Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

 Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 8 (Juli / August  2004)

 

  

  

  

INHALT: VON DER SPRACHE: Das Sprachdenken der Romantik – Nietzsches Kritik an der Sprache – Friedrich Max Müller: Sprache und Denken. VON DER LITERATUR: Satire. Eine Ergänzung. VON DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN: Der siebenundzwanzigste September. Zu Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr. 1960 – 2000“ – Das dicke DDR-Buch. VON DER GEGENWART: Die Rechtschaffenen – Was man in der Bundesrepublik Deutschland, dem bisher freiesten Lande auf deutschem Boden, nicht darf und was man darf – Köln in zwei Tagen. VOM JOURNALISMUS: Bildungsbürger – „Staatschef“ – Der alltägliche Feuilleton-Tinnef – Presseclub – Sie lesen „Die Zeit“ nicht mehr?  VOM EINSTIGEN LEBEN: Literaturfeiern in Österreich oder Karl Kraus und Robert Musil vor dreißig Jahren (Tagebuchnotizen) – 1949. Neue Titel.

  

  

VON DER SPRACHE

  

Das Sprachdenken der Romantik

  

Herders Ursprungstheorie will nicht historisch die Entstehung menschlicher Sprache bestimmen, sondern sagt vor allem, daß wir in dem Augenblick, da wir von menschlicher Reflexion sprechen und damit von einer Philosophie des Geistes zu einer des Bewußtseins übergehen, dies nur dann sinnvoll tun können, wenn Reflexion als sprachliche verstanden wird.

Humboldt universalisiert den Herderschen Gedanken zu dem der Sprachlichkeit , die als die Weise der menschlichen Weltdarstellung, ja sogar der Weltherstellung zu verstehen ist, und zwar darum, weil sich das alte Konzept der Sprache als Begriffssprache mit dem einer Sprache der Kunst vereinigt, also die Ästhetik sich nicht mehr im Felde der bildenden Kunst vor allem artikuliert, sondern umgekehrt die bildende Kunst sich als ein Zweig künstlerischen Sprechens erweist, und dieses wiederum die sinnliche Seite der Sprachlichkeit überhaupt repräsentiert.

Die Frühromantik spricht nicht darum lediglich verstreut von der Sprache, weil ihr Poesie und Philosophie die eigentlich zentralen Begriffe des Denkens wären, sondern weil sie in diesem Interesse ihrer ästhetischen,  aber zugleich erkenntniskritischen und geschichtsphilosophischen Reflexion die Sprache als Ursprung alles dessen  bereits immer voraussetzt. Ihre Ästhetik also ist nicht mehr Theorie der bildenden Kunst wie bei Kant, Schiller und Goethe, aus der dann Literaturtheorie abgeleitet wird, sondern vielmehr ist sie von vornherein Literaturtheorie und darin auch Erkenntnistheorie, die wiederum in der Sprache und ihrem Sprachdenken fundiert.

Der junge Friedrich Schlegel, der ja am Ende seiner theoretischen Arbeit eine „Philosophie der Sprache und des Wortes“ vorträgt, beginnt mit den Athenäums-Fragmenten (1798) über „progressive Universalpoesie“, in denen Geschichte, Philosophie und Poesie konvergieren, und zwar vor dem Horizont der Sprache. Sie nimmt er z.B. auf in der alten „Lehre vom Geist und Buchstaben“, die ja auch das Evangelium mitbestimme. Sie sei, sagt Schlegel, „darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann“ (Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ausgew. v. C.Grützmacher. Reinbek b.Hamburg 1969. Band 1, S.115). Er läßt sich also auf die Sprache  nicht ein im Sinne einer Polemik von der Überlegenheit des Geistes, sondern zitiert sie als Ausweis  der Verbindung von Denken und Sprechen. Daß auch  Gedanke und Gedicht sich verbinden, weil sie aus dem gemeinsamen Boden der Sprache  erwachsen, der niemals mit einer Begriffssammlung verwechselt werden darf, ist einer der Grundsätze des romantischen Denkens. Dieser Boden ist fruchtbar, weil die Sprache als Sprachgeschichte in ständiger Bewegung gewissermaßen aus sich selbst neuen Sinn hervortreibt, aus sich selbst heraus bereits Philologie und Philosophie ist. „...ich wollte zeigen,“ heißt es in dem Aufsatz „Über die Unverständlichkeit“ (1800), „daß die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht werden...“ (2,238)

Zur gleichen  Zeit  nennt  Novalis in den „Blütenstaub“-Fragmenten (1798) „die Sprachlehre...die Dynamik des Geisterreiches“ (1,51). Philologie als eine Art von Selbstverständnis der Sprache leistet schon das, was erst Philosophie und Poesie  zu leisten scheinen: den produktiven Prozeß des Geistes. Das ist nur denkbar, wenn in der Sprache selbst ständig eine Art von Reflexion stattfindet, dem Denken und Dichten eher nachfolgen, als daß sie sie hervorbringen, was ja auch nur hieße, es gäbe so etwas wie ein im Ursprung sprachunabhängiges Denken und Dichten, die sich dann der Sprache bedienen.

Im „Allgemeinen Brouillon“ des Novalis (1798/99) wird von einer „Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten“ (Novalis, Schriften. Hrsg. v. P. Kluckhohn. Leipzig o.J. Band 3,S. 85) gesprochen und hinzugefügt: „eine der Grundideen der Kabbalistik“. Gleich anschließend heißt es: „Die Magie ist von Philosophie etc ganz verschieden und bildet eine Welt – eine Wissenschaft – eine Kunst für sich“ (3,85). Es wird also nicht magische Einheit von ‚Sprache und Sache’ behauptet, die in der Kabbala zumindest durchschimmert, wohl aber eine „Sympathie“, eine so intensive wie innige Beziehung zwischen „Zeichen“ und „Bezeichnetem“, die späteres Denken als zufällig behaupten wird.

Wie die funktioniere, wird nicht gesagt, doch hat sie, folgt man dem „Monolog“ des Novalis (ca 1798), mit der analogen Struktur von Welt (Wirklichkeit) und Sprache zu tun. „Mit der Sprache“ sei es „wie mit den mathematischen Formeln“: „Sie machen eine Welt für sich aus“(2,431), heißt es dort. Mathematik wie  Sprache werden also gleichermaßen als „Welt für sich“ bestimmt. Von ihnen schreibt Novalis: „Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge...nur in ihren freien Bewegungen äußert sich  die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maßstab und Grundriß der Dinge.“ (2, 431) Es wird also nicht die Sprache als l’art pour l’art verstanden, sondern sie (wie auch die Mathematik) gerade in ihrer spielerischen Freiheit als Weltdarstellung so sublimer wie exakter Art behauptet. Darum auch wird ein Sprecher gefordert, nämlich der Poet, der „ein feines Gefühl ihrer Applikatur, ihres Takts, ihres musikalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihrer innern Natur vernimmt, und danach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Prophet sein...“(2,431)

Der gemäße Umgang in und mit der Sprache kann also nach Novalis niemals auf instrumentale Weise gelingen. Nicht das mediale Hantieren mit der Sprache macht den „Grundriß der Dinge“ sichtbar, es bedarf dazu eines ‚philologischen Poeten’, eines Sprechers, der aus der Sprache selbst denkt und dichtet. Doch Novalis nimmt schon die journalistische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert vorweg,  wenn er  den „Haß“ apostrophiert, „den so manche ernsthafte Leute gegen die Sprache haben“ (2, 430).

Einige Jahre danach konkretisieren und spezifizieren zugleich Männer wie Jean Paul und Adam Müller die romantische Sprachreflexion. Jener in der „Levana“ (1807) innerhalb der Pädagogik,  dieser in den „Zwölf Reden über die Beredsamkeit“ (1816), die er in Konkurrenz mit Friedrich Schlegel schon 1812 in Wien vorgetragen hatte.

Jean Paul beginnt das Kapitel „Sprache und Schrift“ in der „Levana“ mit dem Satz: „Sprache-Lernen ist etwas Höheres als Sprachen-Lernen“ (Jean Paul, Werke. Hrsg. v. N.Miller. München 1963. Band 5,S.827), den zu verstehen man statt der Kinder deren Erziehern aufs dringlichste wünschen möchte. Der gegenwärtige Eifer, das Kauderdeutsche zum Kauderwelschen und Kauderenglischen frühzeitig zu erweitern, wird, 200 Jahre vorwegnehmend, als hilflose Technik gegeißelt, insofern das Erlernen der Fremdsprachen nicht aus der Entwicklung  des Kindes zum Sprachwesen hervorgeht. 

Jean Paul tritt bei der Erläuterung dieser Entwicklung durchaus einige Schritte gegenüber den Erkenntnissen und Ahnungen der romantischen Zeitgenossen zurück, wenn er noch einmal von der Benennungsfunktion der Sprache handelt: „Durch Benennung wird das Äußere wie eine Insel erobert und vorher dazu gemacht...“ (5,828) Das sagt er aber nicht, um jene Dichotomie von Sache und Sprache, die das spätere 19. Jahrhundert bestimmen sollte, aufzureißen,  sondern um das „Zeige-Wort“ als einfachstes Beispiel für die Sprache als den „feinsten Linienteiler der Unendlichkeit, das Scheidewasser des Chaos“ (5,828) aufzurufen, also Weltentstehung als Differenzierung  (qua Sprache) deutlich zu machen und die Namengebung gerade nicht auf einen Akt der Bezeichnung des schon vorhandenen Unbezeichneten zu reduzieren. Denn „dem stummen Tiere ist die Welt ein Eindruck, und es zählt aus Mangel der Zwei nicht bis zur Eins“ (5,828). 

Adam  Müllers „Reden über die Beredsamkeit“ differenzieren die romantische Sprachvorstellung hinsichtlich des Umgangs des Erwachsenen mit der Sprache und hinsichtlich des Umgangs mit der deutschen Sprache als eines Beispiels natürlicher Sprache, aber vor allem auch als der konkreten, nämlich historischen Sprachlichkeit, an der seine unmittelbaren Zeitgenossen sich zu orientieren und abzumühen haben. Er spricht vom „Ringen mit der Sprache“ in Deutschland, das „ein unglückliches, aber rührendes Bestreben“ sei, „welches nie gelingen kann“, „weil der einzelne mit seinen Gedanken weit vorausgelaufen ist der Nation mit ihrer Sprache...“(Adam Müller, Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Hrsg. v. W.Schroeder und W.Siebert. Neuwied und Berlin 1967. S.303). Er benennt dieses Bemühen so: „...unser Gedanke reicht weiter als unsre Sprache.“ (303) Der Akzent liegt auf „unsre Sprache“, denn  es geht Müller gar nicht um die Behauptung eines vorsprachlichen Bewußtseins. Die Sprache sei, sagt er, „das göttliche Siegel, wodurch alle wunderbaren, eignen und weitläufigen Gedanken des einzelnen Menschen erst zu ernsthaften und wahrhaftigen Gedanken werden.“ (303) Der Gedanke werde erst durch das zum Gedanken, „wodurch der Mensch zum Menschen wird“, nämlich durch die Sprache. Der Deutsche aber sei „in einem unbequemen Verhältnis zur Sprache“, was zur Folge habe, daß wir in „dem einen Augenblick“ „mit der Sprache despotisch und eigenmächtig“ „hantieren“, „in dem andern Augenblick“ aber hantiere „dafür die Sprache mit uns“, verwandle „wider unsern Willen die Gedanken unter unsern Händen, zähmt sie, bändigt sie.“ (304) Dem stellt er die Franzosen gegenüber, die in einem „bequemen, schwebenden Verhältnis“ zu ihrer Sprache stünden, so daß „die Seele“, von der doch Schiller klage, daß, spreche sie, sie schon als Seele nicht mehr spreche, im Gegensatz zum Deutschen „genau im Worte Platz“ habe(304).

Adam Müller begreift hier schon im ‚Hantieren mit der Sprache’ die Willkürlichkeiten des gelehrten, vor allem philosophischen Diskurses wie im ‚Hantieren der Sprache mit uns’ die journalistische Phrase, aus der jede Sprachreflexion  entwichen ist.

Es gehe nun darum, wieder zur „Harmonie der Sprache mit dem Gedanken“ zu kommen (304). Denn, heißt es in einem Dictum, das an eines des viel späteren Wittgenstein erinnert, „die Grenzen der Sprache sind die göttlichen Grenzen, die allem unserm Tun und Treiben angewiesen sind; und diese Grenzen sind keine Mauern; sie wachsen wie die innerliche, treibende Kraft unsrer Seele wächst.“ (305) So beginnt er mit den ersten Überlegungen zu einer deutschen Redekunst. Deren Maxime heißt ihm: „Jede wahre Rede ist...Gespräch: in dem Munde des einen Redners sprechen notwendig zwei, er und sein Gegner.“(308) Die Idee des deutschen Dramas sei das Gespräch, ebenso, wie mit dem Gespräch alle Wissenschaften begännen. Es führe dazu, daß „die einzelnen Sprecher verstummen, die Systeme, die sie in hoffärtiger Anmaßung selbstherrschend aufgetürmt, versinken, aber das Wort selbst, das lebendige Wort, das Gespräch und die darin als Seele waltende Wahrheit“ als ewige hervortrete (309).- Friedrich Schleiermacher schließlich bedenkt Hermeneutik von der Sprache her, wie sie im Denken der Romantik erscheint. In einem „Brouillon zur Ethik“(1805/06)  geht er davon aus, daß es „ohne Sprache...kein Wissen und ohne Wissen keine Sprache“ gebe (F.D.E.Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Hrsg. v. M.Frank. Frankfurt/M. 1977.S.364). „Die Sprache ist mit dem Wissen zugleich gegeben als eine notwendige Funktion des Menschen...“ (367) „Akte des Sprechens, denen kein Wissen vorangegangen ist,“ ließen „die Sprache in die Sphäre des Mechanismus zurück“fallen. „So entsteht in der Sphäre des gemeinen Lebens das Formelwesen“. (367) Wissen ist hier nicht positives, sondern philosophisches Wissen, Erkenntnis, - Formelwesen, die von „Worten ohne Anschauung“ geprägte konventionelle Kommunikation, wie sie in besonders  drastischer Weise in  der Presse zutage  tritt. Aber Schleiermacher wehrt sich auch gegen Sprache, die „dem mathematischen Calculus“ ähnlich sei. „Die wahren produzierenden Philosophen haben sich nie an eine vorgefundene Terminologie gehalten.“ Höheres Erkennen entwickle sich allmählich  „aus dem gemeinen Vorstellen“, wie es der „höhere Geist der Sprache“ tue. So seien „Philosophie und Philologie ...innig verbunden“ (368), heißt es in großer Übereinstimmung mit dem Sprachdenken der Frühromantiker, das auch bei ihm als eines figuriert, das in der Poesie gipfelt, die wiederum der sprachlich bewußten Hermeneutik bedarf. 

  

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Nietzsches Kritik an der Sprache 

  

Etwa zwischen 1840 und 1870 verändert sich die Sprachreflexion. Was durch Goethezeit und Romantik eingeleitet schien, wird durch die wissenschaftlich-technische und die publizistische Entwicklung angehalten. Sprache wird nun als bloßes Instrument  der positiven Wissenschaften wie des Journalismus verstanden. 

Die Spracherfahrung als Erfahrung des zeitgenössischen Sprachgebrauchs, die schon Schopenhauer  zu seiner Kritik  an der „methodisch betriebenen Verhunzung der deutschen Sprache“ geführt hatte, wird seit Nietzsche zum Ausgangspunkt  und Impetus einer Sprachkritik als Kritik an der Sprache, die allerdings bei ihm schon einen universellen Aspekt bekommt.

In dem erst aus dem Nachlaß veröffentlichten Aufsatz von 1873 „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ geht er vom „menschlichen Intellekt“( Friedrich Nietzsche, Werke  in drei Bänden. Ed. K.Schlechta. München 1966.Band 3. S. 309) aus, der vor allem aus der Verstellung lebe, die gar nicht verstehen lasse, wie es überhaupt einen „Trieb zur Wahrheit“(310) geben könne. Dabei handle es sich  freilich nur um eine Fixierung, eine Setzung, der es um „eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge“ (311) gehe, wobei die „Gesetzgebung der Sprache“ „auch die  ersten Gesetze der Wahrheit“(311) gebe. Schon hier taucht das Grundproblem allen Skeptizismus auf, nämlich seinerseits durchaus wahre Sätze jenseits der genannten Konventionalisierungen zu finden. Auch wird nun nicht Verstellung, sondern eine bestimmte Weise von Wahrheitssuche, nämlich die der Konventionalisierung  an den Anfang gestellt, wobei es dem Menschen freilich nur um „die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit“ (311) gehe, nicht aber um die „reine folgenlose Erkenntnis“, also die eigentliche Wahrheit, von der Nietzsche nicht sagt, wie sie denn erscheinen könne, von der der Aufsatz aber  immerhin einige Hinweise enthalten soll. Doch die „Konventionen der Sprache“ (311) enthalten sie eben gerade nicht, denn ein Wort sei immer nur „die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“ (312). Daraus auf „eine Ursache außer uns“ (312) zu schließen sei „Resultat einer falschen und unberechtigten  Anwendung des Satzes vom Grunde“(312). Bei der Sprache komme es nie „auf die Wahrheit“(312) an, es gehe um „Relationen der Dinge zu den Menschen“ (312), zu deren Ausdruck Metaphern gebraucht würden, und zwar immer „die kühnsten“(312). Nietzsche kommt hier zu einer Wahrheit, freilich zu einer trivialen, nämlich der Anthropomorphie der Sprache, die die ‚Richtigstellung’ der Kantischen Anthropomorphie von Raum und Zeit ist.

Wir besäßen „nichts als Metaphern der Dinge“(312), und das „ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher,  der Philosoph“ arbeite und baue, stamme „nicht aus dem Wesen der Dinge“(313). 

Er geht dann auf die Sprache als Begriffssprache ein, wobei aus dem Individuellen der Metapher durch „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ eben der Begriff entstehe. Wissenschaftliche Wahrheit sei also nichts anderes als „ein bewegliches Heer von Metaphern“ (314). Das bedeutet freilich nur die Bindung des Begriffs  an die Sprache, ein Gedanke, der bereits, wie sich bei Mauthner in aller Breite zeigt, den Positivismus der Tatsachen voraussetzt, jenes Objektive, das Nietzsche zumindest ganz nahe an das ‚Ding an sich’ heranrückt, was für Kant ganz undenkbar gewesen wäre. 

Der „große Bau der Begriffe“ diene lediglich dazu, den Menschen abzusichern gegen die Täuschungen des Eindrucks, doch bleibe der Begriff das „Residuum einer Metapher“(315). So würden auch die an sich unverbrüchlichen  „Zeit- und Raum-Vorstellungen“ (318), deren apriorische Sprachlichkeit Nietzsche nicht sieht,  nachgeahmt auf dem „Boden der Metaphern“(318). 

Am Bau der Begriffe arbeite gemäß der Sprache die Wissenschaft, die aber immer bedroht werde  durch „ganz anders geartete ‚Wahrheiten’“ (319), die von „furchtbaren Mächten“ (319) ausgingen. 

Interessanterweise ist für Nietzsche aber der „Trieb zur Metaphernbildung“ (319), also die Sprachbildung, ein „Fundamentaltrieb des Menschen“ (319), den aufzuheben bedeute, den Menschen selbst aufzuheben. Jener Fundamentaltrieb aber realisiere sich eigentlich erst im Felde des Mythus und der Kunst.

In einer eigentümlichen  Volte stellt Nietzsche seine gesamte Argumentation aber wieder in Frage, als er mitten in seinem Aufsatz  gleich nacheinander sagt, auch der Gegensatz von Individuum und Gattung entstamme „nicht dem Wesen der Dinge“ (314), wenn man auch nicht wagen dürfe zu sagen, „daß er ihm nicht entspricht“ : „das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil“ (314). Er bemerkt plötzlich die (notwendige) Sprachlichkeit seiner eigenen Thesen und problematisiert  diese darum.

