Zur Lage der Nation
Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und
zu den Medien in Deutschland
Herausgegeben von Helmut Arntzen

Nummer 6 (November/Dezember 2003)




Inhalt: VON DER SPRACHE: Herders Sprachdenken. Mit Bemerkungen zu Hamann und zur Mediensprache (Zum 200.Todestag am 18. Dezember 2003) - VON DER EPOCHE: Gräßliche alte und schöne neue Welt - VON DEUTSCHLAND: Der Staat und sein Bürger - Warum sich in Deutschland nichts ändern wird-Probleme des Landes, für die es keine nennenswerten Lösungsvorschläge und -bemühungen gibt - Strukturreformen und Alltagsbewußtsein - VOM SPORT: Und nun hat der Sport das Wort - Legenden / Kleine Berlinreise / Ulrich Erckenbrecht, Einige Gedichte - Dem Anreger Ulrich Erckenbrecht / VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1947

VON DER SPRACHE

Herders Sprachdenken
Mit Bemerkungen zu Hamann und zur Mediensprache
(Zum 200. Todestag am 18. Dezember 2003)

Mit den "Kreuzzügen des Philologen" und darin mit der "Aesthetica in nuce" Hamanns hatte alles angefangen. Der hatte sich vielfach mit der Aufklärung auseinandergesetzt, hatte die Erweckung zu einem pietistisch tingierten Christentum, mit dem er schon in seiner Jugend vertraut gemacht wurde, erlebt und seit Ende der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß Kants in Königsberg sich wieder der Aufklärung gestellt. Er begriff, daß ihm ein reflexionsverdrängender Biblizismus so wenig half wie der gängige Rationalismus der Epoche. In den "Sokratischen Denkwürdigkeiten" von 1759 benennt er mit dem Namen Sokrates den Schriftstellertypus, in dessen Art er schreiben will(ironisch genug jemanden, der nicht schrieb und nur durch andere tradiert wurde): weder dem Mythos noch dem Begriff verpflichtet. Er sagt, Sokrates rede "von Lesern, welche schwimmen können", er spricht vom "Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen", der "desselben [Sokrates'] Sätze vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln [machte], zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten"(Johann Georg Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Ed. S.-A. Jørgensen. Stuttgart: Reclam 1968. S. 15). Das ist ein neuer Ton gegenüber der literarischen Aufklärungsprosa und der Aufklärungsphilosophie, es ist auch nicht der Ton der Empfindsamkeit. Aber das hat man oft schon gesagt. Wichtig ist jetzt, daß in diesem Ton vom Philosophen und der Philosophie gesprochen wird und daß darin die Ansätze eines neuen, ja eines ersten Sprachdenkens erscheinen, das es bisher gar nicht gegeben hat. "Die Analogie war die Seele seiner [Sokrates'] Schlüsse, und er gab ihnen die Ironie zu ihrem Leibe." S. 13)
Der Philosoph, den Hamann Sokrates nennt, denkt nicht in jener traditionellen Begrifflichkeit, die eine als Instrument verstandene Sprache zur Verfügung stellt, sondern er denkt sprachlich, d.h. er denkt an dem entlang, was ihm die Sprache an Darstellungsmöglichkeiten in Wort und Syntax zur Verfügung stellt. Metaphorisch entwirft er sowohl die Vorstellung von Lesern, die sich in der Sprache bewegen können, wie von dem, was diesen Lesern begegnet und wie sie zu ihm gelangen bzw. zu ihm nicht gelangen können. Sie müssen "schwimmen können", und zwar in einem "Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen", in dem es "Inseln" gebe, zu denen "Brücken und Fähren der Methode fehlten". Nicht nur entsteht in diesem metaphorischen Feld eine konsistente Vorstellung, sondern eine solche, die dieses Denken als ein aus Sprache sich herschreibendes sichtbar macht. Dem werde andererseits nichts an notwendiger Begrifflichkeit genommen, denn es gehe um "Ideen und Empfindungen", Grundbegriffe des Denkens der Zeit wie Prinzipien der Genese des Denkens überhaupt, es gehe um "Methode", das Verfahren also, das Denken erst möglich macht, aber nicht notwendig unter den Metaphern "Brücken und Fähren" vorzustellen sei, sondern, da es denn um "Inseln" von Gedanken geht, das auch ‚schwimmend' geleistet werden könne, was an die Stelle des Vehikulären der Schulmethode die Aktivität und Beweglichkeit selbständigen Denkens treten läßt. Und dieses Denken sei seinem Kerne nach eines in Analogien, seiner Erscheinung nach ein ironisches. Und wieder wird von zentralen Formen und Weisen sprachlichen Denkens gesprochen.
Hamann, dem als erstem etwas aufgeht vom Denken als sprachabhängigem und sprachförmigem, entwirft keine Sprachphilosophie, sondern gibt von Anfang an Beispiele eines Denkens aus der Sprache, nicht irgendwelchen, sondern solchen, die sich auf das Elementare und Prinzipielle der Sprache als Denkpotenz beziehen.
Er sieht dieses Sprachdenken nicht in der Philosophie des Rationalismus, auch nicht in der Kants am intensivsten verwirklicht, sondern in "Poesie", die für ihn eine längst versunkene und gleichzeitig eine zukünftige ist, denn "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts"(S.81), heißt es in der "Aesthetica in nuce"(1762). Von ihr aus sei Sprache zu verstehen, auf sie hin müsse alle Sprache bezogen bleiben, wenn das "menschliche Geschlecht" nicht redend sprachlos werden solle.
Was ist diese "Poesie"? Sie ist vor allem Kreativität in Sprache und damit der "Schöpfung" verwandt, "die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist" ( S.87). Was vermag diese schöpferische Sprache? "Rede, daß ich Dich sehe"(S.87), nimmt Hamann ein altes Dictum auf. Erscheinen könne nur, wer spreche und was als Sprechendes vorgestellt werde. So führt Hamann thetisch, aber deutlich die Sprache als zentrale menschliche Wirklichkeit ein, in der alles Phänomenale erscheinen kann. Sie ist das eigentlich Menschliche: "Reden ist übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache"(S. 87), denn das eigentlich Menschliche sei der Transfer, der noch ein anderes voraussetzt als das Menschliche, in die Weise des Menschlichen, in Sprache.
Zu Hamanns Zeit ist von Mediensprache noch nicht die Rede. Wo er differenziert, spricht er außer von der Poesie von Wissenschaft und Philosophie. Aber er stellt angesichts seiner Thesen über die Stellung der Sprache implizit die Forderung nach einem Sprachgebrauch, der sich diesen Thesen gewachsen zeigt. Das gilt sogar schon von der Alltagssprache, die mehr sei als rasche Verständigung über das Gegenwärtige, die vielmehr den Sprecher sichtbar mache, ihn erscheinen lasse, so daß die Menschen als Sprechende sich realisieren oder gar nicht.
Herder orientiert sich an Hamann. Zuerst in der "Sammlung von Fragmenten" "Über die neuere deutsche Literatur" von 1766/67, die aus seiner Rigaer Zeit stammt. Er fragt eingangs danach, ob die Sprache "Werkzeug"(Johann Gottfried Herder, Sprachphilosophische Schriften. Ed. E. Heintel. Hamburg: Meiner 1960. S.91) sei für Literatur, Wissenschaft, Philosophie, und postuliert alsbald, sie sei "mehr als Werkzeug: sie ist gleichsam Behältnis und Inhalt der Literatur"(S.94). Und da er gleich danach die Sprache als "unermeßliches Land von Begriffen" behauptet, ist deutlich, daß die Metapher von "Behältnis und Inhalt" für viele Felder der Sprache gelten soll, ja prinzipiell für alle, denn "der wahre Sprachweise" würde sogar "eine Entzifferung der menschlichen Seele aus ihrer Sprache" (S.95) leisten. Nicht nur erscheint der Mensch in der Sprache, nicht nur ‚Sein und Bewußtsein' sind sprachlich, wie Hamann es sagte, sondern auch die "Seele", das, was als Unbewußtes seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts uns erklärt werden sollte, sei nicht als Sprachloses, sondern einzig als Sprechendes real. Herder bemerkt, daß "der Gedanke am Ausdruck" "klebt"(S. 99) und daß dies nicht nur für "Poesie und Rednerkunst", sondern auch für "alle(n) sinnlichen Begriffe(n) in der ganzen Sprache des gemeinen Lebens" gelte. Herder redet vor allem vom Sprachgebrauch, und zwar in einer Art, daß die "Betrachtung der menschlichen Erkenntnis durch und mittelst der Sprache eine negative Philosophie geben" müsse(S.99), was schon ‚Vorklänge' von Wittgenstein hat. Die werden in der dritten Sammlung der "Fragmente" noch einmal aufgenommen, wenn es heißt: "Begriffe aus den gegebenen Worten entwickeln und deutlich machen, das ist Philosophie"(S.157).
Aber erst in der durch die Preußische Akademie der Wissenschaften angeregte "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" von 1772 erweitert und vertieft Herder sein Sprachdenken. Daß es keine systematische Abhandlung geworden ist, hängt mit der Reflexionsweise Herders zusammen, aber ebensosehr mit dem ‚Gegenstand' wie mit dem gedanklichen Neuland, das Herder betritt. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache verbindet er mit Entgegnungen auf theologische Ursprungsthesen(etwa Süssmilchs), die auf einen göttlichen Plan sich beziehen, wie auf die v.a. aus Frankreich stammenden sozialphilosophisch -rationalistischen Thesen vom Ursprung der Sprache in einer vorsprachlichen Gesellschaft. Daß Sprache ganz und gar ihre Geschichte, Prozeß also ist, macht ihre ‚Gottgegebenheit' unsinnig, zumal die mit einer Vernunft einhergehen müßte, die erst in und als Sprache entsteht. Aber interessanter ist die Abweisung der rationalistisch-empiristischen Zeitgenossen, die hier in der Gestalt Condillacs wie Rousseaus namhaft gemacht werden. Neben der Nachahmung von Naturlauten soll die Entstehung der Sprache auf Kommunikation zurückgeführt werden. Die aber ist ja nur unter den Bedingungen der Sprache zu verstehen.
Nachahmung des naturhaften Tierlauts? "Schon als Tier hat der Mensch Sprache"(S. 3), beginnt die Abhandlung. Aber ihre ‚Sinnlichkeit' macht nicht die "Hauptfäden der menschlichen Sprache" aus(S.6).Herder begreift alsbald: natürlich ist es ohne die ‚Sinne' unmöglich, von Sprache zu reden, aber dies in der Weise zu tun, daß Instinkthaftes gleitend zu Reflexion werde, ist absurd. Wir kennen natürlich das Erbe dieses Denkens in der heutigen evolutionistisch programmierten Anthropologie: irgend ein Homoïde richtet sich in der Savanne auf, das Gehirn vergrößert sich, er ißt Fleisch etc etc, und schon entsteht aus den Naturlauten das System der Sprache. Von diesen Trivialitäten ist das Sprachdenken Herders weit entfernt. Es bleibt ihm zunächst ausgemacht, daß es bei aller Nähe einen gewichtigen "Unterschied der Tiere und der Menschen" (S. 15) gibt. Negativ: der Mensch steht dem Tier "an Stärke und Sicherheit des Instinktes weit" nach (S.15). Zum Instinkt aber gehört ein Verständigungsmittel, das Herder sich aktualisieren sieht als "dunkles sinnliches Einverständnis einer Tiergattung untereinander über ihre Bestimmung im Kreise ihrer Wirkung"(S.17). Der Mensch spricht aber "von Natur" "gar nicht"(S.18), bei ihm ist "alles in dem größten Mißverhältnis - Sinne und Bedürfnisse, seine Kräfte und der Kreis der Wirksamkeit, der auf ihn wartet, seine Organe und seine Sprache"(S.19). Was bringt dies alles in ein angemessenes Verhältnis zueinander, wenn es offenbar die Instinkthaftigkeit nicht sein kann? Es ist nach Herder eine "Disposition seiner Kräfte" , die man "Verstand, Vernunft, Besinnung, Reflexion usw."(S.20)nennen und die man nicht von der Instinkthaftigkeit ableiten könne. Vernunft müsse der Mensch schon "im ersten Zustand haben"(22), er zeige sie als "Besonnenheit". "Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden".(S.23)
"Der ihm eigen ist": d.h., der Zustand, der ihm von Anfang an, von dem Augenblick an, da er homo sapiens ist, wesentlich zugehört, und der Zustand, der ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet. In diesem Zustand gründet Sprache. Er macht es möglich, "in dem ganzen Ocean von Empfindungen" "Merkmale" abzusondern. Dieses "erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele ! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!" (S.24) Herder sagt nichts über den ‚Ursprung' der "Besonnenheit", aber er sagt, daß erst sie vom Menschen sprechen lasse und daß aus ihr notwendig Sprache entspringe. Beides macht für ihn ein prinzipiell anderes aus als instinkthaftes Verhalten und Kommunizieren der Tiere, auch wenn er erkennt und anerkennt, daß es die ‚materiellen' Voraussetzungen habe, die in der Tiergenese sich zeigen. Aber die Metamorphose vom Instinkt zu Reflexion und Sprache erscheint ihm komplexer und erstaunlicher, als die Evolutionslehre es annimmt. "...als ob je ein Orang-Utan mit eben den Werkzeugen eine Sprache erfunden hätte?"(S.26)
Sprache entwickelt sich aus "Merkmal" und "Merkwort" als Differenzierungsmoment und Differenzierungserkenntnis. Dies sind Prinzipien der Vernunft, aber schon das Merkmal bedarf des Merkworts, Vernunft ist nur sprachlich real.
Schon das Konzept bis hierher hat Konsequenzen. Wenn in Vernunft als "Besonnenheit" sich die Menschheit konstituiert, wenn diese "Besonnenheit" von Anfang an in sprachlicher Artikulation sich manifestiert, dann fordert jeder Gebrauch sprachlicher Artikulation, daß er seine Bewußtheit zeige und niemals zu einem Automatismus verkümmere. Mediensprache ist in Sprache aufgehoben und kann nicht aus irgendwelchen immanenten Regeln legitimiert werden. -
Herder verbindet mit dem für Sprache konstitutiven Moment der Reflexion ("Besonnenheit") ein sinnliches Moment: das des Gehörs. Das Ohr sei der erste Lehrmeister der Sprache, die Merkmalworte würden zuerst Tönen abgenommen. Ob das auch heute noch Evidenz hat, ob das Onomatopoetische zu dieser These geführt hat, mag dahingestellt sein. Wichtig erscheint, daß Herder das Reflexionsmoment der Sprache nicht von deren sinnlichen Momenten löst, wobei die Zentralstellung des Gehörs auch etwas mit der Bedeutung, die Sprache als Rede vor der Sprache als Schrift haben soll, zu tun hat. Aber im gleichen Atemzug sagt er uns, daß "die ganze Bauart der Sprache" "eine Entwicklungsweise seines [nämlich des menschlichen] Geistes, eine Geschichte seiner Entdeckungen"(34) sei. So bewegt er sich hin und her zwischen den Polen der Reflexion und der Sinnlichkeit. Die Repräsentantin einer Synthese beider ist für Herder die Literatur und ihre Sprache. Hier knüpft er an Hamanns Gedanken von der Poesie als Muttersprache der Menschheit an. Die "erste Sprache" sei "eine Sammlung von Elementen der Poesie" (S.35) gewesen. Die Literatur ist für Herder (und für Hamann) keine Sondersprache, wie es in manchen Tendenzen moderner Linguistik behauptet wird, sondern gerade umgekehrt das Modell eines Sprachgebrauchs, in dem die beiden Elemente und ihre Synthese für die Aktualisierung einer sich ganz entfaltenden Sprache sorgen, während alle anderen Sprachgebräuche wegen der mangelnden Synthese jener Elemente auf ein reduziertes Sprechen tendieren. Schon in den "Fragmenten" hatte Herder betont: "Die Literatur wuchs in der Sprache und die Sprache in der Literatur: unglücklich ist die Hand, die beide zerreißen, trüglich das Auge, das eins ohne das andere sehen will..."(S.101).
Aber orientiert sich nicht auch Mediensprache immer wieder an der der Literatur: am auffälligsten im sogenannten Feuilleton, doch auch in politischer Essayistik, in der Reportage und einer Fülle von Zwischenformen ? Das wird sie, folgt man Herder, eben nur dann tun, wenn sie wiederum sprachlich denkt und darstellt. Doch geschieht das noch nicht, wenn sie mit dem alten Instrumentarium der Rhetorik operiert, in der die Wirkungsabsichten die Gedankenarbeit verdrängen.
Dennoch gehöre auch die Rhetorik zur Geschichte der Sprache, und Herder hebt immer wieder ab auf den geschichtlichen Prozeß, in dem sich Sprache herausbildet und erst als menschliche Bewußtseins-, ja Existenzform erscheint.. Schon für die Grammatik gelte das, die erst "Philosophie", sinnvolles System werde, wenn "die Geschichte derselben durch Völker und Stufen hinab überdacht"(53) worden sei. Und wieviel mehr für die Semantik, genauer für die Sprache als Einheit von Form und Inhalt. Auch was an ihr ursprunghaft erscheine, sei ja bereits "Kind ganzer Jahrhunderte und vieler Nationen","...an diesem großen Gebäude haben Nationen und Weltteile und Zeitalter gebaut"(S.85).
Sprache ist Sprachgeschichte. Aber wie stehen die Sprecher in ihr? Für das Kind ist "unsre Muttersprache[...]die erste Welt"(S.71), die es sieht, die es fühlt, die es genießt. Wie aber steht es für den, der über Sprache zu denken beginnt? Bemerkt er nicht gerade in der einfachsten Sprachtradition einen "Quell der schädlichsten Irrnisse des menschlichen Geschlechts, da nämlich durch die Tradition der Sprache Irrtümer nicht bloß fortgepflanzt und verewigt, sondern auch gemacht und neuerzeigt werden und also der menschliche Geist ewig unter einer Last derselben keucht"?(S.71) Hat nicht Bacon schon gesehen, daß, "ehe wir denken konnten,[...] man uns vor Begriffen der Sprache wie vor Statuen niederfallen" ließ(S.72)?
Denken wir nicht deshalb bloß "nach der Analogie der Väter und nicht nach der Natur" (S.72)? Das ist noch Mauthners Frage, es ist die Frage nach der Unauslöschlichkeit der Vorurteile, nach dem, was wir qua Tradition übernehmen und nicht mehr befragen, weil uns Sätze als ‚naturhaft' erscheinen. Aber "wenn man alle diese Bilder und Vorurteile (praejudicata) [also vor uns entstandene Urteile] als Vorurteile (praejudicia) [also unreflektierte Urteile] und leere Idole zerstören will, [...] behält [man] nichts als eine Wüste nach. Man hat sich eben damit selbst von der Beihilfe aller Jahrhunderte der Väter entblößt und steht nackend da..."(S.72 f).
So versteht Herder die Dialektik der Sprache und ihrer Geschichte. Wir werden in die Sprache hineingeboren, wir übernehmen ihre Sätze, ohne sie zu bedenken. Fangen wir an, eben das zu tun, bemerken wir in den Sätzen, die vor uns gesprochen wurden, die Fülle der Vorurteile, aber auch, daß wir ohne das vor uns Gedachte, Gesagte nicht auskommen können. "Es bleibt also, wenn wir nicht dem warnenden Beispiel aller Systemmacher aus eignem Kopf folgen wollen, in solchem Falle nichts übrig, als uns in den großen Ocean von Wahrheiten und Irrtümern selbst hineinzustürzen und mit Hilfe aller, die vor uns gelebt, zu sehen, wie weit denn wir in Beschauung und Betrachtung der Natur und in Benennung derselben durch deutliche Ideen der Sprache kommen!"(S. 73)
Gerade als Sprachgeschöpfe können wir uns nicht so verhalten, als könnten wir Instinkten folgen. Aller Sprachgebrauch setzt immer auch Reflexion voraus, die wiederum in der Sprache sich vollzieht. Vorurteile wie (richtige) Urteile sind sprachlich geformt und bedingt. Es gibt keine Position außerhalb der Sprache.
Herder ist der erste, der das Konstitutive der Sprache für den Menschen ebenso erkennt wie die Dialektik der Sprache. Beides gehört für ihn zusammen.
Für die Mediensprache gilt darum, daß sie begreifen muß, sie könne sich nicht damit begnügen , die Sprache als ein Reservoir zu betrachten, aus dem sie das entnehmen kann, was sie glaubt für den Transport von Nachricht und Meinung zu benötigen. Sie liefert sich dann alsbald den sprachlichen praejudicia aus, die als Phrasen figurieren. Es gibt keine Möglichkeit, auf eine Sammlung von Sätzen zu rekurrieren, die für Medienzwecke bereitstehen, um das Geschehene und Gemeinte ausdrücken zu können. Ehe die Journalisten nicht bemerken, daß es nicht um eine ‚gute Schreibe' im Sinne des Verfügens über jenes Reservoir geht, sondern darum, sich sprachlich mit dem auseinanderzusetzen, was sie Information nennen, werden sie nur scheitern können, und zwar gleichermaßen im Lokalteil der Provinzzeitung wie im Kulturteil der überregionalen Zeitungen.
Die journalistische Bewußtlosigkeit darüber, daß Journalisten sprachlich agieren, zerstört nicht nur ihre eigene Sprachreflexion, sondern auch die ihrer Leser und Hörer. Herder kennt nur eine Alternative: "Zertrümmere oder schaffe dir Sprache"(S.63).

