorzustellen ist, so träfen z.B. zentral aufeinander das christliche Gebot der Nächstenliebe und das Gerechtigkeitsgebot des Islam, das aber nur den eigenen Glaubensgenossen gilt.

In diesen Situationen taucht oft die Frage nach einem Dritten auf. Dieses Dritte könnte nicht entstehen durch das Festhalten an den Grundbegriffen der beiden ‚Systeme'. Die Kultur des Westens müßte die Dominanz von Technik und Kapitalismus wie den egoistischen Individualismus aufgeben, der Islam zumindest die Überzeugung von der Notwendigkeit der Bekehrung der Welt zum Islam und von der Erfüllung der Geschichte in Lohn und Strafe. Diese Verzichte sind sehr unwahrscheinlich.
Andererseits gibt es ein Drittes als gemeinsame Kategorie, das im Westen allerdings völlig verwässert und instrumentalisiert, im Islam in der Form des Korans dogmatisiert ist. Es ist die Idee der Sprache. Sie ist in Judentum (Genesis 1) und Christentum (Johannes-Evangelium) leitend, aber auch im Islam als Wort des Korans und des Propheten. Könnte man von den jeweiligen und auf verschiedene Weise problematischen Ausformungen der Sprache dort und hier absehen und ein Konzept begründen, das sich auf die Sprache als Konstituens des Menschseins stützt, so daß es fundamental also nicht um Tatsachen, Ideologien oder Glaubenssätze geht, sondern darum, zu beginnen so zu sprechen, daß Sprache als unsere Existenzform erscheint, so wäre ein rettender Gedanke gefunden. Sprache als unsere Existenzform bedeutet, daß unser Handeln, Denken, Fühlen als menschliches sich nicht bloß durch sogenannte sprachliche Mittel aktualisiert, sondern an sich selbst sprachlich ist. Dagegen richtet sich jedes Denken, das vom Primat der Tatsachen oder von Ideologien ausgeht. Das Denken in dieser und jener Tendenz ist aber in unserer Gegenwart das beherrschende. Es generiert allein Gewalt. Ob also die materialen wie dogmatischen Widerstände dagegen überwunden werden können, ist sehr fraglich, würde aber unseren Untergang beenden können, der unser einziger Fortschritt geworden ist.

 

Parallelwelten

I. Wie soll man es erklären? Überall in der Welt gingen Zehntausende, Hunderttausende wegen des Irak-Krieges auf die Straßen, meist sehr junge Leute. Unter den Linden in Berlin gab es ein Friedenscamp. Da wurde nicht nur demonstriert, sondern den ganzen Tag und die Nacht für den Frieden gelebt. Ein Mädchen sagte im Radio, sie arbeite an einem Transparent. Auf dem wolle sie für eine Kuschelecke für den Frieden werben. "Kuscheln für den Frieden", sagte sie, "mit Herzchen und Blumen". Was würde sie sagen zu den dreißig bis vierzig Millionen Toten im Holocaust , bei Stalin, Mao, Kim Il Sung, Pol Pot (der versuchte, sein eigenes Volk auszurotten), in Afrika, also im Kongo, in Ruanda, in Liberia, in Angola, im Sudan etc, etc? Warum haben erste Priorität bei den Friedensdemonstranten die Kinder im Irak und warum haben die anderen gar keine? Natürlich, sie wissen es nicht. Aber sie könnten es doch wissen, wenn sie statt der Ausgestaltung der Kuschelecke in die Bücher guckten. Vielleicht wollen sie das aber gar nicht. Jetzt hat man eine Welt aus Kuschelecken und allerlei Wohlstand, und da kommt dieser Cowboy und will einem und den irakischen Kindern das alles nehmen. Sie wollen nicht wissen, was mit dieser Welt los ist.
Sie haben angenehm gelebt, haben getourt, waren auf der Love Parade, machen viele Partys, nennen das Frieden und sind gegen dessen Störung. Es war alles hell und angenehm und nun das. Da muß demonstriert werden. In Wahrheit war es seit Jahrzehnten finster und die Finsternis reichte bis in die eigenen Wohnzimmer und Kuschelecken. Aber man hat ein System der Nichtwahrnehmung ausgebildet. Die Wahrnehmung des Irak-Krieges ist die am wenigsten beunruhigende. Selbst Saddam Hussein, den sie nicht für nett halten, kann noch ein bißchen in die Kuschelecke. Nur George W. Bush muß draußen bleiben. Verdrängung? Oder mehr eine auf Einfachheit bedachte Regression , ein universeller Infantilismus?

II. "Wir haben über fünfzig Jahre in Frieden gelebt", das ist die Grundformel für alles Weitere in Deutschland. Man könnte fast sagen: sechzig Jahre, obwohl die Friedensjahre von 1945 bis 1949 nicht so waren, wie es jene Formel impliziert. Aber vielleicht waren sie gerade darum realer. Dieser ganz und gar wacklige Frieden, der jeden Augenblick in neue Gewalt umkippen konnte, seitdem die alten Kriegsallianzen sich in neue Gegensätze verkehrt hatten, war der ‚Frieden nach dem Krieg': ruinös, armselig, mit Hunger und Kälte, mit den Deutschen als Parias, mit dem einzigen, allerdings unerhörten Fortschritt: keine Bomben, keine Alarme, keine Flucht in Keller und Bunker, kein täglicher Schrecken.
Es war auch der Frieden, der viele Leute veranlaßte nachzudenken, zu lesen, sich Stücke anzusehen, die das damalige Grundgefühl reflektierten, manchmal schon die gerade zu Ende gehende Vergangenheit aufnahmen, nach Hitler und seinem Erfolg fragten, an dem ja die meisten mitgewirkt hatten.
Viele andere Leute waren allerdings an dieser Frage nicht interessiert. Sie hatten sich sofort etwas zurechtgelegt, was darauf hinauslief, daß alles über einen gekommen sei: Hitler und die Folgen - und daß darum von Verantwortung höchstens in einem sehr abstrakten Sinne zu sprechen sei. Das war wiederum die Voraussetzung dafür, sich mit aller Energie an den Aufbau zu machen und den Wiederaufbaufrieden einzuüben. Nach 1648, nach dem Siebenjährigen Krieg, nach 1815, nach dem Ersten Weltkrieg war Frieden vor allem das Ende des Krieges als Gewalt und unmittelbare Not. Das war auch der Frieden zwischen 1945 und 1949 gewesen, wobei die unmittelbare Not oft erst jetzt begann. Aber seit 1950 war Frieden nicht mehr das Erwachen aus dem Schrecken, das Zittern darüber, ob der Schrecken wirklich beendet sei, 1950 war der Frieden, nachdem seit Mitte 1948 schon die Möglichkeit des Konsums vorgezeigt worden war, eine ganz und gar handfeste Sache. Die begann mit Essen und Trinken, das nun hieß "wie im Frieden", womit die Qualität der Produkte und die Quantität des Verzehrs gemeint waren. Nach der Freßwelle kam die Kleidungswelle, dann die der großen Anschaffungen vom Kühlschrank bis zum Auto, ja bis zum Haus, dann kam die Reisewelle, die zunächst bis Ruhpolding und zur Nordsee, aber bald über die Grenze schwappte: nach Holland, nach Italien, nach Spanien und Griechenland und auch nach Bulgarien und Rumänien. Bis es über die Grenzen ging, war der Friede eine interne Erfahrung, die alle Arten von Konsum bedeutete, der sich in den wiederaufgebauten Städten vollzog. Die waren nicht schön, aber neu. Neu - das war wohl überhaupt ein entscheidendes Kriterium. Neue Städte, neue Autos, neue Kleider und - neue Länder und Regionen. Damit wurde der Friede eine externe Erfahrung, die freilich auf Auswahl beruhte. Es gab Länder, die zu diesem Frieden paßten, und andere, die es nicht taten.
Diejenigen, die nicht dazu paßten, wurden nicht wahrgenommen, schon weil man sie nicht bereisen konnte oder wollte. Das Reisen entschied über die Welt als Welt des Friedens. Und wenn eine östliche Macht Friedensfestspiele veranstaltete oder vom Weltfrieden sprach, nahmen das die meisten als die ideologische Phrase, die es in der Tat auch war. Wir Deutschen saßen ganz nah an der Grenze der friedlichen Welt, aber das verunsicherte uns gar nicht.
In Helmstedt war es ostwärts eben zu Ende mit der Welt, jedenfalls der Friedenswelt , westwärts konnte man immer weiter vordringen, das hing schließlich nur von der Bezahlung ab. Frieden - das war überhaupt der Zustand, wo man alles gegen Bezahlung bekam und dazu singen und sagen konnte, was man wollte. Alles andere bestand eigentlich gar nicht, und wenn es sich dem Touristen doch einmal aufdrängte, suchte der rasch das Weite.

III. Diese Welten vereinten sich wieder im gemeinsamen Desinteresse an dem, was an Scheußlichkeit in dieser Welt vor sich ging, obwohl es eigentlich gar nicht zu übersehen war. Aber darin waren sich die Friedensfreunde und die Friedenskonsumenten einig, daß man nicht in die Sowjetunion guckte und nicht nach China, Nord-Korea, Kambodscha und den unzähligen anderen Gegenden der Welt, in denen eingesperrt, gefoltert, gemordet wurde. Oder man guckte weg, wenn man hinguckte und sagte, es sei eigentlich gar nicht so schlimm. Allerdings hatte man auch immer eine Anzahl von Ländern, wo es schlimm war. In Chile war es schlimm, in der Tat. Dafür war es aber wieder in Kuba gar nicht schlimm, was gelogen war. In Südafrika war es schlimm zur Zeit der Apartheid und in Rhodesien, wo es aber durch Herrn Mugabe gleich besser wurde, zumal es jetzt Simbabwe hieß. Aber im ganzen war die Welt tralala, die Stimmung war gut, man ließ sie sich nicht vermiesen. Saddam Hussein? Sicher kein sympathischer Mann, aber man kann sich nicht um alle Diktatoren in der Welt kümmern, es sei denn, sie hießen z.B. Pinochet. Und auf keinen Fall kann man völkerrechtswidrige Angriffe auf ein doch friedliches Land dulden. Denn schon die Zehnjährigen sind ganz eng mit dem Völkerrecht verbunden, mit der UNO natürlich vor allem, also mit Libyen, das der Menschenrechtskommission präsidiert und 270 Menschen über Lockerbie hat abstürzen lassen. Nord-Korea ist z.B. ein wichtiges Glied der Völkergemeinschaft (die berühmte Dichterin Luise Rinser, die mal Bundespräsidentin werden wollte, war dort und war begeistert), aber auch Syrien, der Iran oder der Kongo und die vielen, vielen anderen sich an die Menschenrechte und das Völkerrecht bindenden Staaten der großen Nationenfamilie, die unablässig für den Frieden wirken. Und die Deutschen, das wissen wir, sind da ganz vorneweg. Denn sie haben ja erlebt, was ein Krieg ist. Darum sind sie gegen den Krieg und für den Frieden, gegen die Kriegstreiber in den USA und für die Kuschelecken im Friedenscamp Unter den Linden.