Wenig später greift Nietzsche aber im ersten Werk des Umbruchs , in „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878) auf seine sprachkritischen Thesen zurück. Hier bestreitet er abermals die Möglichkeit der Erkenntnis durch Sprache. In einem der ersten Aphorismen bereits  wird die Sprache als „vermeintliche Wissenschaft“ ( Bd 1, S. 453)disqualifiziert. Der Mensch habe geglaubt, „in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben“ (453). „Sehr nachträglich – jetzt erst – dämmert es den Menschen auf, daß sie einen ungeheuren Irrtum in ihrem Glauben an die Sprache propagiert haben“(453). Aber – und wieder gibt es eine gedankliche Volte – es sei „zu spät“, und zwar „glücklicherweise“, „die Entwicklung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig“ zu machen (453). Von diesem Aphorismus sagt später Fritz Mauthner, daß er „fast“ einen seiner „Grundgedanken“ ausspreche (Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd 1. 3. Aufl. Leipzig 1923. S. 367).

In Nietzsches Desillusionsdenken ist die Sprache nur ein Scheinwert  neben anderen, obwohl er die ‚Umwertung aller Werte’ von der Behauptung des zitierten Aphorismus her auf Sprachkritik hätte gründen können.Die Umwertung der Sprache als eines illusionären Erkenntniswerts vollzieht sich im Lob der Rhetorik und des Stils, die nicht auf Wahrheit, sondern auf Wirkung zu befragen seien. So rühmt sich Nietzsche in der Epoche der Prosa als „Erfinder des Dithyrambus“(Friedrich Nietzsche, Werke. Krit. Gesamtausgabe. Hrsg. v. G.Colli und M. Montinari. Abt Vi, Bd 3.Berlin 1969. S.343). Aber auch die Prosa selbst soll sich an der „Lehre vom besten Stile“ orientieren, durch die der „Ausdruck zu finden“ sei, „vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt“(Abt. IV, Bd 3.Berlin 1967. S. 231). Nietzsches Plädoyer für Rhetorik unterbricht die Tendenz auf eine Prosa, in der sich Sachgehalt und individueller Ausdruck vermitteln, wie sich das in Humboldts Bemerkungen zur Prosa andeutete. Trotz Zarathustras Warnungen vor den Dichtern, die „zuviel lügen“(Abt. VI, Bd 1. Berlin 1968. S.159) und schon damit auf Rhetorik festgelegt werden, wird Nietzsche zum Propagator eines selbstzweckhaft artistischen Stils, dessen tägliches Erscheinen schon zu seiner Zeit die Produkte eines gewandten Journalismus sind oder es doch wenig später sein werden. Daß er den aber trotz seines Lobs der Rhetorik als „permanenten blinden Lärm, der die Ohren  und Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt“(Abt IV, Bd 3. Berlin 1967. S.159), charakterisiert, ist ein weiteres Paradox in Nietzsches Denken, das aber deutlich macht, in welche Richtung es mit einem Sprachgebrauch geht, der doch mit der Behauptung angetreten war, durch Nachricht und Meinung Aufklärung durchzusetzen.

  

  

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Friedrich Max Müller: Sprache und Denken

  

Die Durchsetzung des Positivismus seit Comte hat im 19. Jahrhundert das Sprachdenken seit den vierziger Jahren in den Hintergrund gedrängt. Und es gehört zu den fast kuriosen Folgen dieser Entwicklung, daß trotz aller erkenntnistheoretischen Bemühungen die naive Vorstellung von den Tatsachen, den Fakten, wie sie eben im Positivismus sich bezeugt, bis heute den breiten Vordergrund der Szene beherrscht, nicht zuletzt deren Mediensektor, der in jeder Nachrichtensendung von Fernsehen und Rundfunk, in jedem Nachrichtenteil der Tagespresse von  „Fakten, Fakten, Fakten“ bestimmt wird. Solange der täglich agierende Journalist nicht einmal die Anfangsgründe des Sprachdenkens der Moderne, also seit dem 18. Jahrhundert, zur Kenntnis nimmt und darum auch nicht weiß, daß jenes ganz unmittelbar sich auf sein Schreiben auswirken müßte, solange bewegt sich die Dominanz der Medien auf einer völlig ungesicherten Basis.

Der Positivismus hat natürlich auch die Sprachwissenschaften stark beeinflußt, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts nach Humboldt, Schleiermacher und den Brüdern Grimm und deren Psychologisierung in den fünfziger und sechziger Jahren seit den Siebzigern mit der junggrammatischen Schule sich einem Positivismus der „Sprachtatsachen“ verschreiben, die zwar nur ein analoger Begriff sein können, aber als Wort kennzeichnend sind für das Bewußtsein der Epoche, nämlich der des späten 19. Jahrhunderts.

Hermann-Josef Cloeren und Siegfried J. Schmidt haben schon Anfang der siebziger Jahre eine Reihe von Autoren dieser Jahre vorgestellt, die sie als Sprachkritiker begriffen haben (Philosophie als Sprachkritik. Textauswahl.2 Bde. Stuttgart 1971).  Unter ihnen fallen neben späten Zeugen des Sprachidealismus (Reinhold) und den frühen eines Sprachpositivismus, die sich v.a. an Hegel ärgern (Gruppe, Hermann) Denker wie Gerber, Müller und Runze auf, von denen Gerber als Schuldirektor und Runze als Theologieprofessor keine  Fachleute im strikteren Sinn waren, Müller zwar ein anerkannter Indologe war, aber als Deutscher fern in Oxford lehrte.

Gustav Gerber hat sich sowohl um generelle Fragen der Sprache (Die Sprache und das Erkennen. Berlin 1884) wie auch um das Verhältnis von Sprache und Kunst ( Die Sprache als Kunst. Bd 1. Berlin 2.Aufl. 1885) bemüht. Ich verweise auf die Arbeit von Michael Thalken, Ein bewegliches Heer von Metaphern. Sprachkritisches Sprechen bei Friedrich Nietzsche,  Gustav Gerber, Fritz Mauthner und Karl Kraus. Frankfurt/Main 1999. 

Georg Runze hat eine „linguistische Erkenntnistheorie“ postuliert und eine Sprachkritik als Metaphilosophie (S.J. Schmidt), wie er sie v.a. in „Sprache und Religion“ (Berlin 1889) dargestellt hat.

Wir konzentrieren uns im folgenden aber auf Friedrich Max Müller und seine frühere Versuche zusammenfassende und erweiternde Arbeit „Das Denken im Lichte der Sprache“ (Leipzig 1888),  die mit einer resignativen  Reflexion einsetzt: „... nicht nur sind die in diesem Buche abgehandelten Gegenstände jetzt aus der Mode, sondern die darin vertretenen Ansichten laufen der Strömung der öffentlichen Meinung entgegen“ (Philosophie als Sprachkritik. Textauswahl II. Hrsg. von S.J. Schmidt. Stuttgart 1971. S. 61). „Aus der Mode“ sind sie, weil sie sowohl den damals (und heute) geläufigen Tendenzen des Positivismus aber auch des Darwinismus, dessen Verdienste Müller durchaus sieht, entgegen sind. Die „Strömung der öffentlichen Meinung“ meint natürlich vor allem die Tagespresse, deren Macht jene „Mode“ bereits wesentlich mitbestimmt.

Müller rekurriert auf Hamann, wenn er sagt: „Keine Vernunft ohne Sprache“, kehrt diesen Satz aber auch um: „Keine Sprache ohne Vernunft“(62). Das setze voraus, daß unter Sprache das verstanden wird, „was die Griechen Logos nannten,...etwas, wovon Wort und Bedeutung gleichsam nur die zwei Seiten sind.“ (71) Die unmittelbaren Objekte menschlichen Denkens  seien „Worte, die unsere Begriffe von den Dingen ausdrücken“(71). „Ein Wort“ aber „ist nicht ein bloßer Laut, um niedergeschrieben zu werden oder von Papageien wiederholt zu werden, sondern ein gesprochener, lebendiger Laut“(72). Sprache und Vernunft werden enggeführt, sie beide begegneten im „Wort“, das lautet und bedeutet. Dessen Lautung ist nicht bloß Voraussetzung für Schrift als vernünftige Sprache, aber auch nicht Plapperlaut, sondern als Sprachlaut ‚lebendig’, und zwar nicht im Sinne bewußtloser Vitalität, sondern als lebendige „Bedeutung“: „Sprache und Denken“ seien „untrennbar“ (72).

Müller wendet sich sowohl gegen den Positivismus John Stuart Mills wie gegen den Darwinismus Herbert Spencers, aber nicht in einem ideologischen Antagonismus, sondern allein, weil beide versäumten, die Funktion der Sprache in Bezug auf das Denken deutlich hervorzuheben. Mills „Mißtrauen in die sogenannte Worterkenntniß läßt ihm keine Ruhe“ (76). Müller setzt dagegen , daß Menschen „immer und ausschließlich mittels der Namen denken, und daß die Dinge für uns nur soviel sind,  wieviel wir unter ihren Namen verstehen“.(76) Spencer hält er entgegen, daß der zwar „Mythologie“ und „Metaphysik“ als „eine Krankheit der Sprache“ verstehe, aber nicht bedenke, wie sich „die Sprache in gesundem Zustande“ auf alle Arten von „Mythologie“ auswirke, d.h. auf „jede mögliche Sphäre geistiger Thätigkeit“, die sich des bestimmenden Einflusses der Sprache nicht bewußt sei: „Nicht eher als bis wir die wahre Natur der Sprache verstehen, werden wir die wahre Natur des menschlichen Geistes verstehen und diejenigen, welche die wahre Entwicklungsgeschichte des Menschengeistes lesen wollen, müssen sie in der Sprache lesen lernen, der urältesten und nimmer endenden Autobiographie unserer Rasse.“(108) 

Damit wird ziemlich an deren Machtantritt den beiden Dogmatismen der Gegenwart  das Postulat entgegengehalten, dem sie sich bis heute trotz aller Linguistik zu entziehen suchen.

Ob „Tatsachen“ oder „Evolution“, wir müssen, sieht Müller, von der „Sprachlichkeit“ beider ausgehen.

Auch das menschliche Verhalten gegenüber „unaussprechbaren Gedanken“(79) führe zu der Einsicht, „daß Gedanken und Worte untrennbar“ seien „und daß keines von beiden irgend welche unabhängige Existenz führen“ könne (80). 

Müller schließt sich der Auffassung Lockes an, „daß Worte die Zeichen für Begriffe und nicht für Dinge seien“(92). Wir sprechen also immer von Vorstellungen, und wir haben Vorstellungen nur als sprachliche, auch wenn die alltägliche Naivität immer noch von Wörtern als Zeichen für Dinge ausgeht.

Doch wendet sich Müller gehen Darwins Auffassung dort, wo der meine, Sprache entwickle sich „aus irgend Etwas, was die Thiere besitzen“(98). Vielmehr gelte eine „specifische Differenz“ zwischen Tier und Mensch, es sei „undenkbar“, „daß irgend ein bekanntes Thier jemals Sprache“ habe entwickeln können(99).Müller wendet sich gegen Darwins problematischen Gebrauch eines „unmerklichen“ Übergangs von einem „affenähnlichen Geschöpf in den Menschen“ (99), welcher Begriff jede Differenz und damit auch jede „bestimmte Erkenntniß“ unmöglich mache. Und betrachtet man, wie gegenwärtig jener „unmerkliche“ Übergang und damit die Konstitution von Sprache begründet wird, so kann man sehr wohl auch heute dem Gedankengang Müllers folgen. Er scheidet dabei einsichtig Mitteilung von Sprache. Zwar hätten auch „Nachahmungen der von Thieren oder anderen Gegenständen der Natur geäußerten Laute“ „in der Sprache ihren Platz behauptet“. Doch Sprache als Vernunftsprache sei nicht in Tierlauten zu finden, sondern in den (sprachlichen) „Wurzeln“, die „Ausdruck für Begriffe“ seien, mit denen die sprachliche Vernunft operiere. In diesem Sinne spreche kein Tier. Müller geht dem Ursprung der Wurzeln und der auf ihnen aufbauenden Wortbildung nach und folgert daraus, „daß die Sprache die treue Selbstbiographie des menschlichen Geistes ist“ (125). Dabei konzentriert er sich allerdings allzu sehr  auf Wortbildung und Wortgeschichte, während die Satzlehre bei ihm als Lehre vom Urteilssatz nahezu ganz aus der Wortlehre entspringt und der Satz in die nächste Nähe des Syllogismus gerückt wird. 

Dennoch gelingt ihm in einer Zeit des beginnenden Sprachskeptizismus, der die Konsequenz  des Positivismus wie der Evolutionslehre ist, auf die Bedeutung der Sprache als des menschlichen Spezificums schlechthin aufmerksam zu machen. 

  

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VON DER LITERATUR

  

Satire. Eine Ergänzung

 

Der folgende Text gehört zu dem Manuskript für den Artikel „Satire“ in „Ästhetische Grundbegriffe“, Band 5, (Stuttgart, Weimar 2003), S.345 – 364. Er müßte folgen auf den Abschnitt S. 362, der mit den Worten schließt „als spezifischer Konstruktion deutlich“. Der dann folgende Text steht im Manuskript unter der Überschrift „Schluß“. 

Das Ganze lag den Herausgebern bereits seit Anfang 1997 komplett vor. Der Verlag plante den Abschluß des „Historischen Wörterbuchs“ für 1998. Jetzt soll der letzte Band im Frühjahr 2005 erscheinen.Der Mitherausgeber Martin Fontius hatte hinsichtlich meines Artikels nur den Einwand, daß auch von „Satire“ in den anderen Künsten gesprochen werden sollte. Es stellte sich dann heraus, daß es nicht sinnvoll sei, über einige Erwähnungen hinaus auf „Karikatur“ (bildende Kunst)und „Parodie“ (Musik) einzugehen, was der nur ganz selten und nur nach Ansprache meinerseits sich dann leicht indigniert äußernde Mitherausgeber anscheinend akzeptierte. Er schrieb mir in all den Jahren kein Wort darüber, daß Kürzungen vorgenommen werden sollten. Diese Forderung war laut Vertrag möglich, der mir 50 Manuskriptseiten à 1800 Anschläge zugestand. Mein Manuskript überschritt diesen Umfang um einiges. Für diesen Fall sah der Vertrag vor, daß „die Herausgeber eine Kürzung durch den Autor innerhalb angemessener Frist verlangen beziehungsweise nach deren Ablauf selbst durchführen“ können. Diese Vertragsbestimmung wurde von den Herausgebern nicht eingehalten. Vielmehr wurde mir am 31. März 2003 durch eine Redakteurin mitgeteilt, ich erhielte den Artikel nun „nach der redaktionellen Bearbeitung zum Imprimatur“. Erwähnt wurde dann die Kürzung der „detaillierten Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur ab den 60er Jahren“ (= der unten erscheinende Text).

Ich protestierte gegen dieses Verfahren, der Redakteurin tat es leid, aber nun nach einer Pause von sechs Jahren mußte es Holterdipolter gehen, da der Band Ende 2003 erscheinen sollte und auch erschien.

Der Verlag, der inzwischen die vertraglich zugesagten 25 Sonderdrucke in ein Autorenexemplar des fünften Bandes verwandelt hatte, verwandelte auch das schon immer unendlich bescheidene Honorar stillschweigend nach unten, da er die vertragliche Auflage von 3000 Exemplaren unterschritten habe.

Kleiner Einblick in die geistige Welt des beginnenden neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, die natürlich genauso aussieht wie alles andere. 

  

[20. Jahrhundert: fünfziger bis achtziger Jahre] 

  

Nach dem zweiten Weltkrieg haben wir vor allem von den fünfziger bis zum Ende der siebziger Jahre in Amerika und Deutschland eine lebhafte Bemühung um die Erkenntnis des Satirischen. Dabei läuft diese Diskussion eigentlich   'national', da  zwar  die  deutschen Forscher von den amerikanischen, diese aber nicht von jenen Kenntnis nehmen. Das liegt auch am sehr unterschiedlichen Interesse beider Gruppen, zumal sie in sich noch einmal unterschieden werden müssen.

1957 hat Northrop Frye in seiner Anatomy of Criticism die Satire neben Komödie, Romanze und Tragödie als eine der Mythen genannten "Kategorien der Literatur, die weiter oder logisch früher sind als die gewöhnlichen Gattungen" beschrieben. "Are there narrative categories of literature broader than, or logically prior to, the ordinary literary genres?"1

Beim Mythos von Ironie und Satire wird Satire des näheren als "militant irony" (223) behauptet und in sechs Phasen unterschieden, deren Schematismus an die späten systematischen Bemühungen eines Volkelt erinnert. Wichtiger ist wohl, daß Frye zwei Dinge zum Wesen der Satire rechnet: "one is wit or humor founded on fantasy or a sense of the grotesque or absurd, the other is an object of attack." Was hier als Nebeneinander erscheint, wird eine Seite zuvor noch eher hierarchisch geordnet, wenn von "token fantasy" und "moral standard"(224) die Rede ist. Trotz seiner anregenden und phantasievollen Neukategorisierung der Literaturtheorie bleibt Frye doch einer eher traditionalistischen Satirevorstellung verhaftet.

Nach einer vorbereitenden Arbeit von Robinson hat Robert C. Elliott eine anthropologisch-psychologische Satire- bzw. Satirikertheorie formuliert. Genealogisch sieht er den von ihm beschriebenen Satiriker in frühgriechischen, arabischen und vorchristlichen wie frühchristlichen irischen Dichtern, in denen sich magische und satirische Intentionen verbänden. Dieser Zusammenhang begründete die eigentümliche Widersprüchlichkeit ihrer Stellung: nämlich die Gesellschaft zusammenzuhalten und gleichzeitig ihr individualistisch, ja anarchistisch gegenüberzustehen.

Habe die literarische Seite auch nicht mehr eine magische Funktion, so wirke die doch z. B. noch bei Shakespeare, Sidney und Ben Jonson, bei Temple, Swift und Pope nach. Doch wende sich die neuzeitliche Gesellschaft mehr und mehr gegen die Aggression, wobei nach Freud der Witz zum Überwinder des Verbots werde und zum Repräsentanten aller Formen des Indirekten, das der Hauptmodus des Satirischen werde.

Was Elliott 1954 in einem Aufsatz The Satirist and Society2 zum ersten Mal formulierte, hat er unter Aufnahme dieses Aufsatzes in seinem Buch The Power of Satire 1960 breiter ausgeführt.

Darin zitiert Elliott Wyndham Lewis: Kunst sei "a civilized substitute for magic"3, und gewinnt damit den Übergang von der magischen zur literarisch-künstlerischen Satire, von der die römische Verssatire als mehr oder minder feste Gattung nur ein (historischer) Teil sei. Doch auch in ihr bewähre sich das magische Erbe.

Elliott hat auch literarische Archetypen des Satirikers in Thersites, Timon von Athen, Molières Misanthropen Alceste, Gulliver untersucht. Von ihnen erinnerten Timon, Alceste, Gulliver an die Satire magischer Prägung. Aber sie selbst würden auf literarische Weise satirisiert.

Elliott sieht im Satiriker den Moralisten, der weniger sozial und politisch interessiert ist. Er ist für ihn vielmehr der Konservative, dessen Kunstleistung aber revolutionär wirke.

In einem Aufsatz von 1965/66 Saturnalia, Satire and Utopia4 hat Elliott auf den Zusammenhang von Satire und Utopie aufmerksam gemacht, auf den vor ihm schon Helmut Arntzen (1963, andeutungsweise schon 1960)5 hingewiesen hatte. In den Saturnalien begegneten sich Goldenes Zeitalter und Satire. Doch gehe es ebenso um einen Zusammenhang zwischen Satire und Melancholie.

Schließlich ist Elliotts kurzer Aufsatz The Definition of Satire (1962) verdienstlich, in dem er sich gegen eine Definition zugunsten der Vorstellung eines 'open concept' wendete. Und er begreift den eigentlichen Grund für das Indefinite des Satire mit dem Satz: "Language simply does not work that way"6. Die Arbeiten Elliotts sind von zentraler Bedeutung für das Satireverständnis im 20. Jahrhundert.Bei ihm ist das anthropologische Interesse, das ihn besonders nach dem Satiriker fragen läßt, stärker als das psychologische und psychoanalytische, das für einige seiner amerikanischen Zeitgenossen bestimmend wird.

Gilbert Highet, der 1954 eine Studie über den Satiriker Juvenal veröffentlicht hatte, beschreibt in The Anatomy of Satire (1962)7 unter der bereits selbstverständlichen Voraussetzung, daß sich Satirisches in den verschiedensten literarischen Genres finden lasse, Hauptformen des Satirischen und fragt nach der Beziehung der Satire zur Realität, worunter aber offensichtlich bereits die Realitätsvorstellung verstanden wird, die vor allem in der erzählenden Literatur affirmativ erscheint.