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VON DER EPOCHE

Gräßliche alte und schöne neue Welt

Was erzählen sie, die Intellektuellen des Landes, von vergangenen Zeiten? Ausbeutung sei gewesen von Anfang an: bei den ersten Chinesen-Kaisern, bei den Pharaonen, bei den Römern zumal. Und dann sei der Feudalismus dahergekommen, der noch den Kohl, den die Armut angebaut hatte, zertrampelt habe, wenn es ihm mal wieder um sein Jagdvergnügen ging. Von wegen der Große Kurfürst und Friedrich der Große. Trübe Kerle, die ihr Land in Kriege stürzten. Im 19. Jahrhundert aber ging es mit dem Imperialismus schlimm los, und der Kolonialismus, vorbereitet seit dem 16.Jahrhundert, wurde groß und versklavte gute und friedliche Völker allüberall. So taten vor allem die Engländer und Franzosen, aber am schlimmsten waren die Deutschen, das militaristische Pack, dem schon der spätere Faschismus abzumerken war.
Kunst und Kultur? Ach du liebe Güte. Nichts als das Dekor des blutigen Schlachtens.
Unsere Intellektuellen holen aus und zeigen, wie kümmerlich die einen wie die anderen waren. Ausnahmebescheinigungen werden nur für ganz wenige ausgestellt: für Mozart z.B. oder für Heine. Viel mehr seien es ja nicht gewesen. Dann sind sie schon wieder beim Faschismus, dem einzigen, was sie historisch interessiert. Es heißt so, weil sie es so nennen, obwohl es nun wirklich eine deutsche Angelegenheit ist. Aber ohne Faschismus kein Antifaschismus, zu dem alles gehört, was dagegen war, auch wenn es Formen hatte, die dem des Naziwesens vollkommen glichen. Aber aus dem Antifaschismus entstand die neue Welt, von der sie auf die alten Welten blicken.
Und man muß sagen, daß diese neue Welt wirklich eine schöne neue Welt ist. Stalin und sein System, in dem der Antifaschismus und die Friedenskämpfer erfunden wurden, haben an ihr mitgebaut,. Die anderen Diktatoren aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben an ihr mitgebaut: in Asien, in Afrika, in Südamerika. Dagegen sorgten wir für die Demokratie, die um so stärker ihre Kraft beim Bau der schönen neuen Welt entfaltete, je mehr sie sich der freien Wirtschaft anpaßte und dafür sorgte, daß die sich mit Produktion und Konsum, mit Reklame und Unterhaltung, mit Horror und Spaß, mit Chaos und Geschrei entfalten konnte. Und mit Drogen und mit Aids. Und mit der Vernichtung all dessen, was Jahrhunderten wichtig gewesen war. Dabei halfen die Theater und die Filme und vor allem die Medien mit. Dabei half das Gekauder vor allem, das man anstelle der Sprache erfunden hatte.
Nein,noch nie hat es so viel Wasserspülung, Antibiotika, Verkehrsflugzeuge, gegeben. Noch nie war eine Welt so schön, vor allem in Afrika, in Südamerika, in China, Rußland und anderen Teilen Asiens. Aber auch in Europa, Nordamerika, Japan haben wir alles sehr schön gemacht: die Straßen, die Häuser, die Autos und die Menschen.
Die Intellektuellen sagen, wir müßten die UNO stärken und den Frieden und die Demokratie. Auch die Rocker müßten gestärkt werden und die Palästinenser und die Umwelt und das Klima und die Freiheit des Drogenkonsums. Wenn das alles gelänge, würde die Welt noch neuer und schöner sein, und ihr Abstand von der alten Welt würde allen, die von dieser etwas wüßten, geradezu in die Augen springen, wenn er nicht schon vorher durch die Fernsehübertragung von Fußballspielen, für die alle Intellektuellen mit aller Kraft eintreten, für jedermann begreiflich geworden sei.

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VON DEUTSCHLAND

Der Staat und sein Bürger

Im Augenblick drängt er sich sehr auf, der Staat. Er hat nach jahrelangen Verdrängungen gemerkt, daß es so mit ihm nicht weitergeht. Also muß er etwas mit sich tun, was natürlich heißt, daß die Bürger sich etwas von ihm gefallen lassen müssen. Die Herren Rau, Schröder, Fischer und Konsorten leben natürlich so weiter, wie sie bisher gelebt haben, aber andere, viele andere werden etwas zu spüren bekommen, wenn sich denn etwas ändert.
Viele haben schon lange geschimpft, viele werden inskünftig noch mehr schimpfen. Aber von wem oder von was sprechen sie, wenn sie schimpfen?. Man muß wohl wie immer bei sich anfangen, um das zu begreifen.