 

(Aus: H.A., Streit der Fakultäten.
Neue Aphorismen und Fabeln.
Münster: ATEdition 2000)

Ein Hase keuchte an einem anderen
vorbei, hinter sich Hundegebell.
- Flieh, rief er diesem zu.
- Warum? fragte der, ich werde
verhandeln.(31)

 

Ein Sternenmärchen

Ein Mann vom anderen Stern hört und sieht, daß Millionen auf die Straße gehen, um gegen einen Krieg zu demonstrieren, der von zwei Burschen namens Bush und Blair angezettelt sei und der sich gegen einen Burschen namens Saddam Hussein richte, der zwar ein wahrer Bösewicht sei, gegen den aber die Vereinten Nationen keinen Krieg erlaubt hätten und den man mit Hilfe von sogenannten Inspektoren durch energisches Zureden hätte entwaffnen können. Das habe jener Bösewicht zwar im letzten Jahrzehnt verhindert, nachdem er vorher schon einen Nachbarstaat überfallen, Menschen seines Landes zu Tausenden umgebracht und gegen einen anderen Nachbarstaat Krieg geführt habe. Auch übe er noch heute ein Schreckensregiment in seinem Landes aus. Der Mann vom anderen Stern versteht. Es gibt auf dieser Erde diesen einen Bösewicht und zwei andere, die ihn angegriffen haben. Daß sich gegen diese Demonstrationen richten, erscheint ihm zunächst etwas merkwürdig, aber unser Mann begreift, daß diese Erde ein sonst durch und durch friedlicher Stern ist und daß die Menschenrechtler und alle guten Menschen sagen, man dürfe den Frieden dieser Erde, ein kostbares Gut, nicht dadurch gefährden, daß man den Bösewicht ohne Genehmigung der Vereinten Nationen angreife. Diese Vereinten Nationen, so sagt sich der Mann, sind also die Garantie des Friedens auf Erden.
So sei es nicht ganz, antwortet man ihm. Vielmehr hätten die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat nur ganz selten und nur in kleinen Fällen Kriege verhindert oder doch beendet.
Der Mann fragt, wieso denn Kriege? Handelt es sich denn bei der Erde nicht um einen ganz friedlichen Stern? Nicht so sehr , sagt man ihm. Vielmehr habe es im letzten Jahrhundert die schrecklichsten Kriege gegeben, die man sich vorstellen könne. Unter anderem habe man einen großen Krieg führen müssen (und die Vorgänger der beiden schlimmen Burschen Bush und Blair hätten ihn geführt) gegen einen Bösewicht seiner Zeit namens H., den man ohne diesen Krieg nicht habe loswerden können. Der sei, sagten ihm vor allem die Menschenrechtler, durch die entsetzlichsten Menschenrechtsverletzungen und millionenfachen Mord aufgefallen. Der heutige Bösewicht , flüstert man dem Manne vom anderen Stern noch zu, sei ein Verehrer jenes Bösewichts H. und habe auf die Überlebenden des Volkes, das H. vor allem ausrotten wollte, schon einen Angriff gemacht. Auch erfährt unser Mann im Laufe der Zeit, daß in dem besagten Jahrhundert ein anderer Bösewicht namens S., der in seinem Lande noch immer eine große Zahl von Verehrern habe, zwanzig Millionen Menschen habe umbringen oder zu Tode kommen lassen. In dessen Geist sei dann in einem anderen großen Lande eine Kulturrevolution gewesen, die im Lande selbst wie auch in dem okkupierten Land T. Millionen von Menschen das Leben gekostet habe. Auch im Lande N., das mit dem großen Lande der Kulturrevolution eng verbunden sei, seien Hunderttausende zu Tode gebracht worden. Und in dem Land K., das ebenfalls zur Gruppe jener Länder gehöre, habe der Diktator versucht, das eigene Volk zu dezimieren, was ihm auch in einer Zahl von praeter propter zwei Millionen (es war ein kleines Land) gelungen sei.
Auch in Afrika, hört unser Mann, habe es riesige Metzeleien in R. und in L. und anderwärts gegeben. Und die Demonstrationen? Die habe es in diesen Fällen nicht gegeben, wahrscheinlich weil sich die Vereinten Nationen nicht oder nicht so deutlich gegen diese Schlächtereien ausgesprochen hätten wie gegen den Krieg , den die beiden Burschen gegen jenen Bösewicht geführt haben. Denn, sagten ihm die Menschenrechtler, noch wichtiger als die Menschenrechte sei das Völkerrecht, das die Vereinten Nationen verwalteten. Und darum werde nur in diesem Falle demonstriert. Denn jeder, der in diesem nicht genehmigten Krieg umkomme, sei, so betrachtet, doch eine ungleich schlimmere Belastung des Friedens in der Welt als die praeter propter dreißig oder vierzig Millionen, die man ja auch nicht einmal richtig zählen könne.
Da wandte sich der Mann vom anderen Stern von den Leuten ab und sprach zu sich: "Ich bin unter Verrückten."

 

 

Wann demonstriert werden muß

Im Bürgerkrieg des Kongo wurden nach neuesten Meldungen während viereinhalb Jahren 3,3 bis 4,7 Millionen Menschen getötet,
im Irakkrieg ca 1300 Zivilisten.
Gegen den Bürgerkrieg im Kongo demonstrierte niemand.
Gegen den Irak-Krieg demonstrierte man in der ganzen Welt.

Kleinigkeiten

"Pharisäertum und Heuchelei holen die meisten Protestierer früher oder später ein", schreibt Enzensberger in der FAZ, der Glück hat, daß er längst approbiert ist, sonst würde er rasch erledigt werden. Und Drewermann ist ihr Tartuffe.

Daß sie auch wegen Kindesmißbrauchs zu bestrafen wären, die sie für Kuschelecken im Friedenscamp gesorgt haben, ist nachdrücklich zu fordern.

Die Kinder, die Kinder! Und zwar nur die im Irak und nur die im Krieg. Die vorher von Saddam Hussein getöteten haben Pech gehabt und die in Nord-Korea, das Frau Rinser so toll fand, in Kambodscha, im Kongo usw.,usw. erst recht. Die Friedensbewegung kann sich nicht um alles kümmern.

Auch am zweiten Ostertag haben sie gegen den Krieg im Irak protestiert. Allerdings seien es, sagen sie selbst, weniger gewesen als in den Vorjahren. Und da war es eigentlich so gut wie niemand, obwohl es doch noch vor kurzem immer Hunderttausende waren.

Sie heißen Trittin, Vollmer, Wieczorek-Zeul, Beer. Sie haben vor dem Krieg im Irak Zehntausende, ja Hunderttausende von Toten vorausgesagt. Sie haben gelogen. Sie sind Politiker. Sie sind unverantwortliche Schwätzer.

Was sagt man öffentlich, wenn ein Krieg anfängt

Jörg, was hast du gesehen?
(ARD-Brennpunkt 19.3.)

Uli, um Himmels willen.
(Dietmar Ossenberg, ZDF-Spezial 19.3.)

Es ist unendlich viel schief gelaufen.
(Hans Ulrich Klose, Deutschlandfunk 20.3.)

Was tun wir für das Flüchtlingselend?
(Kardinal Lehmann, ARD 20.3.)

Meine Befürchtung ist, daß der Nahe Osten destabilisiert wird.
(Präses Kock, ARD 20.3.)

Man gibt überhaupt keine Details über Details bekannt.
(Korrespondent T.Buhrow, ARD, 20.3.)

Ich kann das nicht interpretieren, ich wundere mich.
(Brigadegeneral a.D. H. Lemke, ARD 20.3.)

Nun brauchen wir Hilfe, liebe Regie, wie soll es weitergehen?
(ZDF Spezial 20.3.)

Es geht schlicht ums Öl.
(ZDF Spezial 20.3.)

So wie es bleibt, kann keiner zufrieden sein.
(Korrespondent Krause, ARD, 20.3.)

Die shock- and awe-Kampagne, die Schock- und Ehrfurcht-Kampagne.*
(Claus Kleber, ZDF Spezial, 21.3.)
*eine Bedeutung von "awe" ist "Ehrfurcht"

Die Bevölkerung ist des Krieges leid.
(General a.D. Reinhard, ZDF Spezial, 21.3.)

Die Bilder sind nur Bilder aus Bagdad. Irak ist aber viel mehr als Bagdad.
(Claus Kleber, ZDF Spezial 21.3.)

Eine Stadt, in der Ulrich Tilgner einen Superjob macht.
(Claus Kleber, ZDF Spezial, 21.3.)

Ein Entsendegesetz sähe er nicht die Notwendigkeit für.
(Phoenix 26.3.)