Leonard Feinberg nimmt 1963 Elliotts Frage nach dem Satiriker in The Satirist. His Temperament, Motivation, and Influence wieder auf, freilich mit deutlicher Verlagerung zum Psychologischen hin. Dabei verliert er sich freilich in einer Vielfalt von Referaten natürlich auch widersprüchlicher Auffassungen vom Satiriker.

Seine spätere Arbeit von 1967 Introduction to Satire versucht das Satirische von der Satiretradition her zu begreifen. Auch bei ihm wird die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu einem zentralen Moment des Satirischen,  auch  bei ihm geht es  aber um  bereits zitierte Wirklichkeitsvorstellungen. Daher betont er auch die Bedeutung der Darstellung statt der einer gewissermaßen selbstverständlichen Semantik.8

Das Rhetorische der Satire untersucht Alvin B. Kernan, der sich in seinem ersten Buch The Cankered Muse9 von 1959 an der elisabethanischen Rhetorik und Satire orientiert. In dem Einleitungskapitel "A Theory of Satire" nennt er die ungeordnete Szene, den satirischen Charakter und den satirischen Plot, der im Sinne dramatischer und erzählerischer Literatur gerade kein Plot ist, als Elemente des Satirischen.

In The Plot of Satire  von 196510  geht es ihm um  diesen in sich widersprüchlichen Begriff des satirischen Plots, in dem sich das Verhältnis von Ästhetischem und Moralischem ausdrücke. Der satirische Plot ist für ihn die Darstellung von "dullness", einer negativen, durch Stumpfheit und Dummheit gespeisten Energie. Erst als ästhetische Darstellung erscheine aber dieser Plot.

1967 hat Ronald Paulson in The Fictions of Satire11 Ansätze von Elliott und Kernan aufgenommen. Die Fiktion ist für Paulson aber im Dienst der Überzeugungsrhetorik der Satire, was eher die eigentümliche ästhetische Leistung des Satirischen wieder schmälert.

Die amerikanische Forschung der fünfziger und sechziger Jahre untersucht eine ganze Fülle von Momenten des Satirischen, die freilich auch jeweils gewissermaßen durch allgemeinere Forschungsinteressen produziert werden: Psychologie und Psychoanalyse, strukturale Anthropologie, literarische Rhetorik, Formanalyse.

Wenig später hat es ein nachdrückliches Interesse am Satirischen auch im deutschen Bereich gegeben, das ein Ende der Humorfixierungen in der deutschen Forschung andeutete, aber alsbald von einem ebenso starken, dem Satireinteresse parallel laufenden Ironieinteresse abgelöst wurde.

An mancher Arbeit der Satiretheorie und -forschung läßt sich gerade in der deutschen Germanistik eine Tendenz ablesen, die - wie die amerikanische Satireforschung bezeugt - anderwärts zwar nicht unbekannt ist, aber doch durch ein größeres Sachinteresse in Grenzen gehalten wird: Man könnte von einer Zeitgeisttendenz sprechen, die sich in der ausschließlichen Bindung an bestimmte Fragestellungen und Methoden verrät, statt den zeitgeistkontrastierenden Impulsen der Sache selbst nachzugehen. -

1960 erschien die Arbeit von Arntzen Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im 'Mann ohne Eigenschaften', die einmal wie viele spätere Arbeiten sich mit dem Satirischen im Werk eines einzelnen Autors beschäftigte, zum anderen aber auch nach der Konstitution des Satirischen in der Moderne fragte. Die sieht Arntzen zum einen (wie nach ihm Elliott) gebunden an den Satiriker, der "A-Sozialer und doch Gewissen der Gesellschaft"12 sei, vor allem aber an die Darstellung, bei der er von "satirischem Stil" spricht als einer Synthese von moralischer und literaturästhetischer Intention, die eben eine sprachliche Synthese zu sein habe. Damit wird die alte Frage nach der Möglichkeit dieser Synthese neu fundiert. Tendierten die meisten älteren Theoretiker dahin, die moralische Intention der Satire in den Vordergrund zu stellen und sie nur durch rhetorische und ästhetische Mittel (wirkungsvoll) zu realisieren, so hatte Schiller den Gedanken der Notwendigkeit der Synthese eingeführt, ohne konkret von ihren Möglichkeiten genauer zu sprechen. Daß im Sprechen selbst, hier noch traditionalistisch "Stil" genannt, sich die Synthese vollziehen könne und müsse, und zwar so, daß an die Stelle eines ideologisch-thetischen Sprechens ein literarisches Sprechen trete, in dem sich Aussage und Reflexion der Aussage verknüpften,ist der entscheidende Gedanke.

Dabei wurde zunächst eine dualistische Unterscheidung von älterer normgebundener Satire und moderner literarischer vorgenommen, die manches unangemessen vereinfachte.

Arntzen führte seine Konzeption in einem Überblick zur Deutschen Satire im 20. Jahrhundert (1961)13 fort, in dem er sich mit Adornos Satirethesen auseinandersetzte. Gleichzeitig zeigte er an Karl Kraus auf, was "Satire aus Sprache" bedeute(1961)14. In einem Essay von 1963 Nachricht von der Satire wird auf die historische und geschichtsphilosophische Bedeutung von Schillers Satiretheorie hingewiesen. Hier wird auch betont, daß zu den Elementen des "satirischen Stils" "alles sich schickt, was den Widerspruch und die Negation in sich trägt oder zu ihrem Ausdruck helfen kann."15 Damit bereitet sich ein Verständnis von der Universalisierung der Satire vor, die in die Perspektive der Utopie gestellt wird. Doch wird Utopie als offene oder geheime Intention aller Kunst, aller Literatur behauptet. Und "Satire ist Utopie ex negativo."(166)

In Satire und Deutschunterricht (1966)16 wird die Freiheit der literarischen Satire von jeglicher Ideologie postuliert.

Viele Jahre später, 1989, hat Arntzen eine Geschichte der deutschen Satire vom 12. bis zum 17. Jahrhundert vorgelegt: Satire in der deutschen Literatur. Die ist von dem Gedanken bestimmt, Satire sei "die andere Seite der Literatur"17, was sowohl die Gattungs- wie die Normfrage obsolet mache. Satire sei das Negativ zu aller anderen Literatur, ein universelles Negativ, das eben darum auch nicht unmittelbar auf Wirklichkeit reagiere, sondern auf 'affirmierende' Texte, auf literarische Vorstellungen von Wirklichkeit, die im Satirischen auf den Kopf oder auch auf die Füße gestellt werden. So ist das Satirische wie alle andere Literatur Konstruktion, aber "die sprachästhetische Konstruktion von 'Verkehrtem' als Destruktion"(17). Arntzen geht es darum, von dieser Voraussetzung aus die deutliche Herausbildung einer sprachästhetischen und sprachkritischen Satire schon im späten Mittelalter, in früher Neuzeit und im Barock zu zeigen. Das bedeute, daß an die Stelle 'verkehrter Welt' als eines zentralen Satiretopos immer mehr 'verkehrtes Sprechen' trete.

1963 hatte Klaus Lazarowicz unter dem Titel Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire eine Arbeit vorgelegt, die wie die Arbeiten Arntzens sich nachdrücklich auf die 'ästhetische Wende' der Satiretheorie, insbesondere bei Schiller bezieht. Auch Lazarowicz plädiert für eine autonome Satire, es gehe um den "künstlerischen Aufbau einer verkehrten Welt"18, doch  werde  das satirische Schaffen an  die "unbestreitbare Erfahrung" gebunden, "daß die Welt vor dem Absoluten, dem Idealen und Normativen versagt."(311) Das Negative der Satire wird hier also nicht auf die Literatur als affirmierende bezogen, sondern auf ein außerliterarisches  Postulat. Damit entsteht  natürlich  ein erkenntnistheoretisches Dilemma. Doch betont Lazarowicz nachdrücklich, daß "Qualität und Rang der Satire [...] sich allein nach dem Grad der künstlerischen Perfektion" "bemessen". Das ständige Problem der unangemessenen Satirerezeption sieht er zu Recht in der "Konstruktion eines Dualismus zwischen [...] positiver und negativer Dichtung".(314)

Die Arbeit von Jörg Schönert Roman und Satire im 18. Jahrhundert von 1969 heißt im Untertitel "Ein Beitrag zur Poetik" und weist darin schon auf den breit angelegten historisch-theoretischen Teil hin. Die Satire wolle zunächst "Widersprüchlichkeit"19 herausstellen,  aufdecken und unterstreichen. Diese  Widersprüchlichkeit  bestimme auch  die "Darbietungsformen"(13) der Satire, die sowohl rhetorischer wie literaturästhetischer Art seien. Doch wird betont, "daß man es in der Satire mit einer höchst sprachbewußten Kunstform zu tun hat."(18) So sehr sich darin Schönert Auffassungen von Arntzen über die literaturästhetische Qualität der Satire nähert, so sehr bleibt er letztlich doch wieder bei der Position des Funktionellen von Darstellung und Sprechen in Hinsicht auf die Präsentation des Widersprüchlichen und auf die Wirkungsabsicht der Satire.

Im Gegensatz zu den Arbeiten von Arntzen und Lazarowicz hat Ulrich Gaier 1967 in seinem Buch Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart behauptet, daß das Satirische nicht angemessen von der Ästhetik der Goethezeit aus erfaßt werden könnten, was Arntzen und Lazarowicz versuchten, und daß die Definition der Satire zwei Bedingungen erfüllen müsse, nämlich den Wirklichkeitsbezug im Sinne des Angriffscharakters der Satire und die Einbeziehung der römischen Satire in  die Definition. Dadurch belastet Gaier sein Unternehmen von vornherein erheblich. Zwecklosigkeit wird von ihm i. S. von l'art pour l'art verstanden, was schon in Bezug auf die anderen literarischen Produktionen der Goethezeit sinnlos ist. Unverständlich bleibt, warum die Ästhetik der Goethezeit das Phänomen des Satirischen nicht, eine andere Ästhetik es aber sehr wohl zu erfassen vermag.

Wichtiger ist dagegen die These, in der Satire gehe es nicht um die Darstellung empörender Wirklichkeit, sondern um den Angriff auf die Wirklichkeit. Bei der Erhärtung dieser These stützt sich Gaier auf die drei im Titel angegebenen Autoren des Hoch- und Spätmittelalters. Er hebt an allen dreien die soziale Funktion der Satire hervor, zeigt aber, wie die sich nur ästhetisch zu realisieren vermag. Es handle sich um engagierte Dichtung, die unmittelbar auf Wirklichkeit zurückwirken wolle, dies aber einzig durch "den dichterisch verallgemeinernden Prozeß"20 leiste. Alle drei Dichter hätten "bestimmte Idealvorstellungen vom guten, weisen, rechten Leben"(274). Aufgrund der Interpretationen der drei Autoren entwirft Gaier eine Definition der Satire. Er erklärt, es sei fruchtlos und unhistorisch, eine zu einer Zeit beliebte Erscheinungsform oder Methode wie "verkehrte Welt" oder Sprachsatire für ein durchgehendes Merkmal der Satire zu halten. Satire sei vielmehr "ein Sprachwerk", "in dem die noch näher zu beschreibenden Bezüge  des satirischen Wirklichkeitsverhältnisses die dominante Rolle spielen"(330). Eine vollständige Definition sei nur auf der Basis der Geschichte der Satire möglich. Allgemein gelte jedoch, daß sich die Satire wegen ihrer starken Wirklichkeitsbindung von den "Werken echter Dichtung" unterscheide, die eine "zweite Welt in der hiesigen" sein wollen, wie Gaier Jean Paul zitiert.

Gaier untersucht dann den Wirklichkeitsbegriff und behauptet: "Das Sprechen des Satirikers meint das Wirkliche"(331), während Erzählung oder Drama etwas meine, das erst durch das literarische Sprechen entstehe. Bei dieser Wirklichkeit gehe es nicht um die des Realismus oder Naturalismus, sondern um Wirkliches, das wirke, bevor es als etwas Bestimmtes aufgefaßt werde. Dieses Wirkende erscheine "im Bereich des Unbekannten", und zwar als "ängstigender, widerwärtiger, bedrohlicher Aspekt"(337).

Auch Gaier betont die Bedeutung der Sprache für die Satire und gibt eine ganze Fülle von Beispielen, die "sprachliche Verzerrungsprozesse"(395) repräsentieren.

In  einem eigentümlichen und  unaufgelösten Dualismus  von Zeitlosigkeitspostulaten und historischer Konstruktion, von Definitivem und Interpretativem gerät Gaiers Darstellung manchmal in scholastische Spitzfindigkeiten, die den zahlreichen richtigen Beobachtungen kaum nützen. Noch einmal wird ein Begriff von Wirklichkeit, die selbst eine ungemein 'entworfene' ist, zur Grundlage der Satire gemacht. Aber "Wirklichkeit" spielt für die heutige Rezeption beispielsweise des Gulliver oder des Lalebuchs, wie man schon aus der kindlichen Rezeption ablesen kann, nicht die geringste Rolle.- 1971 hat Jürgen Brummack ausführlich die Begriffsgeschichte der Satire im 15. und 16. Jahrhundert verfolgt 21, wohl auch um historisch ein gewisses Fundament zu bekommen, so daß die "irritierende Vieldeutigkeit"(275) des Begriffs nicht übermächtig wird. Vorher aber gelangt er zu einigen definitorischen Bestimmungen, nämlich "drei konstitutive Elemente" der Satire anzunehmen: "Aggressionslust", "Angriff dient einem guten Zweck" und ästhetische Darstellung. "Die Satire hat also eine psychologische, eine soziale und eine ästhetische Dimension."(282) Brummack spricht daher von "ästhetisch sozialisierter Aggression" bzw."literarisch sozialisierter Aggression"(283).

In  seinem Satire-Artikel  für das Reallexikon  der deutschen Literaturgeschichte von 1977 wird die satirische Schreibart durch "Aggressivität, protreptische Intention und verzerrende Darstellungsart" gekennzeichnet. "Alle Verfahren der Verzerrung und Verfremdung, alle Formen, die geeignet sind, einen Gegensatz (Sein/Sollen; Schein/Sein) in sich aufzunehmen, können der satirischen Intention dienstbar gemacht werden".22

Brummack, der in diesen Arbeiten die eigene Position nur skizzieren kann, hat in Satirische Dichtung. Studien zu Friedrich Schlegel, Tieck, Jean Paul und Heine (1979) das Problem der Satire von der Romantik bis Heine darzustellen versucht. Er sieht diese Zeit als "Epoche in der Geschichte"23 des Satirischen. Nachdem er in seinen Artikeln, entsprechend den damaligen literaturtheoretischen Tendenzen, der Synthese von moralischer  und ästhetischer Intention  der Satire  skeptisch gegenübergestanden war und ihren Vertretern den Begriff "bürgerlich" warnend entgegenhielt, sucht er nun selbst die Möglichkeiten dieser Synthese in den satirischen Texten der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu erproben. Er sieht in dieser Zeit "eine Dichtung", "die im Sinne der Zeit poetisch und doch satirisch ist."(4) Er akzeptiert nun den "sozialen Sinn des Autonomiepostulats", wenn nämlich "die satirischen Züge in romantischer Dichtung beachtet" werden. Damit nähert er sich der Auffassung Arntzens und Lazarowicz' an (wobei interessant ist, daß ein Teil der Arbeit bereits vor dem Lexikon-Artikel entstanden ist, der das literarische Konzept der Satire aus soziologischer und sozialgeschicht- licher Sicht verwarf). Doch sieht er im Heine-Kapitel auch wieder das Ende der "poetischen Satire", wobei es sich eher um ein Heine- als um ein Satireproblem handelt. Brummack betont aber auch die Weitergeltung des Themas und bezieht sich dabei auf Flaubert, Musil und Kafka, welch letztere Arntzen als Satiriker begriffen hatte.

Er sucht den Begriff der poetischen Satire an F. Schlegels früher Komödientheorie zu gewinnen sowie aus dessen "Notizen zur Literatur".

Er begreift, daß bei Schlegel schon "Universalität" als Kriterium der poetischen Satire dient.

Schon 1972 hatte Klaus W. Hempfer die Arbeit Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhundert vorgelegt und darin einen strukturalistischen Satirebegriff entwickelt. Den sieht Hempfer nicht von ungefähr durch überzeitliche Invarianten und historische Variable bestimmt. Er konzentriert sich, in strukturalistischer Absicht, auf die Verssatire und sieht Tendenz (als das typisch Zweckhafte) und Ästhetisches als deren Konstituentien. "'Satire' ist funktionalisierte (mediatisierte) Ästhetik zum Ausdruck einer auf Wirkliches negativ und implizierend zielenden Tendenz"24. Hier fällt das Ästhetische der Satire wieder auf die Stufe des bloß Instrumentellen zurück. Doch erkennt Hempfer die Bedeutung von Sprechweisen für die Konstitution des Satirischen.

In einer bei Arntzen entstandenen Arbeit hat Renate Homann 1977 auf den schon im Titel genannten Zusammenhang von Erhabenem und Satirischem hingewiesen. Homann geht wie schon Arntzen von der zentralen Frage aus, "ob die Satire überhaupt poetisch sein kann"25. Sie begreift im Anschluß an Schiller, daß damit das Problem der modernen Dichtung schlechthin angesprochen wird, das sie in "Schillers Auffassung der pathetischen Satire"(97) konkretisiert sieht.

 


Anmerkungen

[1] northrop frye, Anatomy of Criticism (Princeton 1957), 162.

[2] robert c. elliott, The Satirist and Society, in: A Journal of English Literary History 21 (1954), 237-248.

[3] elliott, The Power of Satire: Magic, Ritual, Art (Princeton 1960, 21961),  92.

[4] elliott, Saturnalia, Satire, and Utopia, in: The Yale Review 55 (1966), 521-536.

[5] helmut arntzen, Nachricht von der Satire (1963), in: Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information. Aufsätze. Essays.  Glossen (Frankfurt a. M. 1971), 148-166.

[6] elliott, The Definition of Satire. A Note on Method, in: Yearbook of Comparative and General Literature 11 (1962), 23.

[7] gilbert highet, The Anatomy of Satire (Princeton 1962).

[8] Vgl. leonard feinberg, The Satirist. His Temperament, Motivation, and Influence (Ames 1963); Feinberg, Introduction to Satire (Ames 1967).

[9] alvin b. kernan, The Cankered Muse. Satire of the English Renaissance (New Haven 1959).

[10] kernan, The Plot of Satire (New Haven/London 1965).

[11] ronald paulson, The Fictions of Satire, in: Paulson (Hrsg.) Satire. Modern Essays in Criticism (Englewood Cliffs 1971), 340-359.

[12] arntzen, Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im 'Mann ohne Eigenschaften' (Bonn 1960, 31983), 13.

[13] arntzen, Deutsche Satire im 20. Jahrhundert, in: Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information. Aufsätze. Essays. Glossen (Frankfurt a.M. 1971),167-192.

[14] arntzen, Karl Kraus oder Satire aus Sprache, in: Arntzen (s. Anm. 13), 203-216.

[15] arntzen (s. Anm. 13), 159.

[16] Arntzen, Satire und Deutschunterricht, in: Arntzen (s. Anm. 13), 193-202.

[17] arntzen, Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie, Bd.1 (Darmstadt 1989), IX.

[18] klaus lazarowicz, Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire (Tübingen 1963), 312.

[19] jörg schönert, Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik (Stuttgart 1969), 11.

[20] ulrich gaier, Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart (Tübingen 1967), 80.

[21] jürgen brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 45 (1971), Sonderheft, 275-377.

[22] brummack, 'Satire', in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. W. Kohlschmidt/W. Mohr, Bd. 3 (Berlin/New York 21977), 602.

[23] brummack, Satirische Dichtung. Studien zu Friedrich Schlegel, Tieck, Jean Paul und Heine (München 1979), 3.

[24] klaus w. hempfer, Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts (München 1972), 293.

[25] renate homann, Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller (München 1977), 93.