Die Gemeinde

Ganz real merkt man am meisten von ihr. Sie liegt im Münsterland, war ein Dorf, das seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts und bis 1945 ca 2000 Einwohner hatte, Handwerker waren es vor allem, während im Umland, in den Bauerschaften eben die Höfe lagen. Nicht so ganz in der Mitte ist natürlich die katholische Kirche. Ihre Vorgängerin war wahrscheinlich etwas beachtlich Gotisches, man hat sie im 19. Jahrhundert abgerissen, um größer und, wie der Pfarrer damals dachte, schöner neu zu bauen. Es ist ein Stück aus der Serie neugotischer Kirchen, wie sie im Dutzend seit 1870 aufgebaut worden sind. Der Pfarrer wohnt in einem schönen spätklassizistischen Pfarrhaus, von ihm ist außerhalb der Gemeinde nicht viel zu hören. Mehr dagegen aus der evangelischen Gemeinde, die erst durch die Flüchtlinge nach dem Krieg entstanden ist, jetzt schon den zweiten Kirchenbau bekommen hat, eine etwas zu groß geratene Feuerwache. Pfarrwechsel finden öfter statt, in evangelischen Gemeinden ist gern Streit. Jetzt amtiert ein Mann mit wallendem Haar, der einem seit dem Siebzigsten Glückwünsche schickt, aber nicht zu sehen ist. Er wird sich sagen, man solle zu ihm in die Kirche kommen.
Es gibt viele Vereine in der Gemeinde, die vier üblichen Parteien sind vertreten.
Die Gemeinde hat allerhand gärtnerische Anlagen eingerichtet, eine heißt z.B. Bürgerpark, es gibt viele Rosenbeete, und es gibt grünen Rasen. Da hat sich der Vorvorgänger des jetzigen Bürgermeisters - er hieß damals Gemeindedirektor - viele Verdienste erworben. Aber er hat auch architektonisch den Ort umkrempeln lassen, denn er fand, daß das Bestehende zum großen Teil, österreichisch gesprochen, altes Graffelwerk gewesen sei. Jetzt stehen an der Hauptstraße biedere Backsteinfassaden, ein scheußliches und totes Flachdachkarree für Geschäfte ist in den sechziger Jahren hingesetzt worden, und nachdem die Flüchtlinge noch vor dieser Zeit in einer kleinen Siedlung untergebracht waren, hat der eifrige kleine Mann zum ersten Erweiterungsschlag ausgeholt und in grauen Steinen und für englische Militärfamilien besonders unschöne Wohnkisten bauen lassen. Sie stammen von einem unbegabten Architekten, der später ein berühmter Innenarchitekt und Designer wurde. Man stelle sich die Konstellation vor, die sich damals hier und in hunderten anderer Orte ergeben hat: ein ahnungsloser Gemeinderat, der architektonisch noch nie eine Vorstellung gehabt hatte, und ein mit den nötigen städtebaulichen Phrasen und ein bißchen Rhetorik versehener Architekt, der seinen Schund verkaufen wollte. So steht jetzt und für ewige Zeiten eine Ansammlung von Klötzen am Eingang des Dorfes, das damit zur Vorstadt gemodelt wurde.
Aber das alte Ideal der Eigenheimsiedlung wurde natürlich nicht vernachlässigt, vom Architekten und Städtebauer freilich mit der Moderne durch einen Hochkasten verbunden, um den sich heute verkommende, z.T. nicht genutzte Geschäftsareale gruppieren. Nach diesem Mißerfolg kehrte man ganz zu Einfamilienhaussiedlungen zurück, die keine Geschäfte, keine Einrichtungen für die Siedlung, allenfalls einmal einen Kindergarten haben. ‚Man kehrte zurück' bedeutete: man legte los. Seit zwanzig Jahren wird in der Gemeinde ein neues Baugebiet nach dem anderen ‚ausgewiesen', das Ganze ist längst eine Riesensiedlung geworden, die aber nur den kleinen Ortskern hat, den sie schon im Jahr 1800 hatte. Jedermann muß, um sich auch nur ein Brötchen zu kaufen, von den fernsten Enden neuer Baugebiete aus in die drei Straßen des "Zentrums" fahren, das immer mit Autos überfüllt ist.
Was treibt die Dorfpolitiker dazu, die sinnlose Vergrößerung eines einst sehr überschaubaren Ortes über Jahrzehnte hin zu betreiben ? Es muß einmal eine Gier nach Größe geben, die der damalige Gemeindedirektor angefacht hatte. Aber es gibt auch sehr persönliche Interessen. Noch über die in der gesamten Bundesrepublik Deutschland verbreitete Sucht, vor allem zu verdienen, hinaus, ist der bodenständige Westfale auf Geld aus. Und wenn die Gemeinde endlich die Einwohnerzahl von 20 000 erreicht hat, werden die Gemeinderäte höhere Diäten, der Bürgermeister und der Beigeordnete höhere Bezüge bekommen.
Der jetzige Bürgermeister ist ein braver Mann, der als Kompromißkandidat einen autoritär regierenden Dorfcaesar ablöste, weil der offenbar auch der bestimmenden CDU auf die Nerven gegangen war. Aber wie es Kompromißkandidaten zu gehen pflegt: er ist eigentlich kein Handelnder mehr, sondern richtet sich nach denen, die ihr Handeln als handeln verstehen. Daneben fällt die SPD durch Stammtischtreue und Schrulligkeiten auf, die Grünen können ihre Vorschläge nicht durchsetzen und die FDP hat gar keine.
Die soziale Kontrolle, wichtig für einen kleinen Ort, geht in der hemmungslosen Ortserweiterung unter. Rußlanddeutsche und unbeschäftigte Jugendliche randalieren ungestört, seit geraumer Zeit werden Hauswände und Denkmale nach großen Stadtvorbildern beschmiert. Was an solchen und anderen Unliebsamkeiten vorkommt, wird nach dem Vorbild des Staates abgeschoben: die Polizei sagt, das Ordnungsamt habe sich einzuschalten, und das Ordnungsamt tut das, was es seit Jahrzehnten tut: nichts.
Krach wird gern geduldet, wenn es dadurch einen Auftrieb gibt und nur einzelne Bürger und Steuerzahler gestört werden. Alle zwei Jahre z.B. baut ein Schützenverein, der in einer Bauerschaft zuständig ist, nahe dem Schloß, in dessen Umgebung wir wiederum wohnen, ein Festzelt auf, macht dort das übliche Remmidemmi, vermietet aber vor allem das Zelt an die Landjugend, die dann eine Nacht lang einen außer Rand und Band geratenen Lärm veranstaltet, der die Lebensfreude der Jugend signalisiert. Das geschieht nur, weil die Schützen zu geizig sind, die Gemeindehalle zu mieten, wird aber natürlich offiziell als Traditions- und Heimatpflege verkauft.
Ansonsten werden Kunst- und Kulturinitiativen gegründet, Atmen wird auf chinesisch und indisch geübt, und alle fahren mit dem Fahrrad zu einem prächtig gestalteten Hof , dessen Schulze einst Schweinemäster war, dann Spargel anbaute und der nun über ein reich florierendes Unternehmen gebietet,wo man gut essen und trinken und selbstgemachte Marmelade kaufen kann. Weniger schön ist eine an der Bundesstraße errichtete Einkaufszeile, in der für die notleidende Aldi-Kette etwas getan wurde. Hier sammelt sich nach Geschäftsschluß lärmendes und saufendes Volk, das nur die nicht übersehen, die ihm ausgesetzt sind.
So dehnt sich ein Dorf des Münsterlandes mehr und mehr zu einer suburb aus mit allen Zivilisationserrungenschaften, also mit unzähligen Autos, für die es keine Parkplätze mehr gibt, und mit Scheidungen und mit überlaufenen Ärztewartezimmern und mit unablässig veranstalteten Festen, die völlig sinnlos sind, aber den Leuten für ein paar Stunden ihre Langeweile und ihre Angst vertreiben.

Der Landkreis
ist weit weg in einer kleinen Mittelstadt, die in den letzten Kriegstagen noch zertrümmert wurde wie viele andere. Da gibt es einen Landrat und eine Kreisverwaltung und einen Kreistag. Ob der etwas und wenn ja, was der tut, weiß man nicht, aber der Landrat ist forsch und tritt entsprechend in der Zeitung auf. Früher wäre er Reserveoberleutnant gewesen. Schreibt man ihm, weil er, um rasche Einnahmen zu erzielen, kurz vor der Veränderung der Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 auf 70 km/h, heimlich und gänzlich sinnlos ein Kontrollinstrument aufgestellt hat, bekommt man von seinem Direktor die übliche pampige Behördenantwort. Erst wenn man sich an den Regierungspräsidenten wendet, wird es etwas freundlicher und wird versprochen, daß man die Regelung überprüfen wolle. Für jenen Service des Kreises und für den Landrat müssen wir Steuergelder bezahlen, die er u.a. für eine Vorzimmeranlage ausgibt, wobei er die Ausgaben in seinem Haushalt versteckt Das ist selbst dem braven Kreistag zu arg.
Der Kreis ist "ländlich geprägt", hat ein paar schöne Wasserschlösser, u.a. das große barocke Bischofsschloß in N., in dessen Orangerie ordentliche Konzerte vom Kreis veranstaltet werden. In B., einer hübschen Kleinstadt, gibt es die Kolvenburg, eine ziemlich alte und massive Architektur, in der manchmal recht gute Ausstellungen stattfinden, ebenfalls vom Kreis finanziert. Ein paar Städte, die größte hat 40 000 Einwohner, sind besuchenswert, manche Dörfer sind langweilige Straßendörfer, in denen die gleiche CDU-Politik mit Unterstützung einer biederen SPD gemacht wird. Die Bürger haben so viel, also so wenig zu sagen wie immer. Nur wenn er direkt gewählt werden will, ist der Landrat für ein paar Wochen weniger forsch. Ansonsten merkt man wenig vom Kreis. Und das ist das beste an ihm.

Der Regierungsbezirk
Die sogenannte Bezirksregierung, eine Bezeichnung noch aus königlich-preußischer Zeit, die keine Regierung, sondern eine Verwaltung ist, hat ihren Sitz in der nahen "Provinzialhauptstadt", die immer noch so heißt, obwohl es gar keine Provinz mehr gibt. Von jener merkt man v.a. den Regierungspräsidenten, der früher, nämlich in der Zeit der Teilung der Stadtspitze in die Ämter des nur repräsentierenden Oberbürgermeisters und des beamteten Oberstadtdirektors, Oberbürgermeister der "Provinzialhauptstadt" war. Er ist ein moderner Katholik, der als CDU-Mann von der rot-grünen Landesregierung abhängig ist, denn er ist zur Loyalität verpflichteter Beamter. Hätte so etwas früher ein freier Mann gemacht, zumal wenn er vorher die Selbstverwaltung der Kommune repräsentiert hat? Wahrscheinlich nicht. Aber derlei Bedenken gibt es heute wohl nicht mehr. Man ist sehr froh, auf einem sicheren Posten landen zu können und wird sich dann schon arrangieren.
Der Regierungsbezirk umfaßt das ganze Umland und noch ein Stück vom Ruhrgebiet. Er ist in seiner Existenz bedroht, weil die Landesregierung die Verwaltung vereinfachen, d.h. weniger Regierungsbezirke haben will. Nun richtet sich gewiß ein großer Teil der Aktivität der Beamten bis zum Präsidenten auf die Bewahrung des Zustandes, wobei man von der Verwaltung der "Provinzialhauptstadt" unterstützt wird, der man auch ans Zeug will. Denn wenn Behörden abgezogen werden, die man seit langem bei sich hatte, dann wird die Stadt natürlich erheblich in ihrer Finanzkraft und ihrer Reputation geschädigt. Wenn derlei droht, hört der Alltagstrott auf, und Stadt und Regierungsbezirk werden so eifrig, wie sie sonst niemals sind. Was da an Verhandlungen geführt wird, weiß man nicht, will man wohl auch gar nicht wissen, aber daß sie mit der äußersten Energie, deren ein Beamtenhirn fähig ist, geführt werden, dessen kann man gewiß sein.