 

- Die Menschen haben die Sprache
verloren, sagte der Hund.
- Aber sie reden doch fortwährend,
riefen die anderen Tiere.
- Das täuscht, sagte der Hund. Sie
geben nur noch Laut, damit es
nicht totenstill ist.(32)

 

Friedens-Deutschland und der Nahe Osten
Ein Capriccio

Die Rürup-Kommission soll nun, nach dem Vorschlag der Bundesregierung, im Rahmen der Friedensgestaltung im Irak und unter dem Dach der Vereinten Nationen auch Gesichtspunkte für die Reform des irakischen Rentenwesens erarbeiten. Die Bundesregierung stellt so nicht nur neuerlich ihren Friedenswillen, sondern auch ihre Bereitschaft, an der Gestaltung des Friedens im Irak mitzuwirken, unter Beweis.
Die Gesundheits- und Sozialministerin, Frau Ulla Schmidt, plädiert überdies dafür, daß auch die Rentenansprüche des bisherigen irakischen Präsidenten Saddam Hussein objektiv und gerecht geprüft werden.
Dagegen spricht sich die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul, die sich bei der Erwähnung des Leidens irakischer Kinder nie der Tränen enthalten kann, entschieden gegen die Beteiligung der Bundesrepublik an Hilfsprogrammen für die irakische Bevölkerung aus, da das einzig die Aufgabe derjenigen sei, die für diesen "schändlichen Krieg" verantwortlich seien, also der USA und ihrer Helfershelfer. Damit meine sie natürlich ausschließlich diesen Krieg , während die Kriege, Bürgerkriege, Schlächtereien in Kambodscha, im Iran, in Ruanda, im Kongo, in Angola, in Liberia, im Sudan etc etc erst noch durch die SPD-Delegierten des Bezirksparteitags Hessen-Süd auf ihre Schändlichkeit hin geprüft werden müßten. Der Bundeskanzler geht in all diesen Fragen mit sich selbst konform, kann aber noch nichts Genaues sagen, ist jedoch entschieden der Ansicht, daß das keine Frage sei.
Der Bundesaußenminister will im Augenblick nicht Stellung nehmen, da er im Dienste des Friedens im Nahen Osten weilt, wo er als erster führender westlicher Politiker nicht nur eingetroffen ist, sondern auch bereits, nämlich zum zwanzigsten Male die Gedenkstätte Yad Vashem besucht hat und anschließend den Präsidenten Yassir Arafat besuchen wird. Angesprochen auf die Lage im Irak, sagte Fischer nur beiläufig: "Forget it".

(nach oben)

 

VON DER GESCHICHTE UND DER GEGENWART

 

[Tagebuch 9.2.1963]

"Für das deutsche Vaterland. Ein SS-Mann, der an der Ermordung von 11000 Menschen mitschuldig ist, wird zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein SS-Funktionär, inzwischen CSU-Funktionär, soll als Abgeordneter in den Bundestag kommen. Ein Journalist, Emigrant, schreibt am Anfang eines Artikels, "persönlich" sei er weder für die Verurteilung des ersten noch für die Kandidatur des zweiten. Man müßte eigentlich Scham und Takt von den früheren Nazis verlangen. Leider sei davon nichts zu merken. Dies genau bestimmt unseren Zustand. Die Mörder, die Mitmacher, die vernünftigen Kritiker, das zusammen ergibt uns. Und alle sind im drastischsten Sinne schizophren: die Mörder, insofern sie ‚ehrlich' bestreiten würden, Mörder zu sein; die Mitmacher, insofern sie auf die veränderte Situation hinweisen; die sanften Kritiker, insofern sie fragen, wie denn angesichts dessen, was geschehen sei, Gerechtigkeit und Sühne geübt werden sollten.
Da wir natürlich 1933 - 45 nicht assimilieren können, auch nicht durch die Formel ‚Katastrophe und Wiederaufbau', weil dem Zustand ‚funktionierenden Lebens' nicht der des ‚organisierten Todes' zugeordnet werden darf, denn jener erschiene dann als die Fortsetzung dieses mit humaneren Mitteln, muß die ‚Vergangenheit bewältigt' werden. Und zwar so, daß das Anomale auf der einen Seite als schreckliches Zwischenspiel gedeutet wird, nämlich als Ganzes, in seinen Details ihm aber andererseits Normalität bescheinigt wird. So wird dem gegenwärtigen Zustand auf paradoxe, aber äußerlich wirksame Weise zur Vernunft verholfen. Im ganzen, insofern er sich grundsätzlich von dem zur Zeit der Nazis, die zu einer Geisterschar längst geworden sind, unterscheidet. Begegnen aber in Person die Mörder und die Mitmacher und erweisen sie sich als ‚unsere Nachbarn heute abend', die sie in fast allen Fällen sind, so werden jene wie diese zu in unterschiedlichem Grade Irrenden, die in alte Geschichten verwickelt waren, was damals ja jedem passieren konnte. Damit hat man freilich recht. Und dies wäre der einzige Punkt, aus dem alles zu kurieren wäre. Aber da das zu der Einsicht führen müßte, alle seien potentielle Mörder gewesen, läßt man lieber die wirklichen als jene kleinen Übeltäter figurieren, die nach den zufälligen Umständen ein paar Jahre hinter Gitter gesteckt oder mit der Ermahnung, taktvoll zu sein, bedacht werden. Oder aber man erklärt sie zu den beliebten ‚Bestien in Menschengestalt', die durch ihren ‚death by hanging' dafür garantieren, daß nun endlich einmal reiner Tisch ist.
Aber das verkehrte und gespaltene Bewußtsein sorgt dafür, daß die Krankheit mit ihren tausend Symptomen bleibt."

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Zum 17. Juni 1953

Vor fünfzig Jahren geschieht, was unerhört ist in der deutschen Geschichte und alsbald zum "historischen Ereignis" und zum Feiertag applaniert wurde. Acht Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft gehen in Deutschland, im Osten Deutschlands Menschen auf die Straße, Arbeiter vor allem, die das angeblich Neue, Bessere, ‚ihren' Sozialismus als eine elende Scharlatanerie von Gnaden der sowjetischen Besatzungsmacht entlarven. Walter Ulbricht, diese unendlich trübe, mediokre und machtbessessene Gestalt, Zerstörer der Glaubwürdigkeit eines Neuanfangs als eines sozialistischen, Zerstörer aber auch vieler noch erhaltener oder zu rettender großer architektonischer Zeugnisse, Zerstörer einfacher und bedeutender Biographien - dieser Walter Ulbricht hatte die zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen unter den erbärmlichen Bedingungen seiner DDR durchgesetzt, obwohl ihn selbst die sowjetischen "Freunde" davor gewarnt hatten. Das war der letzte Anlaß, der aus dem Unmut der Arbeiter den spontanen Aufstand machte, und zwar überdies noch den Aufstand der Arbeiter, die auf der ersten Großbaustelle des Sozialismus, der Stalinallee, beschäftigt waren.
Also kein Aufstand der unterdrückten Massen gegen feudalistische, reaktionäre, faschistische Unterdrücker, sondern der bewußte Abschied der "herrschenden Klasse" von denen, die sie als Betrüger erkannt hatte. Das ist ein Vorgang, wie ihn die Revolutionsgeschichte bis dahin gar nicht kennt und der seine Nachfolge in den polnischen, den ungarischen, den tschechoslowakischen Ereignissen findet und schließlich in den Ereignissen, die den Untergang des tönernen Ostblocks bewirken.

Im Ersten Programm des Fernsehens wurde über einen Monat vor dem fünfzigsten Jahrestag des Aufstands ein Film gesendet, der nicht große Namen präsentierte, aber eine mit wenigen Ausnahmen sehr ehrliche Darstellung der Situation war, wie sie sich dem einzelnen in den Tagen und Wochen vor dem 17. Juni vor allem in Berlin wahrhaft aufdrängte. Es ist auch eine spannende Geschichte, die vielleicht die Aufmerksamkeit manchmal zu sehr ablenkt auf den Spannungskonsum hin. Aber wer Augen hat zu sehen wird schon am Anfang des Films stark getroffen sein durch die Entführung eines "Verräters" aus dem Ostsektor, die in unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze und am hellichten Tag vor sich geht. Der Mann aus dem SED-Apparat will einem aus dem Ostteil Berlins stammenden Westjournalisten eine Liste zuspielen, die eine große Anzahl von Namen solcher Personen enthält, die das DDR-Regime in einer prekären politischen Situation verhaften will.
Darunter sind auch die Namen ‚treuer' SED-Genossen, so der des Vaters des Journalisten, eines Brigadiers an der Stalinallee-Baustelle, und der seines Bruders, eines SED-Funktionärs. Der aber ist einer der Entführer. In einer größeren Sequenz bezeugt sich die Barbarei einer Politik, die sich als fortschrittlich und antifaschistisch feiern ließ, aber noch in ihren alltäglichen Taten zeigte, wie phraseologisch diese Hymnen waren.
Der Film bindet die an den Quellen orientierte Darstellung des 16. und 17. Juni an einen Ausschnitt der Familiengeschichte Kaminski: des Vaters, der Mutter, der Brüder, der Freundin eines der Brüder. Im Wirbel der Niederschlagung des Aufstands durch sowjetische Panzer gerät der junge SED-Sekretär, der sich von seinem politischen Milieu getrennt hat, als er seinen und seines Vaters Namen in den geretteten Konskriptionslisten entdeckt hat, auf die Westseite, der Westjournalist und das Mädchen aber finden sich im Osten gefangen und werden zu drei Jahren Haft verurteilt.
Dies war die Basis eines Staates, mit dem unsere politischen und wirtschaftlichen Repräsentanten und viele unserer Intellektuellen nicht nur aus Höflichkeit shake-hands machten.