 

 

 

  

[Ergänzung zu den neunziger Jahren. Hatte schon die Arbeit von Stefan Trappen (Grimmelshausen und die menippeische Satire. Studien zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994)viel Lärm um eine ridiculus mus gemacht, so ist die kürzlich erschienene Arbeit von Harald Kämmerer (Nur um Himmels willen keine Satyren....Deutsche Satire und Satiretheorie des 18. Jahrhunderts im Kontext von Anglophilie, Swift-Rezeption und ästhetischer Theorie. Heidelberg 1999), die erst nach Abschluß des Manuskripts zur Verfügung stand, ein erstaunliches Zeugnis für die Selbstgewißheit eines Autors angesichts bescheidener intellektueller Leistung. Der Verfasser tritt gleich an mit der Behauptung,  es werde "etwas  frischer Wind in die germanistische Satiretheorie"(2) gebracht. Das soll einerseits dadurch geschehen, daß Adaptationen von pragmatischer, wirkungsästhetischer, kommunikationstheoretischer Satiretheorie auf ein sensualistisch orientiertes Ästhetikverständnis vorgenommen werden, das der Verfasser auf die deutsche Satire des 18. Jahrhunderts (Wezel, Bürger und Lichtenberg) bezieht und dessen Einführung er als sein Verdienst betrachtet. Andererseits soll der 'frische Wind' kritisch wirken, und zwar dadurch, daß eine 'autonomieästhetisch' genannte Satiretheorie als 'fehlerhaft' vorgestellt wird,  weil sie normativ  verfahre,  die Aggressionstendenzen der Satire verfehle, Kritik und Satire gleichsetze, die Wirkungsorientierung  der Satire übersehe  und keinen "Perspektivwechsel weg von einer gesellschaftlichen Wirkungsausrichtung der Satire hin zu einer individualistisch und anthropologisch orientierten Ästhetik" (319) vollziehe. Kommt die Arbeit in den affirmativen Partien nie über einen oft undurchdachten, additiven und zu erheblichen Vereinfachungen neigenden Eklektizismus hinaus, auf den schon ihr Titel hinweist und der hilflos ist gegenüber der Sprachästhetik der Satire, die sich im 18. Jahrhundert etwa bei Lichtenberg durchsetzt, so streifen ihre kritischen Ausführungen das Absurde, was nur dadurch zu erklären ist, daß der Verfasser die kritisierten Texte nicht annähernd vollständig gelesen oder sie nicht verstanden hat. Alles, was er bei den 'autonomieästhetischen' Theoretikern vermißt, wird z.B. bei Arntzen nachdrücklich betont. So wäre es ja auch völlig sinnlos, sich eine 'autonomieästhetische Konzeption der Satire' - eine freilich die gemeinte Sache versimpelnde Terminologie - vorzustellen, die eine moralistische oder gesellschaftliche Norm akzeptierte oder die Kritik und Satire gleichsetzte. Methodisch kommt diese Sinnlosigkeit dadurch zustande, daß Kämmerer alles, was ihm nicht behagt, unter einen Begriff bringt, der jeweils nur die Funktion der Unterstellung hat. So heißt es beispielsweise von Brummack, sobald er als 'autonomieästhetischer Theoretiker' stigmatisiert wird, er habe sich "weitgehend in den 'Mainstream' der germanistischen Satiretheorie" (24) eingeordnet. Als ein Ergebnis seiner Bemühungen trägt Kämmerer dann vor, Satiren im 18. Jahrhundert seien "keineswegs nur unter moraldidaktischen Prämissen zu denken", sondern seien "wesentlich vielschichtiger [...] als bisher angenommen" (320). Und er betont, daß "die Ergebnisse dieser Arbeit [...] dazu ermuntern [sollen], satirische Texte [...] neu zu lesen [...], Texte erstmals auf eine satirische Lesart hin zu untersuchen"  (320). Man weiß  nicht, was  hier bemerkenswerter ist: daß eine längstvertretene These als originell behauptet wird oder daß das resumierende Postulat so trivial ist. Aber sie san halt so, die jungen Leut’.]

  

 (nach oben)

  

VON DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN

  

Der siebenundzwanzigste September

Zu Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr. 1960 – 2000“. München: Luchterhand 2003.

  

1960 ruft die „Iswestija“ „die Schriftsteller der Welt“ dazu auf , „einen Tag dieses Jahres, nämlich den 27. September, so genau wie möglich zu beschreiben“. Das habe eine Anregung von Maxim Gorki von 1935 wiederaufgenommen. Eine eher schlichte Idee. Christa Wolf nimmt sie auf, sie habe sie „sofort gereizt“(5), und sie macht 40 Jahre damit weiter, nicht konsequent, denn sie vergißt den Tag manchesmal, schreibt über ihn oder die Nachbartage verspätet, wie das eben so geht. Aber es scheint mir charakteristisch für das Bewußtsein der jungen Christa Wolf: sie folgt, als erfülle sie den Teil des „Plans“, der ihr gilt, dieser schlichten Idee.

Sie ist, wie wir heute wissen, ein braves Jung- und BDM-Mädel gewesen, sie ist dann eine junge Sozialistin geworden, die zunächst in Halle, dann in Kleinmachnow bei Berlin (dem Amte wohlbekannt) mit Gerd, ihrem Mann, das „alte Thema: Kunst und Revolution“(11) traktiert, sie redet von „einem Land,  in dem sich die sozialistische Gesellschaft unter Voraussetzungen und Bedingungen wie bei uns entwickeln muß“ (12)  - ein Satz, der schiere Behauptung ist und sich grammatisch gleichzeitig verhaspelt -, sie erzählt von  „neun Genossen“,  die sich „im Sitzungszimmer der Parteileitung“ „in ihrem Arbeitszeug, ungewaschen“ treffen (17) und wo es um „Willy“, den „Gruppenorganisator“ und die „Starbrigade“ geht (18). So läuft das eine Weile fort. Man hat es mit einer Art von Trockenheit zu tun, die den berichtenden Menschen völlig zu durchdringen droht, wenn es nicht  auch immer wieder um Kindergarten und Einkäufe und andere Alltagsdinge ginge. Aber die Gedanken, in die sie versinkt (29), laufen auf Erkenntnisse hinaus, daß die Stadt, in der die Autorin wohnt, von „der Industrie um sie herum bestimmt ist – dadurch allerdings auch von Luftverschmutzung“(29).Das könnte auch in einem Bericht  der Parteiorganisation Halle stehen. Und was die Wolfs dort hält, könnte ebenfalls einem solchen Bericht entnommen sein, der nun davon mitteilen würde, was die Wolfs, gute Parteimitglieder, in der DDR hält: nämlich „im Negativen“, daß man wisse, „was ‚drüben’ gespielt wird“ (sie sind noch nie „drüben“ gewesen), „im Positiven: daß hier bei uns die Bedingungen zum Menschwerden wachsen.“(35) Es ist entsetzlich: eine intelligente junge Person, die sich auf ihren Weg als Schriftstellerin vorbereitet, ist im Kopf und (sagen wir) in der Seele zugeklebt von der offiziellen Suada, die nicht drei Schritte weit gültig ist. Aber gleich darauf fragt sie sich auch: „Wachsen sie wirklich ?“ [die „Bedingungen zum Menschwerden“- wie kann eine Schriftstellerin das, was sie doch ehrlich  intendiert, so ausdrücken?] 

Von dem Hin und Her zwischen diesen Polen sind die Aufzeichnungen eine ganze Weile bestimmt. Christa Wolf liest das ausgedruckte Nichts der Tageszeitungen der DDR, aber sie wendet sich auch von dem „Hallenser Blatt“ ab, freilich nur, weil sie selbst dort Vorwürfen konfrontiert ist. Nun liest sie die „Berliner Zeitung“, die sie „weniger beklommen“ aufschlägt als die Zeitung aus Halle (42).

Sehr, sehr langsam geht die Emanzipation der Schriftstellerin Wolf vor sich, und sie entwickelt sich nicht aus einer theoretischen Reflexion, sondern aus den persönlichen Enttäuschungen und den Idiosynkrasien des Alltags. 1963  schreibt sie: „Zum Beispiel  hat Walter Ulbricht Schwierigkeiten im Polit-Büro, ein Jugendkommuniqué in der Schärfe durchzusetzen, wie er es möchte.“ (56) Offenbar zugunsten der Jugend, wie sie meint. Der arme Mann. Sie sieht ihn an ihrer Seite, was den „Geteilten Himmel“ angeht. Doch sie merkt auch, „wie wenig wir eigentlich  von der geistigen Entwicklung von drüben wissen“(60).

Sie erkennt  mehr und mehr die Instrumentalisierung von Literatur und Kunst durch die Partei und sagt gleichzeitig kein Wort über das Unrecht, das Menschen in ihrem Staat angetan wird, nein schlimmer, sie glaubt, man müsse darauf achten, „daß ‚das hier’ erhalten bleibt. Es beginnt zwar, dem ‚drüben’ in gewissen Punkten zu ähneln, ist aber doch um so vieles besser – von der Wurzel her -, und der einzige Schutz dagegen.“(81) Das schreibt ein nachdenklicher Mensch, der damit objektiv feststellt: besser die Stasi als der Kapitalismus, wenngleich ‚wir’ uns offenbar (wahrscheinlich durch die Delikat-Läden) diesem fatal annähern.

Ist es nicht - wieder einmal in Deutschland - eine Schuld dieser Art von Intellektuellen , ohne genauer hinzuschauen das übliche linke Zeugs daherzureden? Im Westen herrscht der Kapitalismus, das ist zweifellos wahr. Er herrscht nicht vor allem, weil die Amerikaner ihn den Westdeutschen oktroyiert haben, sondern weil diese froh waren, daß ihnen dieses System „Wohlstand für alle“ brachte, und sie wegguckten, wenn sich Fragliches zeigte , was die im Osten auch nur allzu gern getan hätten. Aber ehe man noch Zeit finden kann, die fraglos reich  vorhandene Problematik des Westens zu bedenken, ist da drastisch das völlige Mißverhältnis von behaupteter Humanität und wirklichem Elend im Osten: das Elend des täglichen Mangels, des Verfalls des Landes, der Erbärmlichkeit der Funktionäre, des Dröhnenden des ideologischen Jargons, der barbarischen Grenze, der Zerstörung jedes Vertrauens, des alltäglichen massiven Unrechts . Soll das erhalten bleiben, wie es bereits 15 Jahre erhalten blieb und weitere 25 Jahre erhalten bleiben wird ? Das sagt jemand, der mit der Sprache sich eingelassen hat? Es ist fast schlimmer als die Barbareien des freundlich zitierten Walter Ulbricht. 

Ein therapeutisches Gespräch mit dem ihr befreundeten Psychiater Prof. M. im Jahr 1966 ist  vielleicht, jedenfalls was die Aufzeichnungen anlangt, die Wende zu einer deutlicheren Reflexion. Christa Wolf erfährt Depressionen, beschäftigt sich mit ihren „Schizophrenie-Büchern“(101). Sie bemerkt: „Deprimierend ist die Selbstverständlichkeit, mit der Geschichte verfälscht und so verhindert wird, daß die Massen daraus lernen.“ (124) Das ‚Lernen der Massen’ ist noch der Zungenschlag des Jargons, aber die Verfälschung der Geschichte betrifft bereits das eigene System, das zur gleichen Zeit, 1969, doch wieder ‚besser gestellt’ wird als „selbstmörderischer Wahn“ gegenüber dem „mörderischen“ des Westens, zwischen welchen Hälften man „eingeklemmt“ sei. Etliche Jahre später fällt ihr bei der Lektüre des „Neuen Deutschland“ ein, daß man eine Untersuchung machen sollte „über die primitive Form der Parteilichkeit, wie sie sich in unserer Presse an der Vergabe von Adjektiven äußert.“ (204). Das ist ein Schriftstellergedanke, wenn die „Vergabe“ auch unironisch nach sozialistischer Planwirtschaft klingt. Wir verhalten in der zeitlichen Nähe von „Kindheitsmuster“, das sie nicht noch einmal schreiben könne, weil ihr „die Kühnheit dazu“ fehle (219), und dem wichtigen Buch „Kein Ort. Nirgends“. Sie wehrt sich dagegen, daß „die Schlenstedts“ ihr wegen dieses Buches vorwerfen, Praxis zu denunzieren (257). Aber sie rühmt, vielleicht gar zurecht, „dieses unvergleichliche Publikum“(268). Sie begreift,  daß der alte Faust  „in absurder Selbsttäuschung die Spaten der Lemuren, die sein Grab graben, in seine Zukunftsvision einbaut“ (279).Aber „einbaut“? Im Gespräch mit ihrem Mann und Freunden 1980, das auch die zitierte Stelle enthält, kommt sie entscheidende Schritte weiter: sie fragt nach der Eigentümlichkeit der Literatur, sie wägt die Authentizität von Fiktion und autobiografischem Schreiben hin und her, sie bezweifelt, „daß die Ökonomie wirklich so eine ausschließliche Rolle bei der Motivierung menschlicher Taten und Untaten spielt, wie von Marx behauptet“ (283). Aus dem Marxismus, merkt sie, sei „kein Funken mehr zu schlagen“, er bringe „für die Kunst nichts“(283). Aber sie fürchtet sich immer noch „vor der literarischen Auseinandersetzung mit jenen Phänomenen, die wir, falsch und unzureichend, unter dem Sammelnamen ‚Stalinzeit’ zusammenfassen und die mir ja noch bevorstehe“(296). Sie merkt wiederum, daß sie „den Tonfall [eines Films] nicht mehr lange ertragen“ könne, „so wenig wie den der DDR-Nachrichtensprecher“(305). Und: „für geniale  Leute“ bestehe „im ‚Sozialismus’  [der eben nun in Anführungszeichen steht] überhaupt keine Möglichkeit“ (305). Hier lege sich „Mehltau“ „über alle und alles“ (322). Sie denkt sogar daran, ‚wegzugehen’, für sie ein außerordentlicher Gedanke. Sie hält auch die Verwahrlosung ihres Miethauses in der Friedrichstraße fest.

1986 ist sie in Zürich. Sie besucht Max Frisch und spricht mit ihm über  Resignation, die er nicht anerkennen will, da „Einsicht in die wahren Zustände“ dies eben nicht sei, aber sie sei etwas „Niederschmetterndes“, dem er „Widerstand“ entgegensetze(402). Er kritisiert, an Bemerkungen Uwe Johnsons anknüpfend, daß sie in „Kindheitsmuster“ „bestimmte kritische Punkte der Gegenwart ausgespart“ (403) habe. Sie bemerkt dazu (anscheinend erst in diesen Aufzeichnungen): „Als ich ‚Kindheitsmuster’ schrieb, wäre es mir nicht eingefallen, irgendwelche Parallelen zwischen dem deutschen Faschismus und dem sowjetischen Stalinismus zu ziehen.“ „Das eben sei das Problem, könnte man sagen.“ (403) Das ist es in der Tat: mit den Linken, die ja doch die Wahrheit der Geschichte zu besitzen meinen, übereinzustimmen, und sei es mehr und mehr nur aus Feigheit, das kann sie so wenig wie viele ihrer altersgenossigen  Intellektuellen aufgeben, also muß (schon im Sprachgebrauch) zwischen „Faschismus“ und „Stalinismus“ tabuisierend unterschieden werden.

Frisch hat Einwände gegen die Kassandra-Vorlesungen, er habe manchmal das Buch aus Ärger an die Wand geworfen. Sie empfindet deswegen „Neid, Aggressivität“, sie ist entschlossen, eine Einladung an die Züricher Universität nicht anzunehmen. Die Begegnung mit Frisch ist jenseits alles einzelnen eine wichtige Etappe ihrer Reflexionsgeschichte. Sie reagiert nun durchaus bewußt auf ihre Depressionen.

Kurz vor der Wende kommt es zu ausführlichen Gesprächen mit Otl Aicher, dem Ehemann der Scholl-Schwester Inge, die die Wolfs im mecklenburgischen Woserin besuchen. Otl Aicher skizziert die Sozialgeschichte des deutschen Westens und des Ostens auf ziemlich überzeugende Weise, und Christa und Gerd Wolf ergänzen diese Skizze, wobei sie z.T. wieder in den alten Jargon verfallen: „antifaschistisch-demokratische Grundordnung“, „das Übel“ sei bei ihnen „an der Wurzel“ gepackt worden, ihr Staat sei „ein Staat der kleinen Leute geblieben“, es gebe hierzulande „kein Privateigentum an Produktionsmitteln“, das sei das „Wichtigste“(439). Sie retten sich in diesen Jargon, von dem sie sich gleichzeitig distanzieren wollen. Die Aichers halten ihnen trotz scharfer Kritik an den westdeutschen Zuständen entgegen, man müsse „ein gut funktionierendes Auto“ „in Mitteleuropa zu erschwinglichem Preis in zumutbarer Zeit kaufen können“.(441) Das habe der durchgeplante Staat nicht geschafft. Die Wolfs kommen wieder auf das zurück, an was sie geglaubt haben,  hätten aber inzwischen eingesehen,  daß die Widersprüche im eigenen Land „gewollt“ seien (441). Und Otl Aicher, nicht Christa Wolf, findet schließlich den Satz: „Die meiste bisherige Geschichte ist umsonst gewesen.“(442)

Nach einem Jahr, kurz vor der Vereinigung, berichtet Christa Wolf von den Sitzungen der Untersuchungskommission, die sich mit den Übergriffen von Polizei und Stasi beim 40. Jahrestag der DDR beschäftigt habe und der sie angehört. Zum ersten Mal in fast dreißig Jahren sagt sie etwas über die Willkür in ihrem Staat. Sie begreift: „Wer nach oben kommt und sich dort hält, gehört zu einer negativen Auslese.“ Und die Funktionäre, die sie nun erlebt, geben ihr das Gefühl: „Beton in den Adern und ...auch in den Gehirnwindungen. Alles war verstopft...“ (455).Sie arbeitet an der Präambel einer neuen Verfassung mit, die der Runde Tisch wünscht.

Dann kommen die Vorwürfe wegen ihrer IM-Tätigkeit in den frühen Jahren. Und nun beginnt, spätestens 1993,  ein neuer Ton, ein alter. „Wie unschuldig wir waren. Wie heiter, freundlich, großmütig“(511), bescheinigt sie sich. Sublime Nostalgie wird hörbar. Sie findet sich in Westberlin nicht zurecht. Sie wehrt sich dagegen, daß ein Diskussionsteilnehmer den Aufruf „Für unser Land“ bezweifelt: man habe nicht die alte DDR behalten wollen. Ein Buch über den Biermann-Ausschluß gibt ihr „ein merkwürdiges Gefühl“: dies sei das „Gerüst der Ereignisse“, „nicht aber das Fleisch“ (525). Sie spricht zum ersten Mal über den Ausschluß ihres Mannes aus der Partei und ihren Nichtausschluß. Sie erlebt, daß der Luchterhand-Verlag nicht korrekt abrechnet. Sie kann sich „von der Schablone, ich sei verpflichtet, mich zu engagieren, nur schwer lösen...“(533)

1995: Sie liest die „Berliner Zeitung“ mit der Debatte über „Nostalgie im Osten?“ Die frühere Volkskammerpräsidentin Frau Bergmann- Pohl spreche nicht davon, daß die Veränderung der Besitzverhältnisse das Zentrum der Schwierigkeiten bei der  Vereinigung gewesen sei, man rede bei den großen Parteien von „nach vorne schauen, mitgestalten, und nicht zurückblicken“. Das aber gerade tue man, wenn man Ex-Staatsanwälte der DDR vor Gericht stelle, weil sie Anzeigen wegen Wahlfälschungen nicht beachtet hätten. Die sollten also für das verurteilt werden, „was sie nicht getan haben“(548). Sie habe damals im Frühsommer ’89 gesagt, noch einmal könnte der Staat sich das nicht erlauben. Günter Gaus’ kritische Bemerkungen zu Westdeutschland werden dankbar zitiert. Gegen ein SED-Mitglied, das Verfassungsrichterin in Brandenburg geworden ist, sei „eine Schand- und Schmutzwelle in der Presse“ losgegangen(569).Der Eifer, die nationalsozialistische Diktatur aufzuarbeiten, sei in der Bundesrepublik „wesentlich geringer“ gewesen „als jetzt bei den Enthüllungen über die DDR-Diktatur“(580), eine Behauptung völlig aberwitziger Art .Sie genießt ein Programm des Kabaretts „Die Distel“, das „sich hauptsächlich der Arbeitslosigkeit und der Schamlosigkeit des Kapitals widmete“(582).