Das Land
ist eine der Schöpfungen, die es nach dem Krieg gab: ein Bindestrichland, bestehend aus einer und einer halben preußischen Provinz, die nach 1815 vor allem aus geistlichen Herrschaften zusammengezimmert wurden. Dazwischen liegt das Ruhrgebiet, das als Einheit erst durch die Industrie des 19. Jahrhunderts entstanden ist und das neue Land nach dem Krieg wohlhabend machte, wohlhabender als den Freistaat Bayern. Auch ist es das nach Einwohnern größte Bundesland. Aber so ist es nie aufgetreten, es ist auch ganz und gar nicht Nachfolger Preußens geworden, und heute schon gar nicht, denn mit seinem Wohlstand ist es vorbei. Während Bayern sich mit neuen Industrien ausgestattet hat und das repräsentativste Land Deutschlands geworden ist, hat sich unser Land vom Rückgang der alten Industrie und des Steinkohlenbergbaus nie erholt. Der langjährige Ministerpräsident hat v.a. Dönekens erzählt und mit Bibelkenntnis aufgewartet, als seine Lebensleistung sah er die Schaffung von Gesamthochschulen an, traurigen Betonburgen ohne wissenschaftliche Reputation, die den alten Universitäten das Geld weggenommen haben, aber nun selbst miserabel ausgestattet sind und z.T. zusammengelegt werden. In der Zeit der Achtundsechziger ließ die Regierung in den Universitäten alles dahinschluren und wenn nicht am Ort wie in Bonn und in Köln ein energischerer Rektor mit einem entsprechenden Senat war, ging es abwärts, bis man es auch an dem äußeren Zustand der Hohen Schulen merkte, daß man auf den Hund gekommen war.
Nun hat es die Regierung fertig gebracht, daß das ganze Land auf diesem Stande ist. Die riesige Landesbank unter einem Vorstandsvorsitzenden, den der Ministerpräsident alles machen ließ, ist nun eine Art Abbruchunternehmen. Das ist ein Symbol für die politische und wirtschaftliche Kunst in diesem Land. Ein nervös-energischer neuer Ministerpräsident sollte alles ins Bessere lenken. Bevor man aber deutlich merkte, daß er es auch nicht konnte, verabschiedete er sich nach Berlin und sorgt dort für Besserung, die schon darum nicht gelingen wird, weil der Minister, der früher Journalist war, sich ständig syntaktisch verhaspelt, was immer auf das Denkvermögen des Sprechers schließen läßt.
So will das Land nun alles mögliche reformieren, was aber vornehmlich heißt, daß es an allen Ecken und Enden sparen muß: die Straßen sind schlecht, die Schulen und die Städte kommen herunter, nur die Beamten arbeiten so unzulänglich wie immer, sie sind nun keine präzisen Bürokraten mehr, sondern Achtundsechziger, die dahinwursteln.
Bevor es ganz schlecht wurde, hat es aber noch gute Restaurierungen gegeben an Schlössern und Kirchen, so z.B. in Brühl oder in Nordkirchen oder am Erbdrostenhof in Münster. Das ist eine Leistung, die das Land mit anderen Ländern teilt, aber es bleibt beachtlich, da es ja das Nennenswerteste ist, was in der öffentlichen Architektur produziert wurde.
Auch hat das Land viele Theater, d.h. selbst hat es kein einziges, aber dank der Stadtkultur, die seit dem 19. Jahrhundert für Stadttheater gesorgt hat, kann es sich einer reichen Theaterlandschaft rühmen und da die Bürger der Ruhr- und Rheingroßstädte sich zumeist nicht mit dem Firlefanz unbegabter, aber präpotenter Regisseure abfinden, gibt es immer mal wieder eine ordentliche Opernaufführung, ein sehenswertes Schauspiel da und dort. Nur können die meisten Schauspieler kaum noch sprechen, so daß man nur ahnen kann, was auf der Bühne verhandelt wird.
Die Landschaft des Landes ist im Sauerland, im Bergischen Land, im Münsterland und am Rhein angesiedelt. Die rheinischen Städte sind meist aufs schrecklichste zersiedelt, in den westfälischen ist es manchmal besser, und die des Ruhrgebiets haben bis auf eine kleinere Stadt wie Recklinghausen durch den Wiederaufbau nicht gewonnen.

Die Bundesrepublik Deutschland
ist das, was in den Nachrichten vorkommt. Man nennt sie, obwohl sie ja nun große Teile des ehemaligen Deutschen Reiches umfaßt, gern und häufig "Bundesrepublik", eine ganz formale, staatsrechtliche Bezeichnung, die offenbar gebraucht wird, weil man sich des Wortes "Deutschland" schämt, wohl der einzige Fall in der Nationalstaatsgeschichte. Aus dem Hochmut ist nationaler Masochismus geworden, der Stolz ist ganz auf die Nationalelf des Fußballs verlagert worden, der Trainer, ein Krauskopf, ist der eigentliche Bundespräsident. Der führt als Prädikat das Namenskürzel "Rudi", und so wie man kameraderiehaft mit ihm umgeht, so gehen (fast) alle mit (fast) allen um, die lebens- und freiheitsfördernde, zivilisatorische Distanz ist zum Teufel, nicht weil in diesem Staat alle Menschen Brüder geworden wären, sondern weil eine Symbiose von Stammtisch und Journalismus die bestimmende Kraft des Gesamtstaates geworden ist. Am Stammtisch wird noch einmal simplifiziert, was an Simplizitäten sich zwischen Bildzeitung und FAZ ausbreitet. Deutsch ist das, was diese beiden Zentren des nationalen Lebens als deutsch bestimmen. Sind für die meisten anderen Nationen Fahne, Nationalhymne, Feiertag, aber auch gewisse alltägliche Verhaltensweisen identitätsfördernd, so gelten sie hierzulande nichts oder es gibt sie gar nicht. Über das ganze Land wird nur in den Medien und am Stammtisch verhandelt, wo das medial Vorgekaute noch einmal nachgekaut wird. Das besteht hier wie dort aus grimmiger Verurteilung der Politiker, die sich immer mehr hinter den Zaun der Parlamente und Ministerien zurückziehen. Diese Politiker sind in der Tat von zumeist äußerster Mittelmäßigkeit, als geschätztester gilt der ehemalige Streetfighter und Langzeitarbeitslose Fischer, was wiederum zeigt, daß die Mittelmäßigkeit eigentlich gar nicht stört. Man findet es vielmehr prima, daß einer durch Nichtstun nach oben gekommen ist, und es stört nur, daß man nicht so gut bezahlt wird und so früh pensioniert werden kann wie eben die Politiker. Als Politik gilt auch nicht die Umsetzung einer vernünftigen Programmatik in Ausprägungen für den Alltag, sondern gelten neben den Einkünften der Politiker die Bestimmungen, die einen ganz unmittelbar betreffen und die man ungerecht findet, wenn sie Einschränkungen bedeuten, und gerecht, wenn sie einem etwas einbringen. Die Politiker sagen und der Journalismus verbreitet, daß das Volk klug und viel weiter sei als die Politiker, aber man kann an den Politikern, die es auch sich herausstellt, erkennen, wie klug es ist.
Neben dem gesamtdeutschen Stammtisch- und Mediengerede ist dann gleich gar nichts mehr. Landschaft, Städte und Gemeinden sind eine Angelegenheit der Regionen: München liegt allenfalls für Ausländer in Deutschland, für Deutsche natürlich in Bayern, und Berlin liegt eigentlich nirgendwo, es ist ein Abenteuerspielplatz für junge Leute, eine provisorisch wirkende Stadt für Ältere, eine halb heruntergekommene, halb aufgebaute Zentrale, in der Deutschland beredet, beschlossen, verwaltet wird, das selbst eine Übergangsform ist, die am liebsten in Europa aufginge, woran es durch alle anderen europäischen Staaten gehindert wird, und zugleich auf die Regionen, deren Jargon statt des Hochdeutschen gesprochen wird, reduziert werden möchte, so daß man im Abstrakten verschwinden und im Kuscheligen sich einrollen könnte.
Es gibt also auf allen Ebenen die gleiche Ferne zwischen den Politikern und dem Bürger, ganz gleich, ob es sich um Administration oder Legislative handelt. Auf den unteren Ebenen wird irgendetwas gemacht, das weder erklärt noch begründet wird, sondern sprachlos bleibt. In irgendwelchen Köpfen und Gremien wird entschieden; meist hat es seine formale Richtigkeit, einsichtig gemacht wird es nicht. Die Demokratie besteht hier aus ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger Klüngelei, bei der viele einfach mitmachen, ein paar die Sache in der Hand haben, natürlich nicht die besten, natürlich nicht die kundigsten, sondern die taktischsten.
Auf der Ebene des Landes tritt eigentlich nur der Ministerpräsident in Erscheinung, dessen Ansehen sich nach seiner Volkstümlichkeit bemißt. Ansonsten interessiert das Land nur als Zusammenhang von Regionen, die meist konkurrieren und darum einander nur wenig leiden können. Die sogenannte Bundesrepublik ist vor allem eine Folge von Fernsehauftritten und -ereignissen, die als Interviews, Talkshows und Reden von ein paar Leuten erscheinen, die von den Bürgern als von "Menschen" sprechen. Außerdem sieht man diese Leute Hände schütteln und herzlich lachen. Um sie herum sind meist Journalisten, die Nichtiges fragen und darauf nichtige Antworten bekommen. Die Demokratie sei in Deutschland nun gefestigt, sagen die Kenner. Sie können damit nur meinen, daß die Medien tagtäglich senden und drucken.

Warum sich in Deutschland nichts ändern wird

In einer der zahllosen Fernsehdiskussionsrunden, die zur Zeit gern auf den Tenor gestimmt sind, es solle nun nicht mehr diskutiert, sondern gehandelt werden, worauf natürlich weiter diskutiert wird - in einer solchen Diskussionsrunde spricht zum ersten Mal ein Teilnehmer die einfache Wahrheit aus, daß nicht nur die Politiker zu Reformen nicht in der Lage sind, sondern daß die Bürger sie nicht wollen. Zwar behaupteten sie abstrakt, es müsse Reformen geben, aber eine neue Umfrage zeige sehr klar, daß in concreto kein Mensch Reformen wolle, denn die träfen eben ihn selber.
Das heißt aber, daß nicht die Blockaden zwischen den Parteien das eigentliche Problem sind, sondern die Blockaden zwischen Politikern und Wahlvolk. Jene verschweigen, ja leugnen, daß die Bürger konkrete Reformen nicht akzeptieren würden, und blockieren diese gerade dadurch, dieses bekennt sich zwar im allgemeinen zu Reformen, aber lehnt jede Reform ab, die es selbst betrifft, also jede.
Welche Gründe gibt es dafür ? Die Gründe der Politiker sind schon oft genannt worden: aus Furcht davor, nicht wiedergewählt zu werden, stellen sie den Bürgern gute Zeugnisse aus, was sie daran hindert, etwas zu tun, was den Bürgern nicht gefällt, also irgendetwas zu tun. Die Gründe der Bürger werden so gut wie gar nicht betrachtet, weil die Politiker ja leugnen, daß die Bürger konkrete Reformen ablehnen.
Die Gründe der Bürger für ihre Reformunwilligkeit liegen in dem völlig gebrochenen Verhältnis der Deutschen zu ihrem Staat. Nazitum und Kriegsfolgen haben bewirkt, daß die Deutschen nur noch widerwillig Deutsche sind und in ihrem Land, gar ihrem Vaterland keinen Wert sehen, wenn es nicht gerade um jene Sportereignisse, insbesondere solche des Fußballs geht, die in der letzten Zeit aber auch ganz mangelhafter Art sind. Die Leute sprechen daher auch gern von der Bundesrepublik, und zwar absolut, so als sei sie nicht ein Substantivattribut von Deutschland. Die Schmiererei "Deutschland halt's Maul" hat sicher keine Analogie in irgendeinem anderen Land. Zeigt sich darin nun die politische Wachheit eines Volkes, das sich immer wieder auf die Schrecken besinnt, die seine Führer nicht nur, sondern Teile des Volkes selbst angerichtet haben? Das ist eben darum unwahrscheinlich, weil ja die Verächter Deutschlands dessen Fahne schwenken und es feiern, sobald - mehr zufällig - ein sportlicher Sieg sich eingestellt hat. Wahrscheinlicher ist, daß dieses Volk mit der Verdammung des Nazitums und seines Krieges sich selbst freizusprechen meint, ohne aber zu merken, daß es damit auch alle Werte seiner Geschichte, insbesondere seiner Kulturgeschichte verwirft, weil ihm das Nazitum als Ausdruck der gesamten deutschen Geschichte gilt. Auch findet es dieses Volk, dem durch Jahrzehnte gesagt worden ist, es sei dazu da, Feierabend zu machen, Feste zu feiern und zu verreisen, viel zu anstrengend, sich mit diesen Geschichtswerten zu beschäftigen und bleibt bei dem Leichtesteingängigen der Gegenwart. So geht ihm, das doch unablässig davon reden hört, daß es Verantwortung für die bösen Seiten seiner Geschichte habe, gerade die Verantwortung für dessen ganze Geschichte ab, und darum ist es völlig uninteressiert daran, etwas für dessen Zukunft zu tun. Sobald es nicht mehr die Hand aufhalten kann, ist ihm der Staat so wurscht, wie der es sich allerdings selbst in seinen Repräsentanten ist, deren Indolenz noch in jeder öffentlichen Geste sichtbar wird. Hitler, der doch verkündete "Du bist nichts, dein Volk ist alles", hat dafür gesorgt, daß das Gegenteil jener Verkündung eingetreten ist: ‚Staat ist Scheiße, allein wichtig bin ich'.