In dem Film gibt es die der Historie nachgestellte Szene, in der ein hoher Funktionär vor dem Haus der Ministerien, also dem Göring-Ministerium und heutigen Bundesfinanzministerium, mit jenen erhaltenen Kachelbildern, die den fröhlichen Sieg des Sozialismus feiern, von einem kleinen Tisch aus eine Rede an die Aufständischen hält. Hochgewachsen erscheint er in dem Film, vorher in einem riesigen Arbeitszimmer (doch wohl dem des "Reichsmarschalls") amtierend. Er hat im Film einen anderen Namen, aber es ist der damalige Industrieminister Fritz Selbmann, der in der Tat diese Rede hielt. Er wurde schon in den frühen sechziger Jahren wegen "Managertums", was immer das bedeuten mochte, in den Hintergrund gedrängt und aus der Führungsgruppe der DDR ausgeschlossen. Dieser Mann gilt wegen solcher Elemente aus seiner Biographie als ein Widerständler von oben, und seine Rede am 16. Juni wird in diesem Kontext gesehen. Selbmann verstand sich nach seiner Kaltstellung als Schriftsteller, verfaßte einige autobiographisch tingierte Romane und war unter der Präsidentschaft Hermann Kants und neben Anna Seghers eine Zeitlang Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR. Er war vor 1933 KPD-Funktionär gewesen, betrachtete sich als Prototyp eines Antifaschisten und legte auch auf die nomenklatorische Bezeichnung "Opfer des Faschismus" Wert. Als letztes hat er ein Buch geschrieben, das erst längst nach seinem Tode und nach dem Ende der DDR 1999 in dem Verlag "Neues Leben" in Berlin erschienen ist und "Acht Jahre und ein Tag. Bilder aus den Gründerjahren der DDR" heißt.
Es wäre falsch zu sagen, Selbmann erzähle darin Episoden oder gar Phasen aus seiner Lebensgeschichte und der Geschichte der DDR, obwohl es solche Partien auch gibt. In dem Buch versammelt er vor allem eigene Reden und Artikel aus der Zeit zwischen 1945 und 1953. Er beschließt das Buch mit einem Kapitel "1953. Der 17. Juni und die Wochen danach", das ihm wohl als pointiert letztes wichtig war und über das zu sprechen sein wird.
Er beginnt mit einer Erzählung seiner Rückkehr aus dem KZ nach Leipzig, wo er vor 1933 Bezirksleiter der KPD gewesen war.
Die Erzählungen über die ersten Wochen und Monate 1945 in Leipzig sind in ihrer Authentizität interessant. Aber alsbald fügt er dem Text Ausschnitte aus eigenen und fremden Artikeln ein, deren Charakter eine Mischung aus Statistik und allgemeinen Redensarten über Chaos und Neubeginn ist. Und dann schweift er, so muß man leider sagen, einmal und etliche Seiten weiter noch einmal ins Private ab. Er berichtet nämlich von einer "jungen Frau", zu der er nach dem Tod seiner ersten Ehefrau "engsten Kontakt" hielt und mit der er sich einig ist, nach seiner Rückkehr aus dem KZ "in den ‚heiligen Stand der Ehe'" zu treten. Am Tage seiner Hochzeit hat er "einige wichtige Sitzungen anberaumt". "Da erinnerte mich am Frühstückstisch meine künftige Ehehälfte daran, daß dies der Tag unserer Hochzeit sei und ich mich um zehn Uhr auf dem Standesamt einzufinden hätte." Die Hochzeit wird verschoben, natürlich sind die Sitzungen wichtiger (38).
Dreißig Seiten weiter - es gab nun schon ausführlichere Zitate aus frühen Dokumenten der Zeit - erzählt Selbmann davon, daß er eine Mitteilung erhalten habe, in einem Flüchtlingstreck auf dem Altmarkt in Leipzig sei seine Tochter Katja. "Ich fuhr sofort zum Altmarkt ...dort fand ich Katja neben einem Leiterwagen stehend mit einem roten Kopftuch; sie fiel mir um den Hals und weinte wie ein Schloßhund. Ich nahm sie und das kleine Bündel Habseligkeiten, das sie auf dem Wagen hatte, mit nach Hause, womit ihre Umsiedlung beendet war."(67). Ähnlich wird von dem Wiedersehen mit seinem Sohn Erich, der das Nachwort zu diesem Buch schrieb, berichtet.
Man ist verwirrt. Selbmann sieht sich als Schriftsteller, er will eine Beziehung zu einer Frau und die Hochzeit mit ihr, er will das Wiederfinden seiner Kinder darstellen. Aber er hat keine Zeit für die Hochzeit und auch nur die nötigste für die Kinder. Es drängt ihn zu Sitzungen. Und diesen Vorzug, den er dem Parteibürokratischen gibt, reflektiert sich in den entsetzlichen Redenarten, auf die sich sein Leben als Ehemann und Vater reduziert: "heiliger Stand der Ehe" (die Ironie eines Funktionärs), "meine künftige Ehehälfte", (Katja) "weinte wie ein Schloßhund", "womit ihre Umsiedlung beendet war". Dieser Mann will dazu beitragen, ein humanes Leben in einer neuen Zeit möglich zu machen. Was hat das mit dem 17. Juni 1953 zu tun? Alles.
Denn mit diesem Bewußtsein, diesem Gefühl berichtet er auch von der Revolution, die natürlich für ihn eine Konterrevolution, ja weniger als das: ein faschistisch-kapitalistischer Umsturzversuch war. Es sei zwar "zuzugeben", "daß mancherlei andere Faktoren als auslösendes und mitwirkendes Element zu gelten haben". In diesem Bürokratenwelsch zittert noch ein bißchen schlechtes Gewissen nach, das sich dann in einer völlig verwirrten Argumentation erhält: "Neuausrichtung des USA-Imperialismus", "der sich wieder entwickelnde westdeutsche Imperialismus", "Versuch eines profaschistischen Putsches"(263), allerdings auch: "aus dem gesellschaftlichen Leben innerhalb der Republik hervorgegangene Tendenzen und Fakten"(263) hätten bei dem Geschehen mitgewirkt, was aber nur in einer ganz abstrakten Suada eingeräumt wird. So geht es über Seiten fort. Der Tod Stalins führt "zu einer explosiven politischen Stimmung", es habe "fehlerhafte Verordnungen" (264)gegeben, aber Selbmann ist gegen eine "Fehlerdiskussion"(265).
Die "Demonstration aus der Stalinallee" gelangt "bis vor das Haus der Ministerien": es "mußte festgestellt werden", heißt es, so als könne die Realität nicht weiter verdrängt werden. Aber schon hat Selbmann wieder ideologischen Tritt gefaßt: "zur gleichen Zeit [kommen] große Haufen von randalierenden jungen Burschen aus Westberlin durch das Brandenburger Tor und die Leipziger Straße"(265). Er ist "sofort bereit", als Redner vor den Demonstranten zu erscheinen. Es wird ihm mitgeteilt, was er "den Massen zu sagen" habe(266). Er steigt auf einen Tisch, beginnt zu reden, wird aber "fortgesetzt unterbrochen". Ein Demonstrant "in einem völlig neuen Maureranzug" hält eine "ausgesprochen politische und feindliche Rede", beides offenbar gleich schlimm, er spricht von " ‚Revolution', ‚Freiheit', ‚Aufstand in der ganzen Zone'" (267), also die Terminologie des Klassenfeindes. Das alles wird über den 16.Juni gesagt, vom 17. Juni hört man von Selbmann ähnliches, bis der "Kommandeur einer Panzerkolonne", natürlich einer russischen, zu ihm kommt, ihm die Verhängung des Ausnahmezustandes mitteilt und ihn informiert, "daß er nun daran gehen werde, die Sektorengrenze abzusperren und mit Einsatz seiner Panzer die Straßen zu räumen. Das geschah dann auch"(270). Ende des Berliner Berichts. Kein Hauch einer Reflexion, kein Bedauern. Selbmann ist offenbar ganz einverstanden, daß die "Freunde" gegen seine "Arbeiterklasse", die aber in Wahrheit aus "Rowdys" besteht, mit Panzern vorgehen. Gleich anschließend schickt ihn Ulbricht nach Dresden, wo er für Ordnung sorgt. Er hält in Riesa, da es unmöglich gewesen sei, "zu den Arbeitern selbst zu sprechen", eine Rede über die "Übertragungsanlage des Werkes"(273), die neben weiteren, an anderen Stellen gehaltenen Reden, ganz zitiert wird. Sie sind alle in gleichem Maße phraseologisch, verlogen, ohne einen eigenen Ton. Noch einen Monat später wird in Schkopau erneut gestreikt, und der getreue Parteisoldat Selbmann eilt wieder auf Befehl Walter Ulbrichts auch dorthin, stellt fest, daß eine gewählte Vertreterversammlung "zum größten Teil [aus] radikalen Elementen" besteht. Streik, erklärt er den Streikenden, sei gar nicht erforderlich. Aber er ist großzügig: Man "kann meinetwegen seinem Unwillen einmal Luft machen"(290).Doch schließlich bricht er die Diskussion ab, obwohl er "keinen unterbrochen" hat. "Ich habe Euch sprechen lassen." (293) Ein wilhelminischer Fabrikdirektor meldet sich hier stolz und Jahre nach dem Ereignis zu Wort. Aber es ist ein Arbeiterführer, einer, der seine Meinung sagte und schließlich Selbstkritik übte. Man kann sich aufs genaueste vorstellen, wie die anderen aussahen, dachten, fühlten: ein Haufen miesester Kleinbürger, die an die Macht gekommen waren und nur ein Ziel hatten, nämlich dort zu bleiben.
Von der DDR ist schon jetzt so gut wie nichts geblieben. Nur was sie aufheben sollte, der 17. Juni 1953, ist neben der friedlichen Revolution von 1989 noch des Aufhebens wert. Und wenn dies noch bewiesen werden müßte, das Buch Selbmanns wäre der Beweis. Es ist gleichzeitig ein trostloses Zeugnis dafür, daß ein Mann, der als politischer Häftling 12 Jahre im Zuchthaus und im KZ seiner Freiheit beraubt war, der sich dort ein strenges Selbststudium zwischen Mathematik und Philosophie auferlegt hatte, nach seiner Befreiung wieder in völliger Verblendung seiner Ideologie diente und selbst in dem Augenblick, da ein Funke Sensibilität genügt hätte, ihm die Augen endgültig darüber zu öffnen, daß der Arbeiterstaat ein Staat gegen die Arbeiter, gegen die Menschen war, sich in den parteiamtlichen Jargon flüchtete und dankbar dafür war, daß die sowjetischen Panzerkolonnen aufzogen.
Sein Buch ist zweifellos ein Dokument der Selbstfesselung des Bewußtseins. Aber es soll - Verlag "Neues Leben" - wohl eher dazu helfen, das Barbarentum im deutschen Osten als heroische Leistung zu vermitteln.

