|
Inhalt: VON KRIEG UND FRIEDEN: Der
Westen und der Islam. Kultur versus Religion - Parallelwelten - Ein
Sternenmärchen - Eine Fabel - Wann demonstriert werden muß - Kleinigkeiten -
Was sagt man öffentlich, wenn ein Krieg anfängt - Eine Fabel -
Friedens-Deutschland und der Nahe Osten. Ein Capriccio - VON DER GESCHICHTE
UND DER GEGENWART: [Tagebuch 9.2.1963] - Zum 17. Juni 1953 - Zwei Aphorismen
- Der "Spiegel" und die Lage der Nation - VON DEN DEUTSCHEN:
Aufklärung, Reaktion, Homosexualität - Zum Ethos der Deutschen - Berlin und
seine Unruhen - VON DEN MEDIEN: Die Medien vor 75 Jahren (von Karl Kraus) -
Kleiner Beitrag zum Journalisten-Knigge - Drei Aphorismen - VON DER JUSTIZ:
Justiz bei der Arbeit - Eine Fabel - VON DER THEOLOGIE: Sprich nur ein Wort -
Zwei Aphorismen - VOM ALLTAG: Ein Prozeß in Deutschland - Ein Aphorismus -
VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1946.
VON KRIEG UND FRIEDEN
Der Westen und der Islam
Kultur versus Religion
Voraussetzungen
Die sich gegenwärtig abzeichnende
globale Auseinandersetzung ist keine mehr zwischen einer pragmatisch und einer
dogmatisch tendierenden Ideologie, sondern eine Auseinandersetzung zwischen
einer Kultur und einer Religion.
Die Kultur ist die des Westens, wobei Westen hier keinesfalls nur Europa und
Nordamerika meint, sondern erhebliche Teile Asiens, etwa Japan, aber auch
China, weiter Südamerika, ja sogar und zum Teil Afrika. Diese Kultur des
Westens hat sich zwar konstituiert durch Judentum, Christentum, griechisches
Denken und viel später durch die Aufklärung, aber beides ist längst
verwandelt worden in die heutigen Konstituenten dieser Kultur: nämlich
Technik und Kapitalismus. Erst in diesen beiden Elementen hat die Kultur des
Westens heute ihr Gemeinsames, sie haben alle Wirklichkeit zu Fakten,
Tatsachen und zu Waren mutiert. Alles jenseits dessen Liegende, also
Religion, metaphysisches Denken, Sprache werden nur noch akzeptiert, soweit
sie jener Gemeinsamkeit adaptierbar sind. Natürlich gibt es religiöse,
philosophische und sprachliche Tendenzen, die sich von jenem Gemeinsamen
freihalten wollen. Man wird nur die Frage stellen müssen, wie weit ihnen das
gelingen kann. Greift der Papst, der ohne Zweifel Tendenzen jenseits von
Technik und Kapitalismus vertritt, in die öffentliche Debatte ein, so wird er
dann akzeptiert werden, wenn er die eigenen Tendenzen den gemeinsamen
Elementen der westlichen Kultur vermitteln kann. Das galt z.B. für seinen
Friedensappell. Der wurde akzeptiert, weil es eine starke Strömung im Westen
gibt, die ebenfalls unter dem Namen des "Friedens" vereint ist,
aber nicht Frieden als den Zustand einer versöhnten Menschheit meint, sondern
vielmehr das wohlständige Leben, das mit möglichst wenig Gewalt auskommt,
mehr also den Zustand eines funktionierenden Kapitalismus. Plädiert der
Papst dagegen für die Heiligkeit des ungeborenen Lebens, so gilt das
weitgehend als unakzeptabel und obsolet.
Die Religion ist die des Islam, die vor allem Länder des Nahen und des Fernen
Ostens wie auch von Teilen Afrikas umfaßt. Die Religion des Islam
konstituiert sich durch den als Offenbarung verkündeten Koran und durch den
Propheten Mohammed, die beide ständig und allein auf den einen Gott (Allah)
hinweisen. Diese Konstituenten haben sich bis heute nicht geändert. Alle
Wirklichkeit ist auf Allah bezogen, eine Beziehung, die im Koran und durch
den Propheten Mohammed ausgesagt wird. Alles Denken, alles Handeln, alle
Sprache sind allein akzeptabel, insofern jene Beziehung in ihnen kenntlich
wird. Dennoch gibt es technische und kommerzielle Tendenzen auch innerhalb
der Länder des Islam, wobei behauptet wird, sie seien in den Dienst der
Religion genommen worden.
Das Hauptproblem der heutigen globalen Auseinandersetzung besteht darin, daß
die beiden einander gegenüberstehenden Größen als Kultur und als Religion
ganz unterschiedlich strukturiert sind, also eine Gegenüberstellung unter
gleicher Begrifflichkeit sehr schwierig ist.
Die Kultur des Westens
Die Kultur des Westens ist als
historisch bedingte und gewachsene Kultur in einem ständigen
Veränderungsprozeß. Dieser Veränderungsprozeß zeigt sich darin, daß die (primären)
Konstituenten der Kultur heute nur noch Momente innerhalb der (sekundären)
Konstituenten der Gegenwart sind, nämlich von Technik und Kapitalismus. Wie
kommt es zu deren Dominanz? Die hat natürlich etwas zu tun mit der
Durchsetzung der Aufklärung, die ja Religion und Metaphysik kritisch bedenkt,
d.h. ihren behaupteten Wirklichkeitscharakter allein an menschlicher
Wahrnehmung und Erfahrung und an den Gesetzen der Mathematik mißt. So ist für
den Positivismus (als Folgewirkung eines Teils der Aufklärung) evident nur
das sinnlich Gegebene und das Meßbare. Wird damit die Wirklichkeit neu
begründet, so erweist sich als bestes Wertsystem hinsichtlich dieser neuen
Wirklichkeit der Kapitalismus, weil auch er von der Wahrnehmbarkeit und
Meßbarkeit von allem und jedem ausgeht, so daß der Wert nun präzis in einer
Zahl, dem Preis, ausgedrückt werden kann. So ergeben sich ein universales
System der Wirklichkeit und ebenso ein universales Wertsystem, die sich nach
den Anfängen in der Renaissance seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts
vollkommen durchsetzen.
Die (primären) Konstituenten der westlichen Kultur wurden in einigen
historischen Kontexten z.T. oder ganz außer Kraft gesetzt (französische
Revolution, Kommunismus, Nazismus), zumeist aber den neuen oder verwandelten
Konstituenten adaptiert . Es wird nun z.B. das empirische Moment in Judentum
und Christentum, also die Wahrnehmung des Irdischen und die pragmatische
Moral auch von vielen ‚Gläubigen' in den Vordergrund gestellt, selbst wenn es
sich dabei um krasse und verfälschende Veränderungen der überlieferten Texte
handelt. So wird der Verzicht auf Waffen bereits als Frieden im christlichen
Sinn verstanden und damit die Differenz von "meinem Frieden"
(Jesus) und "Frieden, den die Welt gibt" verschwinden gemacht.
Unterhalb von Technik und kapitalistischer Wirtschaft, die freilich nicht
grundsätzlich in Frage gestellt werden dürfen, kann sich nun das entfalten,
was man "pluralistische Gesellschaft" nennt, ein im ganzen
beliebiges Nebeneinander von Tendenzen, die sozial, aber auch gänzlich
asozial, ethisch oder ethisch neutral, ja unethisch, an den überlieferten
Normen, aber auch anomisch orientiert sein können. Diese "pluralistische
Gesellschaft" hat ihren Ursprung in dem Individualismus, wie ihn ebenfalls
die Aufklärung nach Anfängen in der Renaissance postuliert hat.
Individualismus ist pragmatisch in der Erfahrung der "Einzelheit"
jedes Menschen, die dann zur Einzigartigkeit in der Tradition des
Christentums wie in den moralischen Postulaten der Aufklärung überhöht wird.
Sie finden sich am deutlichsten in Kants "Kritik der praktischen
Vernunft", wo der Individualismus als Bewußtseinsgröße, also als
Subjektivität erscheint, der abverlangt wird, daß die Maxime ihres Handelns
die Maxime des Handelns aller sein könne. Doch hat sich diese Subjektivität
historisch nie realisiert. Sie ist weder im ethischen noch im politischen
noch im wirtschaftlichen Handeln anzutreffen. Vielmehr stellt sich der
Individualismus lediglich in einem mehr oder minder planen und chaotisierenden
Egoismus dar, der wirtschaftlich sogar legitimiert , politisch zur
demokratischen Abstimmung mit Mehrheitsentscheidung sublimiert wird, ethisch
aber vor allem einen evolutionistischen "struggle for life"
produziert.
Wenn nun auch im sozialen Interesse die Gesetze des bürgerlichen Staates
weiterbestehen, so nur soweit, als die technischen und wirtschaftlichen
Gesetze und gleichzeitig die Interessen der Mehrheit der Individuen nicht
tangiert werden. Auch sind diese Gesetze im einzelnen nahezu beliebig interpretierbar,
so daß Delikte ganz Verschiedenes bedeuten können: Mord kann z.B. als
Völkermord schlechthinniger Gewaltabusus sein, so daß dann auch die obsolete
Todesstrafe als gerechtfertigt gilt (Nürnberger Prozesse), er kann aber auch
das Fehlverhalten eines Jugendlichen sein, das so zurückhaltend als eben noch
möglich geahndet wird. Der Jugendliche kann einer klar umrissenen
Altersgruppe angehören, er kann aber auch nach dem Gesetz ein junger
Erwachsener sein, dem gutachterlich bestätigt wird, daß sein Verhalten noch
keineswegs mit seinem nominellen Alter übereinstimmt, obwohl das wieder bei
politischen Entscheidungen den Ausschlag gibt. Kurz alles, was in der
"pluralistischen Gesellschaft" des Westens geschieht, unterliegt
völlig verschiedenen Bewertungskriterien. So ist bspw. das sexuelle Verhalten
in einer Weise liberalisiert, wie es bisherige Gesellschaften nicht kannten.
Pornographie wird in jeder Form geduldet. Es wird aber nicht begriffen, daß
damit latent oder offenkundig die Grenzen zur Gewalt überschritten werden,
sondern es wird nur von Fall zu Fall(z.B. Kinderpornographie), der sich aber
oft als Häufung von Fällen erweist, eine Sanktion vorgenommen, die zu
keinerlei grundsätzlichen Überlegungen führt. Oder es werden große Bemühungen
zur Eindämmung des Drogenkonsums bei Jugendlichen unternommen, gleichzeitig
aber der Konsum von Alkohol ebenfalls bei Jugendlichen nicht nur gebilligt,
sondern z.B. durch Reklame und sogenannte Feste gefördert.
Die soziale Verpflichtung des Eigentums wird einerseits betont, gleichzeitig
aber vieles getan, um außerordentliche Gewinne zu ermöglichen, die als völlig
asozial sich auswirken.
Kulturell stützt man sich auf die große künstlerische Überlieferung, zerstört
aber gleichzeitig durch alle möglichen theatralischen und außertheatralischen
Inszenierungen deren Sinn und deren Postulate. Auf den Ernst der politischen
und wirtschaftlichen Lage wird häufig hingewiesen, gleichzeitig werden alle
Formen der Spaßgesellschaft direkt und medial proklamiert.
Im Rahmen des Tatsächlichen der Technik und des Wertes dieses Tatsächlichen
in Gestalt des Kapitalismus als der einzigen allgemeinen Vorgaben kann der
Individualismus sich in jeder Form ‚selbst verwirklichen'.
Die Kultur des Westens ist bis zum Exzeß inhomogen und wird nur von Fall zu
Fall durch Abstimmungen oder Machtmittel von meist staatlichen Institutionen,
die man unter tradierte Vokabeln (Freiheit, Demokratie etc) stellt,
zusammengehalten.
Ihr Verhältnis zum Islam ist ebenso diffus wie ihre eigene Verfassung. Geht
es darum, die eigenen individualistischen Möglichkeiten im Rahmen von Technik
und Kapitalismus zu bewahren, so plädiert man, auch gegenüber einem blutigen
Schlächter wie Saddam Hussein, für Frieden. Erscheinen jene Möglichkeiten
unmittelbar durch Terror bedroht, wie nach dem 11.September 2001, plädiert
man für entschiedene Abwehr, die allerdings möglichst wenig in die
individuelle Lebensführung eingreifen soll.
Es gibt also keine klare Position gegenüber dem Islam. Vielmehr ist die
Struktur der westlichen Kultur so diffus, daß wir von Zustimmung und Toleranz
bis zur Feindschaft und Abwehr alle Verhaltensformen antreffen können.