Wäre sie zwanzig Jahre früher geboren, hätten sie „die äußeren Umstände“ „kaum daran gehindert, auch als Erwachsene noch in den Nationalsozialismus hineinzuschliddern“(590 f). Weil man die alten Nazis im Osten nicht gewinnen wollte wie im Westen, habe man die Alternative der Bundesrepublik für das eigene Leben ausgeschlossen. Man hat sie natürlich auch im Osten gewinnen wollen und gewonnen. Vor allem aber ist die Argumentation entsetzlich brüchig: Sie wäre auch Nazi geworden, aber dieses Bewußtsein gerade habe sie vor der naziverseuchten Bundesrepublik bewahrt. So geht es bis 2000.  Die primitive Entgegensetzung von Bundesrepublik und DDR hat sie in schlichter Form wieder eingeholt. Kaum war der Druck der DDR-Zeit gewichen, öffnet sich Christa Wolf, die doch einen langen und z.T. natürlich schmerzlichen Reflexionsprozeß durchgemacht hatte, wie irgendein kleiner Funktionär der Nostalgie des Vergangenen. Reflexionsbemühungen über die Jahrzehnte hin haben nichts geholfen. Man hat sie nach ihrer Vergangenheit gefragt, sicherlich auch auf rüde Weise. Nun ist sie beleidigt und wendet sich wieder dem Vaterland zu, dessen Leitfiguren Walter Ulbricht, Erich Honecker und Erich Mielke hießen, ein Triumvirat, das hätte genügen müssen, jede Beziehung zu diesem Lande als Staat abzulehnen.

  

Das dicke DDR-Buch

  

Im Eulenspiegel-Verlag ist 2002 ein Buch über die DDR erschienen. Es heißt „Das dicke DDR-Buch“, und da „Eulenspiegel“ das satirische Blatt der DDR war, das lizenzierte natürlich, aber immerhin eines, so glaubt man, das Buch  biete eine gemäßigt kritische Revue der vergangenen DDR, nichts Fundamentales sicherlich, aber doch etwas, das eine gewisse  Distanz zur Vergangenheit zeigt. Der erste Eindruck entspricht dieser Annahme auch durchaus. Die Autoren stellen z.B. den Ehrentagskalender der DDR-Bürger vor, wobei sie einfach zusammenstellen, was es gab: nämlich z.B. den „Tag der Mitarbeiter des Handels“ oder den „Tag der Werktätigen der Wasserwirtschaft“ oder den „Tag der Werktätigen des Bereichs der haus- und kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen“, der am dritten Sonnabend im September begangen wurde und vor dem sich doch diejenigen, die ihn begehen sollten oder gar wollten, sagen mußten, sie seien „Werktätige  des Bereichs der...“, und dabei  nicht in  ein hemmungsloses Gelächter ausbrechen durften, da sie ja sonst ihren Tag nicht ernsthaft, ja überhaupt nicht hätten feiern können. Und wenn es dann gleich weiter geht mit  einer Darstellung  der Orden und Auszeichnungen (früher hieß  das „Orden und Ehrenzeichen“), die alle so aussehen, als hätte ein Kleingärtnerverein sich derlei ausgedacht,  dann ist man einigermaßen sicher, dies Buch wolle all das versammeln, was an planem Unsinn Menschen über Jahrzehnte zugemutet wurde. Von dieser Art des zitierfähigen Unsinns gibt es eine ganze Menge in dem dicken Buch. Der Dichter Manfred Streubel  hat das  „Lied der jungen Naturforscher“, sagen wir, gedichtet, das mit der Zeile beginnt: „Die Heimat hat sich schön gemacht und Tau blitzt ihr im Haar“ und in der zweiten Strophe die jungen Naturforscher singen läßt: „Mit Fisch und Dachs und Vogelwelt stehn wir auf du und du.“(17) Das glaubt man nicht, wenn man es nicht schwarz auf weiß gedruckt läse. Doch von dieser Art stellt das Buch viele schöne Dinge vor, und man kann sich Menschen in der ehemaligen DDR denken, die sich bei der Lektüre und der Betrachtung dieser schönen Dinge zuerst kaputt lachen und dann in Melancholie darüber verfallen, daß dies alles möglich war.

Man findet Leo Fürnbergs entsetzliches Parteilied mit dem Refrain: „Die Partei, die Partei, sie hat immer recht“(25) – also nicht die Kirche, nicht der Staat, sondern nun  genau das, was doch angeblich sich formiert hatte, um jedes „hat immer recht“ von einst mit der Berufung auf Aufklärung und Wissenschaft und Revolution unmöglich zu machen. Nun wurde, daß sie, die Partei, immer recht habe, wieder als eine Art Choral, aber unendlich primitiver, als es der schlichteste Kirchenchoral sagt, mit verbundenen Augen, mit geschlossenem Kopf, zur Ehre des großen Stalin in die Welt geschmettert. In der „Chronik der DDR“ wird unter vielem anderen ein Plakat der HO faksimiliert mit dem erschlagenden Text: „HO gut bedient – gut gekauft“(das Jahr 1956): vier Worte, außer HO alle gelogen, gelogener, wenn man das bilden könnte, als die dämlichste Reklame des Westens.

Aus dem Wortschatz der DDR, der schon als „Kaderwelsch“ annonciert wird, finden wir noch einmal „Klassenfeind“ und „Sättigungsbeilage“ und „Pionierehrenwort“ und „Friedenswacht“ und was sich dumme Kerle, die nicht in der Lage sind, ihre Lächerlichkeiten zu durchschauen, so ausdenken. „Alle Welt war begeistert von der Komik dieser deutschen Sprache der DDR“(158), schreibt Ernst Röhl dazu. Aber wird der Komik oder doch eher dem Bierernst gedient, wenn es z.B. zum Lexem „Hausbuch“ heißt:  „Eintrag des Ein- und Auszuges der Mieter eines Hauses in ein pflichtmäßig vom Hausbesitzer oder Hausvertrauensmann zu führendes Buch, in das sich auch Besucher aus dem NSW einzuschreiben hatten.“ Abgesehen davon, daß es beim „Hausbuch“ nicht um den „Eintrag“, sondern eben um das Buch geht, und daß es „pflichtgemäß“ heißen müßte, ist bis zum NSW hin hier ganz der Ton angeschlagen, der nicht der Komik des Kaderwelschen Laut gibt, sondern jenen als Ausdruck der sozialistischen Humanität mißversteht. Und das ist nun ein Ton, der sich neben gelungenen und weniger gelungenen Ironisierungen insbesondere und bemerkenswerterweise in dem Kapitel „Die Straße der Besten“ hörbar macht, wo es von diesen artige Karikaturen und biographische Skizzen gibt. Die Besten sind natürlich Schauspieler, Sportler, ein paar Schriftsteller. Aber daß die es sind, heißt ja bereits, daß von den „Besten“ ganz affirmativ gesprochen wird: die hier vertreten sind, gehören eben wirklich zu den Besten dieses Landes. Und bei denen  finden wir nun wirklich auch die Herren Mielke und Honecker und Hager und Mittag et toute la compagnie. Keinem dieser Leute  wird hier ein Leids getan, es sei denn, er sei ein „Abtrünniger“ wie der Genosse Schabowski. Der habe „Asche auf sein Haupt“ gestreut und strecke „selbiges heute vorzugsweise für ‚Haut-den-Lukas’- Aufarbeitung in diversen Polit-Talks hin“(138). Selbst eine unsägliche Gestalt wie Erich Mielke kommt noch ganz gut davon, „ein kleiner, stets eifrig und dienstbeflissen wirkender Mann“(134), ein Hausmeister nur, der eigentlich immer sauber gekehrt hat. Erich Honecker ist zunächst und vor allem ein „Kommunist und Antifaschist“, wonach es eigentlich weiterzugehen hätten: mit heißem Herzen, nun aber: „der zweimal wegen seiner politischen Haltung ins Gefängnis gesteckt“ wurde. Dieser Humanist „stürzte Ulbricht (was keiner bestreiten kann, aber in diesem Kontext bedeutet: so tapfer war er, so deutlich sah er, daß jener gestürzt werden mußte), „initiierte erfolgreich die konsumorientierte Politik des VIII. Parteitages“(denn nun heißt es an die Bananen-Republik zu erinnern, der es aber trotz H. bis zuletzt selbst an  Bananen fehlte) „und trieb die Entwicklung eines sozialistischen deutschen Staats voran“ (wahrhaft ein Trieb-Täter, wie die in Bautzen Eingesessenen gern bestätigen werden). Und daß all diese „Errungenschaften“, wie derlei Redensarten ja hießen, „wieder zur Disposition gestellt wurden“, ist natürlich Gorbatschow anzulasten,  der den Genossen Generalsekretär  und die DDR „verkaufte“(128). So sehen die Texte in diesem „dicken Buch“ auch aus, und es ist nicht schwer, sich die Köpfe ihrer Erfinder vorzustellen.

Denn da ist  ausgerechnet in der satirischen Brigade noch jenes elende Funktionärsgesinnungspack tätig, das seit 15 Jahren zuerst nach den Bananen langte und sich dann die 1,25 Billionen  Euro überweisen ließ, um mit ihm die Geschäfte lukrativer weiterzuführen, die es schon im Arbeiter- und Bauernstaat gemacht und als Reisekader ausgebaut und vertieft hatte. Jene nicht endende Schmierigkeit einer Bagage gibt Laut, die zunächst ein Land heruntergewirtschaftet hat, dann mit Mielke sagte, daß sie alle liebe, und dann mit dem Maulen  begann, wobei sie peinlich darauf achtete, daß ihr zugleich beide Hände frei blieben, um damit all das einzustreichen, was ein törichter Westen ihr überwies, aber um damit auch weiterhin  drohend gegen die Besatzer des Klassenfeinds fuchteln zu können.

  

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VON DER GEGENWART

  

Die Rechtschaffenen

                                                       „Das sind sie alle, alle ehrenwert!“

                                                                             Shakespeare, Julius Cäsar

  

Da dürfen wir Deutsche eine Chance nicht verpassen. Jahrzehntelang sind wir vorgeführt worden, nun stehen wir auf der richtigen Seite. Schon seit dem Anfang des Irak-Krieges, doch vor allen Dingen nach den Videoaufnahmen der Scheußlichkeiten, die die Amerikaner zu verantworten haben, aber eben nicht wir. Niemals würde dergleichen bei uns auch nur denkbar sein, z.B. weil wir,sagt unser Verteidigungsminister, den man schon als künftigen Bundeskanzler verkündet, weil wir eine Wehrpflichtarmee haben. Das ist zwar nur ein  Spruch, der innenpolitisch wirken soll, aber er wird gern gehört als Bestätigung für unsere Rechtschaffenheit.

Der sich bieder gebärdende Journalist Plasberg, zwar hart, aber fair , kann in seiner eigenen Rechtschaffenheit gar nicht verstehen, wie es zu jenen Scheußlichkeiten kommen konnte und bedauert den eingeladenen Amerikaner, der eben eingeladen wurde, damit ihn Plasberg bedauern, will sagen: vorzeigen kann. Am Ende seiner Sendung sind alle Teilnehmer dennoch dafür, ihre Kinder und Enkel in das große Amerika zu schicken, aber alle (bis auf den Amerikaner) konnten auch ihre Rechtschaffenheit vorführen, besonders eindrucksvoll unser Blüm, der zwar politisch versagt hat, aber moralisch erster Klasse ist: niemals, niemals Folter, sagt er, darüber diskutiere er erst gar nicht. Aber wie denn, wenn eigenes Kind und Kindeskind betroffen seien? Da ist er eine Sekunde lang irritiert, aber dann: niemals, niemals. Beifall.

Inzwischen wurde in Hildesheim gegen eine Jugendgang verhandelt, die einen Mitschüler monatelang gequält hat, und zwar ohne jedes Motiv, aus Langeweile. Sie stellten die Scheußlichkeiten, die sie begangen hatten, selbst ins Netz. Aber die Lehrer sahen nichts. „Sie haben Angst vor den Schülern“, sagte ein Schüler.

  

Wie ist das mit den scheußlichen Bildern? Nach Cohn-Bendit, der zu allem etwas weiß, aber nichts kann, ist es die „vierte Gewalt“ in Amerika, die ihm einzig Vertrauen gebe für das Land. Den Medien haben wir die Aufklärung über das zu verdanken, was für die Medien veranstaltet wurde. Die Grinser, die hinter den zu Fleischpaketen erniedrigten Gefangenen sich fröhlich darbieten, sind überzeugt, nicht nur das Rechte getan , sondern sich  vor allem um den Sensationismus amerikanischer  und nichtamerikanischer Medienmacher und Mediennutzer  verdient gemacht zu haben. Denn dies ist das ‚Anliegen’ der „vierten Gewalt“: etwas zu bieten, was noch nicht geboten worden ist. In den Köpfen der Täter ist nicht einmal mehr die sadistische Lust, die nichts Neues wäre, dirigierend, sondern der Wunsch, auf die Titelseite zu kommen. Sie können natürlich nicht einschätzen, wie in den Legenden unter den Bildern das inszenierte Geschehen beurteilt wird, dafür sind ja die Redaktionen zuständig. Und die sind mal für unsere tollen Jungs und Mädel, mal gegen sie. Das richtet sich nach den jeweiligen Marktchancen.

  

In England suchte der „Daily Mirror“ die Marktchancen als Stimmung gegen die Regierung Blair. Er machte es so blöd, daß die Folter-Inszenierungen als solche des Blattes aufflogen. Im Lande der Pressefreiheit hatte die „vierte Gewalt“ gezeigt, zu was sie sich versteht: nämlich noch die realisierten Scheußlichkeiten für Inszenierungen zu nutzen, die innenpolitischen Vorteilen dienten. Cohn-Bendits Vertrauen kann für die englischen Verhältnisse, also für das Mutterland der Demokratie, wohl nicht so ohne weiteres gelten.

Matthias Matussek, einer der klügsten und interessantesten Schreiber des „Spiegel“, hat sich in dessen Nummer 21/2004 Gedanken über den Vorfall gemacht. Die Fälschung sei „sicher eine der merkwürdigsten der Pressegeschichte“. Ist er bei Trost? Die „vierte Gewalt“ wird bei einem Verbrechen gefaßt, und er findet es ‚merkwürdig’. „Sie brachte die Wahrheit in einer getürkten Version ans Licht: Es war nicht so, wie behauptet wurde, aber so ähnlich könnte es gewesen sein.“ Weiß er, was er redet? Eine Fälschung bringt die Wahrheit ans Licht, weil es zwar eine Fälschung war, aber es vielleicht so, wie es in der Fälschung aussah, hätte sein können. Das schreibt jemand, der bei Sinnen ist? Nein, ein Journalist, der sein Handwerk noch dort für großartig hält, wo es seine Schmierigkeit jedermann entdeckt. Verbrechen sind geschehen, da begeht ein Saublatt selbst eines, und zwar nicht, um aufzuklären, was schon durch das Verfahren gescheitert wäre, nein, um Regierung und Land zu verleumden, um Innenpolitik zu bestimmen als „vierte Gewalt“, die allen anderen übergeordnet ist. Der arme Chefredakteur ist ‚dupiert’ und – man denke – „hat sich entschuldigt“, schreibt Matussek, der zeigt, was aus einem reflektierten Schreiber ganz schnell werden kann, wenn er Journalist ist.

  

Zu entschuldigen brauchen sich  deutsche Chefredakteure  zur Zeit nicht. Sie begnügen sich u.a. mehrheitlich damit, angesichts unserer Rechtschaffenheit zu verschweigen, was wiederum der „Spiegel“ in seiner Nummer 19/2004 mitgeteilt hat, daß nämlich bei den Ausschreitungen der Albaner im Kosovo Mitte März dieses Jahres, unsere „Helden“ (Terminus des „Spiegel“)  nach dem Zeugnis von UNO-Beamten, Soldaten anderer Truppenkontingente, albanischen Menschenrechtlern und unabhängigen Journalisten „Versagen, ja Feigheit“ gezeigt haben. „In der Bekämpfung der Ausschreitungen habe [die Bundeswehr] eine klägliche, wenn nicht die blamabelste Rolle gespielt.“ Nicht nur serbische Kirchen und Klöster und  serbische Bürger habe sie nicht geschützt, „auch die deutschen Uno-Polizisten fühlten sich von den deutschen Soldaten im Stich gelassen.“ Die blieben nämlich, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, in den Kasernen, im Gegensatz zu „Italienern, Griechen, Franzosen“. Frage des „Spiegel“: „Waren sie schlicht mutiger?“. Natürlich nicht, denn unser Außenminister, der Joschka, hat festgestellt, daß „unsere Soldaten...unter erheblichem Risiko und unter enormem Druck Großes geleistet“ haben. Das ist die Sprache der Diplomatie, die schon vor achtzig Jahren komisch klang. Obwohl sie damals noch von Berufsdiplomaten gebraucht wurde, die mit solchen Sprachkonventionen gewissermaßen aufgezogen wurden. Was von dem berufslosen Revolutionär Fischer sicher nicht gesagt werden kann. Und auch nicht von seinem Kumpel Cohn-Bendit, der aber in  diesem Falle, da er vor allem der „vierten Gewalt“ vertraut, sich eher auf den „Spiegel“ als auf die Suada seines Blutsbruders verlassen müßte.

  

  (nach oben)

  

Was man in der Bundesrepublik Deutschland, dem bisher freiesten Land auf deutschem Boden, nicht darf und was man darf

  

Man darf nicht öffentlich darüber nachdenken, ob Folter zur Verteidigung der Freiheit angewendet werden darf. Man hat nur Glück gehabt, wenn man darüber dennoch nachdenkt und Hochschullehrer und Jude ist.

Man darf nur mit Genehmigung des Zentralrats der Juden in Deutschland darüber nachdenken, ob die Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern richtig oder vielmehr falsch ist. Tut man es ohne diese Genehmigung, ist man ein Antisemit.

Man darf hingegen einem Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland, also beispielsweise der Bundesregierung, angehören, obwohl man in seiner politischen Jugend aktiv für die Beseitigung dieser Republik eingetreten ist, sei es im Straßenkampf, sei es als Angehöriger linksradikaler Vereinigungen. Dabei ging es nicht um Denken, sondern um Handeln, aber da man jetzt, soweit erkennbar, anders handelt, darf man früher so gehandelt haben.

Man darf es auch, z.B. als Bundestagspräsident, begrüßen, daß jemand, der wegen Anstiftung zum Mord verurteilt ist, dafür nicht bestraft wird.

Was man also in der Bundesrepublik Deutschland nicht darf  und was man darf, wird durch den Weltgeist (und dessen Agenten) entschieden, wobei jener vor der Entscheidung den Finger in den Wind hält.

  

  

Köln in zwei Tagen

  

Die Stadt. Kurz nach einem der ersten großen Luftangriffe stiegen wir – Vater, Mutter, der Elfjährige – in Köln um: es sollte ins Bergische gehen. Der Bahnhof war wohl noch einigermaßen intakt. Drei Jahre später saß der Vierzehnjährige auf einem kleinen Koffer vor dem Dom. Um ihn eine radikal zerstörte Stadt. Man mußte sehen, wie man auf die rechte Rheinseite und von dort aus nach Hause gelangte.

1953 kam man wieder: zum Studium. In Eintragungen wird von der Universität gesprochen, von Studienerfahrungen, auch schon vom Verkehr in der Stadt, der einem erheblich vorkam und irritierend. Wenig sonst von der Stadt, an die man sich aber als provisorisch erinnert, wo gebaut wird, aber immer noch viele  Stellen wüst liegen. Ein Hochamt im Dom wird erwähnt mit Kardinalsrot. Mitte der Fünfziger werde ich von einem Freund wegen der Rückkehr eines anderen in die Sünner-Terrassen beordert. Sie lagen nahe der Severinsbrücke auf der rechten Seite und sind verschwunden. Das Frühstück kostete den unerhörten Preis von 5,-- DM. Erstaunlich wenig  wird über den Wiederaufbau Kölns wie auch über den anderer Städte berichtet.

In den nächsten Jahrzehnten immer wieder einmal Kurzbesuche. Stets der Eindruck großer  Lebhaftigkeit, immer ist was los, durch die Hohe Straße drücken sich die Menschen. Die allerdings wirkt wie eine ausgebaute Budengasse, erst an der Schildergasse wird es großstädtischer.

Wie ist das heute bei genauerer Betrachtung? Fahrt über die Dürener Str. zum Hotel. Die ist eine lange Geschäftsstraße, auf der es aber rumpelt und pumpelt. Man denkt sofort an die ausgezeichneten Straßen im Osten.