Nachbemerkung. Anfang Juni päsentierte das ZDF ein Pasticcio aus verschiedenen Genres, aus Filmdokumenten, Aussagen von Beteiligten, nachgestellten historischen und fiktionalen Szenen. Es ist ein Verfahren, das sich offenbar heute großer Beliebtheit erfreut. Man weiß nicht recht, ob es wirklich das leistet, was es leisten soll: hier den "Aufstand"(so hieß der Film) von 1953 deutlicher zu machen. Man sah zwar abermals, daß es sich um eine spontane Aktion handelte, bei der der RIAS nur die Rolle eines Transporteurs spielte, der über die Geschehnisse am 16. Juni in Berlin in der sowjetischen Zone informierte. Aber von dieser Spontaneität und ihrer Bedeutung wurde nur unter anderem erzählt. Es kamen dann zwar die Zeugnisse der am Aufstand Beteiligten wie auch anderer hinzu, aber das Ganze erschien eben nur als eine historische Episode, die alsbald in die Hände der Machthaber und ihrer Dienstboten überging, so daß am Ende nichts als der Eindruck blieb: ein großer Krieg mußte vermieden werden und wurde vermieden, die spontanen Akteure wurden geopfert oder hatten 36 Jahre zu warten, bis die historische Stunde die Erfüllung ihrer Wünsche zuließ. Es war schließlich eine Absage an politische Veränderung durch das Volk, eine Bestätigung des realistischen Zynismus, der ‚Schlimmeres verhütet'.
Danach bot man noch eine Diskussion, die natürlich vom Fernsehhistoriker Knopp geleitet wurde, der immer nur statements abfragt, und zwar nicht von denen, die dabei waren, sondern von den zum Typus des Betrachters Gehörenden, diesmal alten Herren, die damals auf den beiden Seiten der Weltbühne standen, der Spontaneität allemal abhold und nun im traulichen Verein, ob sie nun seinerzeit Chefredakteur beim RIAS waren oder Kulturminister der DDR. Wenn der sagte, auch Wilhelm-Pieck- und Otto-Grotewohl-Straßen seien noch heute zu rechtfertigen, so kam von den anderen kein Widerspruch. Und ob sie nun mehr von der Naivität der Akteure oder immer noch davon überzeugt waren, daß es sich um faschistische Unruhestifter handelte, die eigentlichen, nur für zwei Tage Agierenden hatten vor der Tür zu bleiben. Revolutionen und Revolutionäre werden nach Erfolg approbiert und da es zu dem nicht kommen durfte, siehe Weltgeschichte, hatten sie die Klappe zu halten.

 

Human kann der Mensch nur sein
zu zweit, zu dritt, vielleicht noch in
einer kleinen Gruppe;
dann wird er vergesellschaftet, also
barbarisch.(38)

Menschliche Gesellschaft bedeutet
nie humane Gesellschaft, sondern
Institutionalisierung der
Barbarei.(38)

 

Der "Spiegel" und die Lage der Nation

Oft ist die Laufband-Ironie des "Spiegel" unerträglich. So wenn z.B. der Musikredakteur Umbach bei der Montage seiner Sätze ist. Nie läßt er einen Gag auf Kosten der Dargestellten aus. Gleichzeitig ist er völlig unfähig, etwas über sein "Fachgebiet", etwas über Musik zu sagen. In Nr. 20/2003 geht es um Richard Wagners erste Ehe, die nach der Lektüre eines neuen Buches auf die üblichen Pointen abgeklopft wird. So geht es jahraus, jahrein. Es entsteht die Vorstellung einer trostlosen Ewigkeit, in der es nur um eine neue Zyniker-Generation geht, die es noch besser kann als die vorige. Interessant ist, daß dagegen der alte Ehrgeiz, nämlich so wenig Druck- und Grammatikfehler wie möglich zu machen, stark nachgelassen hat. Das liegt wohl daran, daß zwar der "Spiegel"-Stil ohne Mühe von denen, die schon eine ‚Schreibe' haben , gelernt werden kann, daß aber für das korrekte Schreiben so viel Fleiß aufzubringen wäre, wie ihn die gegenwärtige Generation nicht aufbringen will.-
Aber immer wieder gibt es einzelne interessante Texte, und manchmal wächst in einem Heft aus der Ironiewüste ein satirisches Labyrinth, das wahrscheinlich keinem Plan zu verdanken ist, denn der "Spiegel" ist natürlich nicht von ferne der "Fackel" zu vergleichen. Es entsteht vielmehr nur aus dem genaueren Hinschauen, der genaueren Lektüre von Sätzen. Das Resultat für den Leser ist sicher nicht die Einsicht, wie denn die Dinge sich bessern könnten, sondern eher der Schrecken des Labyrinthbesuchers, ob es aus ihm überhaupt einen Ausweg gebe.
In der schon genannten Nr. 20/2003 wird als Titelgeschichte "Die verstaubte Verfassung. Wie das Grundgesetz Reformen blockiert" angekündigt. Und man erfährt im Heft, daß man darüber in dieser und den nächsten Ausgaben eine Reihe von Artikeln zu lesen bekomme, ein übliches "Spiegel"-Verfahren. Der Titel will natürlich Aufmerksamkeit wecken, sagt man sich, und nimmt ihn also nicht für bare Münze. Aber bevor man prüfen kann, wie ernst er zu nehmen ist, fällt einem auf, daß von einer ganzen Anzahl von Institutionen und ihrer Repräsentanten in der Bundesrepublik, aber auch von einzelnen Exempeln innerhalb dieser Institutionen in einer Weise die Rede ist, die den Eindruck einer zwar fragmentarischen, aber tendenziell aufs Ganze zielenden Kritik dieser Republik entstehen läßt.
Harmlos scheint es zu sein, wenn die Frage einer zweiten Präsidentschaft des jetzigen Amtsinhabers volviert wird. Aber es fallen doch Sätze, zunächst typische "Spiegel"-Sätze, auf wie: "Der Präsident genießt sein Amt"(56), als sei das ein zentrale Bedingung dieser Tätigkeit. Was dieser Präsident für die Regierung, insbesondere für den Bundeskanzler bedeutet, wird in dem Titel angekündigt "Rau und Ruhe". Und dessen Abwehr aller Vermutungen über sein Interesse an der Zusammensetzung der Bundesversammlung, an den Wahlen zu den Landtagen als Elementen für diese Zusammensetzung wird so breit ausgeführt, daß kein Mensch an dieses Desinteresse glauben kann, was auch ausdrücklich gesagt wird. Kurz: das Amt des Staatsoberhaupts wird als nichts anderes denn eine Sinekure behauptet; von dem jetzigen Amtsinhaber erwartet dem Text nach der Bundeskanzler vor allem Ungestörtheit, und der Präsident selbst kalkuliert danach aufs genaueste die politischen Aussichten für seine Wiederwahl. Der Eindruck ist: anderer Voraussetzungen bedarf es für den Amtsinhaber nicht.
Dem steht ein erstaunlicher Artikel über die Bundesregierung zur Seite, der zwar von der Bedeutung der "Vorturner" Schröder und Clement ausgeht, dies aber nur, um die "Riege dahinter" als "ziemlich schwächlich" darzustellen (26). Ob Fischer, Schily, Eichel, gar Wieczorek-Zeul, Ulla und Renate Schmidt, Renate Künast, Edelgard Bulmahn, Stolpe oder Trittin, für alle scheint zu gelten: "Ideenlose Ressortchefs verschanzen sich hinter Hundertschaften antriebsschwacher Beamter, die am liebsten von Reformen jedweder Art verschont bleiben wollen"(28).Es wird also die gesamte Bundesregierung einschließlich der großen Beamtenapparate als unfähig eingeschätzt, mit der gegenwärtigen prekären Situation dieses Staates erfolgversprechend umzugehen. Hier wird nicht mehr von den Fehlern einzelner ausgegangen, sondern wird die ganze Spitze als Fehlbesetzung dargestellt, unter der eine dahindämmernde Bürokratie amtiert. Wie weit immer das zu belegen ist, es ist eine Perspektive ganz trostloser Art. Von diesen Leuten, von ihrem Bewußtsein, so wird mitgeteilt, ist nichts zu erwarten. Ein Blick auf die Parteien führt offenbar zu weiterer Deprimiertheit. "Trickreiche Nothelfer", heißt der entsprechende Text. Der spricht von einer CDU, die ihre Kooperationsbereitschaft erkläre, aber nur am "Schlamassel der Regierung"(22) interessiert sei, während die Hauptregierungspartei zwischen Ablehnung und Akzept der Reformpläne schwanke, die selbst als viel zu geringe charakterisiert werden. "Und das Land trudelt weiter in die Krise."(25) Der Versuch zweier Ministerpräsidenten, doch so etwas wie eine Kooperation zu leisten, wird als fragwürdig behauptet: sie kämpften gegen die Subventionen, aber in ihren eigenen Ländern nähmen die Subventionen eher zu. In einem langen reportageartigen Artikel über die Gewerkschaften "Kollege Klassenfeind" berichtet "Der Spiegel" über eine Funktionärstruppe, die vor allem mit der Frage beschäftigt sei, wie sie ihre Mitglieder und ihre Posten halten könne, was am besten durch Fundamentalopposition gegen alle Reformpläne zu gelingen scheint.
Die Wirtschaft fällt nach dem Beitrag "In bester Gesellschaft" vor allem dadurch auf, daß ihre großen Manager große Fehler gemacht haben und als Belohnung dafür nun Aufsichtsratvorsitzende werden wollen. Am Beispiel der bisherigen Chefs Hans-Jürgen Schinzler (Münchner Rück), dem in sieghafter Pose sich präsentierenden Rolf Breuer (Deutsche Bank), Albrecht Schmidt (Hypovereinsbank) und Henning Schulte-Noelle (Allianz) soll gezeigt werden, wie sehr die Höchstbezahlten in der deutschen Gesellschaft nur für sonnige Zeiten taugen, in denen man sie überhaupt nicht brauchen würde. Diese Beispiele werden noch erweitert durch die Fälle des TUI-Chefs Michael Frenzel, der als besonders fähig gefeiert wurde, aber nun nur über Riesenverluste berichten muß. Der Vorstand des BHW und dessen Vorsitzender Wagner werden als Leute vorgestellt, die höchst fragwürdige Geschäfte gemacht und ihr Unternehmen miserabel geführt haben.
Es entsteht ein Bild des heutigen Deutschland, wie es trüber kaum aussehen kann, und zwar insbesondere in personeller Hinsicht: Politiker, Gewerkschaftler und Manager haben Aufgaben, denen sie weder intellektuell noch als Agierende gewachsen sind.
Das Heft des "Spiegel" stellt aber als Hauptthema eine institutionelle Problematik vor, und zwar die des Zentrums dieses Staates: die Problematik des Grundgesetzes, das ja längst eine Schulbuchgröße ist, also eine unbezweifelbare historische Großtat. Die These der Artikel "Die Konsens-Falle" und "Die enthauptete Republik" ist aber, daß zumindest die institutionellen und organisatorischen Bestimmungen des Grundgesetzes jede wirkliche politische und soziale Reform unmöglich machen. Es wird gezeigt, wie das Provisorium Grundgesetz gegen seinen eigenen Wortlaut nach der Vereinigung betoniert wurde, wie es "schon von seinen Vätern verdorben" wurde(37) und wie seine Dysfunktion sich in der täglichen politischen Arbeit auswirkt. Das liege vor allem an einer Institution, nämlich dem Bundesrat, der zu dem zwinge, was den Deutschen mental sehr entgegenkomme, aber jede wirkliche Entscheidung verhindere: nämlich statt der politischen Entscheidung auf den Konsens zu setzen, der alles Wichtige so nivelliere und verwässere, daß es unkenntlich werde.
Interessant ist, daß der Bundesrat vor allem durch bayerische Initiativen und bayerischen Druck zustande gekommen und daß er eine Konstruktion absurder Art ist, was in den Beiträgen nicht einmal ganz klar zum Ausdruck kommt Er ist ja ein Gesetzgebungsorgan, das, als hätten wir uns nie mit der Frage der Gewaltenteilung beschäftigt, aus Vertretern der Landesregierungen sich zusammensetzt, also ein legislatives Organ, das aus Repräsentanten der Exekutive besteht. Dahinter steht eine deutsche Tradition, nämlich die Bismarcksche Reichsverfassung, die den damaligen Bundesrat als verfassungsrechtlich oberstes Reichsorgan einführte, das aufgrund der Souveränität der einzelnen Monarchen (bzw. Freien Städte) die Reichssouveränität repräsentierte. Auch in diesem Bundesrat saßen die Vertreter der Länderregierungen, aber er hatte natürlich ganz andere verfassungsrechtliche Voraussetzungen als der heutige Bundesrat. Dieses eigentümliche Gesetzgebungsorgan hat nun - nach dem "Spiegel" - dazu geführt, daß die Ministerien der Länder, insbesondere die jeweiligen Referatsleiter, in einem Konsensprozeß, bei dem es immer um die Interessen der Länder geht, zur Annahme oder Ablehnung eines Gesetzes kommen. Das Ritual der Verhandlungen verschlingt nicht nur ungeheuer viel Zeit, es ist auch nicht geeignet, so notwendige wie schmerzhafte politische Entscheidungen herbeizuführen. Hinzu kommt noch (nach diesen Darstellungen), daß in diese Exekutivstruktur dank der politischen Ausrichtung der Landesregierungen auch eine politische Tendenz gekommen ist, die in der Gruppierung in A- und B-Länder zum Ausdruck kommt. Beide Tendenzen überschneiden sich natürlich ständig und wirken an der Stagnation des ganzen Systems mit.
Was immer die weiteren Beiträge dieser "Spiegel"-Reihe bringen mögen, der Tenor ist eindeutig: Diese Republik, die in der Nummer 21/2003 ein "Land der Lügen" genannt wird, leidet nicht nur an der Unzulänglichkeit ihrer Führungspersönlichkeiten, sondern auch an seiner institutionellen Schwäche, für die der Bundesrat nur ein Beispiel ist. Dem ist nur noch die Frage nach dem Staatsvolk anzuschließen, von dem uns die Politiker und sonstige Sonntagsredner ja immer versichern, es sei ihnen selbst weit voraus und habe Einsicht in die Notwendigkeiten. Qui vivra, verra: wer's noch erleben wird, wird es erkennen können.