Auch wird der Islam gemeinhin nicht als Religion wahrgenommen, sondern als
Lebensform und gesellschaftliche Größe, bei denen das Religiöse nur ein
Appendix ist, im Vordergrund aber soziale Themen wie Reichtum/Armut,
technischer Fortschritt, politische Freiheit u.ä. stehen.
Der Islam
Er zeichnet sich nicht so sehr durch
reale Einheit als vielmehr durch die ständige Tendenz auf Einheit aus. Schon
Sunniten und Schiiten sind frühe Erscheinungen der Spaltung im Islam, die
aber als ständige Mahnung zur Einheit verstanden werden, schon insofern sich
beide gleichermaßen auf den Koran und auf den Propheten berufen.
Beides repräsentiert die ideelle Einheit des Islam in einem ungleich
stärkeren Maße, als es z.B. die Bibel alten und neuen Testaments für das
Christentum tut. Die katholische Kirche des Mittelalters ist stärker als
durch die Bibel durch ihre Einsetzung durch Jesus Christus und durch die
ständige Gegenwart des Heiligen Geistes in Papsttum, Konzilien und
Gesamtkirche geprägt. Dagegen kennt der Protestantismus als verbindlich nur
das Wort der Heiligen Schrift, das allerdings wiederum zwischen dem
leibgewordenen Gotteswort in Gestalt Jesu und dem Wort der Bibel changiert.
Beides bedarf freilich - und damit beginnt die neuzeitliche Durchsetzung der
Subjektivität in Europa - der ständigen Auslegung, zu der aber jeder mündige
Christ berufen ist. Die Homogenität des Islam sucht sich dagegen unbezweifelbar
zu machen, insofern der Koran sich selbst als unmittelbar von Gott gegeben
bezeugt und insofern der Prophet als der einzige Überlieferer dieses Korans
anerkannt ist.
Der Koran, so scheint es mir, ist unter den Heiligen Schriften der drei
Offenbarungsreligionen, deren zwei ihm vorausgehende auch vom Islam und im
Koran anerkannt werden, die rigideste. Als Hauptinhalte des Korans sehe ich
das Postulat der vollkommenen Unterwerfung unter den Willen Allahs, die
Erfüllung der religiösen Hauptpflichten, die Verpflichtung zum Dschihad als
Ausbreitung des Islam über die ganze Welt, die auch mit Gewalt zu erfolgen
hat, die Voraussage und Androhung des Jüngsten Gerichts in Gestalt von
Belohnung und Strafe.
Diese Rigidität ist zum einen, wie sich historisch zeigt, nicht
durchzusetzen, andererseits wird sie im Laufe der Jahrhunderte immer wieder
postuliert. Auf sie treffen wir auch in den terroristischen Anschlägen, wie
sie bisher im Geschehen des 11. September 2001 gipfelten. Es ist nicht primär
wichtig, ob diese Terroranschläge von Autoritäten des Islam für unislamisch
erklärt werden, den Tätern und ihren Instruktoren (Bin Laden) erscheinen sie
als ganz und gar islamisch. Sie haben weder etwas mit psychischen Defekten
noch mit Aggressionen der Täter gegen Reichtum und Erfolge des Westens vor
allem zu tun, sondern gelten jenen und ihren Lehrmeistern als die nicht
umgehbare Durchsetzung des Islam, wie sie der Koran vorschreibt, und als die
Abwehr der Kultur des Westens, die freilich zunächst in religiöse Kategorien
übersetzt werden muß, so daß der Westen nun unter einer Kategorie wie
"Kreuzzug" erscheint, was allenfalls für einen Teil der
amerikanischen Kultur als Teil der Kultur des Westens gilt.
Gleichzeitig kennen wir aber im Raum des Islam die Faszination durch den
Westen und den Wunsch, dessen Errungenschaften ebenfalls zu besitzen. Hier
besteht ein ständiges Dilemma, das aber anders strukturiert ist als das
Diffuse des Westens. Es entsteht aus dem Nebeneinander von ‚wörtlicher'
Erfüllung des Korangebots und lebensweltlichem Interesse an einem
‚Fortschritt', wie er vor allem durch den Westen repräsentiert wird. Dieser
‚Fortschritt' stellt sich ja zunächst in den Kategorien Technik und
Kapitalismus dar, dann aber auch in der des Individualismus. Es zeigt die Fremdheit
des koranischen Denkens gegenüber diesen Kategorien, daß es zwischen diesen
und dem Islam keine plausiblen Vermittlungen gibt, sondern daß Technik,
Kapitalismus und Individualismus sich lediglich in den krudesten, ja
primitivsten Formen innerhalb der islamischen Welt zeigen, so daß das
Islamische in diesen Bereichen nur noch als Dekoration ganz und gar
materieller Interessen vorkommt.- Wie der Westen den Islam nicht als
Religion, sondern als Kultur betrachtet, so betrachtet der Islam den Westen
als Religion ("Kreuzzug").
Erhält sich der Islam als Religion, so steht er einer Kultur gegenüber, mit
der eine Vermittlung auch im antagonistischen Sinn kaum möglich sein wird,
und zwar darum, weil es sich bei dieser eben nicht um eine Religion handelt
und weil diese Kultur äußerst diffus ist, so daß es gar keinen
‚Angriffspunkt' für eine Religion gibt. Kehrte diese Kultur aber zu ihren
religiösen Ursprüngen zurück, was theoretisch und praktisch sehr schwer
vorzustellen ist, so träfen z.B. zentral aufeinander das christliche Gebot
der Nächstenliebe und das Gerechtigkeitsgebot des Islam, das aber nur den
eigenen Glaubensgenossen gilt.
In diesen Situationen taucht oft die
Frage nach einem Dritten auf. Dieses Dritte könnte nicht entstehen durch das
Festhalten an den Grundbegriffen der beiden ‚Systeme'. Die Kultur des Westens
müßte die Dominanz von Technik und Kapitalismus wie den egoistischen
Individualismus aufgeben, der Islam zumindest die Überzeugung von der
Notwendigkeit der Bekehrung der Welt zum Islam und von der Erfüllung der
Geschichte in Lohn und Strafe. Diese Verzichte sind sehr unwahrscheinlich.
Andererseits gibt es ein Drittes als gemeinsame Kategorie, das im Westen
allerdings völlig verwässert und instrumentalisiert, im Islam in der Form des
Korans dogmatisiert ist. Es ist die Idee der Sprache. Sie ist in Judentum
(Genesis 1) und Christentum (Johannes-Evangelium) leitend, aber auch im Islam
als Wort des Korans und des Propheten. Könnte man von den jeweiligen und auf
verschiedene Weise problematischen Ausformungen der Sprache dort und hier
absehen und ein Konzept begründen, das sich auf die Sprache als Konstituens
des Menschseins stützt, so daß es fundamental also nicht um Tatsachen,
Ideologien oder Glaubenssätze geht, sondern darum, zu beginnen so zu sprechen,
daß Sprache als unsere Existenzform erscheint, so wäre ein rettender Gedanke
gefunden. Sprache als unsere Existenzform bedeutet, daß unser Handeln,
Denken, Fühlen als menschliches sich nicht bloß durch sogenannte sprachliche
Mittel aktualisiert, sondern an sich selbst sprachlich ist. Dagegen richtet
sich jedes Denken, das vom Primat der Tatsachen oder von Ideologien ausgeht.
Das Denken in dieser und jener Tendenz ist aber in unserer Gegenwart das
beherrschende. Es generiert allein Gewalt. Ob also die materialen wie
dogmatischen Widerstände dagegen überwunden werden können, ist sehr fraglich,
würde aber unseren Untergang beenden können, der unser einziger Fortschritt
geworden ist.
Parallelwelten
I. Wie soll man es erklären? Überall in
der Welt gingen Zehntausende, Hunderttausende wegen des Irak-Krieges auf die
Straßen, meist sehr junge Leute. Unter den Linden in Berlin gab es ein
Friedenscamp. Da wurde nicht nur demonstriert, sondern den ganzen Tag und die
Nacht für den Frieden gelebt. Ein Mädchen sagte im Radio, sie arbeite an
einem Transparent. Auf dem wolle sie für eine Kuschelecke für den Frieden
werben. "Kuscheln für den Frieden", sagte sie, "mit Herzchen
und Blumen". Was würde sie sagen zu den dreißig bis vierzig Millionen Toten
im Holocaust , bei Stalin, Mao, Kim Il Sung, Pol Pot (der versuchte, sein
eigenes Volk auszurotten), in Afrika, also im Kongo, in Ruanda, in Liberia,
in Angola, im Sudan etc, etc? Warum haben erste Priorität bei den
Friedensdemonstranten die Kinder im Irak und warum haben die anderen gar
keine? Natürlich, sie wissen es nicht. Aber sie könnten es doch wissen, wenn
sie statt der Ausgestaltung der Kuschelecke in die Bücher guckten. Vielleicht
wollen sie das aber gar nicht. Jetzt hat man eine Welt aus Kuschelecken und
allerlei Wohlstand, und da kommt dieser Cowboy und will einem und den
irakischen Kindern das alles nehmen. Sie wollen nicht wissen, was mit dieser
Welt los ist.
Sie haben angenehm gelebt, haben getourt, waren auf der Love Parade, machen
viele Partys, nennen das Frieden und sind gegen dessen Störung. Es war alles
hell und angenehm und nun das. Da muß demonstriert werden. In Wahrheit war es
seit Jahrzehnten finster und die Finsternis reichte bis in die eigenen
Wohnzimmer und Kuschelecken. Aber man hat ein System der Nichtwahrnehmung
ausgebildet. Die Wahrnehmung des Irak-Krieges ist die am wenigsten
beunruhigende. Selbst Saddam Hussein, den sie nicht für nett halten, kann
noch ein bißchen in die Kuschelecke. Nur George W. Bush muß draußen bleiben.
Verdrängung? Oder mehr eine auf Einfachheit bedachte Regression , ein
universeller Infantilismus?
II. "Wir haben über fünfzig Jahre
in Frieden gelebt", das ist die Grundformel für alles Weitere in
Deutschland. Man könnte fast sagen: sechzig Jahre, obwohl die Friedensjahre
von 1945 bis 1949 nicht so waren, wie es jene Formel impliziert. Aber
vielleicht waren sie gerade darum realer. Dieser ganz und gar wacklige
Frieden, der jeden Augenblick in neue Gewalt umkippen konnte, seitdem die
alten Kriegsallianzen sich in neue Gegensätze verkehrt hatten, war der
‚Frieden nach dem Krieg': ruinös, armselig, mit Hunger und Kälte, mit den
Deutschen als Parias, mit dem einzigen, allerdings unerhörten Fortschritt:
keine Bomben, keine Alarme, keine Flucht in Keller und Bunker, kein täglicher
Schrecken.
Es war auch der Frieden, der viele Leute veranlaßte nachzudenken, zu lesen,
sich Stücke anzusehen, die das damalige Grundgefühl reflektierten, manchmal
schon die gerade zu Ende gehende Vergangenheit aufnahmen, nach Hitler und
seinem Erfolg fragten, an dem ja die meisten mitgewirkt hatten.
Viele andere Leute waren allerdings an dieser Frage nicht interessiert. Sie
hatten sich sofort etwas zurechtgelegt, was darauf hinauslief, daß alles über
einen gekommen sei: Hitler und die Folgen - und daß darum von Verantwortung
höchstens in einem sehr abstrakten Sinne zu sprechen sei. Das war wiederum
die Voraussetzung dafür, sich mit aller Energie an den Aufbau zu machen und
den Wiederaufbaufrieden einzuüben. Nach 1648, nach dem Siebenjährigen Krieg,
nach 1815, nach dem Ersten Weltkrieg war Frieden vor allem das Ende des
Krieges als Gewalt und unmittelbare Not. Das war auch der Frieden zwischen
1945 und 1949 gewesen, wobei die unmittelbare Not oft erst jetzt begann. Aber
seit 1950 war Frieden nicht mehr das Erwachen aus dem Schrecken, das Zittern
darüber, ob der Schrecken wirklich beendet sei, 1950 war der Frieden, nachdem
seit Mitte 1948 schon die Möglichkeit des Konsums vorgezeigt worden war, eine
ganz und gar handfeste Sache. Die begann mit Essen und Trinken, das nun hieß
"wie im Frieden", womit die Qualität der Produkte und die Quantität
des Verzehrs gemeint waren. Nach der Freßwelle kam die Kleidungswelle, dann
die der großen Anschaffungen vom Kühlschrank bis zum Auto, ja bis zum Haus,
dann kam die Reisewelle, die zunächst bis Ruhpolding und zur Nordsee, aber
bald über die Grenze schwappte: nach Holland, nach Italien, nach Spanien und
Griechenland und auch nach Bulgarien und Rumänien. Bis es über die Grenzen
ging, war der Friede eine interne Erfahrung, die alle Arten von Konsum
bedeutete, der sich in den wiederaufgebauten Städten vollzog. Die waren nicht
schön, aber neu. Neu - das war wohl überhaupt ein entscheidendes Kriterium.