Probleme des Landes, für die es keine nennenswerten Lösungsvorschläge und -bemühungen gibt

Terrorismus

organisierte Gewalttätigkeit

Rechtsextremismus

 

Linksextremismus

 

 

Islamischer Fundamentalismus

 

Gewaltbereitschaft

 

 

 

 

Arbeitslosigkeit

‚klass.' A., Arbeitsunwilligkeit, Frühverrentung

Globalisierung

Dominanz d. Wirtschaft, Nichtbeachtung regionaler Unterschiede

Situation der Wirtschaft

Exportabhängigkeit, Konkurse

Börsenirrationalität

Belanglosigkeit der Analysen, falsche Prognosen

Rentensystem

zu hoher Versicherungssatz, mangelnde individuelle Vorsorge, geringe Versicherungsrendite

Gesundheitssystem
(Kosten und Leistungen)

zu hoher Versicherungsbeitrag, mangelnde Eigenvorsorge, zu hohe Verwaltungskosten der Krankenkassen; Überbeanspruchung, sinnlose Verordnungen (Apparatemed., Medikamente), unzulängl. Diagnose u.Therapie

Bildungssystem

Mangelnde Leistungsfähigkeit, mangelhafte Ergebnisse, mäßiger Leistungswille, Wissensstand, zu geringe Anforderungen; zu viel Lehrermittelmaß, Disziplin- Schwierigkeiten, burn-out-Syndrom b.d.Lehrern

Ausstattung von Universi-täten und Schulen

in fast jeder Hinsicht unzulänglich

Verkehrsverhalten

kein Verhältnis zu Verkehrsregeln, Ellenbogen-Verhalten

Autoverkehr

Geschwindigkeitswahn, hektische Fahrweise, Gefährdung durch übergroße LKW

Autobahnen und Straßen

ständige Überlastung, zu viele Baustellen, schlechter Straßenzustand

Deutsche Bahn

Unpünktlichkeit, Ungepflegtheit der Züge, ständige Managementfehler, zu hohes Preisniveau, häufige Unglücksfälle

Flugverkehr

Unpünktlichkeit, Unbequemlichkeit, unzulängl. Infrastruktur der Flughäfen

Überfischung von Nord- und Ostsee

 

 

Jugendkriminalität

Straffälligkeit immer Jüngerer, mangelndes Rechtsbewußtsein, Neigung zu Schwerkriminalität, Verachtung der Gesellschaftsordnung

Drogenkonsum

Tendenz zu schwer schädigenden Drogen

Verrohung
Pöbelhaftigkeit
Egomaner Hedonismus

barbarisches Verhalten im Alltag
unzivilisiertes Verhalten im Alltag

Sexualisierung

Massenprostitution, pornographische Barbarei, Kinderprostitution, Kinderpornographie

Sittenwidriges Verhalten

Übervorteilung von Kunden, Beschwindlung als Geschäftsform

Besitz- und Geldgier
Überalterung

sinnlose Lebensverlängerung

Verschmierung und
Verwahrlosung der Städte

Indolenz von Publikum und Behörden

Zersiedlung

Zerstörung der Landschaft

Politikverdrossenheit

Abwendung von politischen Themen und Strukturen

Parteienherrschaft

Lediglich 3,8 % Parteimitglieder in Relation zur Einwohnerzahl

Unfähigkeit von Politikern und Managern

 

Herrschaft des Mittelmaßes Korruption

 

Öffentliche Artikulation

ständige Tendenz zu Jargons

Sprachlosigkeit und Phrasenhaftigkeit

Reduzierung der Sprachfähigkeit bei gleichzeitiger Ausbildung von Geschwätz

 

 

Theaterzustand

Unfähigkeit der Schauspieler zum Umgang mit der Sprache; Regie als bloßer Sensationismus, Dilettantismus

Medien

Sensationismus, Sprachverwahrlosung

Fernsehprogramme

Verblödungstendenzen

Reklame

Sinnlosigkeit

 

 

Kirchen

Zeitgeistfixierung

Theologie

Substanzlosigkeit

 

 

Sport, insbes. Fußball

Leistungsmangel bei gleichzeitiger Geldgier

 

 

Massentourismus

Landschaftszerstörung

 

 

Ausländerintegration

Ghettotendenz

Integration der Rußlanddeutschen

 

Fremdenfeindlichkeit

 

Antiamerikanismus

bösartige Geringschätzung der USA

 

 

 

Empathiemangel

Verweigerung von Mitgefühl

Rücksichtslosigkeit

Egoistische Durchsetzung bis zur Brachialität

Gleichgültigkeit

soziale Verhärtung

 

Strukturreformen und Alltagsbewußsein

Es liege an der fehlenden Rentenreform, der Arbeitsmarktreform, der Steuerreform, der Gesundheitsreform, der Bildungsreform und vielen anderen mehr. Und natürlich daran, daß die alle Strukturreformen zu sein haben, nicht hastige Änderungen á jour.
Sie beschwören das Große und Ganze, die Politiker, die Journalisten, die Theoretiker. Sie tun das seit praeter propter sechs, sieben Jahren. Aber sie begreifen nichts von der Unverrückbarkeit des Alltäglichen, das natürlich auch einmal entstanden ist: vor hundert Jahren, vor fünfzig, vor allem vor fünfunddreißig, als das Land den Achtundsechzigern überantwortet wurde, worunter man früher die Zugehörigkeit zu einem Truppenteil verstand; aber was waren sie anderes?
Man fahre z.B. eines sonntags in die Provinz, in ein Bad, das nicht zu den alten gehört, aber hübsch liegt und im Kern eine alte Stadt mit viel Fachwerk hat. Das erinnert an jene gute alte Zeit, die es nie gegeben hat, und das Fachwerk ist an vielen Stellen besser konserviert, als es wahrscheinlich irgendwann war. An anderen allerdings nicht, da sieht es dann gleich so trostlos aus, wie es überall in der früheren DDR einmal aussah. Verläßt man das Bad später auf der Bundesstraße, so fällt einem wieder renoviertes Fachwerk auf, aber viel mehr hingehauene Zweckarchitektur von kleinen Industrie- oder Handelsunternehmen, heruntergekommene Altbauten und die Kisten und Kasten der Neubauten aus den sechziger und siebziger Jahren.
Alles Zeugnisse für die jahrzehntelange Immunisierung gegenüber der Häßlichkeit, die es bis zum Kriegsende so ausgebreitet nicht gegeben hat. Heute kümmert sie keinen, man hat sich so an sie gewöhnt wie an die Schmierereien in allen größeren, ja auch kleineren Städten.
Im Bad gehen wir in das "Haus des Gastes", das aus den siebziger Jahren stammt, moderne Architektur natürlich, und genauso häßlich wie die vielen Bauten an den Bundesstraßen. Eine hohe, wahrhaft leere Eingangshalle, in der sich nichts abspielen kann, kein Gespräch, kein Ausruhen. Es könnte auch die Eingangshalle einer der gräßlichen neuen Schulen sein oder eines Rathauses. Irgendwo stehen ein paar Sesselensembles herum, grau und nicht einladend, irgendwo die tristen Grünpflanzen, um die sich niemand kümmert. Alles ist häßlich und überflüssig dazu. Aber niemand beschwert sich darüber, Im Gegenteil, als das Haus gebaut wurde, war die ganze Herde der Kleinstadtpolitiker sicher dafür. Nun steht es da, ungastlich wie hunderte andere und für die Ewigkeit. Was sollen einem Volk, das sich auf die durchgehende Häßlichkeit seines Alltags eingestellt hat, Reformen nützen?
In einer Skizze zur Geschichte von Stadt und Bad steht, es sei "ein Kurort moderner Prägung" und der Stadt sei die "Artbezeichnung ‚Staatlich anerkanntes Kneipp-Heilbad'" verliehen worden. So reflektieren die, die für die Häßlichkeit in Deutschland verantwortlich sind: ihr Standardbegriff ist "modern", der Häßliches und Überflüssiges und alles andere Defekte legitimieren soll. Oder sie sprechen, als lebten sie im Linné, von der "Artbezeichnung", wenn es um einen Titel geht, mit dem man Geld verdienen will.
Immer noch zerschneidet die Bundesstraße die alte Stadt und das "moderne" Bad, so daß beide nichts miteinander zu tun haben, obwohl dies natürlich in allen Publikationen über Stadt und Bad geleugnet wird.
Geht man ein bißchen in die Landschaft hinaus, dann sieht man, daß die zum "Kurpark" erklärt wurde, obwohl sie nichts damit zu tun hat und man das nur eben braucht, weil man ein "Bad" ist. Man hat ein paar Laternen aufgestellt, aber schon das erste Tretbecken, das wie alle anderen in deutschen Bädern und Kurorten nicht benutzt wird, ist vergammelt. Der Kurdirektor macht PR und wahrscheinlich sonst gar nichts wie die anderen seiner Zunft. Hat das etwas mit der Häßlichkeit zu tun? Genausoviel wie das Bewußtsein der Verantwortlichen und der Rezipienten etwas damit zu tun hat.
Und wozu wird das Schöne der Stadt gebraucht: das gut konservierte Fachwerk, dessen Ornamentik an die der Weser-Renaissance erinnert? Wenn es keine Führung gibt, können die Leute damit nichts anfangen. Natürlich ist auch die sehr alte und evangelische Kirche abgeschlossen, obwohl es doch Sonntag ist. Man muß sich eben schützen vor den jugendlichen Rabauken, die nur kommen, um den Zustand der Häßlichkeit durch Zerstörung zu vermehren.
Die Leute können nur etwas mit den Stationen der Völlerei anfangen, von denen es viele, aber auch wieder nicht genug gibt. Manche werden zum Verkauf angeboten, andere sind wie die Kirche am Sonntag geschlossen, obwohl das Land doch in einem so miserablen wirtschaftlichen Zustand ist. In den geöffneten Lokalen bekommt das Volk schwere Gerichte an einem warmen Mittag . Nur ein Dreijähriger läßt seinen raffinierten Trunk stehen und schreit, bis er vom Vater mit einem Schnuller ruhiggestellt wird, als sei er noch im Säuglingsalter. Das Geschrei hört sich natürlich häßlich an, aber eine tolerante Gesellschaft weiß das leicht zu ertragen. Und die Schnullerpädagogik macht den Grad von Reformintensität merklich, mit der die Bürger sich den neuen Zielen widmen, die ihnen die Politik setzt. Wo es einfach ist und nichts kostet wie beim Schnuller, wird selbst eine stumpfgewordene Zeitgenossenschaft irgendwelche Reformen, die ihm als die von Strukturen angeboten werden, hinnehmen, wenn es nur eine seiner Grundhaltungen bewahren darf: z.B. die, dem Häßlichen zugetan zu sein.

(nach oben)

 

VOM SPORT

Und nun hat der Sport das Wort

Montags berichtet unsere Zeitung in ausführlicher Weise über den Sport, insbesondere über den nationalen und den lokalen. So werden uns z.B. 18 Seiten mit Informationen aus der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und allen anderen Lebensbereichen geboten, und zwar einschließlich der Anzeigen, aber 14 Seiten über den Sport. Das entspricht wahrscheinlich dem Bedürfnis des zeitunglesenden Publikums, das in seiner Mehrheit das größte Interesse am Sport hat, wie es ja auch u.a. deutlich wird im Zuspruch junger Menschen, die unter dem Namen Fans bekannt sind, zu Fußballspielen, an denen sie mit großer Lautstärke und bemerkenswertem Alkoholkonsum teilnehmen.
Wie aus dem Sportteil unserer Zeitung zu entnehmen ist, hat es die deutsche Equipe bei den Weltmeisterschaften der Leichtathletik nun geschafft, den 28. Platz bei der Nationenwertung einzunehmen, was um so beachtlicher ist, als diesem 28. Platz noch eine ganze Reihe weiterer folgen. Deutschland ist es dank seiner sportlich begeisterten Jugend gelungen, einen Rang zu erreichen, der nur wenig hinter St. Kitts and Nevis liegt, einem Staat, der nicht ganz die Größe der Gemarkung der Stadt Münster hat und mit 42 000 Einwohnern der Stadt Dülmen in Westfalen gleichkommt.
Dennoch ist man mit dem Ergebnis nicht zufrieden, wie der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes ausführte. Wahrscheinlich wird schon jetzt in Kommissionen daran gearbeitet, bei der nächsten Weltmeisterschaft St. Kitts and Nevis hinter sich zu lassen und vielleicht in die Nähe Litauens zu kommen. Es bedarf dazu großer Anstrengungen, die u.a. die Fans und natürlich die Sportteile der deutschen Zeitungen wie der Rundfunk- und Fernsehsender zu leisten haben. Auch die jungen deutschen Menschen des Leistungssports werden sicher bereit sein, etwa an einem Samstag mehrfach um einen Platz zu laufen oder auch in eine Sandkuhle zu springen. Natürlich muß gewährleistet sein, daß dafür auch anständig bezahlt wird, was, wie der Fußball beweist, die schönsten Früchtchen trägt.

 

Legenden

Gestorben sind die Fußball-Legenden Rahn und Emmerich. Das ist die durchgehende Sprachregelung in den deutschen Medien.
"Legende" ist nach dem Deutschen Wörterbuch "die erzählung aus dem leben der heiligen" oder die "aufschrift auf münzen", später analog dazu die ‚erklärende Unterschrift unter einem Bild oder einer Abbildung'.
Falls die Herren Rahn und Emmerich als Heilige betrachtet werden, was schon ein Blödsinn wäre, könnte es allenfalls Legenden von ihnen oder über sie geben.
Die Aussage, sie seien selbst Legenden, bedeutet überhaupt nichts.
Es ist dies nicht einfach der Fall eines falschen Sprachgebrauchs.
Es ist der Fall eines ‚irgendwie', der Erzeugung einer Stimmung.
Verzichtet wird damit auf die Wortbedeutung und die damit verbundene Vorstellung, Voraussetzung jedes Sprachgebrauchs, der darauf aus ist, etwas zu sagen und nicht vielmehr nichts..
Wir erfahren den Einbruch der semantischen Beliebigkeit.
Mediensprache besteht zu großen Teilen aus semantischer Beliebigkeit.
Auf dieser Grundlage soll die öffentliche Verständigung entstehen.
Kann sie denn mehr sein als der Austausch von Verrückten?