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VON DEN DEUTSCHEN

 

Aufklärung, Reaktion, Homosexualität

Die Beate Uhse A.G. kündigt nach Mitteilungen im Wirtschaftsfunk an, daß sie u.a. an neuen Schwulenformaten arbeite. Dies ist erfreulich und zeigt aufklärerische Tendenzen im Sinne Rousseaus, Diderots und Lessings.
Die Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium" veröffentlicht in der FAZ als Anzeige eine Resolution zur Ablehnung der "Segnung homosexueller Partnerschaften in der Kirche". Darin beruft sie sich außer auf zahlreiche Stellen Alten und Neuen Testaments, auf die erste und zweite Barmer These von 1934 und auf Karl Barths "Kirchliche Dogmatik". Das ist unerfreulich und zeigt reaktionäre Tendenzen im Sinne von Ernst Jünger und Ernst Nolte.
Wir sehen, welche Menge an Arbeit noch vor uns liegt. Erst wenn Beate Uhses Schwulenformate bei jeder Segnung homosexueller Partnerschaften in der Kirche bereitgehalten werden, können wir uns einen Augenblick zurücklehnen und sagen: "Es ist erreicht".

 

Zum Ethos der Deutschen

Nach einer Rundfunkmeldung schätze man, daß jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge in Deutschland sexuellen Übergriffen ausgesetzt sei.
Sollte das eine fundierte Annahme sein, wäre es ein Grund für die Auffassung, daß dieses Volk zu verschwinden habe.
Aber vorher muß es sich natürlich noch für die irakischen Kinder einsetzen und mit allem Nachdruck dafür eintreten, daß jede Ohrfeige für ein Kind streng geahndet wird. Dann allerdings würde es sich gern wieder seiner sadomasochistischen Unterhaltung in allen Ehren zuwenden.

 

Berlin und seine Unruhen

Zuerst die gute Nachricht: Die Unruhen zum 1. Mai fanden in Berlin planmäßig wie seit Jahrzehnten statt. Das hat sicher auch den Senat von Berlin mit Freude erfüllt. Allerdings hat der Innensenator feststellen müssen, schlechte Nachricht, daß Gewalttäter schon mit der Absicht zu den Unruhen gekommen seien, Gewalt auszuüben. Das ist für ihn eine neue Erfahrung, über die er nachdenken muß. Wahrscheinlich wird er nun eine ganz andere Strategie einsetzen, nämlich frühzeitig mit den Gewalttätern konferieren, um herauszufinden, wie diese es gern hätten. So könnte schon im vorhinein ein Umfeld geschaffen werden, das den Gewalttätern gefällt, und die Unruhen könnten einen störungsfreien Verlauf nehmen, so daß sie auch z.B. dem Abgeordneten Ströbele akzeptabel erscheinen, was bisher leider nicht immer der Fall war.

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VON DEN MEDIEN

Die Medien vor 75 Jahren.

"Wir müssen es hinnehmen, daß wir in diese Zeit Verbannten lebenslänglich verurteilt sind, die Usurpierung der sprachlichen Machtmittel durch Schurkerei und Idiotismus zu ertragen; ohnmächtig müssen wir zusehen, wie, nach völliger Abtötung aller schöpferischen Möglichkeit durch eine selbsttätige Technik, die entleerten Formen des Geistes zum Ornament des Schwachsinns, zum Aufputz der Niedertracht taugen. Wir erleben im täglichen Umgang und in dem Abdruck eines geschändeten Lebens, der womöglich noch dessen Niveau unterbietet, im Rotwelsch der Lebensbetriebe und im Kauderwelsch jeder gedruckten Zeile einen Triumph der Erbärmlichkeit, der uns bis zu dem Zweifel deprimiert, ob nicht alles das in Ordnung sei und nur der eigene Sinn versehrt, der die Dinge so betrachtet. Wenn mein Blick ein Zeitungsblatt durchfliegt - und nie noch hat er darin lustwandelt - , so ergreift er, ohne mehr an der selbstverständlichen moralischen Verworfenheit zu haften , eine solche Fülle von Beispielen gedanklicher und sprachlicher Mißform, daß mir für die Zukunft einer Nation, die diesen Unflat als geistige Nahrung zu sich nimmt, nur die Hoffnung bleibt, sie werde bei fortschreitender Verblödung schließlich nicht mehr imstande sein, zu lesen - was dann den Ruin der Presse, und in weiterer Folge die geistige Erholung der Menschheit herbeiführen wird.
...
Man ist jedoch neugierig, wann denn das Ziel aller Publizistik, die Öffentlichkeit dumm zu machen, endlich so zufriedenstellend erreicht sein wird, daß die weitere tägliche Bemühung überflüssig wäre. Aber vielleicht ist der Zustand schon eingetreten und die Zeitungen wissen es nur nicht und strapazieren sich noch mit jeder gedruckten Zeile. Denn wenn es doch so ist, daß gerade die unzulänglichsten Köpfe berufen sind, öffentliche Meinung zu machen, und das Publikum sie dergestalt hinnimmt; wenn es sogar Menschen geben soll, die sich an den Einfällen dieses unbezahlbaren Jobs erquicken und nicht wie unsereins wissend, sondern mit echtem Behagen an dem Reichtum dieser bildnerischen Phantasie und an der barocken Fülle von Metaphern, die diesem unversicherten Geiste einfallen wie die Brücke zwischen dem Nichterlebten und dem Nichtgedachten; wenn wirklich solches Druckwesen seine Genießer findet - so frage ich mich schließlich, ob nicht das Publikum vielleicht doch noch dümmer ist als die Presse, die es sich hält, wiewohl mir für diesen Grad schon jedes Maß einer Vorstellung fehlen würde."