Neue Städte, neue Autos, neue Kleider und - neue Länder und Regionen. Damit
wurde der Friede eine externe Erfahrung, die freilich auf Auswahl beruhte. Es
gab Länder, die zu diesem Frieden paßten, und andere, die es nicht taten.
Diejenigen, die nicht dazu paßten, wurden nicht wahrgenommen, schon weil man
sie nicht bereisen konnte oder wollte. Das Reisen entschied über die Welt als
Welt des Friedens. Und wenn eine östliche Macht Friedensfestspiele
veranstaltete oder vom Weltfrieden sprach, nahmen das die meisten als die
ideologische Phrase, die es in der Tat auch war. Wir Deutschen saßen ganz nah
an der Grenze der friedlichen Welt, aber das verunsicherte uns gar nicht.
In Helmstedt war es ostwärts eben zu Ende mit der Welt, jedenfalls der
Friedenswelt , westwärts konnte man immer weiter vordringen, das hing
schließlich nur von der Bezahlung ab. Frieden - das war überhaupt der
Zustand, wo man alles gegen Bezahlung bekam und dazu singen und sagen konnte,
was man wollte. Alles andere bestand eigentlich gar nicht, und wenn es sich
dem Touristen doch einmal aufdrängte, suchte der rasch das Weite.
III. Diese Welten vereinten sich wieder
im gemeinsamen Desinteresse an dem, was an Scheußlichkeit in dieser Welt vor
sich ging, obwohl es eigentlich gar nicht zu übersehen war. Aber darin waren
sich die Friedensfreunde und die Friedenskonsumenten einig, daß man nicht in
die Sowjetunion guckte und nicht nach China, Nord-Korea, Kambodscha und den
unzähligen anderen Gegenden der Welt, in denen eingesperrt, gefoltert,
gemordet wurde. Oder man guckte weg, wenn man hinguckte und sagte, es sei
eigentlich gar nicht so schlimm. Allerdings hatte man auch immer eine Anzahl
von Ländern, wo es schlimm war. In Chile war es schlimm, in der Tat. Dafür
war es aber wieder in Kuba gar nicht schlimm, was gelogen war. In Südafrika
war es schlimm zur Zeit der Apartheid und in Rhodesien, wo es aber durch
Herrn Mugabe gleich besser wurde, zumal es jetzt Simbabwe hieß. Aber im
ganzen war die Welt tralala, die Stimmung war gut, man ließ sie sich nicht
vermiesen. Saddam Hussein? Sicher kein sympathischer Mann, aber man kann sich
nicht um alle Diktatoren in der Welt kümmern, es sei denn, sie hießen z.B.
Pinochet. Und auf keinen Fall kann man völkerrechtswidrige Angriffe auf ein
doch friedliches Land dulden. Denn schon die Zehnjährigen sind ganz eng mit
dem Völkerrecht verbunden, mit der UNO natürlich vor allem, also mit Libyen,
das der Menschenrechtskommission präsidiert und 270 Menschen über Lockerbie
hat abstürzen lassen. Nord-Korea ist z.B. ein wichtiges Glied der
Völkergemeinschaft (die berühmte Dichterin Luise Rinser, die mal Bundespräsidentin
werden wollte, war dort und war begeistert), aber auch Syrien, der Iran oder
der Kongo und die vielen, vielen anderen sich an die Menschenrechte und das
Völkerrecht bindenden Staaten der großen Nationenfamilie, die unablässig für
den Frieden wirken. Und die Deutschen, das wissen wir, sind da ganz vorneweg.
Denn sie haben ja erlebt, was ein Krieg ist. Darum sind sie gegen den Krieg
und für den Frieden, gegen die Kriegstreiber in den USA und für die
Kuschelecken im Friedenscamp Unter den Linden.
(Aus:
H.A., Streit der Fakultäten.
Neue Aphorismen und Fabeln.
Münster: ATEdition 2000)
Ein
Hase keuchte an einem anderen
vorbei, hinter sich Hundegebell.
- Flieh, rief er diesem zu.
- Warum? fragte der, ich werde
verhandeln.(31)
Ein Sternenmärchen
Ein Mann vom anderen Stern hört und
sieht, daß Millionen auf die Straße gehen, um gegen einen Krieg zu
demonstrieren, der von zwei Burschen namens Bush und Blair angezettelt sei
und der sich gegen einen Burschen namens Saddam Hussein richte, der zwar ein
wahrer Bösewicht sei, gegen den aber die Vereinten Nationen keinen Krieg
erlaubt hätten und den man mit Hilfe von sogenannten Inspektoren durch
energisches Zureden hätte entwaffnen können. Das habe jener Bösewicht zwar im
letzten Jahrzehnt verhindert, nachdem er vorher schon einen Nachbarstaat
überfallen, Menschen seines Landes zu Tausenden umgebracht und gegen einen
anderen Nachbarstaat Krieg geführt habe. Auch übe er noch heute ein
Schreckensregiment in seinem Landes aus. Der Mann vom anderen Stern versteht.
Es gibt auf dieser Erde diesen einen Bösewicht und zwei andere, die ihn
angegriffen haben. Daß sich gegen diese Demonstrationen richten, erscheint
ihm zunächst etwas merkwürdig, aber unser Mann begreift, daß diese Erde ein
sonst durch und durch friedlicher Stern ist und daß die Menschenrechtler und
alle guten Menschen sagen, man dürfe den Frieden dieser Erde, ein kostbares
Gut, nicht dadurch gefährden, daß man den Bösewicht ohne Genehmigung der
Vereinten Nationen angreife. Diese Vereinten Nationen, so sagt sich der Mann,
sind also die Garantie des Friedens auf Erden.
So sei es nicht ganz, antwortet man ihm. Vielmehr hätten die Vereinten
Nationen und ihr Sicherheitsrat nur ganz selten und nur in kleinen Fällen
Kriege verhindert oder doch beendet.
Der Mann fragt, wieso denn Kriege? Handelt es sich denn bei der Erde nicht um
einen ganz friedlichen Stern? Nicht so sehr , sagt man ihm. Vielmehr habe es
im letzten Jahrhundert die schrecklichsten Kriege gegeben, die man sich
vorstellen könne. Unter anderem habe man einen großen Krieg führen müssen
(und die Vorgänger der beiden schlimmen Burschen Bush und Blair hätten ihn
geführt) gegen einen Bösewicht seiner Zeit namens H., den man ohne diesen
Krieg nicht habe loswerden können. Der sei, sagten ihm vor allem die Menschenrechtler,
durch die entsetzlichsten Menschenrechtsverletzungen und millionenfachen Mord
aufgefallen. Der heutige Bösewicht , flüstert man dem Manne vom anderen Stern
noch zu, sei ein Verehrer jenes Bösewichts H. und habe auf die Überlebenden
des Volkes, das H. vor allem ausrotten wollte, schon einen Angriff gemacht.
Auch erfährt unser Mann im Laufe der Zeit, daß in dem besagten Jahrhundert
ein anderer Bösewicht namens S., der in seinem Lande noch immer eine große
Zahl von Verehrern habe, zwanzig Millionen Menschen habe umbringen oder zu
Tode kommen lassen. In dessen Geist sei dann in einem anderen großen Lande
eine Kulturrevolution gewesen, die im Lande selbst wie auch in dem
okkupierten Land T. Millionen von Menschen das Leben gekostet habe. Auch im Lande
N., das mit dem großen Lande der Kulturrevolution eng verbunden sei, seien
Hunderttausende zu Tode gebracht worden. Und in dem Land K., das ebenfalls
zur Gruppe jener Länder gehöre, habe der Diktator versucht, das eigene Volk
zu dezimieren, was ihm auch in einer Zahl von praeter propter zwei Millionen
(es war ein kleines Land) gelungen sei.
Auch in Afrika, hört unser Mann, habe es riesige Metzeleien in R. und in L.
und anderwärts gegeben. Und die Demonstrationen? Die habe es in diesen Fällen
nicht gegeben, wahrscheinlich weil sich die Vereinten Nationen nicht oder
nicht so deutlich gegen diese Schlächtereien ausgesprochen hätten wie gegen
den Krieg , den die beiden Burschen gegen jenen Bösewicht geführt haben.
Denn, sagten ihm die Menschenrechtler, noch wichtiger als die Menschenrechte
sei das Völkerrecht, das die Vereinten Nationen verwalteten. Und darum werde
nur in diesem Falle demonstriert. Denn jeder, der in diesem nicht genehmigten
Krieg umkomme, sei, so betrachtet, doch eine ungleich schlimmere Belastung
des Friedens in der Welt als die praeter propter dreißig oder vierzig
Millionen, die man ja auch nicht einmal richtig zählen könne.
Da wandte sich der Mann vom anderen Stern von den Leuten ab und sprach zu
sich: "Ich bin unter Verrückten."
Wann demonstriert werden muß
Im Bürgerkrieg des Kongo wurden nach
neuesten Meldungen während viereinhalb Jahren 3,3 bis 4,7 Millionen Menschen
getötet,
im Irakkrieg ca 1300 Zivilisten.
Gegen den Bürgerkrieg im Kongo demonstrierte niemand.
Gegen den Irak-Krieg demonstrierte man in der ganzen Welt.
Kleinigkeiten
"Pharisäertum und Heuchelei holen
die meisten Protestierer früher oder später ein", schreibt Enzensberger
in der FAZ, der Glück hat, daß er längst approbiert ist, sonst würde er rasch
erledigt werden. Und Drewermann ist ihr Tartuffe.
Daß sie auch wegen Kindesmißbrauchs zu
bestrafen wären, die sie für Kuschelecken im Friedenscamp gesorgt haben, ist
nachdrücklich zu fordern.
Die Kinder, die Kinder! Und zwar nur die
im Irak und nur die im Krieg. Die vorher von Saddam Hussein getöteten haben
Pech gehabt und die in Nord-Korea, das Frau Rinser so toll fand, in
Kambodscha, im Kongo usw.,usw. erst recht. Die Friedensbewegung kann sich
nicht um alles kümmern.
Auch am zweiten Ostertag haben sie gegen
den Krieg im Irak protestiert. Allerdings seien es, sagen sie selbst, weniger
gewesen als in den Vorjahren. Und da war es eigentlich so gut wie niemand,
obwohl es doch noch vor kurzem immer Hunderttausende waren.
Sie heißen Trittin, Vollmer,
Wieczorek-Zeul, Beer. Sie haben vor dem Krieg im Irak Zehntausende, ja
Hunderttausende von Toten vorausgesagt. Sie haben gelogen. Sie sind
Politiker. Sie sind unverantwortliche Schwätzer.
Was sagt man öffentlich, wenn ein Krieg
anfängt
Jörg, was hast du gesehen?
(ARD-Brennpunkt 19.3.)
Uli, um Himmels willen.
(Dietmar Ossenberg, ZDF-Spezial 19.3.)
Es ist unendlich viel schief gelaufen.
(Hans Ulrich Klose, Deutschlandfunk 20.3.)
Was tun wir für das Flüchtlingselend?
(Kardinal Lehmann, ARD 20.3.)
Meine Befürchtung ist, daß der Nahe Osten
destabilisiert wird.
(Präses Kock, ARD 20.3.)
Man gibt überhaupt keine Details über
Details bekannt.
(Korrespondent
T.Buhrow, ARD, 20.3.)
Ich kann das nicht interpretieren, ich
wundere mich.
(Brigadegeneral a.D. H. Lemke, ARD 20.3.)
Nun brauchen wir Hilfe, liebe Regie, wie
soll es weitergehen?
(ZDF Spezial 20.3.)
Es geht schlicht ums Öl.
(ZDF Spezial 20.3.)
So wie es bleibt, kann keiner zufrieden
sein.
(Korrespondent Krause, ARD, 20.3.)
Die shock- and awe-Kampagne, die Schock-
und Ehrfurcht-Kampagne.*
(Claus Kleber, ZDF Spezial, 21.3.)