Sehr gut  aber der Eindruck des Stadtwaldes mit Adenauer-Weiher. Fast noch in der Stadt, ganz idyllisch, durchweg in einiger Ordnung, doch nirgendwo museal, die Leute benehmen sich zivilisiert, sind nicht laut, verstreuen ihren Dreck nicht auf den Wiesen.

Mit einem Bus kann man zum Neumarkt fahren. Die Busse und Straßenbahnen sind wie überall: es wird die Kenntnis des Systems vorausgesetzt, man muß Münzen haben, man muß die richtigen Buttons drücken, man muß nach dem Kauf des Tickets dieses noch entwerten. Das System ist kompliziert und rücksichtslos. Den Neumarkt muß man verlassen, indem man über Gleise und Busstreifen geht; immer fürchtet man, überfahren zu werden. Das Ganze wirkt wie aus den sechziger Jahren, obwohl ein Verkehrswissenschaftler im Fernsehen gerade wieder von intelligenten Lösungen spricht.

Der Gang quer durch die Innenstadt Richtung Dom ist der Gang durch eine Stadt, die nach dem Krieg architektonisch so wenig gelungen ist wie fast alle zerstörten Städte Deutschlands. Die größte Herausforderung an Architekten seit dem Mittelalter ist nicht begriffen worden. Was man da an kümmerlicher Durchschnittlichkeit nebeneinander gesetzt hat, ist gar nicht zu fassen: langweilige Kastenarchitektur, gegen die der wilhelminische Eklektizismus wunderbar wirkt. Und nirgendwo geht man durch ‚Zusammenhänge’: alles scheint wie in amerikanischen Städten einfach hingesetzt; man möchte wissen, wo die Stadtplanung am Werke war. Plötzlich diese unselige Nordsüd-Querung, die nicht nur jedem Fußgänger im Wege ist, zu deren Seiten sich auch nur Ödnis breit macht. Dazwischen immer wieder mal  fein restaurierte Antiquitäten wie das Zeughaus oder Neuigkeiten wie die Pyramide der Oper, an der aber meist irgendetwas restauriert wird. Überall wird aufgerissen, überall findet man sich als Fußgänger im Wege: die Fahrradfahrer sind so rücksichtslos wie allerorten, Autos zeigen sich auch dort, wo man glaubt ungestört laufen zu können. Auf der Dominsel sind Zusammenballungen, aber hinter dem Dom, am Museum Ludwig gibt es einen völlig leeren Platz, der Aufmärsche zu erwarten scheint, die es glücklicherweise nicht gibt, von dem man aber nicht einmal ahnen kann, was er denn soll. Im übrigen ist alles überall verschmiert. Und alles ist schmuddelig: die Bürgersteige sind mit Weggeworfenem übersät, neben den öffentlichen Abfallkästen liegt der Abfall. Keiner kümmert sich um das Bild der Straße, keiner hält dazu an, sich darum zu kümmern. Die Polizei muß gucken, wie ihr der Kalif von Köln wieder entwischt.

Mit der Verkommenheit in den Städten hat es in den siebziger Jahren begonnen. Jetzt ist sie  längst nicht mehr aufzuhalten, nachdem man sie so lange hingenommen und diese Faulheit Toleranz genannt hat. Die Balkanisierung auch Kölns schreitet deutlich voran.

  

Die Umgebung. Fährt man auf die rechte Rheinseite und dann nach Süden Richtung Bonn, ist zunächst alles langweilig und von Straßen zugebaut. Aber nach der Abzweigung Bonn  wird Königswinter angezeigt, dann kommt noch eine autobahnartige Straße, dann wird die enger, man sieht das Siebengebirge vor sich, rechts die bekannten Orte, kommt nach Unkel. Das ist bei jedem Besuch eine hübsche kleine Sache: am Rhein kann man ziemlich ungestört spazierengehen, das Städtchen hat sich um Blumenrabatten bemüht, es gibt das renovierte Rheinhotel Schulz,  das zum Verkauf anstehende Haus, in dem Freiligrath gewohnt hat, das Gästehaus Pax, wohin sich Adenauer 1933 auf einige Monate flüchtete, Willy Brandts Haus. Im Ort sind schöne Fachwerkhäuser, das kleine Weinhaus, das nur kalte Speisen anbietet, gibt es noch, vor der Bäckerei-Konditorei kann man angenehm sitzen und Plattenkuchen essen. Allerdings kommt manchmal ein Pulk von Fahrradfahrern um  die Ecke, die sich kurz beraten und dann, Dank, weiterfahren. Am Marktplatz hat man immer noch nicht, nämlich nach über 10 Jahren, etwas Vernünftiges mit dem größten Haus gemacht, dessen Fassadenputz schlecht aussieht. Die Hauptstraße ist weitgehend für den Verkehr gesperrt.

Südlich von Unkel kann man mit der Fähre über den Rhein setzen, dann geht es erst durch Orte, die ärmer aussehen als viele Orte im Osten, dann bei  Bad Neuenahr auf die Autobahn, dann nach Brühl, wo man sich seinen Weg nach Augustusburg suchen muß. Dort fanden ja in den fünfziger Jahren die Staatsempfänge statt, die immer wie Versuche wirkten, wieder mitzuhalten. Ein für europäische Verhältnisse großes Land übte sich wie ich-weiß-nicht-wer in Protokoll. Das wirkte manchmal ziemlich komisch, aber auch einigermaßen zivilisiert. Jedenfalls zogen sich alle noch komplett an, sonst hätten sie nicht mitmachen dürfen.

Augustusburg ist gut restauriert in Gelb und Grau mit schöner Terrasse und einem französischen Garten mit Beeten sorgfältig ausgewählter Blumen, die Springbrunnen sind in Tätigkeit, Buchenalleen geben Schatten, und die Leute sind, nehmt alles nur in allem, ziemlich zivilisiert. Nur vor dem Eisentor gehen sie, um zum Parkplatz zu kommen, über den Rasen, obwohl Kreidekreuze anraten, in weitem Bogen um den Rasen herumzugehen. Das ist aber nur darum erforderlich (und wird nicht akzeptiert), weil eine Kölner Baufirma irgendwelche Relikte hinterlassen, eine Absperrung gesetzt hat und sich offenbar seit Jahren nicht mehr um die Stelle kümmert.

  

Das Hotel.  Das Hotel hat den Namen einer bekannten Hotelkette und liegt günstig: nämlich ruhig, unmittelbar am Stadtwald und dennoch mit guter Verbindung zum Zentrum. Es hat früher einer anderen Kette gehört. Wenn man vorfährt, sieht es äußerst langweilig aus, die Fassade wirkt ein bißchen schmutzig. Das HRS weist ihm vier Sterne zu. Es lockt mit  einem sehr günstigen Sonderpreis. Die Hotellounge ist nicht großartig, aber ausreichend,dahinter liegt das Restaurant,das gleichzeitig Frühstücksraum ist. Es ist  nach der Übernahme anscheinend im alten Zustand geblieben, soll wohl ‚jugendlich’ wirken, wirkt aber eher salopp. Weitere Aufenthaltsräume gibt es nicht. Zwei Fahrstühle stehen zur Verfügung. In den schmalen Gängen liegen üppige Läufer, goldfarbene Spiegel sind auszumachen. Das Zimmer ist nicht groß, hat aber alles, was man braucht, wirkt überdurchschnittlich komfortabel, ist sauber. Das gilt auch für das Duschbad. Der Fernseher ist in der Lautstärke reduziert. Hört man schlecht, kann man die meisten Programme nicht verstehen. Im Bad spart man an den Utensilien, die man sonst als „Aufmerksamkeit des Hauses“ gern präsentierte. Eine Grünpflanze wird nicht weiter gepflegt, trockene Blätter bezeugen das. Ein zweites Zweitkopfkissen wird auf Wunsch sofort gebracht.

Das Frühstück ist im Zimmerpreis enthalten. Seit einiger Zeit  kann man beobachten, daß es eine Konkurrenz gibt zwischen den Hotels, die, wie früher allgemein in Deutschland üblich, das Zimmer inclusive Frühstück anbieten, und denen, die das, wie in Amerika üblich,  nicht tun. Der Inclusivpreis hat hier eine Verminderung des Frühstücksniveaus zur Folge. Wurst und Schinken sind von bescheidener Qualität, Käse gibt es nur in geringer Auswahl, nur der Tee wird in Vielfalt geboten. Am ersten Tag nimmt eine junge Dame die Kaffeebestellung entgegen, führt sie aber nicht aus. Zehn Minuten später darauf angesprochen, sagt sie, sie habe es vergessen. Auf den Tischen stehen vertrocknende Grünpflanzen.

Bei der Rezeptionistin wird gefragt, wie das Parken zu handhaben sei. Dazu brauche man eine Karte, heißt es. Man könne auch gleich für die Aufenthaltsdauer zahlen. Warum man das nicht beim Einchecken sage? Das tue man, aber viele hörten nicht zu: „Stellen Sie sich das vor.“ Ähnlich beim  Auschecken: keine Getränke aus dem Kühlschrank. Aber ob ich nicht eine Flasche Mineralwasser (5,50 Euro) gehabt habe? Nein, es stand bei der Anreise auch gar keine auf dem Zimmer. „Ich frage ja nur.“ Wie die Kollegin am Vortag schrappt sie knapp an der Unverschämtheit vorbei. Das fällt immer wieder bei Rezeptionistinnen auf.  Werden sie auf  derlei nicht mehr hingewiesen ? 

  

Stadt, Land, Hotel – gehört das zusammen und ist jedes mehr als eine flüchtige Impression?

Köln zeigt vor, was nach 1942 mit einer großen alten Stadt geschehen ist. Nicht als ob das die Leute schmerzte. Die, zumal die zwischen 20 und 30, haben es sich zurechtgelegt: die Stadt gestattet nicht nur, sie ist vor allem dazu  da, einen drauf zu machen. Man trifft sich am Dom, der ein Treffpunkt ist und sonst nichts und breitet sich aus: knutscht, säuft, ist laut. Und die noch Jüngeren sorgen dafür, daß die seit zwanzig Jahren andauernden Schmierereien nicht aufhören. Die erhaltenen oder rekonstruierten Architekturen werden einzig ältlichen Oberstudienrätinnen, die Kulturreisen machen,  vorgeführt. Nur durch den Dom, weil er so groß und eben der Dom ist, schlendern für ein paar Minuten die, die ihn als Treffpunkt hauptsächlich wahrnehmen. Die Architekturen sind  Versatzstücke, die den Beweis zu führen haben, daß wir in Köln sind. Sonst wäre das Ganze nur ein Globalisierungsprodukt, in dem man das Zeug kaufen kann, das es auch in Tokio gibt, und wo „Kölsch“ so ziemlich das einzige ist, was die Stadt identifizierbar macht. 

Die Punkte in der Landschaft – Kleinstadt und Schloß – scheinen die Ausflugsorte geblieben zu sein, die sie schon vor dem Krieg waren, aber sie machen sich den meisten kaum noch als Gebilde bemerkbar, sondern lassen einzig die Frage aufkommen: „Wo kann man denn hier was trinken?“ Nur noch die Älteren kommen  mit dem Auto, für die meisten sind es Orientierungspunkte für den Fahrradverkehr, die gestatten, daß die  Gruppe befindet, wo es weitergeht. Denn die Landschaft gibt im Gegensatz zur Stadt die Gelegenheit zu treten.

Im Hotel ist man nur, um zu schlafen und morgens das Frühstück zu erledigen. Darum wirken sie wie komfortable Jugendherbergen, in denen die Rezeptionistinnen die Funktion des Herbergsvaters übernommen haben, die sich vor allem über die Gäste beschweren, weil sie  wieder nicht zugehört haben, wenn man ihnen was gesagt hat. Bis in die oberen Ränge der Hotellerie gibt es nicht mehr die Möglichkeit, einen Kaffee oder Tee in angenehmer Umgebung zu trinken. Das alles kommt nur noch in der immer lügenhafter werdenden Reklame vor.

Stadt, Land, Hotel  sind in den Tourismus eingebunden, eine der großen Verpflichtungen des Zeitalters. Er steht für die Verwandlung aller Räume  ins Nichtssagende incl. oder excl. Frühstück.

  

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VOM JOURNALISMUS

  

Bildungsbürger.

  

Ein hohes Vergnügen ist es, sie mit Bildung bzw. dem, was sie dafür halten, prunken zu sehen. Es gab den Chefreporter einer Provinzzeitung, der sich in ein Zitat verliebt hatte, es aber - und das gehört zum Thema - nur als Klang im Ohr hatte. Nie hatte er einen Augenblick daran gewendet, sich zu fragen, ob es so heißen könne, wie er es schrieb, nein, er streute immer wieder die gleiche Version des Zitats in seine Artikel ein. Die lautete: „Per Order le Mufti“. Damit war ihm gleich zweierlei gelungen: im Bestand von vier Wörtern vier Fehler unterzubringen und einen kauderwelschen Satz par excellence herzustellen.

Natürlich hätte er sich vor der Lächerlichkeit leicht bewahren können, aber wenn es ums Prunken geht, sind sie wie Lemminge.

Im Deutschlandfunk gibt es morgens lange Interviews. Mit dem früheren Justizminister wird ein schwieriger rechtspolitischer Casus besprochen. Am Ende des Interviews sagt der: „Fiat iustitia“, was im Kontext wohl Zweifel hinsichtlich des besprochenen Falles ausdrücken sollte. Der ein bißchen Kundige kennt den Satz, der ein halber ist, der Kundige kennt den ganzen Satz. Alles in Ordnung. Aber der Interviewer will es wissen und  will annoncieren, daß er weiß. Und prompt liegt er da: „et pereat mundi“, ergänzt er siegesgewiß. Das ist zwar Blödsinn und die meisten Zuhörer wissen nicht einmal, was gemeint ist. Doch der Sprecher war stolz, bis ihm jemand im Sender, falls es einen solchen Jemand noch gibt, gesagt hat, was zu sagen war. Beim nächsten Mal aber wird jener es, um des Prunkens willen, wieder genauso machen. Denn es geht ihnen wie dem  Mitfahrer auf einer Busreise, der nach der Besichtigung eines Parks des Gartenarchitekten Lenné ohne Not zum Fahrer ging, das Mikrofon in die Hand nahm und die Mitreisenden belehrte, der Gartengestalter sei der berühmte schwedische Naturforscher Linné.

  

  

„Staatschef“

  

In den Morgennachrichten des Rundfunks wird gleich dreimal innerhalb einer Nachricht vom „Staatschef“ gesprochen. Damit ist zweimal ein jetziger Staatspräsident, einmal ein früherer gemeint.

Warum schreibt der Nachrichtenverfasser nicht dreimal und richtig „Staatspräsident“, zumal der korrekte Terminus auch der präziseste ist ? Weil er das für Nachrichten fatale variatio-Prinzip im Kopf hat, nämlich statt der Wiederholung eines Begriffs ein Synonym zu gebrauchen. Hier aber wird der eigentliche Begriff gar nicht erst verwendet, der Nachrichtenverfasser beginnt kurioserweise mit dem Synonym. Das zeigt, wie schnell und unbemerkt sich die Schreibhaltung eines Journalisten automatisieren kann.

Und das wiederum  hat unmittelbare Folgen für den Bedeutungsakzent der Nachricht. Denn „Staatschef“ ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit den autoritären und totalitären Regimes seit den dreißiger Jahren sich durchsetzte. Er fixierte die Art einer Machtausübung, die sich von den Regeln demokratischer Verfassungen mehr oder minder weit entfernt hatte. Sie war natürlich eine ganz andere als die eines demokratischen Staatsoberhaupts. Das  aber  wäre in diesem Fall  allenfalls ein angemessenes Synoym gewesen.

  

Der alltägliche Feuilleton-Tinnef.

  

Artistical correctness  geht so: Wenn bei irgendetwas Zeitgenössischem, das sich Kunst nennt, vier Leute gesagt haben: ‘Phänomenal’, sagt es der fünfte auch, schon weil er Angst hat, etwas anderes zu sagen. Das einzig Interessante an dieser kollektiven Verblödungsmanie ist, wie es zu den ersten vier Fürsprechern kommt. Vom fünften an wird dann geschrieben: ’einer der größten Künstler Spaniens’ und ‘zählt zu den bedeutendsten Bildhauern der Gegenwart’. Und nun muß der dilettantische Besprecher seine Beschreibungen an diesen Vor-Urteilen ausrichten.

Der Besprochene arbeitet mit Ton. „Schwere quaderförmige Blöcke aus Ton, die alles Beiläufige ausklammern...“ Wie denn ? Was denn? Und noch längst nicht genug:“...verschmelzen als Gebilde sich durchdringender Formen in den Augen des Betrachters beinahe zu einer Einheit.“ Wo soll man da anfangen, wo enden?  Gerade noch quaderförmige Blöcke mit ausgeklammertem Beiläufigen, gleich schon „Gebilde“ „sich durchdringender Formen“, dann wieder „Einheit“, allerdings nur „beinahe“ und „in den Augen des Betrachters“.

Gerade noch haben die „Augen des Betrachters“ „Blöcke aus Ton“ „zu einer Einheit“ verschmolzen, gleich schon werden sie „zur Bewegung“ herausgefordert, und zwar von wem ? Vom „in sich ruhenden Ton-Block“. Wie denn ? Was denn? Lebt er, spricht er ? Nein, nein: er ist ‘stumm, leblos’, aber jetzt ist der Künstler dran. Der gibt den Blöcken, also den quaderförmigen, also den Gebilden sich durchdringender Formen, also den zu Bewegung herausfordernden, also den stummen, leblosen, also den Blöcken, hoppla, ‘kraftvolle Energie’, und zwar „durch Ableitungen gewinkelte Linien“. 

Eben hatte man noch gedacht: Das sind doch, Teufel auch, zweidimensionale Skulpturen, wird man schon beruhigt: „Die schwarz-hell kontrastierende Bemalung mit Kupferoxyd verleiht der Skulptur den Charakter der Dreidimensionalität“. Ganz sicher ist es aber mit der Dreidimensionalität noch nicht, immerhin wirken die „schwarzen Formen als Umarmung“ . Und das ist doch auch schon was.

„Di bis Fr 16 bis 18.30, Sa/So 10.30 bis 12.30. Katalog 15 Eur.“ 

  

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Presseclub (ein Text vom März 1997).

Die Eingeschlafenheit des Landes ist sehr deutlich am sonntäglichen Presseclub zu erkennen, der seit Monaten leiernd und gähnend das Aufwachen fordert: Senkung der Arbeitslosigkeit, Verringerung der Lohnnebenkosten, mehr Steuergerechtigkeit u.s.f. , wobei die einzige Abwechslung die jeweils andere Mischung der fünf bis sieben Schlagworte ist.

Wer  wird dadurch informiert ? Wer teilt von diesen Rhetorikern irgendetwas mit, das uns nicht seit langer Zeit bekannt wäre ? Nein, es geht nur noch darum, zur gleichen Zeit fünf Lohnschreiber zu versammeln und ihnen anschließend das Honorar auszufolgern. Der Inhalt ist das statuarisch Immergleiche, das auch noch personell durch die  sich wiederholende Anwesenheit von  Experten betont wird, Allegorien des erstarrten Geschwätzes, die, an den  Stuhl geklebt, mit großem Ernst immer wieder sagen, es müsse nun etwas geschehen.

Anschließend erteilt der leitende Liturg, einmal ein Protestant, einmal ein Katholik, der Fernsehgemeinde den Sonntagssegen. Und wieder einmal ist die drohende Lücke im Programm, die Leerzeit abgewendet.

  

Sie lesen „Die Zeit“ nicht mehr?

  

Wenn man nach einer längeren Phase der Lektüre der Wochenzeitung „Die Zeit“ diese Lektüre aufgibt, so stellt man fest, daß man keinerlei Entzugserscheinungen hat. Es fehlt einfach nichts. Es dauert sogar eine Weile, bis man überhaupt danach fragt, wie sich der Verzicht darauf, die „Zeit“ zu lesen, auswirkt. Woran könnte das liegen? 