(Karl Kraus, Aus Redaktion und Irrenhaus.
In: Die Fackel. Nr. 781 - 786. Anfang Juni 1928.
S. 84 f; 86)

 

Kleiner Beitrag zum Journalisten-Knigge.

Der ehemalige Bundespräsident Herr von Weizsäcker wird von Frau Maischberger interviewt. Die fragt plötzlich, warum er sich so klein mache, er halte die Hände unter dem Tisch verborgen. Herr von Weizsäcker lacht, zeigt seine Hände vor. Man kann bei bestimmten Unverschämtheiten nur verlieren, z.B. bei solchen, von denen man trotz ihres Journalismus nicht alles erwarten mag. Wäre Frau Maischberger ohne Mikrofon und ohne Kamera bei Herrn von Weizsäcker zu Hause gewesen, sie hätte wahrscheinlich so nicht gefragt oder man hätte ihr hoffentlich die Tür gewiesen. Das Mikrofon und die Kamera aber setzen alle Regeln zivilisierten Umgangs außer Kraft. Und weil die Betroffenen die Regellosigkeit mitmachen, probieren die Journalisten wie Pubertierende, wie weit sie gehen können. Vor allem die deutschen und vor allem bei der Anrede. Sie würden natürlich sagen, das habe etwas mit Demokratie zu tun, was natürlich Unsinn ist, wie jeder Vergleich etwa mit den Vereinigten Staaten zeigt. Dort sagt der Interviewer "Mr. Secretary" oder "Governor" oder "Professor Smith" usw. In Deutschland wird durchweg nur noch der Bundeskanzler und der Bundespräsident mit dem Titel angeredet, aber es gilt inzwischen als Glanznummer der Unverschämtheit, auch in diesen Fällen "Herr Schröder" oder "Herr Rau" zu sagen. Die Unverschämtheit liegt vor allem in der Distanzlosigkeit. Als Nachbarn der jeweiligen Damen und Herren bleibt es ihnen unbenommen, sie als Nachbarn anzureden. Hier sind sie aber weder Nachbarn noch Kumpel, sondern Repräsentanten einer Institution, die gut daran täten, die Distanz zu den Politikern oder anderen Personen des öffentlichen Lebens auch auszudrücken, also gerade nicht durchblinzeln zu lassen, daß man mit denen immer auf ein Glas Bier verabredet ist.
Genauso scheußlich ist übrigens die Kommunikation zwischen Moderator und Korrespondent beispielsweise in der Art eines globalen Biertischs. Wir wollen nicht wissen, daß privatim X mit Y sich duzt und sie sich überdies mit den so beliebten wie albernen Namenskürzeln traktieren. Wir wollen, daß Herr X Herrn Y fragt, was der gesehen und gehört hat. Auf die Frage, warum Y gar heute eine blaue Fliege trägt, kann gänzlich verzichtet werden, obwohl dies im Gegensatz zur Frage nach der Position der Hände des Herrn von Weizsäcker von Fall zu Fall Einblick in die Verquollenheit eines journalistischen Bewußtseins geben könnte.

 

Man kann sich bei
Fernsehdiskussionen selten des
Eindrucks erwehren:
Je freier ein Teilnehmer spricht, desto mehr hat er auswendiggelernt.(78)

Talk-Show ist ein Fremdwort für
Quatsche.(78)

Talk-Shows: die allmähliche
Verfertigung der Gedankenlosigkeit
beim Reden.(78)

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VON DER JUSTIZ

Justiz bei der Arbeit

An einem Abend erfahren wir: Im Eschede-Prozeß, bei dem die Schuld am Tod von über 100 Reisenden, die mit einem ICE-Zug gefahren waren, ermittelt werden sollte, macht die Kammer den Vorschlag, das Verfahren einzustellen, da aufgrund der bisherigen Gutachten nicht geklärt werden könne, wie es zu dem unfallverursachenden Defekt der Radkränze gekommen sei;(das Verfahren wird später eingestellt);
der Fürst zu Putbus, ein offener Gegner des Naziregimes, wird nach dem Krieg von der sowjetischen Besatzungsmacht als Großgrundbesitzer enteignet. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt trotz des Antinazismus des Fürsten diese Enteignung mit juristischen Gründen.
Wir werden keinen Richter brauchen, sagen die Wiener. Von wegen! Die Willkür muß in eine angemessene Form gebracht werden!

 

Der Fuchs war Richter.
- Gerechtigkeit, rief die blutende Taube.
- Ich verlange nur mein Recht,
knurrte der Habicht.
- Sehr wahr, sagte der Fuchs:
Freispruch für beide.(59)

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VON DER THEOLOGIE

Sprich nur ein Wort

Der Rundfunkbeauftragte der Katholischen Kirche, ein freundlich schreibender Herr, offeriert heute etwas zu dem Thema: "Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund:" So heißt das zwar nicht, sondern der Hauptmann von Kapernaum sagt in Matthäus und Lukas: "so wird mein Knecht gesund.". Aber natürlich geht es hier wie stets in unseren Tagen um die eigene Seele. Marschieren sie auf , den Krieg um den Irak zu verdammen, so natürlich nicht wegen der irakischen Kinder,denn um die chinesischen,kambodschanischen, ruandischen, tschetschenischen Kinder haben sie sich nicht die Bohne gesorgt und gekümmert, sondern sie fürchten allenfalls , es könne ihnen selbst an den Kragen gehen.
Die eigene Seele soll, versteht sich, geheilt werden. Durch Jesus? Natürlich auch. Aber es geht ebenfalls in Heimarbeit, es geht durch ‚positives Denken', es geht mittels aller möglichen Kniffe und Griffe, die das Pseudologische heute bereitstellt, so daß das Ganze überhaupt nichts mehr mit Kirche und Christentum, sondern mit dem gängigen Eklektizismus zu tun hat, der die prächtigen Formeln fürs bequeme Leben erfindet. Es ist alles derartige inzwischen à la Fliege, der behauptet, ihm gehe es um Seelsorge, aber der natürlich eine flotte Sendung für sich und Leute, die sich nachmittags langweilen, machen will. Er sagt z.B., angesprochen darauf, daß er den "lieben Gott", welche Benennung er ständig gebraucht, "den alten Gangster da oben" genannt hat, natürlich in "Penthouse", er habe damit theologisch völlig Richtiges gesagt, denn auch in der Bibel komme Gott unter dem Epitheton des Diebes vor. Aber der ‚Dieb in der Nacht', als der Gott sich bemerkbar machen könne, meint die Plötzlichkeit, das Unerwartete seiner Epiphanie im Leben eines Menschen, was natürlich mit der Vorstellung des "Gangsters" nicht von ferne zu verbinden ist. Was Fliege da einstreut, ist die pure Scharlatanerie, aber eines der Verfahren, die den Leuten die Botschaft spaßig und glatt machen sollen. Und was kommt bei dieser Art von umgänglichem Heilsversprechen. heraus? Haben wir nun ein Mehr an Tröstungen und Ermunterungen? Gehen die Leute nun geheilt nach Hause, oder heilen sie sich zu Hause durch positives Denken? Natürlich werden sie morgen wieder in einer Arztpraxis sitzen und hoffen, daß ihnen der Heiler auf der Basis von Pillen und Tinkturen ein paar Symptome erträglicher macht. "Sprich nur ein Wort". Das wären für sie Worte, von denen sie sich nachmittags unterhalten lassen. Denn Worte, haben sie gelernt, helfen überhaupt nicht, es geht um verschreibungspflichtige und versicherungsseitig bezahlte Präparate. ‚Du kannst mir viel erzählen', sagen sie und gucken, ob sie ihre Morgendosis schon genommen haben, und wenn's ihnen dann zwei Stunden gut geht, werden sie ‚positiv denken' und sich einen Schlager von Dieter Bohlen reinziehen.

Die christliche Theologie bezeugt
selbst ihr Ende:
die Orthodoxie, indem sie zur Ideologie,
die fortschrittliche, indem sie zur
Soziallehre verkümmert.(132)

Der religiöse Fundamentalismus ist
die schlimme Antwort auf eine
moderne Theologie, die nicht
schwerer wiegt als das Papier, auf
dem sie verbreitet wird.(133)