*eine Bedeutung von "awe" ist "Ehrfurcht"
Die Bevölkerung ist des Krieges leid.
(General a.D. Reinhard, ZDF Spezial, 21.3.)
Die Bilder sind nur Bilder aus Bagdad.
Irak ist aber viel mehr als Bagdad.
(Claus Kleber, ZDF Spezial 21.3.)
Eine Stadt, in der Ulrich Tilgner einen
Superjob macht.
(Claus Kleber, ZDF Spezial, 21.3.)
Ein Entsendegesetz sähe er nicht die
Notwendigkeit für.
(Phoenix 26.3.)
-
Die Menschen haben die Sprache
verloren, sagte der Hund.
- Aber sie reden doch fortwährend,
riefen die anderen Tiere.
- Das täuscht, sagte der Hund. Sie
geben nur noch Laut, damit es
nicht totenstill ist.(32)
Friedens-Deutschland und der Nahe Osten
Ein Capriccio
Die Rürup-Kommission soll nun, nach dem
Vorschlag der Bundesregierung, im Rahmen der Friedensgestaltung im Irak und
unter dem Dach der Vereinten Nationen auch Gesichtspunkte für die Reform des
irakischen Rentenwesens erarbeiten. Die Bundesregierung stellt so nicht nur
neuerlich ihren Friedenswillen, sondern auch ihre Bereitschaft, an der
Gestaltung des Friedens im Irak mitzuwirken, unter Beweis.
Die Gesundheits- und Sozialministerin, Frau Ulla Schmidt, plädiert überdies
dafür, daß auch die Rentenansprüche des bisherigen irakischen Präsidenten
Saddam Hussein objektiv und gerecht geprüft werden.
Dagegen spricht sich die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit,
Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul, die sich bei der Erwähnung des Leidens
irakischer Kinder nie der Tränen enthalten kann, entschieden gegen die
Beteiligung der Bundesrepublik an Hilfsprogrammen für die irakische
Bevölkerung aus, da das einzig die Aufgabe derjenigen sei, die für diesen
"schändlichen Krieg" verantwortlich seien, also der USA und ihrer
Helfershelfer. Damit meine sie natürlich ausschließlich diesen Krieg ,
während die Kriege, Bürgerkriege, Schlächtereien in Kambodscha, im Iran, in
Ruanda, im Kongo, in Angola, in Liberia, im Sudan etc etc erst noch durch die
SPD-Delegierten des Bezirksparteitags Hessen-Süd auf ihre Schändlichkeit hin
geprüft werden müßten. Der Bundeskanzler geht in all diesen Fragen mit sich
selbst konform, kann aber noch nichts Genaues sagen, ist jedoch entschieden
der Ansicht, daß das keine Frage sei.
Der Bundesaußenminister will im Augenblick nicht Stellung nehmen, da er im
Dienste des Friedens im Nahen Osten weilt, wo er als erster führender
westlicher Politiker nicht nur eingetroffen ist, sondern auch bereits,
nämlich zum zwanzigsten Male die Gedenkstätte Yad Vashem besucht hat und
anschließend den Präsidenten Yassir Arafat besuchen wird. Angesprochen auf
die Lage im Irak, sagte Fischer nur beiläufig: "Forget it".
(nach
oben)
VON DER GESCHICHTE UND DER GEGENWART
[Tagebuch 9.2.1963]
"Für das deutsche Vaterland. Ein
SS-Mann, der an der Ermordung von 11000 Menschen mitschuldig ist, wird zu
vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein SS-Funktionär, inzwischen
CSU-Funktionär, soll als Abgeordneter in den Bundestag kommen. Ein
Journalist, Emigrant, schreibt am Anfang eines Artikels,
"persönlich" sei er weder für die Verurteilung des ersten noch für
die Kandidatur des zweiten. Man müßte eigentlich Scham und Takt von den
früheren Nazis verlangen. Leider sei davon nichts zu merken. Dies genau
bestimmt unseren Zustand. Die Mörder, die Mitmacher, die vernünftigen
Kritiker, das zusammen ergibt uns. Und alle sind im drastischsten Sinne
schizophren: die Mörder, insofern sie ‚ehrlich' bestreiten würden, Mörder zu
sein; die Mitmacher, insofern sie auf die veränderte Situation hinweisen; die
sanften Kritiker, insofern sie fragen, wie denn angesichts dessen, was
geschehen sei, Gerechtigkeit und Sühne geübt werden sollten.
Da wir natürlich 1933 - 45 nicht assimilieren können, auch nicht durch die
Formel ‚Katastrophe und Wiederaufbau', weil dem Zustand ‚funktionierenden
Lebens' nicht der des ‚organisierten Todes' zugeordnet werden darf, denn
jener erschiene dann als die Fortsetzung dieses mit humaneren Mitteln, muß
die ‚Vergangenheit bewältigt' werden. Und zwar so, daß das Anomale auf der
einen Seite als schreckliches Zwischenspiel gedeutet wird, nämlich als
Ganzes, in seinen Details ihm aber andererseits Normalität bescheinigt wird.
So wird dem gegenwärtigen Zustand auf paradoxe, aber äußerlich wirksame Weise
zur Vernunft verholfen. Im ganzen, insofern er sich grundsätzlich von dem zur
Zeit der Nazis, die zu einer Geisterschar längst geworden sind,
unterscheidet. Begegnen aber in Person die Mörder und die Mitmacher und
erweisen sie sich als ‚unsere Nachbarn heute abend', die sie in fast allen Fällen
sind, so werden jene wie diese zu in unterschiedlichem Grade Irrenden, die in
alte Geschichten verwickelt waren, was damals ja jedem passieren konnte.
Damit hat man freilich recht. Und dies wäre der einzige Punkt, aus dem alles
zu kurieren wäre. Aber da das zu der Einsicht führen müßte, alle seien
potentielle Mörder gewesen, läßt man lieber die wirklichen als jene kleinen
Übeltäter figurieren, die nach den zufälligen Umständen ein paar Jahre hinter
Gitter gesteckt oder mit der Ermahnung, taktvoll zu sein, bedacht werden.
Oder aber man erklärt sie zu den beliebten ‚Bestien in Menschengestalt', die
durch ihren ‚death by hanging' dafür garantieren, daß nun endlich einmal
reiner Tisch ist.
Aber das verkehrte und gespaltene Bewußtsein sorgt dafür, daß die Krankheit
mit ihren tausend Symptomen bleibt."
(nach
oben)
Zum 17. Juni 1953
Vor fünfzig Jahren geschieht, was
unerhört ist in der deutschen Geschichte und alsbald zum "historischen
Ereignis" und zum Feiertag applaniert wurde. Acht Jahre nach dem Ende
der Naziherrschaft gehen in Deutschland, im Osten Deutschlands Menschen auf
die Straße, Arbeiter vor allem, die das angeblich Neue, Bessere, ‚ihren'
Sozialismus als eine elende Scharlatanerie von Gnaden der sowjetischen
Besatzungsmacht entlarven. Walter Ulbricht, diese unendlich trübe, mediokre
und machtbessessene Gestalt, Zerstörer der Glaubwürdigkeit eines Neuanfangs
als eines sozialistischen, Zerstörer aber auch vieler noch erhaltener oder zu
rettender großer architektonischer Zeugnisse, Zerstörer einfacher und
bedeutender Biographien - dieser Walter Ulbricht hatte die zehnprozentige
Erhöhung der Arbeitsnormen unter den erbärmlichen Bedingungen seiner DDR
durchgesetzt, obwohl ihn selbst die sowjetischen "Freunde" davor
gewarnt hatten. Das war der letzte Anlaß, der aus dem Unmut der Arbeiter den
spontanen Aufstand machte, und zwar überdies noch den Aufstand der Arbeiter,
die auf der ersten Großbaustelle des Sozialismus, der Stalinallee,
beschäftigt waren.
Also kein Aufstand der unterdrückten Massen gegen feudalistische,
reaktionäre, faschistische Unterdrücker, sondern der bewußte Abschied der
"herrschenden Klasse" von denen, die sie als Betrüger erkannt
hatte. Das ist ein Vorgang, wie ihn die Revolutionsgeschichte bis dahin gar
nicht kennt und der seine Nachfolge in den polnischen, den ungarischen, den
tschechoslowakischen Ereignissen findet und schließlich in den Ereignissen,
die den Untergang des tönernen Ostblocks bewirken.
Im Ersten Programm des Fernsehens wurde
über einen Monat vor dem fünfzigsten Jahrestag des Aufstands ein Film
gesendet, der nicht große Namen präsentierte, aber eine mit wenigen Ausnahmen
sehr ehrliche Darstellung der Situation war, wie sie sich dem einzelnen in
den Tagen und Wochen vor dem 17. Juni vor allem in Berlin wahrhaft
aufdrängte. Es ist auch eine spannende Geschichte, die vielleicht die
Aufmerksamkeit manchmal zu sehr ablenkt auf den Spannungskonsum hin. Aber wer
Augen hat zu sehen wird schon am Anfang des Films stark getroffen sein durch
die Entführung eines "Verräters" aus dem Ostsektor, die in
unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze und am hellichten Tag vor sich geht.
Der Mann aus dem SED-Apparat will einem aus dem Ostteil Berlins stammenden
Westjournalisten eine Liste zuspielen, die eine große Anzahl von Namen
solcher Personen enthält, die das DDR-Regime in einer prekären politischen
Situation verhaften will.
Darunter sind auch die Namen ‚treuer' SED-Genossen, so der des Vaters des
Journalisten, eines Brigadiers an der Stalinallee-Baustelle, und der seines
Bruders, eines SED-Funktionärs. Der aber ist einer der Entführer. In einer
größeren Sequenz bezeugt sich die Barbarei einer Politik, die sich als
fortschrittlich und antifaschistisch feiern ließ, aber noch in ihren
alltäglichen Taten zeigte, wie phraseologisch diese Hymnen waren.
Der Film bindet die an den Quellen orientierte Darstellung des 16. und 17.
Juni an einen Ausschnitt der Familiengeschichte Kaminski: des Vaters, der
Mutter, der Brüder, der Freundin eines der Brüder. Im Wirbel der Niederschlagung
des Aufstands durch sowjetische Panzer gerät der junge SED-Sekretär, der sich
von seinem politischen Milieu getrennt hat, als er seinen und seines Vaters
Namen in den geretteten Konskriptionslisten entdeckt hat, auf die Westseite,
der Westjournalist und das Mädchen aber finden sich im Osten gefangen und
werden zu drei Jahren Haft verurteilt.
Dies war die Basis eines Staates, mit dem unsere politischen und
wirtschaftlichen Repräsentanten und viele unserer Intellektuellen nicht nur
aus Höflichkeit shake-hands machten.
In dem Film gibt es die der Historie
nachgestellte Szene, in der ein hoher Funktionär vor dem Haus der
Ministerien, also dem Göring-Ministerium und heutigen
Bundesfinanzministerium, mit jenen erhaltenen Kachelbildern, die den
fröhlichen Sieg des Sozialismus feiern, von einem kleinen Tisch aus eine Rede
an die Aufständischen hält. Hochgewachsen erscheint er in dem Film, vorher in
einem riesigen Arbeitszimmer (doch wohl dem des "Reichsmarschalls")
amtierend. Er hat im Film einen anderen Namen, aber es ist der damalige
Industrieminister Fritz Selbmann, der in der Tat diese Rede hielt. Er wurde
schon in den frühen sechziger Jahren wegen "Managertums", was immer
das bedeuten mochte, in den Hintergrund gedrängt und aus der Führungsgruppe der
DDR ausgeschlossen. Dieser Mann gilt wegen solcher Elemente aus seiner
Biographie als ein Widerständler von oben, und seine Rede am 16. Juni wird in
diesem Kontext gesehen. Selbmann verstand sich nach seiner Kaltstellung als
Schriftsteller, verfaßte einige autobiographisch tingierte Romane und war
unter der Präsidentschaft Hermann Kants und neben Anna Seghers eine Zeitlang
Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR. Er war vor 1933
KPD-Funktionär gewesen, betrachtete sich als Prototyp eines Antifaschisten und
legte auch auf die nomenklatorische Bezeichnung "Opfer des
Faschismus" Wert. Als letztes hat er ein Buch geschrieben, das erst
längst nach seinem Tode und nach dem Ende der DDR 1999 in dem Verlag
"Neues Leben" in Berlin erschienen ist und "Acht Jahre und ein
Tag. Bilder aus den Gründerjahren der DDR" heißt.