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Kleine Berlinreise

Erinnerung an die ersten Berlineindrücke vor 45 Jahren. Ich kannte ja nichts jenseits der Ostgrenze. Es kostete eben auch einige Mühen, auf die "Insel" zu kommen, die sich als Mischung aus Welt und Dorf präsentierte, auf der man aber, wie die Jahre dann zeigten, gut leben konnte. Man war zwar unter einer Glasglocke, die jederzeit zerklirren konnte, was z.B. 1961 fast geschah, aber der Alltag war geordnet, in den Vorstädten versickerte die passable Hektik des Zentrums. Man war schnell im Grünen, aber hatte auch Theater und Konzerte in der Nähe. Die Kleinbürgerlichkeit des Publikums war nicht aufdringlich. Die dünne intellektuelle Schicht tauschte sich aus. Es gab nicht allzu viele Intrigen. Damit war es 1967 vorbei, aber diese Änderung bekam man nur im Weggehen mit.
Dann wurde es nach allen Berichten an den dortigen Universitäten (aber nicht nur an denen) scheußlich. Davon merkte man aber als gelegentlicher Besucher wenig. 20 Jahre später kam die Öffnung der Mauer. Kurze Euphorie. Und nun?

Berlin ist schlampiger und schmutziger als die anderen großen deutschen Städte, die auch nicht gut aussehen. Gleiches oder ähnliches Elend schaffte der Wiederaufbau, der nirgendwo gelungen ist. Gleiches und ähnliches Elend bedeutet die Schmiererei allüberall, wenn auch von Stadt zu Stadt mit erheblichen Unterschieden. Aber den Sieg trägt Berlin davon. Es ist die verschmierteste Stadt des Landes, ja des Kontinents. Im Osten ist es noch etwas schlimmer als im Westen, aber überall tendiert es aufs Ganze. Kein unten, kein oben bleibt verschont. Am schrecklichsten ist es, wenn etwas gerade, oft mit Delikatesse restauriert ist. Aber das Publikum verdrängt das Schmierelend seit mindestens 15 Jahren, als gäbe es das alles gar nicht. Und dem folgen bereitwillig Regierungen und Verwaltungen, die keinerlei Gefühl für ihre Verantwortung mehr aufbringen. So wird die "Hauptstadt" Berlin, die ja noch sehr im Entstehen ist, von vornherein wieder demoliert. Denn die Zerstörung des Ästhetischen oder dessen einfachster Grundlagen ist natürlich eine Demolierung wie die der Luftangriffe, wie die der Abrisse in den fünfziger Jahren. Eine abgestumpfte Bewohner- und Touristenschaft hastet von Freßstelle zu Freßstelle und ist froh, wenn es irgendwo Betrieb gibt. Der Senat teilt sich in diejenigen, die immer noch vom Kreativen der Graffiti schwafeln (am Kurfürstendamm gibt es sogar eine Eisdiele mit dem ominösen Namen) und diejenigen, die mit dem Grinsen des Regierenden Bürgermeisters dabeistehen.

Der Wiederaufbau kam in Berlin(-West) später als im Westen Deutschlands. Und in der Oststadt fand man es beachtlich, wenn wieder einmal ein Haus gebaut wurde. So wurde erst nach 1990 in Ostberlin, v.a. in "Mitte" aufgebaut: auf Brachflächen, die es ja noch reichlich gab, und als Restaurierung der heruntergekommenen großen Häuser in den Straßen rechts und links der "Linden". So ist der neue Potsdamer Platz entstanden, der aber gar kein Platz mehr ist, sondern eine Ansammlung von beziehungslos gereihten Großbauten, zu denen immer noch mehr kommen. Dazwischen gibt es manchmal schmale Durchgänge, die auch noch "Gasse" heißen, ich glaube u.a. "Eichendorffgasse". Es ist absurd, aber kein Stadtplaner merkt es.
An der Leipziger Straße ist das Herrenhaus, eines der massiven spätklassizistischen Gebäude, für den Bundesrat hergerichtet worden, der dadurch wenigstens äußerlich Glück gehabt hat. Daran anschließend das ehemalige Luftfahrtministerium, dann DDR-Haus der Ministerien mit sorgfältig restaurierten sozialistischen Kachelbildern, jetzt das Bundesfinanzministerium. Auf der anderen Straßenseite aber der Zustand von `45: chaotisches Wachstum, Durcheinander, in die Wilhelmstraße hinein eine wacklige, beschmierte Mauer. So wird es wohl noch lange bleiben.
Den Wilhelmplatz kann man gar nicht mehr erkennen. Ecke Voßstraße, wo die alte Reichskanzlei stand, hat die untergehende DDR noch Funktionärswohnblocks aufgebaut. Die ziehen sich auch in die Voßstraße hinein, wo Speers Neue Reichskanzlei für ein paar Jahre stand, wo man die aufgewölbte Decke des Hitler-Bunkers noch 1958 begucken konnte. Ein Berliner aus "Prenzelberg" taucht auf, der bei der letzten Sprengung des Bunkers 1987 dabei war. Vom letzten Telefon in der Telefonzentrale weiß er zu berichten, von den vier Meter dicken Betondecken, vom Grundwasser im tiefsten Bunker, in dem Hitler am Ende saß.
Ganz in der Nähe haben sich die meisten Ländervertretungen beim Bund eingerichtet: nichtssagende Kästen, von denen die hessische Vertretung nur darum auffällt, weil sie als Bügeleisen gestaltet ist. Aus der Kantine riecht es nach Sauerkraut.
In ganz Berlin riecht es übrigens, nein, es stinkt. Ich höre , es werde nicht genügend Abwasser eingesetzt, um die Fäkalien zu transportieren. Es ist eine drastische Symbolik.
Am Tiergarten entlang, rechts der Ebertstraße wird das Holocaust-Mahnmal auf einem großen Gelände gebaut. Etliche Stelen sind schon aufgestellt. Und wenn alle stehen, wird es die ständige Sorge geben, wann eine oder viele von ihnen beschmiert werden. Dann gibt es wieder eine der sinnlosen deutschen Diskussionen. Und dann wird die nächste Schmiererei folgen. (Inzwischen suchte man dem durch einen Überzug vorweg zu begegnen, aber nun war es wieder eine Firma mit Vergangenheit, die das Unternehmen vorläufig still legte.)

Die "Linden" sind immer noch provisorisch. Die Verantwortlichen wissen nichts mit ihnen anzufangen. Weder Bund noch Berlin spüren, daß es um die wichtigsten Stellen einer Hauptstadt geht. Sie würden am liebsten bei Laubenpiepers regieren. Zwischen der Nurrepräsentation sind mal leere, mal armselige Geschäfte. Rauchs "Friedrich" ist von einer Farbflasche verunstaltet. Man liest, daß intakte Linden für irgend etwas gefällt werden sollen. Der Schloßplatz, der Hauptplatz der Republik, sieht so aus wie vor acht oder zehn Jahren. Der "Palast der Republik", natürlich verschmiert, gammelt vor sich hin, auf dem Platz selbst ist Vorstädtisches aufgebaut. Alles wirkt armselig.
Aber links ist der Versuch gemacht worden, Schinkels Lustgartenentwurf zu realisieren. Vor dessen Altem Museum steht die ungeheure Granitschale, rechts daneben und nach hinten versetzt die Alte Nationalgalerie, die mit großem Fleiß und großer Kompetenz restauriert worden ist: mit dem Marmor Schadows, Rauchs, Tiecks und anderer auf der Parterrefläche, mit den schönen Menzel-Kabinetten, mit erheblichen Sachen des deutschen und französischen 19. Jahrhunderts. Das alles ist hocherfreulich.
Ausstieg am Hackeschen Markt, der schon wieder Form hat. Der Bahnhof ist gut wiederhergestellt . Gegenüber liegen die Hackeschen Höfe, in denen sich Schulklassen breit und laut machen. Weiß der Teufel, wann die irgendetwas lernen. Der erste Hof mit den farbigen Fliesenwänden des Jugendstils, dann viele weitere unterschiedlichen Wertes, ein sehr intimer mit einem kleinen Backsteinbau in der Mitte, ein Rosenhof, ganz apart, und von dort aus eine schön geschwungene Treppe. Hoffentlich kann sich das intakt erhalten. Die Straßen draußen, u. a. die Oranienburger sind aufgerissen, als sei man in den Nachkriegsjahren. Es gibt einen weiteren restaurierten Hof, den Heckmannschen, der kleiner ist, aber auch nichtrestaurierte, die die DDR verewigen. Die Synagoge mit dem prächtigen Goldturm ist von Polizei und Gattern umstellt. Geht man hinein, muß man durch Sicherheitsschleusen hindurch und sich heftig kontrollieren lassen. Aber die Synagoge ist gar keine mehr. Der eigentliche Raum ist nicht wiederaufgebaut worden, nur in den Vorräumen gibt es ein kleines Museum, in dem vor allem Fotosammlungen auffallen. So sieht man vieles über das Leben in der jüdischen Gemeinde nach 1933: Schulen, Heime, Krankenhaus, Speiselokale. Und alles wirkt so normal wie nur denkbar. Was mag die Intention sein, dies so ordentlich zu präsentieren? Man müßte etwas von den Gefühlen der Menschen wissen, die man auf den Fotografien sieht. Denn man sieht z.B. Serviererinnen mit weißen Häubchen.
Draußen ist es bis zur Friedrichstraße einigermaßen tumultuös. Aber dann gibt es wieder eine Reihe von Lokalen, mit denen Berlin zu hunderten und tausenden allüberall aufwartet. Immer wird, das ist die ganze Kultur der Deutschen, gefressen. Bis zur Ecke Friedrichstraße auf der anderen Straßenseite eine erhaltene lange und pompöse Geschäftsfassade, von der man nicht weiß, was sich dahinter verbirgt. Ein altes Kino ist darin untergebracht.

Um die Ecke zu einer Straßenbahnhaltestelle. Derlei gibt es nur noch im Osten. Rumpelnd fährt man alte Namen entlang, kreuzt die Linienstraße, kommt zum Oranienburger Tor, wo an der Ecke Aufgefrischtes aus der Speerära steht. Über die Chausseestraße zur Invalidenstraße. Schinkels griechische Elisabethkirche. Einbiegen in die Brunnenstraße, Häuser mit kleinen Geschäften und durchaus verschmiert. Zum Bahnhof Gesundbrunnen und am Humboldthain vorbei. Irgendwo die Zionskirche, die man doch aus der Bürgerrechtsbewegung kennt. Weiter nach Pankow und nach Französisch Buchholz, einer früheren Hugenottensiedlung, an die eigentlich nur noch die Dorfkirche erinnert. Guyotstraße ist die Endhaltestelle. Da stehen neue größere Wohnblöcke, aber dahinter sind noch Kleingartenanlagen, die natürlich "Frohsinn" heißen.

Unser Hotel liegt oben in der Nähe des Kurfürstendamms, wo die Straßen Xantener und Paderborner und Duisburger heißen und schön ruhig sind. In diesen Wilmersdorfer und Charlottenburger Wohnblocks aus den späten zwanziger und den dreißiger Jahren, die sich oft als Flügelanlagen zeigen oder um einen Innenhof gruppieren, kann man noch heute Wohnkultur besehen, den Versuch, etwas Großzügiges zu machen und dennoch allem Feudalen Abschied zu geben. Nie ist dergleichen nach dem letzten Krieg wieder gelungen.
An den Straßenecken dann und wann gute Eßlokale. Als wir eines Abends eines betreten wollen, sehen wir in der Straße davor, etwa 75 m von uns entfernt, Polizei- und Krankenwagen mit dem entsprechenden Blaulicht. Drinnen hören wir dann auch hin und wieder Gehup. Aber viel mehr geht es dort um eines der bewegenden National-Fußballspiele, bei denen die Deutschen die übliche schlechte Figur machen. Obwohl es ein richtiges Restaurant ist, das z.B. einen schmackhaften Saibling serviert, gibt es vom Tresen her manchmal Hallo und Gedröhn wegen des Spiels. Keinen kümmert das Geschehen vor der Tür, das wir lange für einen der großstädtischen Notfälle halten. Als wir uns aber schließlich beim Kellner erkundigen, sagt der, es habe die Explosion einer Bombe in einer Kunststofftüte gegeben. Am nächsten Tag heißt es im Blatt: Rohrbombe, Attentat auf einen Tierarzt, der schwer verletzt wurde, überdies sei ein Unbeteiligter betroffen.

Der Weg über die Kantstraße zwischen Wilmersdorfer und Savignyplatz am Abend ist so wie vor vierzig Jahren. Die alte, leicht ärmliche Biederkeit. Um den Platz und an seinen Seitenstraßen allerhand Gastronomie mit deutlicher Dominanz italienischer Etablissements. Ein kleines betont ausdrücklich, es habe deutsche Küche. Bis zum Kurfürstendamm ist es hinterher ein gutes Stück. Aber von dort ist man schnell mit dem Bus wieder in der Nähe des Hotels.