Mir scheint ein wichtiger Grund dafür zu sein, daß sich die „Zeit“ im Abstand nicht als eine eigentümliche, gar als eine anspruchsvolle Zeitung darstellt, sondern als eine ganz übliche, deren Design Originalität ersetzt. Üblich bedeutet nicht nur, daß sie magazinartig ist wie jede Zeitung, üblich heißt vor allem, daß viele Teile, insbesondere Ressorts nicht miteinander kompatibel sind. Was natürlich als Vielfalt der Meinungen von der Redaktion selbst gefeiert wird, ist in Wahrheit ein chaotisches Durcheinander. Gibt beispielsweise das politische Ressort immerhin vor, Pragmatisches und Ethisches zu vermitteln, so ist das Feuilleton von postmoderner Beliebigkeit, die sich vor allem in einer sich ständig überbietenden Ironie präsentiert, während in der Politik nicht nur der trockene Ton vorherrscht, sondern er dort vor allem mit dem Anspruch besonderer Ernsthaftigkeit der Argumentation auftritt. Das heißt, man hat überhaupt kein Bewußtsein dessen, daß nur dann, wenn es einen integrativen Faktor gibt,statt der zufälligen Versammlung von Gedrucktem ein Ganzes erkennbar wird. 

Die sinnlose Widersprüchlichkeit von allem möglichen ist einer Atomisierung der Meinungen benachbart, wie sie durch die mangelnde Bemühung entsteht, ein Corps von Schriftstellern zu suchen, die sich ergänzen. Es geht vielmehr nur darum, eine Art „Schwarzes Brett“ für Prominente zu sein. Völlig gleichgültig ist es , welche Qualität das hat, was diese Prominenten sagen, wichtig ist allein, daß sie prominent sind. Und es gibt (fast) nur das Prinzip, daß alles Prominente auch politically correct ist, was aber fast schon durch die Prominenz der zugelassenen Sprecher gewährleistet wird. Wir finden daher immer wieder mit wenigen Ausnahmen über Jahre und Jahrzehnte dieselben Namen unter den Autoren.

Es ist eine Gruppe von Leuten, die sich auf Kosten des Publikums eigentlich nur miteinander unterhält. Dabei ist diese Gruppe nicht durch ein besonderes Maß an kreativer Intelligenz oder an moralischer Autorität geprägt, sondern es sind Personen, die sich als Repräsentanten von Tendenzen massiv durchgesetzt haben, nicht sehr unterschieden von politischen Repräsentanten. 

Schließlich ist es ein Kennzeichen der „Zeit“, daß sie noch schlechter mit ihren Lesern umgehen kann als andere Blätter. Die populären erledigen diese Aufgabe durch einen populistisch verbrämten Zynismus, die nennenswerteren Tageszeitungen lassen vor allem einen Typus von Leserbriefschreiber zu, der in kleinen Leitartikeln das wiederholt oder variiert, was die Zeitung ideologisch vertritt. Mit einem fundamentaleren Widerspruch können sie natürlich alle nichts anfangen, aber am wenigsten die „Zeit“, die darum die übliche Entschuldigung des Auswahlzwangs fürs Totschweigen des anderen, ihr Fremden nutzt. Fremd ist ihr bis zur verhaltenen Wut die Konfrontation mit sich selbst, sei es ihrer Chaotik, sei es ihrer Unverbindlichkeitsironie, sei es ihrer politischen Oberlehrerattitude. Als Leser ist nur zugelassen, wer sie in irgendeiner Weise honoriert und sei es dadurch, daß er dank seiner Naivität ihre intellektuelle Überlegenheit bestätigt. 

Es lohnt nicht, die „Zeit“ zu lesen.Ihre Kombination von Mittelstraße und Exzentrik ergibt nicht eine eigentümliche Reflexion, sondern nur ein Mischmasch aus Langeweile und augenblickhafter Gaudi.

  

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

  

Literaturfeiern in Österreich

oder Karl Kraus und Robert Musil vor dreißig Jahren

(Tagebuchnotizen)

  

Seit Ende April [1974] bin ich zweimal in Wien gewesen: Karl-Kraus-Woche zum hundersten Geburtstag, Gründung der Musil-Gesellschaft.

  

Für die Kraus-Woche war die Gesellschaft für Literatur in Wien verantwortlich. Sie lud mich zunächst zum Hauptreferat ein, das dann aber eines von vieren war: neben mir sprachen Frau Mitscherlich [Psychoanalytikerin], Erich Heller[Germanist in Edmonton, USA] und Torberg[Schriftsteller].

[...]

[In Wien] zeigte der erste Gang durch die Stadt von und über Kraus nichts. Kein Plakat, keine Ausstellungen in den Buchhandlungen, nicht einmal am [Palais] Palffy,wo die Vorträge stattfinden sollten, irgendetwas. Am nächsten Morgen versicherte Herr Urbach [damals wohl Sekretär der Literaturgesellschaft] zwar, es werde ein gutbesuchter Abend werden, die persönlichen Einladungen zögen die meisten bei. Aber ich blieb mißtrauisch, nachdem wir festgestellt hatten, daß selbst in einer großen Buchhandlung das Plakat gut abgelegt worden war.

Nachmittags  in  der Literaturgesellschaft  den  angenehmen, liebenswürdigen Wolfgang Kraus [kennengelernt], der die Gesellschaft leitet, [weiter] den subaltern wirkenden, altösterreichisch höflichen, aber wohl auch grantigen Edwin Hartl[Schriftsteller und Journalist], Otto Kerry, einen nervösen, sehr engagierten, sehr hilfsbereiten Burgschauspieler, der einmal Buchhändler war und nebenbei einen kleinen Verlag macht, Hans Weigel[Schriftsteller und Theaterkritiker], dick, mit Vorsicht beobachtend, ein bißchen ängstlich wirkend.

Abends war es sicherlich sehr gut besetzt. Ich hatte mich lange auf den Vortrag vorbereitet, er war aber viel zu lang geworden, und ich konnte nur zwei Teile - Anfang und Schluß – daraus vortragen, die immerhin 90 Minuten dauerten[eingegangen in „Karl Kraus und die Presse“. München 1975]. Die Wirkung war, glaube ich, stark. Viele lobten über das übliche Maß hinaus. Weigel, Kerry anerkannten sehr. Besonders freute mich, daß am nächsten Abend ein alter Herr auf mich zutrat, mir ein großes Kompliment machte und sagte, daß er Günter Anders heiße.

Mit der Wut der Journalisten war natürlich zu rechnen, sie kam alsbald als Totschweigen, massiv falsches Referat, als Vorwurf: selbst Journalist oder phrasenmachender Wissenschaftler. 

Dienstag gab es vor noch größerem Auditorium, man kam kaum hinein, ein Geplauder von F.Torberg, Mittwoch kurze Referate von Matejka[früherer kommunistischer Kulturstadtrat in Wien], das ganz unprätentiös war, aber Informationen über die Wiener und K. brachte, von Hartl und Jenaczek [Literaturwissenschaftler] und abends ein absurd unreflektiertes Referat von Margarete Mitscherlich. Fazit: dem Manne fehlte leider das Verständnis [für andere]. Auch hier lebhafter Beifall. Am wichtigsten: der Tonfilm mit K.K., eine miserable Kopie, ganz laienhaft mit offenbar kurzen Filmstücken gedreht. Die gängige Kritik hinterher: altes Burgtheater, das keiner der Kritiker ja kannte. Wenn das überhaupt etwas sagt, dann dies: strengste Scheidung zwischen Vers und Prosa. Vor „Zum ewigen Frieden“ liest K. das Motto eher beiläufig und ganz rasch. Dann „Nie las“ wirklich „auftaktig“, mit allem Nachdruck. Die Frage ist wohl nicht, ob das heute noch „unmittelbar“ wirkt, sondern was es zu bedeuten habe. Die „Reklamefahrten zur Hölle“ aber wirken durchaus auch „unmittelbar“.

Abends lädt uns Weigel ein, Rasch[Germanist in Münster]zieht mit [ ...] Später kommt Weigels Freundin, Elfriede Ott, aus der Vorstellung: eine ruhig liebenswürdige Dame, Tochter von Attila Hörbiger und Paula Wessely, wie ich höre. [falsch, das ist Elisabeth Orth]

Donnerstag noch ein etwas wolkiger Vortrag von Heller. Ein paar dieser überflüssigen Empfänge, auf denen ich die unangenehme Bekanntschaft mit Reich-Ranicki mache, der mir Lob spendet, obwohl er gar nicht da war, und Mitarbeit bei der FAZ anbietet. Ich war sehr schroff: Gottseidank. Denn was er sich am Freitag dann leistete, rechtfertigte das ganz und gar. Dagegen freute ich mich, Heinrich Wild vom Kösel-Verlag zu treffen, mit dem ich ein Gespräch verabredete, das inzwischen in W. stattfand[...]

Am Donnerstag ging es mir bereits so, wie es bei Infektionen zu gehen pflegt [...]

Dennoch ging ich am Freitagabend zu der „Podiumsdiskussion“ vor vielen Leuten (ca 800). Georg Knepler, Klavierbegleiter von Kraus bei Offenbach-Lesungen, jetzt Emeritus in Ostberlin, Ross vom Goethe-Institut und Reich-Ranicki gaben kurze Stellungnahmen ab. Unerträglich davon Reich-R., der vier Punkte vortrug: Kraus habe sich nur der Bild-Zeitung seiner Zeit zugewandt, er habe die Sprache überschätzt, sei verantwortungslos gewesen (nämlich eitel), er habe sich von der Zeit abgewendet. Diese totale Ignoranz der Krausschen Schriften wurde würdig ergänzt: Vorher hatte sich R.-R. im „Künstlerzimmer“ von der Teilnahme des Publikums an Diskussionen distanziert. Das sei so, als springe jemand nach einem Klavierabend mit der Bemerkung auf, auch er könne klavierspielen. Bei seinem Votum dann: K. habe nicht einmal geahnt, daß er mit dem Verdikt, Heine habe der deutschen Sprache derart das Mieder gelüftet, daß jeder Kommis seitdem an ihren Brüsten fingern könne, die Demokratisierung der Lyrik annonciert habe, die Heine zu verdanken sei.

Ich wollte v.a. auf  Frau Mitscherlich antworten, mußte dann aber doch R.-R. seine Ignoranz bescheinigen, was ihn natürlich böse machte. Aber dann gab es vor allem über K’ Bürgerlichkeit Streit zwischen Knepler und R.-R.. Und Heller nahm ihn gar noch als Antikommunisten in Anspruch.

[...]

Sonntag besuchte ich K’ Grab, das ich kaum fand. Der Friedhofswärter hatte keine Ahnung. Hartl, den ich anrief, sagte, er läge bei den Konfessionslosen, er selbst sei aber seit 20 Jahren nicht dagewesen. Das war Unsinn. Kerry wußte die genaue Lagebezeichnung, aber nicht, wo das Grab wirklich zu finden sei. Ich fand es schließlich. Es wirkte, wie in Natur zurückgenommen: darauf ein Kranz der Gemeinde Wien, vertrocknender Flieder. Ich hatte ein paar Buschen Flieder gekauft und legte sie dazu. Am 28. [April] war ich wahrscheinlich der einzige, der das Grab aufgesucht hatte.

Es gab noch nein paar kuriose Interviews, ein paar Sätze knöpfte der „Spiegel“ mir ab.

[...] Mittwoch, den 1.Mai fuhren wir bei strömendem Regen nach Reichenhall, am nächsten Tag nach München, wo ich einen Vortrag über den jungen Kraus in der Thyssen-Stiftung hielt.

Unterwegs schon konnten wir etwas von den journalistischen Ausdünstungen über die Kraus-Woche, v.a. aber auch über den hundertsten Geburtstag zur Kenntnis nehmen. Ich will etwas über dieses unvergängliche Saubengeltum schreiben [s. „Karl Kraus und die Presse“].

  

  

Vom 10.- 12. Juni [1974] die Gründung der Musil-Gesellschaft. Mit einigem Pomp, da Bruno Kreisky sich selbst als Musilianer annoncierte. Sehr „edle“ Einladung, Zimmer im „Bristol“, riesige Plakate. Finanzierung durch die Sparkasse. Dafür klappte es mit der „Urganisation“ von Anfang an nicht.

Vor der Eröffnung der Musil-Ausstellung in der Nationalbibliothek traf ich Canetti, der mit Wotruba[Bildhauer, schuf eine Büste von Musil] kam (ihn kannte ich noch nicht). In der Nationalbibliothek eine karge Eröffnung, fast ohne Stühle. Frisé [Musil-Herausgeber] sprach über Musil-Gesellschaften „einst und jetzt“. Dann die Ministerin Frau Firnberg: du liebe Güte. Der aus den Fugen gegangene Dinklage zeigte ihr seine Leistung. Anschließend lerne ich Ledig-Rowohlt kennen. Wir fahren im Bus zur Sparkasse, wo ein ungeheures, völlig übertriebenes Buffet aufgebaut ist. Ein Hermann Mayer spricht mich an, Professor und Beamter im Unterrichtsministerium. Er soll am Abend eine Diskussion im Auditorium Maximum [der Universität] leiten, an der ich statt Robert Minders teilzunehmen habe. Rasch und ich werden instruiert, d.h. eigentlich wird zum Thema „Kultur und Schule“ gar nichts gesagt, [es geht] nur [um] ein paar formale Quisquilien. Wir müssen uns von dem großartigen Buffet trennen, auch von einem hofrätlichen Kellner (Leihkellner, denke ich), der schon bei einem Bundespräsidentenempfang während der Kraus-Woche dabei war. 

Der Saal ist zur Hälfte besetzt. Der gemütliche Herr  Mayer stellt die Podiumsleute eine Viertelstunde lang vor. Dann redet Jan Aler aus Amsterdam Prezioses 20 Minuten. Das Auditorium wird unruhig. Mayer wiegelt ab. Die anderen: Friedrich Heer (eine „Nummer“)[Schriftsteller und Publizist], Rasch, Strelka[Germanist in USA], A. machen es kürzer. Aber es flattert natürlich alles auseinander. Die Fragen aus dem Publikum sind  nichts. Hinterher noch ein Interview mit einem Einfältigen vom Rundfunk, der natürlich, ohne von Musil etwas zu kennen, eine Sendung macht.

Wir sitzen noch im Café Landmann zusammen (Rasch, Frau Melchinger, Aler). Dazu kommt ein Herr Freese[später Germanist in Baltimore], musilbeflissen, der sich in Münster vorstellen will[...] 

Am nächsten Morgen Hals über Kopf die Gründungsversammlung vor der Versammlung mit allenfalls 25 Leuten. Die Satzung ist fertig, der Vorstand bestellt, ein Kuratorium und –zig Ehrenmitglieder sollen berufen werden. In der Satzung wird das völlig dilettantische Unternehmen Dinklage in Klagenfurt anerkannt. Ich wehre mich dagegen, auch gegen die Ehrenmitglieder. Der agile, alles schmeißende Bundeskanzler-Sekretär Mayer-König ist mit allem einverstanden.

Dann im Saal des Palais Lobkowitz, in dem die französische Botschaft sitzt, die „festliche“ Gründung. Der französische Kulturattaché, ein Germanist, spricht gut, Frau Roth lang, Rasch unverständlich. Dazu ein Fettkloß mit schmierigen Koteletten: der Unterrichtsminister Sinowatz. Hinterher werde ich in einen Krach zwischen Herrn Aler und Mayer-König hineingezogen: es geht um Tagegelder. 

Nachmittags eine aufwendig aufgemachte sogenannte öffentliche Arbeitssitzung von Vorstand und Kuratorium in der Sparkasse: Palaver, kreuze und quere Fragen aus dem Publikum, schließlich eine Art Haßbezeugung von Seiten Corinos[Literaturwissenschaftler], der sich v.a. als Opposition betätigt.

Abends empfängt Kreisky, der mich mit „aha“ begrüßt. Ich nehme an, daß er die Identität des Besuchers und des Briefschreibers A. realisierte. Ich hatte ihm zwischen K.K. und Musil die Zurückziehung meiner Bewerbung um den Lehrstuhl in Wien mitgeteilt.

Es gibt ein längeres Gespräch mit Ledig-Rowohlt, dann mit Frisé. Am nächsten Morgen wird das mit L. im Beisein Raschs fortgesetzt. Immerhin so viel: ich kann ihn über die Bedeutung Musils informieren, denn er weiß darüber nichts Konkretes. Dann: er will nichts mehr in Sachen Musil ohne wirkliche Beratung tun. Er will versuchen, Frau Kaiser-Wilkins zum Abgeben des Vertrages zu bewegen, zunächst aber dazu, daß sie Auskunft über ihre zeitliche Planung gibt. Frisé ist zunächst sehr störrisch[...]Er ist dann ganz brav, geht bis zum Hotel mit. Nein, er wolle nicht bis an sein Lebensende allein Musil betreiben. (Am Morgen hatte sich übrigens der junge Herr Aspetsberger[Germanist in Klagenfurt] konziliant gezeigt und sich für die seinerzeitige Albernheit, mich als Musil-Experten nicht nach Wien zu laden, entschuldigt.)

Mittwochvormittag mein Vortrag im Burgtheater [„Sprache und Sprechen in Musils ‚Mann ohne Eigenschaften’“] und Lesung, unter anderem mit Hilde Krahl. Es ist gut besetzt, besser als bei den anderen Veranstaltungen, allerdings dank eines Aufgebots an Schülern auf den Rängen. Ich komme ziemlich spät, da ich vorher gar nichts über das Wie und Wo gehört hatte; werde von einem Funktionär, der sich nicht vorstellt, mit dem Ruf empfangen: „Sind Sie der Vortragende ?“ Ich werde durch Gänge gezogen, des Mantels entledigt, nach Kurzinstruktion auf die Bühne geschickt, wo es sofort heißt: „Mikrofon“. Aber der Vortrag geht dann sehr gut, wird offenbar auch gut aufgenommen, es gibt spontane Äußerungen, z.B. von Friedrich Heer, dessen Tochter abgeordnet war und geäußert habe (17 Jahre): soetwas habe sie noch nie gehört. Dabei war es ein einigermaßen populäres Manuskript. Aber selbst Musil-Kenner behaupten, etwas gelernt zu haben. Wie weit so etwas schieres Gerede , wie weit etwas daran ist, kann man nur an Nuancen erfahren.

Nachmittags noch eine Vorstandssitzung, auf der der Vorsitzende und dessen Stellvertreter gewählt werden. Rasch hatte sich selbst contra Roth angeboten, sie aber beharrte, so daß ich schließlich dazu riet, Rasch möge als Kandidat zurücktreten.

Schließlich noch eine Jause bei der Literaturgesellschaft, auf der ich Heinz Politzer[Germanist in Berkeley, USA] kennenlerne, der eine ungeheure Nase hat, recht gescheit im Gespräch wirkt. Ich habe gehört, daß die ganze Geschichte gegen 700 000 Schilling kosten solle, man aber Schwierigkeiten hatte, eine dritte Nacht zu bezahlen, und kein Honorar zur Verfügung hatte. Dr. Kraus von der Literaturgesellschaft  sagte, Karl Kraus habe ein Zehntel gekostet.- O du mein Österreich.

  

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1949

  

Die Preise fallen, heißt es zu Anfang des Jahres, sie hätten aber auch teilweise „geradezu schwindelnde Höhen“ erreicht.

Am 18.Geburtstag wird über das Schenken nachgedacht und Einschlägiges von Ringelnatz zitiert.

  

Peter von Zahn habe in einer Hörfolge von dem Kamiena-Prozeß berichtet, der gegen den Leiter und Arbeiter eines Lagers und einer deutschen Fabrik in Polen wegen Mißhandlung und Tötung von Juden geführt wurde. Bei den Angeklagten handle es sich „um biedere und brave Bürger und Handwerker, zumeist aus Leipzig“, das sei „das Furchtbare, Unfaßbare“. 

In Ungarn sei Kardinal Mindszenty von einem „Volksgerichtshof“ „zu lebenslänglichem Gefängnis wegen Hochverrats verurteilt“ worden. In dem Urteil recke „sich geil und frech die Tyrannis empor“.

  

Eine „Rigoletto“-Aufführung  der Essener Bühnen in D. wird gerühmt, es sei eine seltene Gelegenheit, Oper zu sehen und zu hören. 

Immer wieder wird von Rundfunk-Eindrücken gesprochen: so z.B. von einem Hörspiel nach R.L. Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Die Botschaft sei: „Hütet euch vor euch selbst...Denn das Böse ist stark im Menschen.“

Auch Filme bleiben wichtig: „Die besten  Jahre unseres Lebens“. Von ihm gehe „Kraft und Wärme“ aus. Das Schicksal dreier ehemaliger amerikanischer Soldaten und ihrer Frauen. 

Das Stuttgarter Kammerorchester spielt Bachs „Kunst der Fuge“: „nur Klarheit um Klarheit, äußerste Formenstrenge“.