Es wäre falsch zu sagen, Selbmann erzähle darin Episoden oder gar Phasen aus
seiner Lebensgeschichte und der Geschichte der DDR, obwohl es solche Partien
auch gibt. In dem Buch versammelt er vor allem eigene Reden und Artikel aus
der Zeit zwischen 1945 und 1953. Er beschließt das Buch mit einem Kapitel
"1953. Der 17. Juni und die Wochen danach", das ihm wohl als
pointiert letztes wichtig war und über das zu sprechen sein wird.
Er beginnt mit einer Erzählung seiner Rückkehr aus dem KZ nach Leipzig, wo er
vor 1933 Bezirksleiter der KPD gewesen war.
Die Erzählungen über die ersten Wochen und Monate 1945 in Leipzig sind in
ihrer Authentizität interessant. Aber alsbald fügt er dem Text Ausschnitte
aus eigenen und fremden Artikeln ein, deren Charakter eine Mischung aus
Statistik und allgemeinen Redensarten über Chaos und Neubeginn ist. Und dann
schweift er, so muß man leider sagen, einmal und etliche Seiten weiter noch
einmal ins Private ab. Er berichtet nämlich von einer "jungen
Frau", zu der er nach dem Tod seiner ersten Ehefrau "engsten
Kontakt" hielt und mit der er sich einig ist, nach seiner Rückkehr aus
dem KZ "in den ‚heiligen Stand der Ehe'" zu treten. Am Tage seiner
Hochzeit hat er "einige wichtige Sitzungen anberaumt". "Da
erinnerte mich am Frühstückstisch meine künftige Ehehälfte daran, daß dies
der Tag unserer Hochzeit sei und ich mich um zehn Uhr auf dem Standesamt
einzufinden hätte." Die Hochzeit wird verschoben, natürlich sind die
Sitzungen wichtiger (38).
Dreißig Seiten weiter - es gab nun schon ausführlichere Zitate aus frühen
Dokumenten der Zeit - erzählt Selbmann davon, daß er eine Mitteilung erhalten
habe, in einem Flüchtlingstreck auf dem Altmarkt in Leipzig sei seine Tochter
Katja. "Ich fuhr sofort zum Altmarkt ...dort fand ich Katja neben einem
Leiterwagen stehend mit einem roten Kopftuch; sie fiel mir um den Hals und
weinte wie ein Schloßhund. Ich nahm sie und das kleine Bündel Habseligkeiten,
das sie auf dem Wagen hatte, mit nach Hause, womit ihre Umsiedlung beendet
war."(67). Ähnlich wird von dem Wiedersehen mit seinem Sohn Erich, der
das Nachwort zu diesem Buch schrieb, berichtet.
Man ist verwirrt. Selbmann sieht sich als Schriftsteller, er will eine
Beziehung zu einer Frau und die Hochzeit mit ihr, er will das Wiederfinden
seiner Kinder darstellen. Aber er hat keine Zeit für die Hochzeit und auch
nur die nötigste für die Kinder. Es drängt ihn zu Sitzungen. Und diesen
Vorzug, den er dem Parteibürokratischen gibt, reflektiert sich in den entsetzlichen
Redenarten, auf die sich sein Leben als Ehemann und Vater reduziert:
"heiliger Stand der Ehe" (die Ironie eines Funktionärs),
"meine künftige Ehehälfte", (Katja) "weinte wie ein
Schloßhund", "womit ihre Umsiedlung beendet war". Dieser Mann
will dazu beitragen, ein humanes Leben in einer neuen Zeit möglich zu machen.
Was hat das mit dem 17. Juni 1953 zu tun? Alles.
Denn mit diesem Bewußtsein, diesem Gefühl berichtet er auch von der
Revolution, die natürlich für ihn eine Konterrevolution, ja weniger als das:
ein faschistisch-kapitalistischer Umsturzversuch war. Es sei zwar
"zuzugeben", "daß mancherlei andere Faktoren als auslösendes
und mitwirkendes Element zu gelten haben". In diesem Bürokratenwelsch
zittert noch ein bißchen schlechtes Gewissen nach, das sich dann in einer
völlig verwirrten Argumentation erhält: "Neuausrichtung des
USA-Imperialismus", "der sich wieder entwickelnde westdeutsche
Imperialismus", "Versuch eines profaschistischen
Putsches"(263), allerdings auch: "aus dem gesellschaftlichen Leben
innerhalb der Republik hervorgegangene Tendenzen und Fakten"(263) hätten
bei dem Geschehen mitgewirkt, was aber nur in einer ganz abstrakten Suada
eingeräumt wird. So geht es über Seiten fort. Der Tod Stalins führt "zu
einer explosiven politischen Stimmung", es habe "fehlerhafte
Verordnungen" (264)gegeben, aber Selbmann ist gegen eine
"Fehlerdiskussion"(265).
Die "Demonstration aus der Stalinallee" gelangt "bis vor das
Haus der Ministerien": es "mußte festgestellt werden", heißt
es, so als könne die Realität nicht weiter verdrängt werden. Aber schon hat
Selbmann wieder ideologischen Tritt gefaßt: "zur gleichen Zeit [kommen]
große Haufen von randalierenden jungen Burschen aus Westberlin durch das
Brandenburger Tor und die Leipziger Straße"(265). Er ist "sofort
bereit", als Redner vor den Demonstranten zu erscheinen. Es wird ihm
mitgeteilt, was er "den Massen zu sagen" habe(266). Er steigt auf
einen Tisch, beginnt zu reden, wird aber "fortgesetzt
unterbrochen". Ein Demonstrant "in einem völlig neuen Maureranzug"
hält eine "ausgesprochen politische und feindliche Rede", beides
offenbar gleich schlimm, er spricht von " ‚Revolution', ‚Freiheit',
‚Aufstand in der ganzen Zone'" (267), also die Terminologie des
Klassenfeindes. Das alles wird über den 16.Juni gesagt, vom 17. Juni hört man
von Selbmann ähnliches, bis der "Kommandeur einer Panzerkolonne",
natürlich einer russischen, zu ihm kommt, ihm die Verhängung des
Ausnahmezustandes mitteilt und ihn informiert, "daß er nun daran gehen
werde, die Sektorengrenze abzusperren und mit Einsatz seiner Panzer die
Straßen zu räumen. Das geschah dann auch"(270). Ende des Berliner
Berichts. Kein Hauch einer Reflexion, kein Bedauern. Selbmann ist offenbar
ganz einverstanden, daß die "Freunde" gegen seine
"Arbeiterklasse", die aber in Wahrheit aus "Rowdys"
besteht, mit Panzern vorgehen. Gleich anschließend schickt ihn Ulbricht nach
Dresden, wo er für Ordnung sorgt. Er hält in Riesa, da es unmöglich gewesen
sei, "zu den Arbeitern selbst zu sprechen", eine Rede über die
"Übertragungsanlage des Werkes"(273), die neben weiteren, an
anderen Stellen gehaltenen Reden, ganz zitiert wird. Sie sind alle in
gleichem Maße phraseologisch, verlogen, ohne einen eigenen Ton. Noch einen
Monat später wird in Schkopau erneut gestreikt, und der getreue Parteisoldat
Selbmann eilt wieder auf Befehl Walter Ulbrichts auch dorthin, stellt fest,
daß eine gewählte Vertreterversammlung "zum größten Teil [aus] radikalen
Elementen" besteht. Streik, erklärt er den Streikenden, sei gar nicht erforderlich.
Aber er ist großzügig: Man "kann meinetwegen seinem Unwillen einmal Luft
machen"(290).Doch schließlich bricht er die Diskussion ab, obwohl er
"keinen unterbrochen" hat. "Ich habe Euch sprechen
lassen." (293) Ein wilhelminischer Fabrikdirektor meldet sich hier stolz
und Jahre nach dem Ereignis zu Wort. Aber es ist ein Arbeiterführer, einer,
der seine Meinung sagte und schließlich Selbstkritik übte. Man kann sich aufs
genaueste vorstellen, wie die anderen aussahen, dachten, fühlten: ein Haufen
miesester Kleinbürger, die an die Macht gekommen waren und nur ein Ziel
hatten, nämlich dort zu bleiben.
Von der DDR ist schon jetzt so gut wie nichts geblieben. Nur was sie aufheben
sollte, der 17. Juni 1953, ist neben der friedlichen Revolution von 1989 noch
des Aufhebens wert. Und wenn dies noch bewiesen werden müßte, das Buch
Selbmanns wäre der Beweis. Es ist gleichzeitig ein trostloses Zeugnis dafür,
daß ein Mann, der als politischer Häftling 12 Jahre im Zuchthaus und im KZ
seiner Freiheit beraubt war, der sich dort ein strenges Selbststudium
zwischen Mathematik und Philosophie auferlegt hatte, nach seiner Befreiung
wieder in völliger Verblendung seiner Ideologie diente und selbst in dem
Augenblick, da ein Funke Sensibilität genügt hätte, ihm die Augen endgültig
darüber zu öffnen, daß der Arbeiterstaat ein Staat gegen die Arbeiter, gegen
die Menschen war, sich in den parteiamtlichen Jargon flüchtete und dankbar
dafür war, daß die sowjetischen Panzerkolonnen aufzogen.
Sein Buch ist zweifellos ein Dokument der Selbstfesselung des Bewußtseins.
Aber es soll - Verlag "Neues Leben" - wohl eher dazu helfen, das
Barbarentum im deutschen Osten als heroische Leistung zu vermitteln.
Nachbemerkung. Anfang Juni päsentierte
das ZDF ein Pasticcio aus verschiedenen Genres, aus Filmdokumenten, Aussagen
von Beteiligten, nachgestellten historischen und fiktionalen Szenen. Es ist
ein Verfahren, das sich offenbar heute großer Beliebtheit erfreut. Man weiß
nicht recht, ob es wirklich das leistet, was es leisten soll: hier den
"Aufstand"(so hieß der Film) von 1953 deutlicher zu machen. Man sah
zwar abermals, daß es sich um eine spontane Aktion handelte, bei der der RIAS
nur die Rolle eines Transporteurs spielte, der über die Geschehnisse am 16.
Juni in Berlin in der sowjetischen Zone informierte. Aber von dieser
Spontaneität und ihrer Bedeutung wurde nur unter anderem erzählt. Es kamen
dann zwar die Zeugnisse der am Aufstand Beteiligten wie auch anderer hinzu,
aber das Ganze erschien eben nur als eine historische Episode, die alsbald in
die Hände der Machthaber und ihrer Dienstboten überging, so daß am Ende
nichts als der Eindruck blieb: ein großer Krieg mußte vermieden werden und
wurde vermieden, die spontanen Akteure wurden geopfert oder hatten 36 Jahre
zu warten, bis die historische Stunde die Erfüllung ihrer Wünsche zuließ. Es
war schließlich eine Absage an politische Veränderung durch das Volk, eine
Bestätigung des realistischen Zynismus, der ‚Schlimmeres verhütet'.
Danach bot man noch eine Diskussion, die natürlich vom Fernsehhistoriker Knopp
geleitet wurde, der immer nur statements abfragt, und zwar nicht von denen,
die dabei waren, sondern von den zum Typus des Betrachters Gehörenden,
diesmal alten Herren, die damals auf den beiden Seiten der Weltbühne standen,
der Spontaneität allemal abhold und nun im traulichen Verein, ob sie nun
seinerzeit Chefredakteur beim RIAS waren oder Kulturminister der DDR. Wenn
der sagte, auch Wilhelm-Pieck- und Otto-Grotewohl-Straßen seien noch heute zu
rechtfertigen, so kam von den anderen kein Widerspruch. Und ob sie nun mehr
von der Naivität der Akteure oder immer noch davon überzeugt waren, daß es
sich um faschistische Unruhestifter handelte, die eigentlichen, nur für zwei
Tage Agierenden hatten vor der Tür zu bleiben. Revolutionen und Revolutionäre
werden nach Erfolg approbiert und da es zu dem nicht kommen durfte, siehe
Weltgeschichte, hatten sie die Klappe zu halten.