An einem stillen Vormittag nach Dahlem: zum Henry- Ford-Bau, in dem 1967 nach dem Tod von Benno Ohnesorg eine erste Versammlung stattfand. Es war so etwas wie die Gründungsversammlung der achtundsechziger Bewegung. Erinnerungen an Peter Szondi und Knut Nevermann als Redner. Ich versuchte mich auch, obwohl dazu gar nicht geeignet. Ein paar Jahre vorher hatte auf dem Platz vor dem Bau Kennedy die "distinguished faculty" angesprochen. Gegenüber an der Boltzmannstraße das alte Gebäude der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, das das erste der Freien Universität wurde. Ihm wieder gegenüber war in einer kleinen Villa das Rektorat untergebracht, aus dem Fritz Teufel den Rektortalar sich besorgt hatte, mit dem er herumtanzte. Das war der Beginn der großen Epoche, deren Erfolge wir heute dankbar genießen mit den Heroen Schröder und Fischer an der tète. Sie sind die Repäsentanten des neuen Berlin.

_______________

Aus: Ulrich Erckenbrecht, Elefant Kette Fuß bunne. Ausgewählte Gedichtsel.
Kassel: Muriverlag 2003.#

Weltreise

London: Banden.
New York: Quork.
Honolulu: Tohuwabohu.
Hongkong: King Kong.
Burundi: anus mundi.
Rio: Chaos con brio.
Paris, Pigalle: Touristenfalle.
Roma: Koma.
Bari : Larifari.
Napoli: Hochstapoli.
Interlaken: Kakerlaken.
Barcelona: macht euren Dreck alona.

 

Gespräch zweier Flöhe in Wilhelmshöhe

"Es sieht so aus, als gebe es
gar keinen Reim auf Celebes".

"Doch Borneo hingegen
hat einen Reim auf Regen".

"Und Sumatra, ach Gottchen
verreimt sich schon auf Lottchen".

"Selbst Java - ja was soll es? -,
das ist als Reim nichts Dolles".

"Nur Celebes, , wie schon gesagt,
das reimt sich nicht, Gott sei's geklagt".

 

Liedergalgen

Morgenstern ist Konstrukteur
obskurriler Phantomaten,

manchmal aber - bon malheur -
frißt er sie samt Implikaten

und hört nachts, in seltnen Fällen,
wirklich den Polarfuchs bellen,

weil, so träumt er messerscharf,
alles sein kann, was sein darf.

 

Qual...ifikation

Wie wird man ein Rezensent?
Indem man beim Lesen pennt.

 

Vorlesung

Der Professer
weiß es besser.

 

Dem Anreger Ulrich Erckenbrecht

 

Philosophenreise

Horkheimer, Adorno und Benjamin
wollten in philosophische Fernen ziehn.
Sie bestiegen ein metaphorisches Schiff,
das ward zum Begriff
und lief auf ein Riff. -
Da waren sie wieder im alten Berlin.

 

Meisenreise in Ringelnatz

In Hamburg lebten zwei Kohlmeisen,
die wollten nach Australien reisen.
Sie dachten: in Canberra auf der Chaussee
da tun uns vermutlich die Flügel weh.
Und da verzichteten sie weise
auf die ganze Reise.

 

Reisefragen

Was willst du denn in Kanada?
Na einfach: Ich war auch ma da.

Was willst du denn in Australien?
Das wird sich sicher auszahlien.

Was willst du denn in Timbuktu?
Da sinn du, da denk du, da guck du.

Was willst du in Saudi Arabien?
Ich will mit dem Audi durchtrabien.

 

Alles Käse !
Auch diese These.

(nach oben)

 

VOM (EINSTIGEN) LEBEN

 

1947

Am 16. Januar seien in Frankreich Präsidentschaftswahlen. De Gaulle habe seine Kandidatur mit der Begründung abgelehnt, die Verfassung sei zu demokratisch.
Die neuen Lebensmittelkarten der 97. Periode werden ausgegeben, die Periode dauert vier Wochen. Eine Untersuchung ergibt, daß ich unterernährt und stark untergewichtig bin. Es ist wieder sehr kalt. Ein heißes Bad wird ausdrücklich verzeichnet. Von irgendwoher gibt es Mitte Januar zehn Zentner Nußkohle.
Im Rundfunk diskutiert man am runden Tisch über das Thema: Gibt es noch eine Dame? Max Frischs "Versuch eines Requiems" "Nun singen sie wieder" wird zum ersten Mal gesendet. Lektüre von Kleppers "Der Vater", des biographischen Romans über Friedrich Wilhelm I., eines "von äußeren und inneren Nöten gequälten und zerquälten Menschen".
Nach dem "Untertan" von Heinrich Mann gibt es ein Hörspiel "Die herrlichen Zeiten". "Sein ‚Held', der Fabrikbesitzer Dr. Heßling, in allem das genaue Abbild seines Kaisers, ahmt nun kritiklos alles, auch alle Fehler dieses Kaisers nach als ein Beispiel für den größten Teil des deutschen Volkes, das nie fragt, warum, sondern nur sein ‚Jawoll' kennt und mit ‚Jawoll' unter Wilhelm ‚III' in sein Elend ging."
Wieder eine Kältewelle. Die Schulen werden deswegen geschlossen. Der NWDR schreibt ein Preisausschreiben aus: "Was erlebten Sie am 29. Januar 47?".Ich beteilige mich mit einem "trockenen" Bericht. Anfang Februar muß ein Aufsatz über die Kälte geschrieben werden.
"Die Lebensmittelversorgung wird von Tag zu Tag schlechter." In Berlin gebe es bereits 100 Erfrorene. Meine Schwester in Heidelberg zieht Geburtstagseinladungen zurück, da sie kein Stückchen Holz mehr habe. Die Familie wärme sich tagsüber bei Bekannten.
Lektüre von "Der Untergang Berlins" des dänischen Journalisten J. Kronika. Luxemburg hat seine Ansprüche an Deutschland formuliert.
Wolfgang Borcherts Hörspiel "Draußen vor der Tür" wird im Radio uraufgeführt. Sendung einer Reportage über den Hürtgenwald in der Eifel unter dem Titel "Das vergessene Land" : "das Bild einer zerfetzten Landschaft".
Wieder wird der Unterricht eingestellt. Es ist nun Mitte Februar. Am Rosenmontag gibt es Maskenbälle und karnevalistische Sitzungen. Ein Gedeck mit Getränken koste 750 Mark.
Von einer neuen Jugendzeitschrift "Benjamin" wird kurz berichtet. Englische und amerikanische Militärpolizei gehen gegen Nazi-Geheimorganisationen vor.
Die Nacht zum 25. Februar soll die kälteste des Winters werden. Im "Kleinen Theater" wird Léhars "Land des Lächelns" besucht. Und im Kino gibt es den Farbfilm "Das Bad auf der Tenne".
Anfang März beginnt Tauwetter. Gleichzeitig wird ein "Ernährungstiefstand" erreicht. Aber von Verwandten im Hessischen kommt ein "Freßpaket".
Im Nordwestdeutschen Rundfunk gibt es ein Hörspiel von Axel Eggebrecht : "Was wäre wenn...", "eine Rückschau vom Jahre 2047 auf unsere nahe Zukunft." "...eine Bewegung ...aus den Einsichtigen aller Völker [müsse] entstehen", damit man zum "gerechten, wirklichen Frieden der ganzen Welt" komme.
Im Radio wird "über unsachliche Kritik am Engländer gesprochen". Die Engländer hätten sich "als Sieger" "hochanständig benommen". Wir müßten anerkennen, daß wir wieder "freie Meinungsäußerung" haben. Wir hätten nicht nur den Krieg verloren, sondern seien "seit 1933 mit Hitler in den Krieg marschiert".
Ein Freund besucht mich und berichtet von einer Reise nach Holland, das den "Eindruck eines neu aufblühenden Landes" mache. Das Schuljahr ist beendet. Mit dem Zeugnis bin ich zufrieden, aber mit 16 Jahren komme ich wegen der Kriegs- und Nachkriegsausfälle erst in die Obertertia.
Besuch der Generalprobe der Matthäus-Passion . Anschließend Teilnahme an einer "Bibelfreizeit" in München-Gladbach[!]. Die geistlichen und die Laienbetreuer heißen Kuschmi, Kako und Benni, und es wird u.a. über die Frage diskutiert, ob Laienspiel nicht vielleicht Götzendienst sei. Benni hält ein Referat über die katholische Kirche.
In einer Kirche in Düsseldorf spricht der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Landesbischof Wurm: "ein hochgebildeter Mann".
Im Radio höre ich "Parthenope" von Händel: "ein wunderbares Werk". Im Theater gibt es ein Konzert mit Händel, Beethovens "Eroica" und einem Klavierkonzert von Julius Weismann, dessen Klavierpart er selbst spielt: das Werk habe mich "gepackt".
Das neue Schuljahr beginnt Mitte April. Ein neuer Lehrer wird "ein feiner, ehrlicher Mann" genannt, "'Humanist' in des Wortes wörtlichster Bedeutung"."Leider behielten wir H. und J."
Auf einer Pfarrerkonferenz, erzählt uns Pastor Immer, der spätere Präses der Rheinischen Kirche, habe Bischof Wurm sich gegen die Gefahr des Nationalismus gewendet.
In der britischen Zone finden Landtagswahlen statt. Meist Siege der SPD. Aber in NRW ein Vorsprung für die CDU. Profitiert hätten v.a. KPD und Zentrum.
Mit zwei Altersgenossen werden Arbeitspläne für die Gemeindejugend ausgearbeitet. Ich halte dort einen Vortrag über Dürer.
Die Gewerkschaften wenden sich in großen Protestkundgebungen gegen die Hungerrationen.
Meine Mutter verliert Marken für ein viertel Pfund Butter, aber am selben Tag kommt eine Kiste mit Kartoffeln an.
Im Mai ist es schon ausgesprochen heiß. Mitte des Monats wird das Hörspiel mit den Einsendungen zum 29. Januar gesendet, das Ernst Schnabel geschrieben hat. Peter von Zahn spricht vorher über das Preisausschreiben.
Es gibt Kriegsgerüchte. Der erst gewählte Landtag von NRW tritt zusammen. "Man streitet über Geschäftsordnungsfragen." In München findet eine Konferenz aller deutschen Ministerpräsidenten statt. Die Vertreter aus der sowjetischen Zone gehen aber alsbald wieder, "da ihre Wünsche betreffs Behandlung politischer Fragen nicht berücksichtigt wurden".
Im Juni bekommt der Vater in seiner Firma "Liebesgaben aus Schweden". In unserem Garten ernten wir Salat, Melde, Rhabarber und schon ein paar Stachelbeeren.
Der Ernährungsminister von NRW Lübke legt einen Plan "zur endgültigen Sicherung der deutschen Ernährung" vor. Ein neuer Ministerpräsident wird gewählt: Karl Arnold.
Ich lese "Der Herr Kortüm" von Kurt Kluge. Es sei ein Roman weit"über dem Durchschnittsniveau". Kortüm schaue "lächelnd und traurig, erhaben und mitfühlend auf die Welt".
Der erste neue Spielfilm in der britischen Zone soll noch im Juni uraufgeführt werden: Käutners "In jenen Tagen". Eine Ausgabe des Blattes der FDJ "Neues Leben" wird kopfschüttelnd und mit Gelächter gelesen.
Der NWDR sendet eine Inszenierung des Frankfurter Senders von Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" an zwei Tagen. Es habe eine "eindringliche Sprache" und sei "noch immer wirkungsvoll". Aber es laufe auf "völligen Nihilismus" hinaus und ende in "gemeiner Ironie". Des 125. Todestags von E.T.A. Hoffmann wird gedacht und ein Konzert mit seiner Musik kurz referiert.
In Paris findet wieder eine Außenministerkonferenz statt, die Vorschläge für die amerikanische Europahilfe (Marshallplan) machen soll. Sie platzt schon bald, da Rußland Bedenken hat.
In Frankreich wird eine Untergrundbewegung aufgedeckt, die eine "diktaturähnliche Herrschaft" habe errichten wollen.
Unsere Jugendgruppe lernt eine katholische Jugendgruppe kennen, die uns beeindruckt.
Als meistgenannter deutscher Politiker gelte gegenwärtig Alfred Loritz, der die "Wirtschaftliche Aufbauvereinigung" gegründet habe, in Bayern erfolgreich und dort Minister geworden sei. Er habe Internierungslager eingerichtet, sei inzwischen aber seines Amtes enthoben worden. Ein paar Tage später heißt es, L. sei geflohen.
In Berlin sei der SPD-Oberbürgermeister Ostrowski von seiner eigenen Fraktion fallengelassen worden. Zum neuen Oberbürgermeister sei Prof. Reuter gewählt worden, der aber von den Russen nicht bestätigt werde.
Vom Geschichtsunterricht in der Schule wird berichtet: Friedrich II. bleibe Friedrich der Große, Preußen stehe im Mittelpunkt der deutschen Geschichte. Man müsse aber gerade den jungen Menschen die Augen öffnen und ihnen von den "guten, großen Taten friedlicher Arbeit" erzählen.
Die englische Thronfolgerin Prinzessin Elizabeth verlobt sich mit dem Leutnant der Marine Philip Mountbatten.
Im Theaterfoyer findet eine Schülervorstellung von "Kabale und Liebe" statt: "sehr gute, lebendige Darstellung". In der Gemeindejugend veranstalte ich einen Rezitationsabend mit Texten zum Sommer. G.L., ein längst verstorbener Jugendfreund, spielt dazu Mozart.
Zu Anfang der Sommerferien fahre ich zu Verwandten in einem Dorf bei Gießen. Es ist sehr heiß. Im Radio höre ich eine Reportage vom Sportfest der sowjetischen Marine in Moskau. Ein Vetter geht mit mir ins Kino. Wir sehen einen amerikanischen Film über einen englischen Offizier, der im Krieg sein Gedächtnis verloren hat: "Gefundene Jahre". Die Stadt Gießen wird "eine tote Stadt" genannt, die Buchhandlungen böten nichts.
Im Dorf wird Kirmes gefeiert. Ich bereite mich auf die Heimreise vor und muß für die Eisenbahn eine Zulassungskarte haben. Über die Industrie- und Handelskammer in Gießen bekomme ich eine Dienstreise- Bescheinigung und darauf wiederum die Zulassung für den Zug.
In sieben Stunden fahre ich von Gießen nach D.
Holland führt Krieg gegen seine ehemalige Kolonie Indonesien. Der Weltsicherheitsrat setzt die Einstellung der Feindseligkeiten durch.
Ich bitte den Regierungschef von Liechtenstein um Literatur über das Land, die mir auch alsbald zugeschickt wird.
In den Zeitungen gebe es fast nur schlechte Nachrichten. Ein Minister sei Nazi, ein Bischof müsse vor die Spruchkammer, P. Niemöller werde als Judenfeind bezeichnet. Reaktionen des Publikums auf Wochenschauberichte: es lache, wenn z.B. große Fettimporte für das Ruhrgebiet gezeigt werden. Eine Außenministerkonferenz setzt die Erhöhung der Industriekapazitäten der drei Westzonen fest.
Die Schule beginnt wieder. Wir bekommen eine bessere Schulspeisung.
Eine Ordnung für die Gemeindejugend wird entworfen. Der Jugend gehe das Vermögen zu selbständigem Denken völlig ab. Sie spreche nur aufgefangene Schlagworte nach.
Am 1. September wird an den Beginn des Krieges vor acht Jahren erinnert. "Es scheine immer noch einige Leute zu geben (leider meist Leute von Einfluß), die auf einen dritten ‚lustigen' Weltkrieg spekulieren."
Ich sehe den Käutner-Film "In jenen Tagen", die Geschichten eines Autos. Eine Rahmenhandlung und sieben Episoden. Das Auto erzähle die "Geschichte seines Lebens, in dem ihm wirkliche Menschen begegnet sind". Er sei ein wahrer Film und darin liege "seine Größe".
In der Gemeindejugend gibt es nach einigen Streitigkeiten Neuwahlen des Arbeitskreises. Nun sei ein "wunderbares Trio" zusammen. Sofort habe es auch Auseinandersetzungen über rechtliche Fragen gegeben. Gehe das so weiter, wolle ich zurücktreten.
Vom Schwarzen Markt am Hauptbahnhof wird geschrieben, dann von den Unsinnigkeiten der Bürokratie.
Zum dritten Mal gebe es eine UNO-Vollversammlung. Die USA wollen das Vetorecht abschaffen, die Sowjetunion besteht auf der Beibehaltung.
P.Niemöller habe in der Marienkirche gesprochen, und zwar über die Lage der Kirchen in den USA. Er wollte zeigen, was wir von den Amerikanern lernen können und "was unsere Gebetsaufgabe für die Amerikaner" sei. Die amerikanischen Kirchen seien jung, doch die dortigen Predigten seien "keine Erweckungspredigten, sondern Vorträge über das Thema ‚Wie werde ich glücklich und fromm?'" Hinterher sei gesagt worden, der Vortrag sei reine Propaganda für Amerika. Das sei das typische Urteil eines Durchschnittsdeutschen.
Aus der Ostzone flüchteten sowohl Prominente wie hunderttausende von "Normalverbrauchern" in die amerikanische Zone.
An Thomas Mann wird kritisiert, daß er Luther als "Vorbereiter des Preußentums, ja sogar des Nazismus" bezeichne. Auch verabscheue er Luther wegen dessen Musikliebe. Musik sei der "Urgrund des Dämonischen". Dies sei eine Meldung aus der Kirchenkanzlei von Schleswig-Holstein.
Die Reden von Marshall und Wyschinski vor der UNO-Vollversammlung. Nach den Reden habe man "ein sehr scharfes ‚Knacken' gehört. Es war etwas entzweigegangen... Ein Riß war entstanden im Gebäude der Einigkeit."
Der Führer der bulgarischen Opposition Nikola Pettkoff sei wegen Hochverrats hingerichtet worden. Er habe seine Tapferkeit im Kampf gegen die pronazistische Königsregierung gezeigt. Die jetzige unter dem Ministerpräsidenten Dimitroff, dem Angeklagten im Scheinprozeß wegen des Reichstagsbrandes, verhalte sich nun nicht anders.
Einiges über ein Bändchen mit Flüsterwitzen aus der Nazizeit .
Der bayrische Landtag habe ein Gesetz beschlossen, daß jeden bayrischen Bürger berechtige, Kriegsdienst zu verweigern.
In Zeitungen lese man Anzeigen ausländischer Lebensmittelexporteure, in denen die Deutschen aufgefordert würden, ihre ausländischen Verwandten um Lebensmittelpakete zu bitten. Dann heiße es oft, Bettelbriefe aus Deutschland seien zwecklos.
Das große Problem unserer Ernährungswirtschaft sei die Versorgung mit Kartoffeln. Alle Berechnungen seien durch die magere Kartoffelernte über den Haufen geworfen.
Die Jugendkonzerte des Winters haben begonnen. Ich lese Faust I und gehe in die Volkshochschule mit einem Kurs über große europäische Staatsmänner, der mit Richelieu beginnt.
Der NWDR gibt die Namen der Mitarbeiter bekannt, die wegen Fälschung von Fragebogen vor Gericht gestellt wurden,unter ihnen der Kommentator der Nürnberger Prozesse.
Der "Pinguin", eine von Kästner herausgegebene Jugendzeitschrift, hat seinen Lesern 17 Fragen über eine Weltregierung gestellt. Ich beteiligte mich und fand etliche Antworten von mir abgedruckt.
Die britische Militärregierung veröffentlicht im Oktober die neue und endgültige Demontageliste.
Über die eigenen Gedichtversuche heißt es, sie sollten nicht Kunst sein, sondern v.a. "Anklage gegen den Krieg". Über viele Konzertbesuche wird berichtet. Auf einer sogenannten Arbeitskreistagung der evangelischen Gemeindejugend der ganzen Stadt sei es um "brennende Fragen" gegangen: Schwarzer Markt, Verhältnis zu Mädchen, Kohlenklau, Verhältnis zu den Eltern. Ab November wird unter meiner "Regie" ein Krippenspiel einstudiert. Der Herausgeber der von Kästner geförderten Münchener Schülerzeitschrift "Das Steckenpferd" fordert mich auf, "Berichte und Aufsätze über das Jugendleben unserer Zone zu verfassen".
Ein "junger, heimatloser Schlesier", im August aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen, wird zum Essen eingeladen. Er erzählt, daß er vier Jahre in Kasachstan Gefangener war, wo es täglich 600 Gramm "zähes, schweres Russenbrot" und zweimal einen Liter Wassersuppe gab.
Da die Heizung nicht in Ordnung ist, wird der Unterricht auf drei Kurzstunden zu je 30 Minuten reduziert. Begeistert wird von einer Volkshochschulvorlesung "Wege zum vertieften Verständnis der deutschen Sprache" berichtet.
Der englische Außenminister Bevin habe nach einer Konferenz der vier Mächte erklärt, der einzige Punkt, über den vollständige Einigkeit erzielt worden sei, sei der der Uneinigkeit.
Als Sonderzuteilung für Weihnachten erhalten wir je ein Pfund Zucker. In der Schule gibt es am Nikolaustag eine halbe Büchse Erdnüsse und 12 Kekse.
Die Spielgemeinschaft unserer Schule und des Mädchengymnasiums führt Schillers "Fiesco" auf : "eine recht beachtliche Leistung".
Die Teilung Palästinas sei von der UNO beschlossen worden. Aber die Araber rüsteten zum Krieg ; sie "schwören allen Juden blutige Rache". In Berlin tage ein Volkskongreß, der von der SED beherrscht werde. Die habe ihn zur "gesamtdeutschen Repräsentation" proklamiert.
Lektüre von Frank Thieß' "Der Leibhaftige", "ein Sittengemälde der Weimarer Zeit".
Als Weihnachtsgaben werden "ein Oberhemd, Strümpfe und Unterwäsche" verzeichnet. Das Krippenspiel wird mehrmals aufgeführt. Die Fettration beträgt 150 Gramm im Monat.
Wir wollen, so am 31. Dezember, "auf ein Jahr des wirklichen Friedens wieder hoffen".