K.R., ein Freund und Grafiker, zeigt mir Arbeiten von sich: Aquarelle, Kohlezeichnungen. Abstrakte Kompositionen seien mir „merkwürdig interessant“ geworden. „Man muß nicht nur Bilder sehen wollen, mehr fühlen, mehr hören sollte jeder.“

  

Der Nordatlantik-Pakt sei veröffentlicht worden, ein „Verteidigungspakt gegen die Sowjetunion praktisch“. „Ungeheuerlich, daß so etwas immer noch notwendig“ sei.

Solange der Grundsatz gelte: „Si vis pacem, para bellum“, gebe es „keinen echten Frieden“, die Weltgeschichte sei „eine Posse mit blutigem Ausgang“.

Die Westmächte dekretieren Grenzänderungen, Abtretungen von insgesamt 150 qkm an Holland, Belgien und Luxemburg. Deswegen „Entrüstung, Empörung“. „Vor uns steht der 3. Weltkrieg, und wir fechten Hahnenkämpfe um 150 qkm und 13000 Menschen aus...“

  

Aufführung der Matthäus-Passion unter Georg Ludwig Jochum. Bach sei kein Romantiker, aber dennoch sei der Abend sehr bewegend gewesen.

Die „Faust“-Lektüre wird beendet. Aber man könne ihn nie zuende lesen, man  sehe immer allenfalls „die tiefe Oberfläche“. 

Der „Wallenstein“ biete „so viel Dramatik“ wie kaum ein Drama, habe aber auch „viel verklausuliertes Philosophentum“. Aber man könne ihn im Gegensatz zu anderen Dramen Schillers neben den Shakespeare stellen. 

In den Ostertagen wird ein Vorspiel zu einer Schuloper nach Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ geschrieben. Ein [längst verstorbener] Jugendfreund soll versuchen, dazu eine Musik zu schreiben.

Auch „ein Bändchen heiterer Gedichte“ wird abgeschlossen: „vielleicht schon einige brauchbare Kleinigkeiten“, Gedichte um eine Palmström-Figur sollen weitergeschrieben werden, auch Prosafabeln. Aber einen Verlag werde man nur schwer finden. 

Die Entwicklung des Abendlandes sei „gar keine Aufwärtsentwicklung“, „sondern ein langsamer, aber stetiger geistiger Rückschritt“. Glaube, Humanismus, Aufklärung: der Geist sei nur noch Mittel zum Zweck. Die Anwendung der Atomenergie sei „nichts anderes als  die zweckmäßigste Verbindung der Materie“. Es gehe von der vollkommenen Zwecklosigkeit des Glaubens zur vollkommenen Zweckhaftigkeit  der „durch den technisierten Geist ‚fruchtbar’ gewordenen Materie“, was (nur) zu einer „meßbaren Steigerung des Wohlstandes“ führe. Der Untergang des (christlichen) Abendlandes könne allein durch „eine plötzliche – sehr unwahrscheinliche – Gegenbewegung aufgehalten“ werden.

Vor vier Jahren, heißt es am 8. Mai, sei „der Schlußstrich eines Untergangs gezogen“ worden, an dem wir noch immer trügen. „Haben wir aus diesem Untergang gelernt, denn wenn wir nicht aus ihm gelernt haben, dann wird die Welt nicht lernen, Frieden zu halten, im Frieden zu leben.“ Heute werde auch das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat verabschiedet. Die Bundesrepublik werde trotz aller Einschränkungen „Grundstein und Beginn eines neuen Deutschlands sein“, das „Teil sein soll der großen Völkerfamilie der Welt“ und sich einfüge „in den weiten Kreis der Menschheit“.

Wenige Tage danach wird die Berliner Blockade aufgehoben. Das sei „einer der größten und schönsten Siege“ freiheitsliebender Menschen. Die Berliner hätten „der ganzen Welt ein Beispiel ihres moralischen Mutes gegeben“. Dieser Mut solle „ein Kennzeichen der Bürger unserer neuen deutschen Bundesrepublik sein“.

Am 23. Mai sei das Grundgesetz durch den Präsidenten des Parlamentarischen Rates Dr. Konrad Adenauer verkündet worden. Das deutsche Land müsse „ein freies Land werden“.

  

Die Spielgemeinschaft sei nach der Aufführung des „Teufelsschülers“ in schulische Regie übernommen worden und werde nun von Herrn B.[dem späteren Direktor des Steinbartgymnasiums] „energisch, munter, freudig geleitet“. Zum Goethe-Jahr wolle sie den „Reineke Fuchs“ in „oratorischer Form, ohne jegliches  Spiel“ bringen. Dazu würden gute Sprecher benötigt, von denen es nicht viele gebe. „Plastisches Sprechen“ müsse Voraussetzung sein.

  

Anfang Juni Fahrt nach Heidelberg zum Besuch der Schwester und der Neffen und Nichten. „Schnelle und angenehme Fahrt. Alles scheint Frieden zu sein. Speisewagen, Kellner mit Getränken, Zeitungen, Zeitschriften, Reisekissen.“ Heidelberg sei seine Landschaft, „nicht die winkligen, fast schmutzigen Gassen“. Ich besuche das Friedrichstift, in dem ich während des Krieges untergebracht war. Es ist wieder in dem „Palast“ Ludolf Krehls.Mit den Eltern im Odenwald, die dort ihren ersten Nachkriegsurlaub verbringen. Auch ich darf in den Sommerferien in einen Urlaub fahren, weiß aber noch nicht, wohin. Dann heißt es, ich habe mich für einen Aufenthalt in Oberkassel im Siegkreis angemeldet. 

  

Gelesen  werden Erzählungen von Thomas Mann: „Tristan“ und „Tonio Kröger“. Die erste sei mit „großem Interesse am psychologischen Detail geschrieben, morbid, fast dekadent“, „dahinter aber Wissen um den Wert des klaren, unkomplizierten, spießerhaften Gesund-Lebens“, die andere sei „noch episch-breiter“, „der gehetzte Künstler, der das Raffinierte“ suche, „schließlich aber doch das einfach-banale Gefühl...als wesentlich kennen und verstehen lernt“.

Kurz darauf zwei weitere Erzählungen: „Tod in Venedig“ und „Mario und der Zauberer“. „Tod in Venedig“ sei „im ganzen zu streng, um zu berauschen, mitfühlen zu lassen“, „Mario“ handle von „der Vergewaltigung der Seele durch das Negativ-Dämonische“. Im ganzen: „interessanter, wenn auch nicht überwältigender Eindruck“.

Thomas Manns Ansprache zum Goethejahr wird erwähnt. Die Redeweise Manns sei „klar, etwas alt, Schachtelsätze, starke Logik“.

  

Vorher schon die Goethefeier der Schule: der erste Teil sei lebhaft und nicht uninteressant gewesen. In der Schülerszene des „Faust“ A.N. als Mephisto beachtlich . Dann aber „siebzigminütiges langweiliges Festgekakel von Dr. Th., unserem Klassenlehrer, die „Konvention feierte Triumphe“,  „fast eine Oberlehrerrede von 1849“. Nicht erwähne ich, daß ich zum Abschluß von der Balustrade das Logenlied zu sprechen hatte: „Wir heißen euch hoffen“.

  

Die ersten fünf Gesänge der „Göttlichen Komödie“ werden gelesen: „großartig, lebhafte Schilderung, schneller Fluß der Handlung“. Man müsse sich aber an die „Terzinen-Weise sehr gewöhnen“. Aber „man soll sich anstrengen und den blöden Kopf nicht schonen“.

Wenig später wird die Lektüre des Inferno beendet. Der Zugang sei oftmals schwierig, ohne Kenntnis der damaligen Verhältnisse in Italien komme man schwer aus.

Turgenjews „Väter und Söhne“, „ein lebendiger Gesellschaftsroman, jedoch auch nicht ohne einige Längen“.

  

Anfang August geht es nach Oberkassel. Von Spaziergängen wird geschrieben, von viel Regen, vom Rhein, vom Siebengebirge, vom Petersberg, von Bonn: „keine Großstadt, dafür aber freundlich, offen, betriebsam und nicht unvornehm“. Das Beethovenhaus wird besucht: „gräßliche Hörrohre“, „auch die Schrift ist immer wieder erschütternd“ „wie hin- und hergepeitscht“. Dann über den Obstmarkt, am Rheinufer zur Pädagogischen Akademie, in der ein „herrlich-weiter, luftvoller Plenarsaal“ entstehe „mit Neonlicht“. Ein Parlamentsrestaurant bestehe schon. Bei weiterem Regen wird in der Gaststube eine „Runde von Dorfmännern belauscht bis zur angehenden Betrunkenheit. Dabei wurde noch politisiert.“ Zum Drachenfels: „unendlicher, abscheulicher Betrieb“. Am Sonntag (14. August) sei Bundestagswahl. Der französische Film „Der Idiot“ (nach Dostojewski) wird über alle Maßen gerühmt. Nach der Rückkehr nach D. werden die endgültigen Wahlergebnisse verzeichnet: „Sieg der CDU, Zuwachs für die FDP, wieder Verluste der KPD“. Bedenklich seien  nur die Gewinne der Deutschen Rechtspartei. 

  

Am 21. August geht es um permanente Verhandlungen über die erste Bundesregierung. Sie fänden bei Dr. Adenauer in Rhöndorf statt, der größte Aussichten habe, Bundeskanzler zu werden. Die SPD gehe bestimmt in die Opposition. 

  

Der Film „Liebe 47“ nach Borcherts „Draußen vor der Tür“: „eine erschütternde Aussage“. Ich versuche, eine Kritik zu schreiben, will Kontakt mit einem Redakteur der „Westdeutschen Rundschau“ aufnehmen.

  

Im Rundfunk wird der zweite Teil des „Faust“ gesendet: „Welttheater, Welt“.

Goethe-Feier in der Paulskirche, Verleihung des Goethe-Preises an Thomas Mann und der Goetheplakette an acht „verdiente Männer“. Die „Deutsche Akademie“ wird als Stiftung des deutschen Volkes gegründet, Festvortrag von Adolf Grimme. An Ortega y Gassets „Um einen Goethe von innen bittend“ von 1932 wird erinnert.

  

In der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ erscheint meine kleine Kritik über die Goethefeier unserer Schule „stark gekürzt“. 

  

Hinweis auf die zehnte Wiederkehr des Kriegsbeginns. Man müsse immer wieder daran erinnern, denn Vergessen bedeute hier „Untergang“.

Der Papst habe zum Abschluß des Katholikentages das Verhältnis von Unternehmern und Arbeitern angesprochen.

  

Am 7. September wird die Eröffnung von Bundestag und Bundesrat erwähnt. Jene sei „mehr nüchtern gewesen“, aber der Alterspräsident Loebe habe „schlicht und echt“ gesprochen. Präsident sei Dr. Köhler vom früheren Wirtschaftsrat, im Bundesrat sei es Karl Arnold [NRW], der bis zum 12.9. Staatsoberhaupt sei. Bonn habe geflaggt, die Kinder hätten schulfrei und liefen mit schwarz-rot-goldenen Papierfähnchen durch die Straßen.

Am 12. wird Theodor Heuß von der Bundesversammlung mit 416 von 800 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Er werde, glaube ich, den Menschen über den Politiker stellen. Schnell habe er sich „freundliche Sympathien“ erworben. Drei Tage darauf wird Dr. Adenauer mit 202 Stimmen, „also eben der absoluten Mehrheit“, zum Kanzler gewählt. Am 20.September habe er seine Regierungserklärung abgegeben, „lang und ausführlich“. „Einige gut parierte Zwischenrufe“. Am nächsten Tag habe Schumacher „massiv“ entgegnet. „Ob diese Art totaler Kritik aufbauend und geistvoll ist, kann bezweifelt werden.“

Wenige Tage später wird bereits von einem „Krawall“ um die Rede des KPD-Vorsitzenden Reimann gesprochen.

  

Richard Strauß sei gestorben, 85 Jahre alt. Mit ihm habe „die deutsche Musik einen Endpunkt erreicht“. Auch des Todes des Schriftstellers Herbert Eulenberg, dessen „Schattenbilder“ ich schätze, wird gedacht.

Von einer evangelischen Woche bin ich, was die Vorträge über moderne Literatur und über den Film anlangt, nicht so angetan. Mehr stimme ich dem Vortrag über physikalisches Weltbild und christlichen Glauben zu.

  

Ein Buch mit Artikeln über Deutschland für eine amerikanische Partnerklasse wird zusammengestellt. Es sei aber nicht leicht, die Mitschüler dafür zu mobilisieren.

Von einem Hausnachbarn wird erzählt: er habe „bratkartoffelessend und seinen Kaffee schlürfend“ „im Brustton der Überzeugung“ gesagt: „Was wollen uns denn die Engländer und erst die Franzosen. Wir haben doch mehr für die Welt getan als die alle zusammen. Denkt man nur an Goethe!“

  

Im Rundfunk höre ich Albert und Else Bassermann in Schnitzlers „Stunde des Erkennens“. Obwohl es bessere Stimmen gebe, sei die „Größe der Darstellung unglaublich“.

Grillparzers „Weh dem, der lügt“ bringt der NWDR „in einer vorzüglichen Wiedergabe unter Ludwig Semmelroths Regie“. 

Von einem Antiquariatsbesuch wird kurz berichtet. Mit 20, -- DM könne man allerdings nicht allzuviel machen. Die „Galgenlieder“ in einer Inselausgabe von 1940 seien gekauft worden.

Ich gehe zu dem Kulturbeigeordneten der Stadt, um ihm einen Plan für einen Kulturring der Jugend vorzutragen.

Der Musiklehrer ist beleidigt über meinen Widerspruch zu seiner „Zauberflöten“-Einführung. Vorher habe er versichert, er würde sich über jeden Widerspruch freuen.

  

Der Herbst sei wie seit Jahren nicht mehr: „warm und doch klar, sommerlich und doch frisch“.

  

Die „Deutsche Demokratische Republik“ habe sich konstituiert. Das Staatsoberhaupt sei Wilhelm Pieck. Es sei weder eine Parodie noch eine „echte Tragödie“.

  

Ibsens „Gespenster“ werden im Zimmertheater aufgeführt. Ibsen greife nicht nur seine Gesellschaft an, es gehe auch nicht nur um die Gesellschaft einer Epoche. Der Darsteller des Manders wird gerühmt. Auch das Zimmertheater sei „ein sehr beachtenswertes Unternehmen“.

  

Mit A.N. eine lange Diskussion über die „Stellung der intellektuellen Literaten“. Die seien nicht mehr am Werk, sondern nur noch am Interpreten, dem Schauspieler, interessiert. Dadurch würden Stars „gezüchtet“.

Lektüre von André Gides „Die Falschmünzer“. Das Buch sei „merkwürdig uneinheitlich“. Falschmünzer seien alle Gestalten des Romans, aber Gide klage nicht an, moralisiere auch nicht. Die stärksten Figuren seien der alte Pétrouse und sein Enkel Boris. Alles sei richtig, aber ob es auch wahr sei, könne man nicht sagen. Gide halte den Leser fern. Vielleicht seien „wir aber auch dieser Welt zu fern“.

Novellen von Kurt Kluge („Der Gobelin“ und „Die drei Gelehrten“) werden gelobt.

Auch Konzerte mit Bachs E-dur-Violinkonzert, Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“, ein Liederabend mit Heinz Marten werden erwähnt, dann eine Lesung mit Prosa und Versen von Wilhelm Busch: „ein Philosoph mit Humor“. Doch der Philosoph komme zugunsten des Volkstümlichen zu kurz.

„Götz von Berlichingen“: die Aufführung des Gelsenkirchener Theaters sei „mehr oder weniger provinziell“ gewesen, „viel Durchschnittlichkeit“. Aber das Stück habe „ungeheuer viel Leben und Natur“.

  

Der Weihnachtsrummel beginnt schon Ende November. „Jedes Geschäft in der Stadt führt ein Uniformengelchen in der Buttermondsichel als Weihnachtswappen. Darunter schieben sich schwitzende Menschen durch die Straßen“.

Eine Weihnachtsfeier der Schule wird vorbereitet. „Gottseidank ohne Rede“. Ein Adventsspiel in der Notkirche läuft „flüssig ab“.

Es gibt „gefräßige Weihnachtstage“. Wir haben versucht, „unserem Gewissen aufzuhelfen dadurch, daß wir einen Heimkehrer“ einluden, der zwei Wochen in Deutschland war nach sechs Jahren Rußland, in Dresden dann gleich vom NKWD zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen Sabotage am demokratischen Staat verurteilt wurde. Darauf Flucht in den Westen.

  

Balzacs „Vater Goriot“ in einem Zug durchgelesen. „Da wird Leben durchgepeitscht, erbarmungslos bis zum Ende“. Das Sterben Goriots sei „unendlich lang“, es scheine „nie zu Ende zu gehen“. Aber alles sei „unerhört großartig“.

  

 

Neue Titel

  

Varianten des Wahns in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Moosbrugger, Clarisse und andere. In: Fundamenta Psychiatrica 3 – 4,2003. S. 30 – 36 (= 17. Jg; S. 89 – 95).

Zusammenfassung: Die philologische Bedeutung von “Wahn” und der Umgang des Romans mit Wahn und Wahnsinn. Die Frage nach der Romanfigur Moosbrugger und seinem Wahnsinn. Die Definitionshoheit der Wissenschaft und Moosbruggers Sprachdenken. Die  Beziehung zwischen Wahn und Gesellschaft. Die Medialität der Epoche und der Wahn. Der Zustand der Unzurechnungsfähigkeit des Ganzen.

  

Satire. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Band 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar: J.B.Metzler 2003. S.345 – 364.

Einleitung: 1. Satire/Satirisches; 2. Etymologie; I. Konstituentien des Satirischen; II. Humanismus und Renaissance; III. 17. Jahrhundert ; IV. 18. Jahrhundert ; V. Schiller; VI. 19. Jahrhundert; VII. 20. Jahrhundert.

( Der  im Druck weggefallene zweite Teil des Abschnitts „20. Jahrhundert“ ab S. 363 [nach „...als spezifischer Konstruktion deutlich.“] ist oben veröffentlicht.)

  

Strafprozeß und Sprachprozeß. Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. In: Karl Kraus. Sittlichkeit und Kriminalität (1908). Mit Kommentaren von H.A. und Heinz Müller-Dietz. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2004. S. 265 – 287. ( Juristische Zeitgeschichte. Hrsg. von Thomas Vormbaum, Abt. 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht, Band 17.)

[Text der Ausgabe der Schriften von K.K. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987.]

„Sittlichkeit und Kriminalität“ und „Kultur und Presse“ – Sexualität und 19. Jahrhundert – Kraus’ Begriffsklärungen – Sittlichkeitsprozeß und Strafprozeß – Richtermacht und Rechtsgutschutz – Moderne Strafjustiz – Pressekritik der „Fackel“ und ihre Fundamentierung in der Literatur – Ausstellung des Pressesensationismus – Prostitution und Presse – Sprachprozeß – Anmerkung zu einigen Titeln der Literatur über  „Sittlichkeit und Kriminalität“.

  

Nummer 7 (April/Mai 2004): s.Archiv

  

INHALT: Zum 280. Geburtstag, zum 200. Todestag von Immanuel Kant(„Zum ewigen Frieden“ von Karl Kraus, Zitat aus einer Schrift von Kant)  – VON DER SPRACHE: Humboldts Sprachdenken - Linguistische Einsichten – VON DER EPOCHE: Kurze Anfrage bei der Theologischen Fakultät und bei der Evolutionslehre – VON DEUTSCHLAND: Vom Bombenkrieg zum Wiederaufbau. Bei Gelegenheit von Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“ – Nach unten. Zur Genese unserer Lage – VON DER UNIVERSITÄT: Universitätsjournal - Wintersemester 71/72 (Auszüge) - Aus einem Brief an einen Freund nach dem Tod von Peter Szondi. Dezember 1971 – VON DEN MEDIEN: Achtundsechzig und die Medien (Auszüge aus einem Rundfunkfeature von 1974) – Vom Dschungelcamp  zu Herrn Mohn -  Was aus einem Leserbrief werden kann – Bach für Fernseher – VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1948

  

  

  

  

  

[1] gilbert highet, The Anatomy of Satire (Princeton 1962).

 

[2] Vgl. leonard feinberg, The Satirist. His Temperament, Motivation, and Influence (Ames 1963); Feinberg, Introduction to Satire (Ames 1967).