Human
kann der Mensch nur sein
zu zweit, zu dritt, vielleicht noch in
einer kleinen Gruppe;
dann wird er vergesellschaftet, also
barbarisch.(38)
Menschliche
Gesellschaft bedeutet
nie humane Gesellschaft, sondern
Institutionalisierung der
Barbarei.(38)
Der "Spiegel" und die Lage der
Nation
Oft ist die Laufband-Ironie des
"Spiegel" unerträglich. So wenn z.B. der Musikredakteur Umbach bei der
Montage seiner Sätze ist. Nie läßt er einen Gag auf Kosten der Dargestellten
aus. Gleichzeitig ist er völlig unfähig, etwas über sein
"Fachgebiet", etwas über Musik zu sagen. In Nr. 20/2003 geht es um
Richard Wagners erste Ehe, die nach der Lektüre eines neuen Buches auf die
üblichen Pointen abgeklopft wird. So geht es jahraus, jahrein. Es entsteht
die Vorstellung einer trostlosen Ewigkeit, in der es nur um eine neue
Zyniker-Generation geht, die es noch besser kann als die vorige. Interessant
ist, daß dagegen der alte Ehrgeiz, nämlich so wenig Druck- und
Grammatikfehler wie möglich zu machen, stark nachgelassen hat. Das liegt wohl
daran, daß zwar der "Spiegel"-Stil ohne Mühe von denen, die schon
eine ‚Schreibe' haben , gelernt werden kann, daß aber für das korrekte
Schreiben so viel Fleiß aufzubringen wäre, wie ihn die gegenwärtige
Generation nicht aufbringen will.-
Aber immer wieder gibt es einzelne interessante Texte, und manchmal wächst in
einem Heft aus der Ironiewüste ein satirisches Labyrinth, das wahrscheinlich
keinem Plan zu verdanken ist, denn der "Spiegel" ist natürlich
nicht von ferne der "Fackel" zu vergleichen. Es entsteht vielmehr
nur aus dem genaueren Hinschauen, der genaueren Lektüre von Sätzen. Das
Resultat für den Leser ist sicher nicht die Einsicht, wie denn die Dinge sich
bessern könnten, sondern eher der Schrecken des Labyrinthbesuchers, ob es aus
ihm überhaupt einen Ausweg gebe.
In der schon genannten Nr. 20/2003 wird als Titelgeschichte "Die
verstaubte Verfassung. Wie das Grundgesetz Reformen blockiert"
angekündigt. Und man erfährt im Heft, daß man darüber in dieser und den
nächsten Ausgaben eine Reihe von Artikeln zu lesen bekomme, ein übliches
"Spiegel"-Verfahren. Der Titel will natürlich Aufmerksamkeit
wecken, sagt man sich, und nimmt ihn also nicht für bare Münze. Aber bevor
man prüfen kann, wie ernst er zu nehmen ist, fällt einem auf, daß von einer
ganzen Anzahl von Institutionen und ihrer Repräsentanten in der
Bundesrepublik, aber auch von einzelnen Exempeln innerhalb dieser Institutionen
in einer Weise die Rede ist, die den Eindruck einer zwar fragmentarischen,
aber tendenziell aufs Ganze zielenden Kritik dieser Republik entstehen läßt.
Harmlos scheint es zu sein, wenn die Frage einer zweiten Präsidentschaft des
jetzigen Amtsinhabers volviert wird. Aber es fallen doch Sätze, zunächst
typische "Spiegel"-Sätze, auf wie: "Der Präsident genießt sein
Amt"(56), als sei das ein zentrale Bedingung dieser Tätigkeit. Was
dieser Präsident für die Regierung, insbesondere für den Bundeskanzler
bedeutet, wird in dem Titel angekündigt "Rau und Ruhe". Und dessen
Abwehr aller Vermutungen über sein Interesse an der Zusammensetzung der
Bundesversammlung, an den Wahlen zu den Landtagen als Elementen für diese
Zusammensetzung wird so breit ausgeführt, daß kein Mensch an dieses
Desinteresse glauben kann, was auch ausdrücklich gesagt wird. Kurz: das Amt
des Staatsoberhaupts wird als nichts anderes denn eine Sinekure behauptet;
von dem jetzigen Amtsinhaber erwartet dem Text nach der Bundeskanzler vor allem
Ungestörtheit, und der Präsident selbst kalkuliert danach aufs genaueste die
politischen Aussichten für seine Wiederwahl. Der Eindruck ist: anderer
Voraussetzungen bedarf es für den Amtsinhaber nicht.
Dem steht ein erstaunlicher Artikel über die Bundesregierung zur Seite, der
zwar von der Bedeutung der "Vorturner" Schröder und Clement
ausgeht, dies aber nur, um die "Riege dahinter" als "ziemlich
schwächlich" darzustellen (26). Ob Fischer, Schily, Eichel, gar
Wieczorek-Zeul, Ulla und Renate Schmidt, Renate Künast, Edelgard Bulmahn,
Stolpe oder Trittin, für alle scheint zu gelten: "Ideenlose Ressortchefs
verschanzen sich hinter Hundertschaften antriebsschwacher Beamter, die am
liebsten von Reformen jedweder Art verschont bleiben wollen"(28).Es wird
also die gesamte Bundesregierung einschließlich der großen Beamtenapparate
als unfähig eingeschätzt, mit der gegenwärtigen prekären Situation dieses
Staates erfolgversprechend umzugehen. Hier wird nicht mehr von den Fehlern
einzelner ausgegangen, sondern wird die ganze Spitze als Fehlbesetzung
dargestellt, unter der eine dahindämmernde Bürokratie amtiert. Wie weit immer
das zu belegen ist, es ist eine Perspektive ganz trostloser Art. Von diesen
Leuten, von ihrem Bewußtsein, so wird mitgeteilt, ist nichts zu erwarten. Ein
Blick auf die Parteien führt offenbar zu weiterer Deprimiertheit.
"Trickreiche Nothelfer", heißt der entsprechende Text. Der spricht
von einer CDU, die ihre Kooperationsbereitschaft erkläre, aber nur am
"Schlamassel der Regierung"(22) interessiert sei, während die
Hauptregierungspartei zwischen Ablehnung und Akzept der Reformpläne schwanke,
die selbst als viel zu geringe charakterisiert werden. "Und das Land
trudelt weiter in die Krise."(25) Der Versuch zweier
Ministerpräsidenten, doch so etwas wie eine Kooperation zu leisten, wird als
fragwürdig behauptet: sie kämpften gegen die Subventionen, aber in ihren
eigenen Ländern nähmen die Subventionen eher zu. In einem langen
reportageartigen Artikel über die Gewerkschaften "Kollege
Klassenfeind" berichtet "Der Spiegel" über eine
Funktionärstruppe, die vor allem mit der Frage beschäftigt sei, wie sie ihre
Mitglieder und ihre Posten halten könne, was am besten durch
Fundamentalopposition gegen alle Reformpläne zu gelingen scheint.
Die Wirtschaft fällt nach dem Beitrag "In bester Gesellschaft" vor
allem dadurch auf, daß ihre großen Manager große Fehler gemacht haben und als
Belohnung dafür nun Aufsichtsratvorsitzende werden wollen. Am Beispiel der
bisherigen Chefs Hans-Jürgen Schinzler (Münchner Rück), dem in sieghafter
Pose sich präsentierenden Rolf Breuer (Deutsche Bank), Albrecht Schmidt
(Hypovereinsbank) und Henning Schulte-Noelle (Allianz) soll gezeigt werden,
wie sehr die Höchstbezahlten in der deutschen Gesellschaft nur für sonnige
Zeiten taugen, in denen man sie überhaupt nicht brauchen würde. Diese
Beispiele werden noch erweitert durch die Fälle des TUI-Chefs Michael
Frenzel, der als besonders fähig gefeiert wurde, aber nun nur über
Riesenverluste berichten muß. Der Vorstand des BHW und dessen Vorsitzender
Wagner werden als Leute vorgestellt, die höchst fragwürdige Geschäfte gemacht
und ihr Unternehmen miserabel geführt haben.
Es entsteht ein Bild des heutigen Deutschland, wie es trüber kaum aussehen
kann, und zwar insbesondere in personeller Hinsicht: Politiker,
Gewerkschaftler und Manager haben Aufgaben, denen sie weder intellektuell
noch als Agierende gewachsen sind.
Das Heft des "Spiegel" stellt aber als Hauptthema eine
institutionelle Problematik vor, und zwar die des Zentrums dieses Staates:
die Problematik des Grundgesetzes, das ja längst eine Schulbuchgröße ist,
also eine unbezweifelbare historische Großtat. Die These der Artikel
"Die Konsens-Falle" und "Die enthauptete Republik" ist
aber, daß zumindest die institutionellen und organisatorischen Bestimmungen
des Grundgesetzes jede wirkliche politische und soziale Reform unmöglich
machen. Es wird gezeigt, wie das Provisorium Grundgesetz gegen seinen eigenen
Wortlaut nach der Vereinigung betoniert wurde, wie es "schon von seinen
Vätern verdorben" wurde(37) und wie seine Dysfunktion sich in der
täglichen politischen Arbeit auswirkt. Das liege vor allem an einer
Institution, nämlich dem Bundesrat, der zu dem zwinge, was den Deutschen
mental sehr entgegenkomme, aber jede wirkliche Entscheidung verhindere: nämlich
statt der politischen Entscheidung auf den Konsens zu setzen, der alles
Wichtige so nivelliere und verwässere, daß es unkenntlich werde.
Interessant ist, daß der Bundesrat vor allem durch bayerische Initiativen und
bayerischen Druck zustande gekommen und daß er eine Konstruktion absurder Art
ist, was in den Beiträgen nicht einmal ganz klar zum Ausdruck kommt Er ist ja
ein Gesetzgebungsorgan, das, als hätten wir uns nie mit der Frage der
Gewaltenteilung beschäftigt, aus Vertretern der Landesregierungen sich
zusammensetzt, also ein legislatives Organ, das aus Repräsentanten der
Exekutive besteht. Dahinter steht eine deutsche Tradition, nämlich die
Bismarcksche Reichsverfassung, die den damaligen Bundesrat als
verfassungsrechtlich oberstes Reichsorgan einführte, das aufgrund der
Souveränität der einzelnen Monarchen (bzw. Freien Städte) die
Reichssouveränität repräsentierte. Auch in diesem Bundesrat saßen die
Vertreter der Länderregierungen, aber er hatte natürlich ganz andere
verfassungsrechtliche Voraussetzungen als der heutige Bundesrat. Dieses
eigentümliche Gesetzgebungsorgan hat nun - nach dem "Spiegel" -
dazu geführt, daß die Ministerien der Länder, insbesondere die jeweiligen
Referatsleiter, in einem Konsensprozeß, bei dem es immer um die Interessen der
Länder geht, zur Annahme oder Ablehnung eines Gesetzes kommen. Das Ritual der
Verhandlungen verschlingt nicht nur ungeheuer viel Zeit, es ist auch nicht
geeignet, so notwendige wie schmerzhafte politische Entscheidungen
herbeizuführen. Hinzu kommt noch (nach diesen Darstellungen), daß in diese
Exekutivstruktur dank der politischen Ausrichtung der Landesregierungen auch
eine politische Tendenz gekommen ist, die in der Gruppierung in A- und
B-Länder zum Ausdruck kommt. Beide Tendenzen überschneiden sich natürlich
ständig und wirken an der Stagnation des ganzen Systems mit.
Was immer die weiteren Beiträge dieser "Spiegel"-Reihe bringen
mögen, der Tenor ist eindeutig: Diese Republik, die in der Nummer 21/2003 ein
"Land der Lügen" genannt wird, leidet nicht nur an der
Unzulänglichkeit ihrer Führungspersönlichkeiten, sondern auch an seiner
institutionellen Schwäche, für die der Bundesrat nur ein Beispiel ist. Dem
ist nur noch die Frage nach dem Staatsvolk anzuschließen, von dem uns die
Politiker und sonstige Sonntagsredner ja immer versichern, es sei ihnen
selbst weit voraus und habe Einsicht in die Notwendigkeiten. Qui vivra,
verra: wer's noch erleben wird, wird es erkennen können.
(nach
oben)
VON DEN DEUTSCHEN
Aufklärung, Reaktion, Homosexualität
Die Beate Uhse A.G. kündigt nach
Mitteilungen im Wirtschaftsfunk an, daß sie u.a. an neuen Schwulenformaten
arbeite. Dies ist erfreulich und zeigt aufklärerische Tendenzen im Sinne
Rousseaus, Diderots und Lessings.
Die Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium" veröffentlicht in
der FAZ als Anzeige eine Resolution zur Ablehnung der "Segnung
homosexueller Partnerschaften in der Kirche". Darin beruft sie sich
außer auf zahlreiche Stellen Alten und Neuen Testaments, auf die erste und
zweite Barmer These von 1934 und auf Karl Barths "Kirchliche
Dogmatik". Das ist unerfreulich und zeigt reaktionäre Tendenzen im Sinne
von Ernst Jünger und Ernst Nolte.