 


(nach oben)

 

Nummer 1 (März 2002): s. Archiv

Dialog mit einem Bundespräsidenten - Dialog mit einem Fraktionsvorsitzendem - Dialog mit einem Bundestagspräsidenten (Variation) - Dialog mit einer Bundesjustizministerin

Nummer 2 (Mai / Juni 2002): s. Archiv

Fünfzig Jahre [nach dem Abitur].Eine Rede - Erfurt im "Spiegel" - Erfurt für Medienonkel - Ursprünge unserer Gewalt - Die Frage der Gewaltdarstellung - Richterin Salesch - Meseritscher - Was die Medien sagen - Korruption 1 und 2 - Wirtschaft und Scham - Wozu Politik? - Epitaph - Von Menschen und Wölfen - Praktische Theologie - "Schönen Karfreitag" - Koran-Anthologie

Nummer 3 (November / Dezember 2002): s. Archiv

Nach der Wahl - Aus "Mahagonny" von Brecht - Ernste Worte - Aus "Mahagonny" von Brecht - Die alte Großmutter und der theologische Enkel Germanistik und die Lage - Aus "Mahagonny" von Brecht - VON DEN MEDIEN "Metapher als Titel" von Karl Kraus - Alles klar - Apposition mit als - Nachdenklichkeiten -Ein Mediensprachgeschädigter - Journalistische Distanzlosigkeit - Journalistisches Mittelalter - Richtigstellung - Wenn Journalisten nicht fragen, sondern von ihrem Fragen reden - Schlaraffenlandjournalismus - Medientreffen - Was für uns vorgesehen ist. - VON DER POLITIK: Was die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer in einer als "fulminant" bezeichneten Rede unter anderem gesagt hat - Wandel durch Annäherung - Ins Grüne - VON DER BILDUNG: Die Gebildeten unter den Verächtern der Bildung - Eine Zuschrift - VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1944 - Sprache im "Spiegel".

Nummer 4 (März/ April 2003): s. Archiv

Die Gesellschaft der Gartenzwerge (Mit Zitaten aus der "Dreigroschenoper" und dem "Spiegel") - VON DER POLITIK: Deutsche Friedenspolitik - Demokratie in Deutschland (und anderswo) - Der Porzellanverkäufer und der Taxifahrer - Möllemann - Die Achtundsechziger erschöpft? - VON DER GESCHICHTE: Bürger Hitler - Zwei Bücher gegen die politische Korrektheit - VON DER GEGENWART: Die Stadt, die Sauberkeit und Häussermann - Bei nochmaliger Durchsicht (von Walter Kempowski) - VON DER LITERATUR UND DER SPRACHE: Martin Walser, Tod eines Kritikers (mit zwei autobiographischen Notizen) - Wie die Präsidentin spricht - VON STÄDTEN UND DENKMALEN: Wiesbaden und Umgebung (im Winter) - Rühmungen - VON DEN MEDIEN: Das vollkommen Idiotische - Wichtige Nachricht - Wie ein ARD-Intendant redet, wenn er gefragt wird - Uns' Heike -VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1945

Nummer 5 (Juni / Juli 2003): s. Archiv

Inhalt: VON KRIEG UND FRIEDEN: Der Westen und der Islam. Kultur versus Religion - Parallelwelten - Ein Sternenmärchen - Eine Fabel - Wann demonstriert werden muß - Kleinigkeiten - Was sagt man öffentlich, wenn ein Krieg anfängt - Eine Fabel - Friedens-Deutschland und der Nahe Osten. Ein Capriccio - VON DER GESCHICHTE UND DER GEGENWART: [Tagebuch 9.2.1963] - Zum 17. Juni 1953 - Zwei Aphorismen - Der "Spiegel" und die Lage der Nation - VON DEN DEUTSCHEN: Aufklärung, Reaktion, Homosexualität - Zum Ethos der Deutschen - Berlin und seine Unruhen - VON DEN MEDIEN: Die Medien vor 75 Jahren (von Karl Kraus) - Kleiner Beitrag zum Journalisten-Knigge - Drei Aphorismen - VON DER JUSTIZ: Justiz bei der Arbeit - Eine Fabel - VON DER THEOLOGIE: Sprich nur ein Wort - Zwei Aphorismen - VOM ALLTAG: Ein Prozeß in Deutschland - Ein Aphorismus - VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1946.





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