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VOM ALLTAG

Ein Prozeß in Deutschland

Computercrash. Die höchst unangenehme Erfahrung, daß im Nu die "eigenen Dateien" unlesbar werden. Man ist fast gezwungen, den örtlichen Computerspezialisten zu Rate zu ziehen, obwohl man keine guten Erfahrungen mit ihm gemacht hat. Er hat seinerzeit das eigene System geliefert, auch Wartungsverträge wurden mit ihm abgeschlossen, aber er erwies sich als höchst unzuverlässig und kundenunfreundlich.
Doch ein junger Mann im Geschäft kümmert sich um den Fall, der Geschäftsinhaber ist nicht in der Firma. Jener bringt es nach ein paar Tagen und nach Neuinstallation einer Festplatte immerhin soweit, daß ich den PC wieder hochfahren kann. Etliches Wichtige funktioniert freilich nicht. Reklamation. Der junge Mann ist bereit, nach dem Rechten zu sehen. Ein Termin wird ausgemacht. Man übergibt eine Mängelliste. Inzwischen ist die Rechnung eingetroffen. Am Tage des Termins erfährt man, der junge Mann sei nicht mehr bei der Firma, der zurückgekehrte Geschäftsinhaber bezweifelt den ausgemachten Termin, hält ihn für eine private Vereinbarung, bestreitet das Vorhandensein der Mängelliste, ist nicht bereit, den Termin selbst wahrzunehmen (man hört später, er sei nicht fähig nachzubessern, may be).
Man setzt schriftlich eine Frist zur Nachbesserung und erklärt, ansonsten nur 80 % des Rechnungsbetrages zu zahlen. Der Geschäftsinhaber verlangt binnen kürzester Frist die volle Bezahlung, ansonsten droht er mit Klage. Alsbald erscheint sein Anwalt auf der Szene und verlangt neben der Begleichung der Rechnung in voller Höhe Erstattung der eigenen Kosten.
Man ist gezwungen, selbst einen Anwalt zu nehmen. Nun geht es ein paar Monate hin und her. Die Gegenseite bestreitet alle Mängel. Es kommt heraus, daß sie eigentlich keinerlei Leistungsverpflichtungen habe, wir aber alle Kostenverpflichtungen. Nach einigen Monaten taucht die Mängelliste bei dem Geschäftsinhaber wieder auf. Irgendwann gibt es einen Termin vor dem Amtsgericht. Den kann die Gegenseite nicht wahrnehmen, sie bittet um Verlegung des Termins.
Der Termin währt ca zwanzig Minuten. Interessant ist eine psychologische Nuance. Der junge Richter, sich selbst in dieser Frage als Laien darstellend, schlägt sich aus offenbarem Respekt auf die Seite des "Fachmanns": der Laie komme oft mit Vorstellungen, die der Fachmann gar nicht erfüllen könne. Alles das bedarf der Erörterung gar nicht. Es geht um das Verhältnis Auftraggeber/Auftragnehmer, des weiteren um die Verbindlichkeit von Absprachen, es ist überhaupt nicht ausgemacht, ob in diesem Fall ein "Fachmann" vorhanden ist, es gibt keinerlei Veranlassung, das Verhältnis Laie-Fachmann sozusagen hierarchisch anzugehen: wir leben gerade in einer Phase des totalen und globalen Versagens der Fachleute auf nahezu allen Gebieten. Aber diese Nuance hat für den weiteren Gang des Geschehens dann keine Bedeutung. Der junge Richter hat einen Vergleichsvorschlag vorbereitet, der davon ausgeht, daß wir die neue Festplatte und eine Software zu bezahlen hätten und vom Arbeitsaufwand die Hälfte. Das ist plausibel und läuft darauf hinaus, daß der Gegner nun statt 80% der Rechnung, wie ich sie ihm vor Monaten ‚angedroht' hatte, nur 70 % bekommt. Er berät mit seinem Anwalt. Nach ein paar Minuten erklärt er sich einverstanden. Beschlossen und verkündet.
Der vom Gegner als Zeuge geladene junge Mann, der die Reparatur ausgeführt hatte, war nicht erschienen. Auf unserer Seite bekam die Ehefrau Zeugengeld, so daß wir nur noch 63% der Rechnung zu tragen hatten. Die Anwälte erhielten ihre Gebühren. Der Richter war eine Zeitlang beschäftigt. Das Ganze war Blödsinn. Der "Fachmann" hatte sich, aus welchen Gründen immer, ausgetobt


Daß Menschen sich schlecht benehmen,
ist eine gängige Erfahrung.
Aber meist verlangen sie dann auch noch,
dass man sich deswegen bei ihnen entschuldige.(4)

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

1946

Am Geburtstag wird die erste Vollversammlung der Vereinten Nationen eröffnet. Die französische Gesamtanklage in Nürnberg wird erhoben.
Im "Kleinen Theater" in D. wird "Der Vetter aus Dingsda" besucht.
Im Februar fällt der Unterricht wegen Kohlenmangel zeitweise aus. Das Hochwasser des Rheins geht wieder zurück. Kartoffelmangel macht sich bemerkbar.
Vom "überspanntesten Nationalismus" bis zum radikalen Kommunismus meldeten sich alle politischen Meinungen und Richtungen. Der amerikanische Außenminister Byrnes sehe einen Friedensvertrag mit Deutschland in eineinhalb Jahren voraus.
Im März wird die Brotration für Erwachsene von 10 000 gr auf 5000 gr, die Nährmittelration von 2000 gr auf 1000 gr im Monat reduziert. Der Kaloriensatz pro Tag beträgt nun 1014. Der Vater kauft von einem Studenten einen Kleingarten mit Gartenhäuschen. Der Schulunterricht fällt zeitweise wieder aus.
Gelesen wird unter anderem von Wilhelm II. "Ereignisse und Gestalten 1860 - 1888": "Höchst interessant und höchst militaristisch". Der Tod des Bischofs Galen wird verzeichnet. Die Eltern feiern ihre silberne Hochzeit, kurz darauf ist, leicht verspätet, die Konfirmation des nun Fünfzehnjährigen. Die ältere Schwester kommt deswegen mit der zweijährigen Tochter, die die Großeltern noch gar nicht gesehen haben.
Zu Ostern, es ist Ende April, ist es noch ziemlich kalt. Im Rundfunk spricht Manfred Hausmann, Szenen aus "Abel mit der Mundharmonika" werden vorgelesen.
Das neue Schuljahr beginnt. Wir erhalten französischen Unterricht.
Die erste freie Maifeier in D. findet nicht ungeteilten Beifall. "Viel Dschingdera und viel Gerede".
Viel mehr wird die evangelische Gemeindejugend gewürdigt. Es gibt einen synodalen Jugendtag mit Gottesdienst, Kaffeetrinken, Singen, "grotesken Einaktern" und einer Erzählung von Pastor Posth, die von fünf "heldischen jungen Calvinisten" berichtet.
Ein Gerücht wird erzählt, die Engländer wollten uns verhungern lassen. Im Nürnberger Prozeß wird nach Schacht und Funk Dönitz vernommen.
Die Außenministerkonferenz tagt seit Wochen ohne Ergebnis.
Auch zu den Hauptmahlzeiten, heißt es, könnten wir uns nicht mehr satt essen. Immer wieder wird aber auch davon berichtet, daß man von Verwandten und Bekannten ein paar Pfund Kartoffeln, Haferflocken, manchmal gar etwas Wurst und Butter oder einige Lebensmittelmarken bekommen hat. Die Fettrationen werden abermals gekürzt.
Bei einer Sammlung für die Ostflüchtlinge in 50 Familien kommen 220 Mk zusammen, davon sind aber je 25 Mk von einem Nachbarn und von uns.
Im Kino sieht man "Die Feuerzangenbowle".
In einer Jugendsendung sprechen Dr.Schumacher (SPD), Erich Hoffmann (KPD) und ein englischer Oberst. "Der englische Redner gefiel mir am besten."
Kurz vor Pfingsten suchte ich bei einem Geschäft Lebensmittel zu bekommen. Anstehen von 8.15 - 11.30. Dann erschien weiteres Warten zwecklos, denn seit der Geschäftsöffnung waren erst 13 Personen abgefertigt worden, 20 standen noch vor mir, um 13 Uhr wurde geschlossen. Um 7 Uhr hatte ich zwei kleine Schnitten Brot mit Rhabarbermus gegessen, nun war mir schlecht vor Hunger.
Der Gemeindepfarrer bittet mich, die Jungschar der Dreizehn- und Vierzehnjährigen zu leiten.
Wir bekommen nach einem Jahr und acht Monaten wieder Gas.
In Italien ergibt ein Volksentscheid eine Mehrheit für die Republik. Speer und Neurath werden in Nürnberg vernommen.
Ein Klavierabend mit dem Pianisten Conrad Hansen. Er spielt Beethovens Waldsteinsonate und die h-moll-Rhapsodie von Brahms.
Ende Juni gibt es eine Aufführung von Händels "Messias" unter dem neuen Generalmusikdirektor Georg Ludwig Jochum.
Der Sommer wird sehr heiß. Ende Juli geht es zu einem Besuch von Schwester und Schwager nach Heidelberg. Die Fahrt dauert von sieben Uhr am Abend bis zum nächsten Morgen um neun Uhr. Es gibt zunächst große Schwierigkeiten wegen der Lebensmittelmarken.
Besuch bei dem Leiter der Schloßschule in Wieblingen, in dessen Familie ich 1943/44 lebte. Chaplins "Goldrausch" gefällt gar nicht. Ein Serenadenkonzert im Schloßhof und eine Aufführung von Goethes "Iphigenie" im Königssaal des Schlosses beeindrucken dagegen.
Im Anschluß an die Heidelberger Wochen noch ein paar Tage bei Verwandten in der Nähe Gießens. Dort wird man gut und reichlich versorgt. In D. gibt es aus dem Garten Gemüse und Kartoffeln.
Die "neugebackene Landesregierung Amelunxen" wird verzeichnet. Die Pariser Friedenskonferenz hat begonnen. In Nürnberg tragen die Angeklagten ihr Schlußwort vor. Anfang Oktober werden dann die Urteile vom 23.September notiert.
Die erste Einführung zu den Hauptkonzerten des städtischen Symphonieorchesters findet statt.
Wahl zum Klassensprecher.
Von Wahlen, anscheinend Kommunalwahlen in der britischen Zone, wird berichtet. Die CDU erhält die meisten Mandate, aber nicht die meisten Stimmen, dann folgt die SPD und dann in weitem Abstand die KPD. "Der Kampf zwischen Christentum und Marxismus hat, auch in Deutschland, begonnen."
Es gibt einen Streit mit dem Mathematiklehrer, den ich vor den Direktor trage. Befriedigtes Résumé: "...auch in der Schule [beginnt] das nationalsozialistische Führerprinzip zu wanken".
Die Verschleppung deutscher Arbeiter in die Sowjetunion wird registriert.
Die Ernährungslage ist weiterhin sehr angespannt.
Ein Wort Werner Bergengruens über die Entwicklung Deutschlands wird festgehalten: "Von I.G. Cotta zu I.G.Farben".
Eintragungen von der Einübung einer Adventsfeier für die Gemeinde, vom Verlauf der Weihnachtstage mit einer Flasche Wein und von der Lektüre des "Schulmeisterlein Wuz", des "Katzenberger" und des "Schmelzle" von Jean Paul.





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