Wir sehen, welche Menge an Arbeit noch vor uns liegt. Erst wenn Beate Uhses
Schwulenformate bei jeder Segnung homosexueller Partnerschaften in der Kirche
bereitgehalten werden, können wir uns einen Augenblick zurücklehnen und
sagen: "Es ist erreicht".
Zum Ethos der Deutschen
Nach einer Rundfunkmeldung schätze man,
daß jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge in Deutschland sexuellen
Übergriffen ausgesetzt sei.
Sollte das eine fundierte Annahme sein, wäre es ein Grund für die Auffassung,
daß dieses Volk zu verschwinden habe.
Aber vorher muß es sich natürlich noch für die irakischen Kinder einsetzen
und mit allem Nachdruck dafür eintreten, daß jede Ohrfeige für ein Kind
streng geahndet wird. Dann allerdings würde es sich gern wieder seiner
sadomasochistischen Unterhaltung in allen Ehren zuwenden.
Berlin und seine Unruhen
Zuerst die gute Nachricht: Die Unruhen
zum 1. Mai fanden in Berlin planmäßig wie seit Jahrzehnten statt. Das hat
sicher auch den Senat von Berlin mit Freude erfüllt. Allerdings hat der
Innensenator feststellen müssen, schlechte Nachricht, daß Gewalttäter schon
mit der Absicht zu den Unruhen gekommen seien, Gewalt auszuüben. Das ist für
ihn eine neue Erfahrung, über die er nachdenken muß. Wahrscheinlich wird er
nun eine ganz andere Strategie einsetzen, nämlich frühzeitig mit den
Gewalttätern konferieren, um herauszufinden, wie diese es gern hätten. So
könnte schon im vorhinein ein Umfeld geschaffen werden, das den Gewalttätern
gefällt, und die Unruhen könnten einen störungsfreien Verlauf nehmen, so daß
sie auch z.B. dem Abgeordneten Ströbele akzeptabel erscheinen, was bisher
leider nicht immer der Fall war.
(nach
oben)
VON DEN MEDIEN
Die Medien vor 75 Jahren.
"Wir müssen es hinnehmen, daß wir
in diese Zeit Verbannten lebenslänglich verurteilt sind, die Usurpierung der
sprachlichen Machtmittel durch Schurkerei und Idiotismus zu ertragen;
ohnmächtig müssen wir zusehen, wie, nach völliger Abtötung aller
schöpferischen Möglichkeit durch eine selbsttätige Technik, die entleerten
Formen des Geistes zum Ornament des Schwachsinns, zum Aufputz der
Niedertracht taugen. Wir erleben im täglichen Umgang und in dem Abdruck eines
geschändeten Lebens, der womöglich noch dessen Niveau unterbietet, im
Rotwelsch der Lebensbetriebe und im Kauderwelsch jeder gedruckten Zeile einen
Triumph der Erbärmlichkeit, der uns bis zu dem Zweifel deprimiert, ob nicht
alles das in Ordnung sei und nur der eigene Sinn versehrt, der die Dinge so
betrachtet. Wenn mein Blick ein Zeitungsblatt durchfliegt - und nie noch hat
er darin lustwandelt - , so ergreift er, ohne mehr an der selbstverständlichen
moralischen Verworfenheit zu haften , eine solche Fülle von Beispielen
gedanklicher und sprachlicher Mißform, daß mir für die Zukunft einer Nation,
die diesen Unflat als geistige Nahrung zu sich nimmt, nur die Hoffnung
bleibt, sie werde bei fortschreitender Verblödung schließlich nicht mehr
imstande sein, zu lesen - was dann den Ruin der Presse, und in weiterer Folge
die geistige Erholung der Menschheit herbeiführen wird.
...
Man ist jedoch neugierig, wann denn das Ziel aller Publizistik, die Öffentlichkeit
dumm zu machen, endlich so zufriedenstellend erreicht sein wird, daß die
weitere tägliche Bemühung überflüssig wäre. Aber vielleicht ist der Zustand
schon eingetreten und die Zeitungen wissen es nur nicht und strapazieren sich
noch mit jeder gedruckten Zeile. Denn wenn es doch so ist, daß gerade die
unzulänglichsten Köpfe berufen sind, öffentliche Meinung zu machen, und das
Publikum sie dergestalt hinnimmt; wenn es sogar Menschen geben soll, die sich
an den Einfällen dieses unbezahlbaren Jobs erquicken und nicht wie unsereins
wissend, sondern mit echtem Behagen an dem Reichtum dieser bildnerischen
Phantasie und an der barocken Fülle von Metaphern, die diesem unversicherten
Geiste einfallen wie die Brücke zwischen dem Nichterlebten und dem Nichtgedachten;
wenn wirklich solches Druckwesen seine Genießer findet - so frage ich mich
schließlich, ob nicht das Publikum vielleicht doch noch dümmer ist als die
Presse, die es sich hält, wiewohl mir für diesen Grad schon jedes Maß einer
Vorstellung fehlen würde."
(Karl
Kraus, Aus Redaktion und Irrenhaus.
In: Die Fackel. Nr. 781 - 786. Anfang Juni 1928.
S. 84 f; 86)
Kleiner Beitrag zum Journalisten-Knigge.
Der ehemalige Bundespräsident Herr von Weizsäcker
wird von Frau Maischberger interviewt. Die fragt plötzlich, warum er sich so
klein mache, er halte die Hände unter dem Tisch verborgen. Herr von
Weizsäcker lacht, zeigt seine Hände vor. Man kann bei bestimmten
Unverschämtheiten nur verlieren, z.B. bei solchen, von denen man trotz ihres
Journalismus nicht alles erwarten mag. Wäre Frau Maischberger ohne Mikrofon
und ohne Kamera bei Herrn von Weizsäcker zu Hause gewesen, sie hätte
wahrscheinlich so nicht gefragt oder man hätte ihr hoffentlich die Tür
gewiesen. Das Mikrofon und die Kamera aber setzen alle Regeln zivilisierten
Umgangs außer Kraft. Und weil die Betroffenen die Regellosigkeit mitmachen,
probieren die Journalisten wie Pubertierende, wie weit sie gehen können. Vor
allem die deutschen und vor allem bei der Anrede. Sie würden natürlich sagen,
das habe etwas mit Demokratie zu tun, was natürlich Unsinn ist, wie jeder
Vergleich etwa mit den Vereinigten Staaten zeigt. Dort sagt der Interviewer
"Mr. Secretary" oder "Governor" oder "Professor
Smith" usw. In Deutschland wird durchweg nur noch der Bundeskanzler und
der Bundespräsident mit dem Titel angeredet, aber es gilt inzwischen als
Glanznummer der Unverschämtheit, auch in diesen Fällen "Herr
Schröder" oder "Herr Rau" zu sagen. Die Unverschämtheit liegt
vor allem in der Distanzlosigkeit. Als Nachbarn der jeweiligen Damen und
Herren bleibt es ihnen unbenommen, sie als Nachbarn anzureden. Hier sind sie
aber weder Nachbarn noch Kumpel, sondern Repräsentanten einer Institution,
die gut daran täten, die Distanz zu den Politikern oder anderen Personen des
öffentlichen Lebens auch auszudrücken, also gerade nicht durchblinzeln zu
lassen, daß man mit denen immer auf ein Glas Bier verabredet ist.
Genauso scheußlich ist übrigens die Kommunikation zwischen Moderator und
Korrespondent beispielsweise in der Art eines globalen Biertischs. Wir wollen
nicht wissen, daß privatim X mit Y sich duzt und sie sich überdies mit den so
beliebten wie albernen Namenskürzeln traktieren. Wir wollen, daß Herr X Herrn
Y fragt, was der gesehen und gehört hat. Auf die Frage, warum Y gar heute
eine blaue Fliege trägt, kann gänzlich verzichtet werden, obwohl dies im
Gegensatz zur Frage nach der Position der Hände des Herrn von Weizsäcker von
Fall zu Fall Einblick in die Verquollenheit eines journalistischen
Bewußtseins geben könnte.
Man
kann sich bei
Fernsehdiskussionen selten des
Eindrucks erwehren:
Je freier ein Teilnehmer spricht, desto mehr hat er auswendiggelernt.(78)
Talk-Show
ist ein Fremdwort für
Quatsche.(78)
Talk-Shows:
die allmähliche
Verfertigung der Gedankenlosigkeit
beim Reden.(78)
(nach
oben)
VON DER JUSTIZ
Justiz bei der Arbeit
An einem Abend erfahren wir: Im
Eschede-Prozeß, bei dem die Schuld am Tod von über 100 Reisenden, die mit einem
ICE-Zug gefahren waren, ermittelt werden sollte, macht die Kammer den
Vorschlag, das Verfahren einzustellen, da aufgrund der bisherigen Gutachten
nicht geklärt werden könne, wie es zu dem unfallverursachenden Defekt der
Radkränze gekommen sei;(das Verfahren wird später eingestellt);
der Fürst zu Putbus, ein offener Gegner des Naziregimes, wird nach dem Krieg
von der sowjetischen Besatzungsmacht als Großgrundbesitzer enteignet. Das
Bundesverwaltungsgericht bestätigt trotz des Antinazismus des Fürsten diese
Enteignung mit juristischen Gründen.
Wir werden keinen Richter brauchen, sagen die Wiener. Von wegen! Die Willkür
muß in eine angemessene Form gebracht werden!
Der Fuchs war Richter.
- Gerechtigkeit, rief die blutende Taube.
- Ich verlange nur mein Recht,
knurrte der Habicht.
- Sehr wahr, sagte der Fuchs:
Freispruch für beide.(59)
(nach
oben)
VON DER THEOLOGIE
Sprich nur ein Wort
Der Rundfunkbeauftragte der Katholischen
Kirche, ein freundlich schreibender Herr, offeriert heute etwas zu dem Thema:
"Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund:" So heißt das
zwar nicht, sondern der Hauptmann von Kapernaum sagt in Matthäus und Lukas:
"so wird mein Knecht gesund.". Aber natürlich geht es hier wie stets
in unseren Tagen um die eigene Seele. Marschieren sie auf , den Krieg um den
Irak zu verdammen, so natürlich nicht wegen der irakischen Kinder,denn um die
chinesischen,kambodschanischen, ruandischen, tschetschenischen Kinder haben
sie sich nicht die Bohne gesorgt und gekümmert, sondern sie fürchten
allenfalls , es könne ihnen selbst an den Kragen gehen.
Die eigene Seele soll, versteht sich, geheilt werden. Durch Jesus? Natürlich
auch. Aber es geht ebenfalls in Heimarbeit, es geht durch ‚positives Denken',
es geht mittels aller möglichen Kniffe und Griffe, die das Pseudologische
heute bereitstellt, so daß das Ganze überhaupt nichts mehr mit Kirche und
Christentum, sondern mit dem gängigen Eklektizismus zu tun hat, der die
prächtigen Formeln fürs bequeme Leben erfindet. Es ist alles derartige
inzwischen à la Fliege, der behauptet, ihm gehe es um Seelsorge, aber der
natürlich eine flotte Sendung für sich und Leute, die sich nachmittags
langweilen, machen will. Er sagt z.B., angesprochen darauf, daß er den
"lieben Gott", welche Benennung er ständig gebraucht, "den
alten Gangster da oben" genannt hat, natürlich in "Penthouse",
er habe damit theologisch völlig Richtiges gesagt, denn auch in der Bibel
komme Gott unter dem Epitheton des Diebes vor. Aber der ‚Dieb in der Nacht',
als der Gott sich bemerkbar machen könne, meint die Plötzlichkeit, das
Unerwartete seiner Epiphanie im Leben eines Menschen, was natürlich mit der
Vorstellung des "Gangsters" nicht von ferne zu verbinden ist. Was
Fliege da einstreut, ist die pure Scharlatanerie, aber eines der Verfahren,
die den Leuten die Botschaft spaßig und glatt machen sollen. Und was kommt
bei dieser Art von umgänglichem Heilsversprechen. heraus? Haben wir nun ein
Mehr an Tröstungen und Ermunterungen? Gehen die Leute nun geheilt nach Hause,
oder heilen sie sich zu Hause durch positives Denken? Natürlich werden sie
morgen wieder in einer Arztpraxis sitzen und hoffen, daß ihnen der Heiler auf
der Basis von Pillen und Tinkturen ein paar Symptome erträglicher macht.
"Sprich nur ein Wort". Das wären für sie Worte, von denen sie sich
nachmittags unterhalten lassen. Denn Worte, haben sie gelernt, helfen
überhaupt nicht, es geht um verschreibungspflichtige und versicherungsseitig
bezahlte Präparate. ‚Du kannst mir viel erzählen', sagen sie und gucken, ob
sie ihre Morgendosis schon genommen haben, und wenn's ihnen dann zwei Stunden
gut geht, werden sie ‚positiv denken' und sich einen Schlager von Dieter
Bohlen reinziehen.
Die
christliche Theologie bezeugt
selbst ihr Ende:
die Orthodoxie, indem sie zur Ideologie,
die fortschrittliche, indem sie zur
Soziallehre verkümmert.(132)
Der
religiöse Fundamentalismus ist
die schlimme Antwort auf eine
moderne Theologie, die nicht
schwerer wiegt als das Papier, auf
dem sie verbreitet wird.(133)
(nach
oben)
VOM ALLTAG
Ein Prozeß in Deutschland
Computercrash. Die höchst unangenehme
Erfahrung, daß im Nu die "eigenen Dateien" unlesbar werden. Man ist
fast gezwungen, den örtlichen Computerspezialisten zu Rate zu ziehen, obwohl
man keine guten Erfahrungen mit ihm gemacht hat. Er hat seinerzeit das eigene
System geliefert, auch Wartungsverträge wurden mit ihm abgeschlossen, aber er
erwies sich als höchst unzuverlässig und kundenunfreundlich.
Doch ein junger Mann im Geschäft kümmert sich um den Fall, der
Geschäftsinhaber ist nicht in der Firma. Jener bringt es nach ein paar Tagen
und nach Neuinstallation einer Festplatte immerhin soweit, daß ich den PC
wieder hochfahren kann. Etliches Wichtige funktioniert freilich nicht.
Reklamation. Der junge Mann ist bereit, nach dem Rechten zu sehen. Ein Termin
wird ausgemacht. Man übergibt eine Mängelliste. Inzwischen ist die Rechnung
eingetroffen. Am Tage des Termins erfährt man, der junge Mann sei nicht mehr
bei der Firma, der zurückgekehrte Geschäftsinhaber bezweifelt den
ausgemachten Termin, hält ihn für eine private Vereinbarung, bestreitet das
Vorhandensein der Mängelliste, ist nicht bereit, den Termin selbst
wahrzunehmen (man hört später, er sei nicht fähig nachzubessern, may be).
Man setzt schriftlich eine Frist zur Nachbesserung und erklärt, ansonsten nur
80 % des Rechnungsbetrages zu zahlen. Der Geschäftsinhaber verlangt binnen
kürzester Frist die volle Bezahlung, ansonsten droht er mit Klage. Alsbald
erscheint sein Anwalt auf der Szene und verlangt neben der Begleichung der
Rechnung in voller Höhe Erstattung der eigenen Kosten.
Man ist gezwungen, selbst einen Anwalt zu nehmen. Nun geht es ein paar Monate
hin und her. Die Gegenseite bestreitet alle Mängel. Es kommt heraus, daß sie
eigentlich keinerlei Leistungsverpflichtungen habe, wir aber alle
Kostenverpflichtungen. Nach einigen Monaten taucht die Mängelliste bei dem
Geschäftsinhaber wieder auf. Irgendwann gibt es einen Termin vor dem
Amtsgericht. Den kann die Gegenseite nicht wahrnehmen, sie bittet um Verlegung
des Termins.
Der Termin währt ca zwanzig Minuten. Interessant ist eine psychologische
Nuance. Der junge Richter, sich selbst in dieser Frage als Laien darstellend,
schlägt sich aus offenbarem Respekt auf die Seite des "Fachmanns":
der Laie komme oft mit Vorstellungen, die der Fachmann gar nicht erfüllen
könne. Alles das bedarf der Erörterung gar nicht. Es geht um das Verhältnis
Auftraggeber/Auftragnehmer, des weiteren um die Verbindlichkeit von
Absprachen, es ist überhaupt nicht ausgemacht, ob in diesem Fall ein
"Fachmann" vorhanden ist, es gibt keinerlei Veranlassung, das
Verhältnis Laie-Fachmann sozusagen hierarchisch anzugehen: wir leben gerade
in einer Phase des totalen und globalen Versagens der Fachleute auf nahezu
allen Gebieten. Aber diese Nuance hat für den weiteren Gang des Geschehens
dann keine Bedeutung. Der junge Richter hat einen Vergleichsvorschlag
vorbereitet, der davon ausgeht, daß wir die neue Festplatte und eine Software
zu bezahlen hätten und vom Arbeitsaufwand die Hälfte. Das ist plausibel und
läuft darauf hinaus, daß der Gegner nun statt 80% der Rechnung, wie ich sie
ihm vor Monaten ‚angedroht' hatte, nur 70 % bekommt. Er berät mit seinem
Anwalt. Nach ein paar Minuten erklärt er sich einverstanden. Beschlossen und
verkündet.
Der vom Gegner als Zeuge geladene junge Mann, der die Reparatur ausgeführt
hatte, war nicht erschienen. Auf unserer Seite bekam die Ehefrau Zeugengeld,
so daß wir nur noch 63% der Rechnung zu tragen hatten. Die Anwälte erhielten
ihre Gebühren. Der Richter war eine Zeitlang beschäftigt. Das Ganze war
Blödsinn. Der "Fachmann" hatte sich, aus welchen Gründen immer,
ausgetobt
Daß Menschen sich schlecht benehmen,
ist eine gängige Erfahrung.
Aber meist verlangen sie dann auch noch,
dass man sich deswegen bei ihnen entschuldige.(4)
(nach oben)
VOM (EINSTIGEN) LEBEN
1946
Am Geburtstag wird die erste
Vollversammlung der Vereinten Nationen eröffnet. Die französische
Gesamtanklage in Nürnberg wird erhoben.
Im "Kleinen Theater" in D. wird "Der Vetter aus Dingsda"
besucht.
Im Februar fällt der Unterricht wegen Kohlenmangel zeitweise aus. Das
Hochwasser des Rheins geht wieder zurück. Kartoffelmangel macht sich
bemerkbar.
Vom "überspanntesten Nationalismus" bis zum radikalen Kommunismus
meldeten sich alle politischen Meinungen und Richtungen. Der amerikanische
Außenminister Byrnes sehe einen Friedensvertrag mit Deutschland in eineinhalb
Jahren voraus.
Im März wird die Brotration für Erwachsene von 10 000 gr auf 5000 gr, die
Nährmittelration von 2000 gr auf 1000 gr im Monat reduziert. Der Kaloriensatz
pro Tag beträgt nun 1014. Der Vater kauft von einem Studenten einen
Kleingarten mit Gartenhäuschen. Der Schulunterricht fällt zeitweise wieder
aus.
Gelesen wird unter anderem von Wilhelm II. "Ereignisse und Gestalten
1860 - 1888": "Höchst interessant und höchst militaristisch".
Der Tod des Bischofs Galen wird verzeichnet. Die Eltern feiern ihre silberne
Hochzeit, kurz darauf ist, leicht verspätet, die Konfirmation des nun
Fünfzehnjährigen. Die ältere Schwester kommt deswegen mit der zweijährigen
Tochter, die die Großeltern noch gar nicht gesehen haben.
Zu Ostern, es ist Ende April, ist es noch ziemlich kalt. Im Rundfunk spricht
Manfred Hausmann, Szenen aus "Abel mit der Mundharmonika" werden
vorgelesen.
Das neue Schuljahr beginnt. Wir erhalten französischen Unterricht.
Die erste freie Maifeier in D. findet nicht ungeteilten Beifall. "Viel
Dschingdera und viel Gerede".
Viel mehr wird die evangelische Gemeindejugend gewürdigt. Es gibt einen
synodalen Jugendtag mit Gottesdienst, Kaffeetrinken, Singen, "grotesken
Einaktern" und einer Erzählung von Pastor Posth, die von fünf
"heldischen jungen Calvinisten" berichtet.
Ein Gerücht wird erzählt, die Engländer wollten uns verhungern lassen. Im
Nürnberger Prozeß wird nach Schacht und Funk Dönitz vernommen.
Die Außenministerkonferenz tagt seit Wochen ohne Ergebnis.
Auch zu den Hauptmahlzeiten, heißt es, könnten wir uns nicht mehr satt essen.
Immer wieder wird aber auch davon berichtet, daß man von Verwandten und
Bekannten ein paar Pfund Kartoffeln, Haferflocken, manchmal gar etwas Wurst
und Butter oder einige Lebensmittelmarken bekommen hat. Die Fettrationen
werden abermals gekürzt.
Bei einer Sammlung für die Ostflüchtlinge in 50 Familien kommen 220 Mk
zusammen, davon sind aber je 25 Mk von einem Nachbarn und von uns.
Im Kino sieht man "Die Feuerzangenbowle".
In einer Jugendsendung sprechen Dr.Schumacher (SPD), Erich Hoffmann (KPD) und
ein englischer Oberst. "Der englische Redner gefiel mir am besten."
Kurz vor Pfingsten suchte ich bei einem Geschäft Lebensmittel zu bekommen.
Anstehen von 8.15 - 11.30. Dann erschien weiteres Warten zwecklos, denn seit
der Geschäftsöffnung waren erst 13 Personen abgefertigt worden, 20 standen
noch vor mir, um 13 Uhr wurde geschlossen. Um 7 Uhr hatte ich zwei kleine
Schnitten Brot mit Rhabarbermus gegessen, nun war mir schlecht vor Hunger.
Der Gemeindepfarrer bittet mich, die Jungschar der Dreizehn- und
Vierzehnjährigen zu leiten.
Wir bekommen nach einem Jahr und acht Monaten wieder Gas.
In Italien ergibt ein Volksentscheid eine Mehrheit für die Republik. Speer
und Neurath werden in Nürnberg vernommen.
Ein Klavierabend mit dem Pianisten Conrad Hansen. Er spielt Beethovens
Waldsteinsonate und die h-moll-Rhapsodie von Brahms.
Ende Juni gibt es eine Aufführung von Händels "Messias" unter dem
neuen Generalmusikdirektor Georg Ludwig Jochum.
Der Sommer wird sehr heiß. Ende Juli geht es zu einem Besuch von Schwester
und Schwager nach Heidelberg. Die Fahrt dauert von sieben Uhr am Abend bis
zum nächsten Morgen um neun Uhr. Es gibt zunächst große Schwierigkeiten wegen
der Lebensmittelmarken.
Besuch bei dem Leiter der Schloßschule in Wieblingen, in dessen Familie ich
1943/44 lebte. Chaplins "Goldrausch" gefällt gar nicht. Ein
Serenadenkonzert im Schloßhof und eine Aufführung von Goethes
"Iphigenie" im Königssaal des Schlosses beeindrucken dagegen.
Im Anschluß an die Heidelberger Wochen noch ein paar Tage bei Verwandten in
der Nähe Gießens. Dort wird man gut und reichlich versorgt. In D. gibt es aus
dem Garten Gemüse und Kartoffeln.
Die "neugebackene Landesregierung Amelunxen" wird verzeichnet. Die
Pariser Friedenskonferenz hat begonnen. In Nürnberg tragen die Angeklagten
ihr Schlußwort vor. Anfang Oktober werden dann die Urteile vom 23.September
notiert.
Die erste Einführung zu den Hauptkonzerten des städtischen
Symphonieorchesters findet statt.
Wahl zum Klassensprecher.
Von Wahlen, anscheinend Kommunalwahlen in der britischen Zone, wird
berichtet. Die CDU erhält die meisten Mandate, aber nicht die meisten Stimmen,
dann folgt die SPD und dann in weitem Abstand die KPD. "Der Kampf
zwischen Christentum und Marxismus hat, auch in Deutschland, begonnen."
Es gibt einen Streit mit dem Mathematiklehrer, den ich vor den Direktor
trage. Befriedigtes Résumé: "...auch in der Schule [beginnt] das
nationalsozialistische Führerprinzip zu wanken".
Die Verschleppung deutscher Arbeiter in die Sowjetunion wird registriert.
Die Ernährungslage ist weiterhin sehr angespannt.
Ein Wort Werner Bergengruens über die Entwicklung Deutschlands wird
festgehalten: "Von I.G. Cotta zu I.G.Farben".
Eintragungen von der Einübung einer Adventsfeier für die Gemeinde, vom
Verlauf der Weihnachtstage mit einer Flasche Wein und von der Lektüre des
"Schulmeisterlein Wuz", des "Katzenberger" und des "Schmelzle"
von Jean Paul.
|
|